Amnesty Journal Januar/Februar 2020

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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE

AMNESTY JOURNAL ASSAD NACH DEN HAAG GERECHTIGKEIT FÜR SYRIEN

ZU WENIG ZUM LEBEN Soziale Ungleichheit schürt Proteste in Lateinamerika

FEINE STICHE Kunst aus Tätowierungen russischer Strafgefangener

SPRACHE MIT STIGMA Arabische Literatur muss sich Angriffen erwehren

01 2020 JANUAR / FEBRUAR


INHALT

Befehlskette gegen die Menschlichkeit. Die Beweise für schwere Verbrechen des Regimes von Baschar al-Assad sind überwältigend. Im Frühjahr steht in Koblenz zum ersten Mal ein syrischer Geheimdienstfunktionär wegen Folter von Tausenden Gefangenen vor Gericht – ein Modell für Gerechtigkeit für die Opfer des Krieges.

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22 TITEL: GERECHTIGKEIT FÜR SYRIEN Kriegsverbrechen: Befehlskette gegen die Menschlichkeit

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Caesar-Fotos: »Sag Bescheid, wenn er tot ist«

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Diktatur in Syrien: Ausnahmezustand ohne Ende

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Forensic Architecture: Die Architektur des Gedächtnisses

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Lafarge-Skandal: Bakschisch as usual

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Die Architektur des Gedächtnisses. Die britische Organisation Forensic Architecture rekonstruiert Kriegsverbrechen durch akustische Nachbildungen, 3-D-Modelle von Tatorten und Computersimulationen. Seit Jahren beschäftigen sich die digitalen Ermittler mit den Untaten des AssadRegimes in Syrien.

POLITIK & GESELLSCHAFT Lateinamerika: Bis es sich zu leben lohnt

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Bolivien: »Bringt Feuerlöscher, bitte!«

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Brasilien: Wächter des Waldes

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Panama: Invasion gegen die Armen

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Myanmar: Vernachlässigt und verfolgt

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36 Wächter des Waldes. Die Guajajara-Indianer im Nordosten Brasiliens haben Milizen gebildet, um ihre Lebensgrundlagen gegen illegale Holzfäller zu verteidigen.

KULTUR Russland: Feine Stiche

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Gipsy Mafia: Fette Beats, volles Bewusstsein

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Arabische Literatur: Sprache mit Stigma

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Trixie Munyama: Die Trauerhelferin

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Goldhandel: Grausamer Glanz

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Daniel Kahn: Sowjetischer Blues

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RUBRIKEN Panorama 04 Graphic Report: Muster der Repression 06 Spotlight: Proteste im Irak 08 Interview: Brian Castner 09 Was tun 40 Porträt: Izzet Cagac, Halle 44 Dranbleiben: Amnesty, China, Deutschland 45 Rezensionen: Bücher 57 Rezensionen: Film & Musik 58 Briefe gegen das Vergessen 60 Einsatz mit Erfolg 64 Aktiv für Amnesty 66 Impressum 67

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50 Die Trauerhelferin. Die namibische Choreografin Trixie Munyama verarbeitet das Schweigen über die Schrecken der deutschen Kolonialvergangenheit.

Fette Beats, volles Bewusstsein. In Serbien als Roma gefährdet, in Deutschland als Flüchtlinge diskriminiert: Die Hip-HopFormation Gipsy Mafia rappt gegen Antiziganismus, Rassismus und Kapitalismus.

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BAGDAD, BEIRUT & BOGOTÁ

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sind nur einige der Städte, deren Bewohner derzeit gegen ihre Regierenden aufbegehren. In Hongkong gehen die Menschen schon seit Monaten auf die Straße, in Algier hören die Proteste ebenfalls nicht auf. Die Welt ist in Aufruhr, so verschieden die Gründe für den Zorn von Ort zu Ort auch sind. Das ist gut so, schließlich verging zuletzt kaum ein Tag, an dem nicht über autoritäre Tendenzen weltweit geklagt wurde.

Ausnahmezustand ohne Ende. Schon bei der ersten großen Erhebung gegen die Diktatur in Syrien 1980 war unser Autor, Yassin al-Haj Saleh, dabei. Danach verschwand er für 16 Jahre im Gefängnis. Seit seiner Freilassung setzt er sich für demokratische Reformen und ein Ende der Herrschaft Baschar al-Assads ein.

Was die Aufständischen über alle Grenzen hinweg eint, ist ihre Hartnäckigkeit. Anders als 2011, als die ägyptischen Revolutionäre glaubten, mit dem Sturz Husni Mubaraks sei auch dessen Regime Geschichte, verlangen sie nun vielerorts nicht weniger als eine grundlegende Veränderung des gesamten politischen Systems. Im Irak oder dem Libanon etwa wollen sie konfessionelle Proporzstrukturen wegfegen, die den korrupten Eliten Macht und Reichtum sichern, während die Bevölkerung leer ausgeht.

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Für politische Teilhabe und Gerechtigkeit gingen 2011 auch Tausende Syrerinnen und Syrer auf die Straßen. Ihren Aufstand schlug der Sicherheitsapparat Baschar al-Assads mit blanker Gewalt nieder. Aus den Demonstrationen für Würde und Freiheit wurde ein Bürgerkrieg; inzwischen haben sich alle Konfliktparteien Kriegsverbrechen schuldig gemacht.

Bis es sich zu leben lohnt. Zu wenig, um zu leben, zu viel, um zu sterben: Die Proteste in Lateinamerika werden befeuert von sozialer Ungleichheit – und der Brutalität der Sicherheitskräfte.

Feine Stiche. Die sibirische Künstlerin Mayana Nasybullova stickt die Tätowierungen von Strafgefangenen nach. Mit diesen Kunstobjekten will sie auf die inhumane Situation in russischen Gefängnissen aufmerksam machen.

Ein Poster von Baschar al-Assad in einer zerstörten Schule in Al-Hasakah, Syrien, August 2015. Foto: Vincent Wartner / Riva Press / laif Zeichnung: Hamid Sulaiman, Freedom Hospital. Übersetzt von Kai Pfeiffer. © 2017 Carl Hanser Verlag Fotos oben: Sergey Ponomarev / The New York Times / Redux / laif | Horst Friedrichs | Luis Hidalgo / AP / pa Andrzej Rybak | Mayana Nasybullova | Felix Huesmann | Jacob Shichilenge

INHALT

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EDITORIAL

Foto: Sarah Eick / Amnesty

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Zwei Revolutionäre der ersten Stunde erklären in diesem Journal, weshalb die Ziele des Aufstands dennoch richtig bleiben: der Menschenrechtsanwalt Anwar al-Bunni (Seite 12) und der linke Intellektuelle Yassin al-Haj Saleh (Seite 18). Der 58-Jährige saß bereits unter Hafiz al-Assad, dem Vater des herrschenden Diktators, im Gefängnis, erst nach 16 Jahren kam er frei. Angesichts des derzeitigen Kräfteverhältnisses fordern die beiden Oppositionellen, der Gerechtigkeit wenigstens auf juristischem Weg zum Durchbruch zu verhelfen: Die Verantwortlichen für Folter, Mord und Kriegsverbrechen, einschließlich derjenigen an der Spitze des Machtapparats, müssen angeklagt werden – wenn nicht in Syrien, dann im Ausland, zur Not vor einem internationalen Tribunal: Assad nach Den Haag! Markus Bickel ist Verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals.

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PANORAMA

Foto: Antonio Bronic / Reuters

BOSNIEN-HERZEGOWINA: UMSTRITTENES FLÜCHTLINGSLAGER GERÄUMT

Die bosnischen Behörden haben im Dezember das umstrittene Migrantenlager Vučjak im Nordwesten des Landes geräumt. Zuletzt lebten in dem Lager nahe der Stadt Bihać rund 800 Menschen. Sie wurden mit Bussen in eine ehemalige Kaserne bei Sarajevo gebracht. Das provisorische Flüchtlingslager befand sich auf dem Terrain einer ehemaligen Mülldeponie. Die Zelte hatten keine festen Böden, auch an Strom- und Wasseranschlüssen herrschte Mangel. Mit dem einsetzenden Winter wurde die Situation vollends unhaltbar. Viele Bewohner harrten in Vučjak nicht nur wegen fehlender Unterkunftsalternativen aus, sondern auch, weil sie von dort in das EU-Nachbarland Kroatien gelangen wollten. Anfang Dezember hatte die Menschenrechtsbeauftragte der Europäischen Union, Dunja Mijatović, davor gewarnt, dass »die Menschen hier sterben, und wir werden verantwortlich sein dafür«.

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PROTESTE IM LIBANON GEHEN WEITER

Auch im Dezember gingen die regierungskritischen Proteste im Libanon weiter. Anders als zu Beginn der Demonstrationen, die sich unter anderem gegen Korruption und das konfessionelle Proporzsystem des Landes richten, kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen. Bewaffnete Anhänger der schiitischen Parteien Hisbollah und Amal griffen ein Protestlager in Beirut an, auch in anderen libanesischen Städten versuchten vom Iran unterstützte Kräfte, die Protestbewegung zu bekämpfen. In Tyros, im Süden Libanons, attackierten Anhänger von Hisbollah und Amal Zelte von Demonstranten und brannten diese nieder. Soldaten feuerten Warnschüsse in die Luft und setzten Tränengas ein, um die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Im November war die Regierung von Ministerpräsident Saad Hariri zurückgetreten. Foto: Bilal Jawich / Xinhua / eyevine / laif

PANORAMA

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GRAPHIC REPORT

MUSTER DER REPRESSION

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GRAPHIC REPORT

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PROTESTE IM IRAK: REGIERUNG BEKÄMPFT BEVÖLKERUNG Gezielt beschossen. Wasserwerfereinsatz gegen Demonstration in Bagdad im Oktober 2019.

Auch nach dem Rücktritt der Regierung von Adel Abdel Mahdi im Dezember ist eine friedliche Lösung des Machtkampfs im Irak nicht in Sicht. Den Hunderttausenden Menschen, die seit Oktober Woche für Woche für ihre Rechte auf die Straße gehen, reichen die bislang gemachten Angebote der politischen Führung in Bagdad nicht. Die alte Regierung hatte vor ihrem Rücktritt zwar versprochen, Arme stärker zu unterstützen und mehr Stellen für Hochschulabsolventen zu schaffen, die Forderungen nach einer Neugestaltung des politischen Systems und der Entmachtung der herrschenden Eliten bleiben jedoch unerfüllt. Stattdessen setzen die irakischen

»Die irakische Regierung hat die Pflicht, ihre Bürger zu schützen.« HEBA MORAYEF, NAHOSTEXPERTIN VON AMNESTY INTERNATIONAL

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Sicherheitskräfte auf Repression und Gewalt, um die größte Protestbewegung seit dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 niederzuschlagen. Seit der amerikanischen Invasion des Landes hat eine korrupte politische Elite den ölreichen Staat heruntergewirtschaftet und den Bürgern weder Sicherheit noch funktionierende Dienstleistungen geboten. Auslöser der Proteste war die Entlassung des Vizechefs der AntiterrorElitetruppe »Goldene Division«, die aufgrund ihres Einsatzes im Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) hohes Ansehen in der Bevölkerung genießt. Abdul Wahhab al-Saadi war zudem gegen Korruption in den Reihen der Sicherheitskräfte vorge-

MEHR ALS

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DEMONSTRANTEN STARBEN VON OKTOBER BIS DEZEMBER DURCH POLIZEIGEWALT.

gangen, was wohl zu seiner Herabstufung auf einen Verwaltungsposten führte. Mehr als 300 Menschen wurden bis Mitte Dezember bei den Protesten getötet. Ein Regierungsbericht warf den Sicherheitskräften übermäßige Gewaltanwendung vor, weil Scharfschützen von Dächern aus mit scharfer Munition auf die Menge feuerten. Später setzten die Sicherheitskräfte zwar überwiegend Tränengas, Gummigeschosse und Blendgranaten ein. Sie schossen aber immer wieder auch mit scharfer Munition und setzten Tränengasgranaten ein, die für Militäreinsätze entwickelt wurden und zu schweren Verletzungen bis hin zum Tod führen können.

MEHR ALS

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MENSCHEN WURDEN DURCH TRÄNENGASGRANATEN GETÖTET. Quellen: Amnesty International; Ärzte in Bagdad

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Foto: Thaier Al-Sudani / Reuters

SPOTLIGHT


BRIAN CASTNER

»TRÄNENGAS WIRD WIE EINE WAFFE VERWENDET« Foto: privat

Irakische Sicherheitskräfte setzen schwere Tränengasgranaten ein, um Demonstrationen in Bagdad und anderen Städten des Landes zu stoppen. Brian Castner ist Experte für Waffen und Militäroperationen im Krisenreaktionsteam von Amnesty. Interview: Markus Bickel

In internationalen Medien wird vor allem über die Proteste in Bagdad berichtet, wie ist die Situation im Süden des Iraks? Wir haben auch in Kerbala und Basra Polizeigewalt dokumentiert, aber in Bagdad ist die Zahl der Toten am höchsten – mehr als 450 Menschen sind dort seit Oktober getötet worden. Mindestens 30 davon starben durch den Einsatz militärischer Tränengasgranaten. Die Polizei bezeichnet sie zwar als weniger tödliche Granaten, es ist jedoch offensichtlich, dass sie auf tödliche Art und Weise eingesetzt werden. Warum werden sie überhaupt eingesetzt? Tränengas kann auf legitime Weise von der Polizei eingesetzt werden, um eine Personengruppe bei Protesten aufzulösen. Zum Beispiel, wenn Teilnehmer andere Menschen verletzen oder Privatbesitz zerstören. Für einen solchen legitimen Einsatz gelten drei Kriterien: Erstens muss das Einsatzgebiet gut belüftet sein, sodass sich das Tränengas ausbreiten kann. Zudem muss der Menschenmenge ein Fluchtweg zur Verfügung stehen, um aus der Einsatzzone herauszukommen. Wenn das nicht gegeben ist, kann Tränengas zu Verletzungen führen. Außerdem darf das Tränengas nicht direkt auf Demonstranten geschossen werden, schon gar nicht auf den Kopf. Genau das aber macht die irakische Polizei. Ja, das Tränengas wird eingesetzt wie eine Waffe. Die dabei verwendeten Granaten werden sonst nur zu militärischen Zwecken genutzt, sie sind fünf- bis zehnmal schwerer als herkömmliche Tränengasbehälter und anders aufgebaut. Während die herkömmlichen aus mehreren kleinen Kanistern zusammengesetzt sind, die Gas enthalten, bestehen die in Bagdad eingesetzten aus einem einzigen großen Stück Metall. Wenn sie einen Demonstranten treffen, führt das zu grausamen Verletzungen – bis hin zum Tod wie durch einen Kopfschuss.

SPOTLIGHT

Werden sie auch an anderen Orten auf diese Weise eingesetzt? Diese 40-Millimeter-Granaten werden weder in Hongkong, noch in Chile, noch in den Staaten Westafrikas oder anderen Krisenherden der Welt verwendet. Ihr Vorbild sind Militärgranaten, die in bewaffneten Konflikten zum Einsatz kommen, um Menschen der gegnerischen Seite zu töten. Der Einsatz dieser Granaten auf Demonstrationen ist völlig unangemessen. Sie sind zwar hier nicht zum ersten Mal aufgetaucht, aber wir haben noch nie eine solche Anzahl von Toten durch deren Einsatz bei friedlichen Protesten gesehen. Wo werden sie hergestellt? Der serbische Rüstungsproduzent Sloboda Čačak hat die irakische Regierung damit beliefert, auch von iranischer Seite werden Sicherheitskräfte damit ausgestattet. Grundlage für beide Modelle sind hochexplosive Nato-Granaten aus den 1970er Jahren. Serbien verkauft sie inzwischen selbst an Nato-Staaten. Kann man Serbien dafür nicht zur Rechenschaft ziehen? Von serbischer Seite wird behauptet, die Iraker würden sich nicht an die Richtlinien zum Einsatz dieser Granaten halten, die eine Mindestdistanz zum Ziel von 50 Metern vorsehen. In Bagdad werden sie aus geringerem Abstand eingesetzt. Was fordert Amnesty? Wir fordern von den irakischen Behörden, diese Granaten nicht mehr einzusetzen und die Vorfälle zu untersuchen. Außerdem überlegen wir derzeit, ob wir ein weltweites Verbot dieser Granaten fordern sollen. Schließlich ist es schwer vorstellbar, dass sie überhaupt auf legitime Art eingesetzt werden können.

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TITEL

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Gerechtigkeit für Syrien

Im März geht der Krieg in Syrien in sein zehntes Jahr – und die Hoffnungen der Revolutionäre von 2011 auf freiheitlichen Wandel liegen in Trümmern. Die Beweise für schwere Verbrechen durch Polizei, Militär und Milizen sind so überwältigend, dass Anklagen gegen Angehörige des Assad-Regimes Gerechtigkeit für die Opfer versprechen.

Ich

Zeichnung aus: Hamid Sulaiman, Freedom Hospital. Übersetzt von Kai Pfeiffer. © 2017 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

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Alle Zeichnung aus: Hamid Sulaiman, Freedom Hospital. Übersetzt von Kai Pfeiffer. © 2017 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München


Befehlskette gegen die Menschlichkeit Die Beweise für schwere Verbrechen des Regimes von Baschar al-Assad sind überwältigend. Im Frühjahr steht in Koblenz zum ersten Mal ein syrischer Geheimdienstfunktionär wegen Folter von Tausenden Gefangenen vor Gericht – ein Modell für Gerechtigkeit für die Opfer des Krieges. Von Markus Bickel

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nwar al-Bunni konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, woher er das Gesicht kannte, so sehr er auch grübelte. In den Straßen rund um das Aufnahmelager Marienfelde im Süden Berlins hatte der syrische Menschenrechtsanwalt den Mann wiedererkannt, irgendwann Ende 2014, Anfang 2015 war das. Wann genau, weiß alBunni nicht mehr, schließlich hatte er mit seiner Frau gerade selbst erst Berlin erreicht, nach schwieriger Flucht aus dem Bürgerkriegsland. Alles war neu, das Land, die Leute, alles im Fluss. Doch als al-Bunni den Mann ein paar Wochen später beim Einkauf von Möbeln und Matratzen in einem Baumarkt am Hermannplatz in Berlin wiedersah, dämmerte es ihm langsam: Es war Anwar Raslan, der ihn im Mai 2006 in Damaskus vor seinem Haus verhaftet hatte. Kurz zuvor hatte al-Bunni gemeinsam mit Dutzenden syrischen und libanesischen Intellektuellen die Beirut-Damaskus-Erklärung unterzeichnet, die zu einer Normalisierung zwischen den beiden Staaten aufrief – ein Affront für die politische Führung um Präsident Baschar al-Assad. Es war bereits der zweite Anlauf der syrischen Zivilgesellschaft, Reformen und Rechtsstaatlichkeit in der Einparteiendiktatur einzufordern. Erstmals hatte sie während des Damaszener Frühlings ihre Stimme erhoben, nach dem Tod von Baschars Vater Hafez al-Assad im Juni 2000. In der Folge waren viele Dissidenten inhaftiert worden. Al-Bunni stand zum Zeitpunkt seiner Verhaftung im Jahr 2006 kurz davor, Direktor des Zentrums für die Entwicklung der Zivilgesellschaft zu werden, das von der Europäischen Union finanziell unterstützt wurde und die Verfolgung von Oppositionellen durch Assads Sicherheitsapparat kritisierte. Er kam in das Adra-Gefängnis nördlich von Damaskus und wurde nach einem knappen Jahr Untersuchungshaft im April 2007 zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe wegen »Verbreitung staatsgefährdender Falschinformationen« verurteilt. Der Menschenrechtsanwalt hatte unter anderem Folter und schlechte Haftbedingungen in syrischen Gefängnissen angeprangert. Außerdem erhielt er eine Strafe von umgerechnet 2.000 US-Dollar, weil das Zentrum keine offizielle Erlaubnis besessen habe. Während al-Bunni seine Strafe im Adra-Gefängnis verbüßte, machte ebenjener Anwar Raslan, den er Jahre später in Berlin

GERECHTIGKEIT FÜR SYRIEN

unweit des Aufnahmelagers Marienfelde wiedertreffen sollte, Karriere: Als im März 2011 die Revolution gegen das Assad-Regime begann, war der Beamte, der al-Bunni fünf Jahre zuvor verhaftet hatte, Leiter der berüchtigten Ermittlungseinheit Branch 251 im Al-Khatib-Gefängnis nahe Damaskus geworden.

Eine Generation, zwei Lebenswege Beide Männer gehören derselben Generation an. Ihre Lebenswege hätten unterschiedlicher nicht sein könnten und doch kreuzten sie sich Jahre später in Deutschland wieder. Hier alBunni, der seit den 1990er Jahren Menschenrechtsaktivisten und politisch Verfolgte in Verfahren vor dem syrischen Staatssicherheitsgericht verteidigt und das Free Political Prisoners Committee gegründet hatte, der Vorstandsmitglied des Syrischen Zentrums für Rechtsstudien und Forschung war und an einer Verfassung für die Zeit nach einem Ende der Alleinherrschaft der Baath-Partei arbeitete. Dort Anwar Raslan, der zum leitenden Geheimdienstfunktionär in Assads Folterstaat aufstieg, ehe er sich 2012 absetzte und über Ägypten nach Deutschland kam. Ganz ruhig sei er geblieben, als er bei der zweiten Begegnung merkte, wen er da vor sich habe, erzählt al-Bunni fünf Jahre nach der Zufallszusammenkunft fernab der syrischen Heimat. »Ich wusste, dass seine Zeit kommen wird, dass er der Gerechtigkeit zugeführt wird«, sagt er in einem alten Backsteingebäude in Ostberlin, wo er ein kleines Büro unterhält. Zwei, drei Laptops, eine Handvoll Stühle und zwei einfache Holztische. Und am Fenster steht eine kleine Skulptur: Der Menschenrechts-

Ausgerechnet in Berlin kreuzten sich die Lebenswege von al-Bunni und Raslan erneut. 13


»Mit diesem Regime kann es keine Verhandlungen geben – es ist vorbei!« Anwar al-Bunni richtshof in Den Haag blockieren, lässt sich Straflosigkeit in Syrien derzeit nur mittels des sogenannten Weltrechtsprinzips bekämpfen. Dieses macht es nationalen Staatsanwaltschaften möglich, auch bei im Ausland begangenen Verstößen gegen das Völkerstrafrecht aktiv zu werden. Das ECCHR hatte bereits 2017 gemeinsam mit al-Bunni und dessen syrischem Anwaltskollegen Mazen Darwish vier Strafanzeigen gegen hohe Funktionäre der Assad-Regierung eingereicht. Auch in Österreich, Frankreich, Schweden und Norwegen wird auf Grundlage des Weltrechtsprinzips inzwischen gegen mutmaßliche syrische Kriegsverbrecher aus den Reihen des Regimes ermittelt.

Tausende Tote im Gefängnis

preis des Deutschen Richterbundes, der ihm 2009 verliehen wurde, während er noch in Haft saß. Die Chancen, dass Raslan der erste syrische Geheimdienstmitarbeiter weltweit sein könnte, der wegen Folter verurteilt wird, stehen nicht schlecht: Im Frühjahr beginnt vor dem Oberlandesgericht Koblenz der Prozess gegen ihn und einen Mitarbeiter, unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nicht zuletzt deshalb, weil al-Bunni gemeinsam mit syrischen Folterüberlebenden und Anwälten des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin seit Jahren beharrlich daran arbeitet, Beweise für Verbrechen zu sammeln, die von Assads Funktionären verübt wurden. Bereits 2018 erließ die Bundesanwaltschaft unter anderem auf Grundlage ihrer Recherchen einen internationalen Haftbefehl gegen Jamil Hassan, der bis Juli 2019 Leiter des syrischen Luftwaffengeheimdienstes war. Und im Oktober 2019 reichte dann die Karlsruher Behörde Anklage gegen Anwar Raslan und seinen Mitarbeiter Eyad al-Gharib vor dem Oberlandesgericht Koblenz ein. Die beiden waren im Februar in Berlin und Rheinland-Pfalz verhaftet worden und sitzen seitdem in Untersuchungshaft. Dem 56-jährigen Raslan und seinem 42-jährigen Untergebenen werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit beziehungsweise Beihilfe dazu vorgeworfen. Sie hatten sich 2012 und 2013 aus Syrien abgesetzt. Raslan soll allein von April 2011 bis September 2012 für die Folter von 4.000 Menschen verantwortlich gewesen sein, mindestens 58 Gefangene seien an den Folgen der Folter gestorben. Al-Gharib wird vorgeworfen, mindestens 30 Demonstranten in die von Raslan geleitete Al-Khatib-Abteilung des Gefängnisses gebracht zu haben. Weil die UN-Vetomächte Russland und China eine Überstellung ähnlich gelagerter Fälle an den Internationalen Strafge-

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Im Falle Raslans sprechen die Karlsruher Ermittler von »systematischen, brutalen, physischen und psychischen Misshandlungen«. Die Opfer seien mit Stöcken, Kabeln und Peitschen geschlagen und mit Elektroschocks traktiert worden. Einzelne Gefangene seien an den Handgelenken an der Decke aufgehängt worden, sodass sie gerade noch mit den Zehenspitzen auf den Boden kamen. Andere hätten tagelang nicht schlafen dürfen. Raslan wird auch eine Vergewaltigung vorgeworfen. Mit diesen Methoden habe der Geheimdienst Geständnisse erzwingen und Informationen über die Oppositionsbewegung bekommen wollen, heißt es in der Anklage weiter. In dem Gefängnis herrschten demnach »unmenschliche und erniedrigende Haftbedingungen«. Niemand sei medizinisch versorgt worden. Die Zellen seien zum Teil so überfüllt gewesen, dass sich die Gefangenen weder hinsetzen noch hinlegen konnten. »Ihm war auch bewusst, dass Häftlinge aufgrund der massiven Gewalteinwirkungen verstarben«, so die Ankläger aus Karlsruhe über Raslan. Die im Al-Khatib-Gefängnis begangenen Verbrechen sind kein Einzelfall. Amnesty International hat bereits 2017 nachgewiesen, dass im Militärgefängnis Sadnaya zwischen 5.000 und 13.000 Menschen gehängt wurden. Bei den meisten Getöteten handelte es sich um Zivilisten, denen Kritik an der Regierung vorgeworfen worden war. Weitere Beweise sind die mehr als 28.000 Fotos getöteter Gefangener, die der frühere syrische Militärfotograf mit dem Decknamen Caesar unter Lebensgefahr außer Landes brachte. Heute lebt er unter Polizeischutz anonym in Frankreich. Auch bei dem Prozess gegen Raslan und al-Gharib werden die Bilder zur Beweisführung herangezogen. Nach bald neun Jahren Krieg in Syrien ist die Bilanz erschütternd: Mehr als eine halbe Million Tote, eine Million Verwundete, die Hälfte der Bevölkerung auf der Flucht. Die Liste der nicht nur von staatlichen Sicherheitskräften, sondern auch von islamistischen und Oppositionsmilizen begangenen Verbrechen ist endlos. So verzeichneten die Vereinten Nationen in einem Bericht von 2017 allein 16 Giftgasangriffe des Regimes nur in je-

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nem Jahr. Tausende Menschen fielen Fassbomben zum Opfer. Hinzu kommen unzählige Fälle gezielter Bombardierungen von Krankenhäusern und Schulen. Nicht nur Anwar al-Bunni, sein syrischer Kollege Mazen Darwish und das ECCHR treiben Verfahren gegen Assads Folterfunktionäre voran, sondern auch die Kommission für Internationale Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht (CIJA), die außer den Verbrechen des Regimes auch Kriegsverbrechen von Oppositionsmilizen untersucht. Der in den Niederlanden registrierten Kommission ist es gelungen, genügend Beweismaterial zusammenzustellen, um neben Assad 24 weitere Funktionäre der Baath-Partei und des syrischen Sicherheitsapparats wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuklagen.

Außer Landes geschmuggelt Das belastende Material, das einem Gericht vorgelegt werden könnte, das sich dazu berufen fühlt, Anklage anzunehmen, beruht auf mehr als 800.000 Dokumenten, die in den ersten Kriegsjahren aus Polizeiwachen und Geheimdienstbüros außer Landes geschmuggelt wurden. Die in den erbeuteten Papieren dokumentierten Befehlsketten liefern die Beweise dafür, wie Tausende Folteropfer in Syrien zu Tode kamen, sagt CIJA-Direktor William Wiley. In den 1990er und 2000er Jahren ermittelte der Kanadier am Jugoslawien-Tribunal der Vereinten Nationen in Den Haag unter anderem gegen den bosnischen Kriegsverbrecher Radovan Karadžić – gegen den solche Dokumente damals nicht vorlagen. Auch deshalb ist Wiley überzeugt davon, dass die Dokumente ausreichen, um Präsident Assad wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor ein internationales Gericht bringen zu können – vorausgesetzt, dass er von seinen Verbündeten aufgefordert wird, ins Exil zu gehen. Beispiele da-

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für seien Laurent Gbabgo, der frühere Präsident der Elfenbeinküste, und Charles Taylor, der ehemalige Staatschef Liberias, der direkt aus dem Exil ins Gefängnis wanderte. So lange will Anwar al-Bunni jedoch nicht warten. Er setzt deshalb auf Strafprozesse in europäischen Staaten nach dem Weltrechtsprinzip – das Verfahren gegen Anwar Raslan in Koblenz sei da nur der Anfang. »Allen Tätern soll klar sein, dass sie nirgendwo auf der Welt einen sicheren Ort finden werden, wo sie ihrer gerechten Strafe entgehen können«, sagt er in seinem kleinen Büro in Berlin. »Und die Opfer sollen wissen, dass die an ihren Angehörigen begangenen Verbrechen nicht ungesühnt bleiben.« Außerdem werde von Koblenz ein sehr wichtiges Signal an die Weltgemeinschaft ausgehen, sagt al-Bunni. Strafrechtliche Verurteilungen schlössen aus, dass sich westliche Staaten aus sogenannten Stabilitätserwägungen heraus eines Tages wieder auf schmutzige Deals mit dem Regime in Damaskus einlassen. »Mit dieser Führung kann es keine Verhandlungen geben – es ist vorbei!« !

»FREEDOM HOSPITAL« Die Graphic Novel des syrischen Illustrators Hamid Sulaiman zeichnet das Engagement junger Syrerinnen und Syrer zu Beginn des Krieges nach, die in Aleppo ein unabhängiges Krankenhaus betrieben. Sulaiman floh 2011 aus Syrien und lebt seitdem in Paris. Aus dem Französischen von Kai Pfeiffer. Hanser, Berlin 2017. 288 Seiten, 24 Euro.

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»Sag Bescheid, wenn er tot ist« A

uf dem Foto, das in Maryam al-Hallaqs Wohnzimmer hängt, lächelt Ayham selbstbewusst in die Kamera. In Holz gerahmt hängt das Bild ihres Sohnes über dem Sofa in ihrer Berliner Einzimmerwohnung. Das Foto entstand 2011 bei einer friedlichen Demonstration in Damaskus – bevor das Regime begann, auf Demonstrierende zu schießen und Zehntausende festzunehmen. Ein anderes Bild von al-Hallaqs Sohn ging später um die Welt: Es zeigt den Leichnam des 25-Jährigen, die Augen halb geschlossen, auf der Stirn einen Klebstreifen mit der Nummer 320. Die Aufnahme zählt zu den mehr als 28.000 Fotos von toten Gefangenen, die der frühere Militärfotograf mit dem Decknamen Caesar 2013 aus Syrien herausschmuggelte – veröffentlicht wurden sie Anfang 2014. Weil der Anblick der darauf abgebildeten 6.786 Gefangenen, die durch brutale Folter und miserable Haftbedingungen getötet wurden, so grauenhaft ist, werden die meisten nur zensiert gezeigt. Es sind Zeugnisse einer menschenverachtenden FolterMaschinerie, die auch als wichtigste Beweismittel bei der internationalen Strafverfolgung des Regimes von Präsident Baschar al-Assad dienen. »Als ich Ayhams Foto sah, war ich erleichtert«, sagt Maryam al-Hallaq. »Er war zwar tot, aber immerhin wies er nicht so heftige Spuren von Folter auf wie viele andere.« Al-Hallaq ist Mitbegründerin der Caesar Families Association (CFA), einem Zusammenschluss von Syrerinnen und Syrern, die ihre toten Angehörigen auf den Caesar-Fotos wiederentdeckten. Bis dahin hatten sie monate- oder jahrelang nichts über den Verbleib ihrer Ehemänner, Geschwister oder Söhne gewusst. So erging es auch al-Hallaq, deren Sohn im November 2012 an der Universität Damaskus von regimetreuen Studierenden festgenommen und in einem Raum der Fakultät für Humanmedizin gefoltert wurde. Danach wurde er in das Gefangenenlager Nummer 215 des Militärgeheimdienstes gebracht, das als »Abteilung des Todes« bekannt ist. Nach drei Monaten ohne Lebenszeichen erzählte ein freigelassener Mitgefangener Maryam al-Hallaq, ihr Sohn sei nach fünf Tagen in Haft gestorben, während sein Kopf auf dem Schoß des Mitgefangenen lag. »Sag Bescheid, wenn er tot ist«, hätten die Wärter ihm befohlen, als er um medizinische Hilfe bat. Ayhams Familie hielt eine Trauerfeier ab, doch wurde die Gewissheit über seinen Tod infrage gestellt, als ein anderer Mitgefangener berichtete, Ayham sei noch am Leben. »Eineinhalb Jahre lang habe ich versucht, herauszufinden,

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ob er lebt oder tot ist«, erzählt al-Hallaq. Bei allen Behörden habe sie nachgefragt, von allen sei sie beleidigt und gedemütigt worden, bis man ihr endlich eine Sterbeurkunde ausgehändigt habe. Todesursache: Herzstillstand. Danach versuchte sie, herauszufinden, wo man ihren Sohn begraben hatte. »Ich wollte genau wissen, was passiert war«, sagt sie. »Obwohl ich die Sterbeurkunde hatte, hoffte ich immer noch, dass er noch am Leben sei.« Diese Hoffnung wurde 2015 endgültig zerstört, als sie über Facebook auf die Caesar-Fotos aufmerksam wurde. »Ich habe bestimmt zehnmal versucht, mir die Fotos anzusehen, aber sie waren so schrecklich, dass ich es nicht konnte«, sagt al-Hallaq. Ein Bekannter habe sie darüber informiert, dass Ayham unter den fotografierten Toten sei. Endlich hatte die Suche der Mutter nach ihrem Sohn ein Ende – und ihr Kampf um Gerechtigkeit begann. Heute lebt Maryam al-Hallaq in Berlin. Syrien verließ sie Ende 2014, nachdem ihr Haus in Ghouta zerstört und das Haus ihres Bruders vom Geheimdienst beschlagnahmt worden war. Zunächst flüchtete sie zu ihrer Schwester nach Beirut. Nach Deutschland kam sie 2017, als sie hörte, dass Syrerinnen und Syrer von hier aus gegen die syrischen Sicherheitskräfte klagen konnten. Am Bundesgerichtshof in Karlsruhe sammelt das Referat für Völkerstrafrecht seit 2011 Hinweise auf Kriegsverbrechen des Assad-Regimes. Unterstützt wird es von syrischen Menschenrechtlern und den Anwälten des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin. Sie sammeln die Aussagen von ehemaligen Gefangenen und von Angehörigen der Folteropfer. Diese spielen eine wichtige Rolle, um Opfer zu identifizieren und Beweise zu unterfüttern. Dass sich die deutsche Justiz mit Verbrechen beschäftigt, die auf syrischem Boden verübt wurden, ermöglicht seit 2002 das Völkerstrafrecht. Dieses wird bei schweren Menschenrechtsver-

»Obwohl ich die Sterbeurkunde hatte, hoffte ich, dass er noch lebt.« Maryam al-Hallaq AMNESTY JOURNAL | 01/2020

Fotos: Samuel Corum / Anadolu Agency / pa

Vor sechs Jahren schmuggelte der syrische Militärfotograf mit dem Decknamen Caesar Tausende Bilder aus Gefängnissen des Assad-Regimes ins Ausland. Angehörige der zu Tode Gefolterten kämpfen nun um Gerechtigkeit. Von Hannah El-Hitami


Zensiertes Grauen. Ausstellung in Washington im Juli 2015.

letzungen wie Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen der Aggression, wie zum Beispiel die Annektion eines Gebietes, angewendet. Das auch als Weltrechtsprinzip bezeichnete Völkerstrafrecht basiert auf der Annahme, dass bestimmte Verbrechen so schwer wiegen, dass sie die gesamte Weltgemeinschaft betreffen und über Staatsgrenzen hinaus wirken. Die Verfahren können vor dem Internationalen Strafgerichtshof stattfinden, was im Falle Syriens jedoch seit Jahren durch das Veto von Russland und China im UN-Sicherheitsrat blockiert wird. Es bleiben also noch nationale Gerichte in Ländern wie Deutschland, in denen das Weltrechtsprinzip gilt: Weder Täter noch Opfer müssen deutsche Staatsbürger sein, damit die Bundesanwaltschaft aktiv wird. Durch die Zusammenarbeit mit dem ECCHR lernte al-Hallaq andere Menschen kennen, deren Familienmitglieder auf den Caesar-Fotos zu sehen waren. Sie taten sich zusammen, gründeten im Februar 2018 die Caesar Families Association, unterstützen sich gegenseitig finanziell und emotional. Und sie reisen durch Europa, um Politikerinnen und Politiker für ihre Sache zu gewinnen. »Wir verlangen keine politische Positionierung, sondern nur eine menschliche gegenüber den Gefangenen«, betont al-Hallaq. Jeden Tag werde in Syrien je-

GERECHTIGKEIT FÜR SYRIEN

mand festgenommen, jeden Tag sterbe jemand im Gefängnis. Die CFA ist gegen eine Normalisierung der staatlichen Beziehungen zum Assad-Regime und gegen eine europäische Finanzierung des Wiederaufbaus in Syrien. »Solange es keine friedliche Lösung gibt, darf der Wiederaufbau nicht beginnen«, sagt alHallaq. »Wie können wir Gebäude in Damaskus wieder aufbauen, wenn weiter Menschen eingesperrt sind? Wie kann man etwas Neues auf Leichen bauen?« Dass es ihr eines Tages möglich sein wird, den Leichnam ihres Sohnes angemessen zu bestatten, glaubt al-Hallaq nicht, auch ihre Rückkehr nach Syrien hält sie für ausgeschlossen. Selbst wenn sie persönlich es nicht erleben sollte, kann sie sich eine Zukunft für Syrien ohne Gerechtigkeit nicht vorstellen. »Wir können einander nur verzeihen, wenn die Täter zur Rechenschaft gezogen werden«, sagt sie. Einen ersten Erfolg gibt es bereits: Im Oktober hat die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe Anklage gegen zwei ehemalige Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes erhoben. Der Prozess soll im im Frühjahr 2020 in Koblenz beginnen. »Die Täter müssen wissen, dass sie für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden«, sagt al-Hallaq. »Vielleicht nicht jetzt, nicht heute, aber eines Tages werden sie sich verantworten müssen.« !

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Gruß des Präsidenten. Poster von Baschar al-Assad an einem zerstörten Block in Homs, 2014.

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Ausnahmezustand ohne Ende Schon bei der ersten großen Erhebung gegen die Diktatur in Syrien 1980 war unser Autor, Yassin al-Haj Saleh, als junger Medizinstudent dabei. Danach verschwand er für 16 Jahre im Gefängnis. Seit seiner Freilassung setzt sich der linke Intellektuelle für demokratische Reformen und ein Ende der Herrschaft Baschar al-Assads ein.

Foto: Sergey Ponomarev / The New York Times / Redux / laif

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eit der Machtübernahme durch die Baath-Partei per Militärputsch am 8. März 1963 gilt in Syrien der Ausnahmezustand, der es erlaubt, Gesetze außer Kraft zu setzen, Zeitungen zu schließen und Parteien zu verbieten. Menschen dürfen sich seitdem nicht im öffentlichen Raum versammeln. In Syrien gab es bis 1963 Dutzende von Zeitungen und Zeitschriften, danach nur noch zwei. Zehn Jahre später kam eine dritte offizielle Tageszeitung dazu. Die syrische Armee wurde politisiert, und illoyale Offiziere wurden entlassen, was zur vernichtenden Niederlage Syriens gegen Israel 1967 beitrug, die die Syrer und viele Araber als bittere Erniedrigung empfanden. Sie wirkte sich auf das Selbstwertgefühl der Bevölkerung ebenso aus wie auf Kultur und Künste. Der Krieg von 1967 beendete zudem das Kapitel des progressiven, säkularen und sozialistisch ausgerichteten Panarabismus. Verteidigungsminister Hafiz al-Assad, der nach der Niederlage 1967 nicht zurücktreten und sich nicht verantworten musste, übernahm drei Jahre später durch einen weiteren Militärputsch die Macht im syrischen Staat. Vom ersten Tag an sicherte er sein Regime gegen weitere Putsche ab, indem er Verwandte und Vertraute, überwiegend aus dem Kreis der alawitischen Glaubensgruppe, die etwa zwölf Prozent der Bevölkerung umfasst, in Schlüsselpositionen von Sicherheitsapparat und Militär einsetzte. Dies befeuerte einen Konfessionalismus und untergrub das Vertrauen der Syrer untereinander, das bis dahin, zu einer Zeit des säkularen Patriotismus, bei den meisten noch bestanden hatte. Schnell kapselte sich das Regime ab, und die Gesellschaft hatte keine legalen Möglichkeiten mehr, sich unabhängig zu artikulieren. Das öffentliche Leben war geprägt von Angst und latenter Feindseligkeit. Nach dem syrischen Eingreifen in den libanesischen Bürgerkrieg gegen die PLO und progressive libanesische Gruppen im Jahr 1976 machte sich in Syrien Verdruss über die soziale und die politische Situation breit. Der Protest äußerte sich in zweierlei Form: links-demokratisch gegen die Tyrannei des Sicherheitsapparats und den Personenkult sowie islamisch-militant. 1979 kam es zu einer offenen Krise, als Islamisten in Aleppo ein Massaker an Dutzenden alawitischen Soldaten verübten und zugleich Proteste zunahmen, die Demokratie, Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit forderten.

GERECHTIGKEIT FÜR SYRIEN

Parteien und Studierende beteiligten sich daran ebenso wie Berufsverbände etwa von Anwälten, Ärzten, Apothekern und Ingenieuren. Das Regime schlug die Proteste gewaltsam nieder und nahm Tausende Islamisten, Linke, Gewerkschafter und gewöhnliche Bürger fest, darunter den Verfasser dieses Artikels.

Leben in Angst Ich war damals gerade einmal zwanzig Jahre alt. Im Zuge der Repression gegen jedes Aufbegehren verübte das Regime 1982 in Hama ein Massaker, dem 20.000 bis 30.000 Bewohner zum Opfer fielen und das weite Teile der während des Gemetzels abgeriegelten Stadt zerstörte. Das Massaker von Hama setzte sich im syrischen Bewusstsein fest und erinnerte an die Niederlage von 1967: Es war ein Nackenschlag gegen die Bevölkerung in Verbindung mit kollektiver Erniedrigung und einem Leben in Angst. So kam es in den achtziger Jahren zu einer Vereinnahmung der Gesellschaft, nachdem 1970 die Machtübernahme erfolgt war. Alle sieben Jahre erhielt Hafiz al-Assad bei festivalartig inszenierten Referenden ohne Gegenkandidaten jeweils über 99 Prozent der Stimmen. Ab Mitte der 1980er Jahre kam die Parole von »Assad auf ewig« auf, und der Präsident wurde zum »Vaterführer« und »Landesherrn« erklärt. Die Referenden wurden »Huldigungen« genannt. Dies deutete auf eine reaktionäre Kursänderung, wenn auch in modernem Gewand, in Gesellschaft, Politik und Kultur hin. Ohne freie Wahlen und Militärputsche und nach der Niederschlagung aller friedlichen und bewaffneten Proteste blieb den Syrern als mögliche Aussicht auf eine Veränderung nur noch der Tod des Herrschers. Aber Hafiz al-Assad hatte bereits seit Mitte 1980er Jahre die

20.000 bis 30.000 Bewohner fielen dem Massaker in Hama 1982 zum Opfer 19


»Es wäre kurzsichtig zu glauben, dass der nächste Ausbruch in Syrien nicht kommen wird.« Yassin al-Haj Saleh ein Erblehen. In der Ära Baschar al-Assad wurde die syrische Wirtschaft unter Fortbestand des 1963 verhängten Ausnahmezustands liberalisiert, was die ohnehin reiche Schicht zur herrschenden Bourgeoisie machte. Assads Neffe Rami Makhluf wurde zum Symbol dieser neuen Klasse; er gilt als Vermögensverwalter des Assad-Clans. Zugleich lebten schon im Jahr 2007 37 Prozent der Bevölkerung von weniger als zwei Dollar am Tag.

»Assad oder keiner!« Der Aufstand von 2011 in Syrien begann vor dem Hintergrund des sogenannten Arabischen Frühlings, der sich innerhalb von zwei Monaten in Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen und Bahrain Bahn brach. In Syrien war der Motor der Revolution ein weitverbreiteter Unmut der Bevölkerung, der ihr Land seit Jahrzehnten nicht mehr gehörte und die Würde einforderte. Vom ersten Tag an begegnete das Regime den Protestierenden mit einer Gewalt,

Foto: Hussein Malla / AP / pa

Vererbung seiner Macht innerhalb der Familie vorbereitet, um sein Ableben nicht zu einem Problem werden zu lassen. Zunächst hatte er seinen rivalisierenden Bruder Rifaat abgesetzt, den Anführer der sogenannten Verteidigungsbrigaden, die das Massaker in Hama ebenso befehligt hatten wie jenes gegen die Häftlinge des Gefängnisses von Palmyra. Anschließend brachte er seinen ältesten Sohn Basil als Nachfolger in Stellung. Dieser aber verunglückte 1994 bei einem Autounfall, sodass der Präsident seinen zweiten Sohn Baschar aus Großbritannien zurückholen musste, wo er eineinhalb Jahre lang Augenheilkunde studiert hatte. Der neue Machterbe stieg im Militär innerhalb von sechs Jahren zum Oberst auf und arbeitete sich in wichtige Politikfelder ein, insbesondere in die Verwaltung des Libanons, damals das syrische Kronjuwel. Im Juni 2000 starb Hafiz al-Assad, und sogleich wurde die Verfassung von der syrischen »Volkskammer« einstimmig dahingehend geändert, dass das Mindestalter zur Übernahme des Präsidentenamtes auf 34 Jahre gesenkt wurde – so alt war Baschar damals. Einen Tag darauf beförderte man ihn zum Generalleutnant. Baschar al-Assad wurde zum Präsidenten einer erschöpften syrischen Gesellschaft, und westliche Staaten, allen voran Frankreich, standen dabei Pate. Der französische Präsident Jacques Chirac hatte Baschar schon vor dessen Amtsantritt im Élysée-Palast empfangen, und die US-Außenministerin Madeleine Albright besuchte ihn in Damaskus, um ihm zum Tod seines Vaters zu kondolieren und somit die Machtvererbung abzusegnen. In den westlichen Demokratien und in den internationalen Organisationen vernahm man kein Wort des Protestes gegen die Privatisierung der syrischen Republik und ihre Umwandlung in

Der Assad-Clan an der Heckscheibe. Anhänger des Regimes 2011 in Damaskus.

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Mehr als 600.000 Tote Wenn die ersten zehn Jahre der Herrschaft von Hafiz al-Assad den Übergang von der Aneignung der Macht zur Aneignung der Gesellschaft in Syrien darstellten, so geschah unter Baschar alAssad der Übergang von einem unpatriotischen Staat zu einer unpatriotischen Gesellschaft. In den bald neun Kriegsjahren wurde tatsächlich das Land niedergebrannt, mehr als 600.000 Menschen wurden getötet – und Syrien zu einem russisch-iranischen Protektorat, an dessen Spitze Baschar al-Assad, sein Bruder Maher und sein Neffe, der Milliardär Rami Makhluf, stehen. Heute leben nach Angaben der Vereinten Nationen 83 Prozent der Syrer unterhalb der Armutsgrenze. Die Kosten für den Wiederaufbau des Landes werden auf etwa 400 Milliarden USDollar geschätzt. Früher wurden in Syrien Reisepässe dazu benutzt, um die Reisebewegungen der Bewohner des Landes in der Welt einzuschränken, besonders die von Oppositionellen und Freigeistern. Heute werden in syrischen Botschaften syrische Pässe für 800 US-Dollar an Flüchtlinge verkauft, ohne dass irgendein Staat, auch nicht Deutschland, Einspruch dagegen erhebt. Das Regime führt seinen Krieg heute also auch mit dem Geld, das jene zu zahlen gezwungen werden, die wegen des Regimes ins Ausland flüchten mussten. Laut einer syrischen Menschenrechtsorganisation gilt der syrische Pass heute als der viertschlechteste und zugleich teuerste der Welt. Das besondere Merkmal der syrischen Tragödie ist, dass man sie hätte verhindern können, hätten die, die zu Beginn des Aufstandes schon 41 Jahre lang geherrscht hatten, nicht darauf

GERECHTIGKEIT FÜR SYRIEN

Foto: Javier Soriano / AFP / Getty Images

die bis hin zum Einsatz von Chemiewaffen und Fassbomben eskalierte. Das Regime erhielt Hilfe aus dem Ausland – vom Iran, von Iran-hörigen Gruppen sowie von Russland. Die Rufe der syrischen Aufständischen nach internationalem Schutz fanden hingegen seit Herbst 2011 kein Gehör. Die Brutalität des Regimes setzte eine Dynamik der Militarisierung und der Islamisierung des Aufstandes in Gang, die den allgemeinen Konfessionalismus verstärkte. Salafistische Gruppen in den Golfstaaten unterstützten in Syrien Kampfgruppen sunnitischer Provenienz, aber auch das syrische Regime selbst spielte die dschihadistische Karte, indem es ab Juni 2011, hundert Tage nach Beginn des Aufstandes, islamistische Gefangene aus seinen Gefängnissen entließ. Der Aufstieg extremistischer Salafisten in Syrien kam dem Regime nur gelegen, dessen Parolen seit Beginn des Volksaufstandes lauteten: »Assad oder keiner!« oder auch: »Assad oder wir brennen das Land nieder!« Das letztgenannte Motto erfuhr eine direkte Umsetzung, der Hunderttausende Menschen zum Opfer fielen. Genozid wäre die richtige Bezeichnung dafür. Die Parole »Assad oder keiner!« steht in direktem Zusammenhang mit der Entstehung der Assad-Dynastie und ihrer Ewigkeitsideologie, die nichts anderes bedeutet als einen permanenten Krieg gegen Veränderung und Zukunft. Die Verewigung der Gegenwart bedeutete für Syrien, dass nur noch Türen in die Vergangenheit geöffnet waren – verkörpert durch die Politik der Islamisten. Sie sind das Produkt einer verewigten Gegenwart, in der für nichts anderes Platz ist als für das, was seit einem halben Jahrhundert stattfindet: eine dynastische Herrschaft und Gewalt. Zwischen 2013 und 2016 häuften sich abscheulichste Verbrechen durch islamistische Verbände in Syrien auf eine Weise, dass man davon sprechen kann, dass zur syrischen Erniedrigung durch Israel und Assad eine weitere islamistische Schicht dazukam.

YASSIN AL-HAJ SALEH ist ein syrischer Schriftsteller und Dissident. Während seines Medizinstudiums wurde er 1980 wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen kommunistischen Partei festgenommen. Er war 16 Jahre lang inhaftiert, davon die letzten Jahre im gefürchteten Gefängnis von Tadmur. Nach seiner Entlassung 1996 machte er 2000 seinen Abschluss in Medizin, praktizierte aber nie. In den Jahren bis zum Beginn des Aufstands gegen Baschar al-Assad 2011 warb er für demokratische Reformen und ging dann in den Untergrund. 2013 wurde seine Ehefrau, die Oppositionelle Samira Khalil, in Douma, einem Vorort von Damaskus, vermutlich von Islamisten entführt. Al-Haj Saleh ist heute Fellow beim Forum für Transregionale Studien in Berlin.

bestanden, die Macht vollumfänglich für sich zu behalten. Hunderttausende Menschen wären noch am Leben, und barbarische Gebilde wie der Islamische Staat und Al-Qaida hätten in Syrien nicht entstehen, beziehungsweise sich festsetzen können. Auch die »Flüchtlingskrise« hätte so nicht stattgefunden. Der politische Wandel, der in Syrien wegen des auf Vernichtung ausgerichteten Charakters der Assad-Dynastie und wegen des geopolitischen Jochs, das den Syrern keine Luft zum Atmen lässt, nicht eingetreten ist, steht weiterhin auf der Tagesordnung. Wir wissen nicht, wann der nächste Ausbruch in Syrien kommen wird. Aber es wäre kurzsichtig, darauf zu setzen, dass er nicht kommen wird. ! Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Übersetzung aus dem Arabischen von Günther Orth. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

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Multitalente. Mitarbeiter von Forensic Architecture in ihrem Bßro in der Universität Goldsmith in New Cross, London.

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Die Architektur des Gedächtnisses Die britische Organisation Forensic Architecture rekonstruiert Kriegsverbrechen durch akustische Nachbildungen, 3-D-Modelle von Tatorten und Computersimulationen. Seit Jahren beschäftigen sich die digitalen Ermittler mit den Untaten des Assad-Regimes in Syrien. Von Peter Stäuber und Horst Friedrichs (Fotos), London

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ie zwanzig Frauen und Männer, die in einem lichtdurchfluteten Großraumbüro vor Bildschirmen sitzen, Tee nippen und gedämpfte Konversationen führen, sind zusammen ein Multitalent: Architekten, Künstler, Designer, Programmierer, Filmemacher und Journalisten. Auf diese breite Palette von Fertigkeiten ist das Team von Forensic Architecture auch angewiesen, denn ihre Arbeit ist einzigartig: Ihr Forschungsgegenstand ist politische Gewalt, und um ihr auf die Schliche zu kommen, stützen sie sich auf plastische Modelle, Computeranimation und akustische Nachbildung. Das Büro liegt im zweiten Stock der Universität Goldsmith, im Londoner Stadtteil New Cross. Gründer und Leiter von Forensic Architecture ist Eyal Weizman. Der Architekt und Professor für Visual and Spatial Culture ist ein ruhiger, überlegter Mann. Zu den zahlreichen Büchern, die er verfasst hat, zählen »The Least of All Possible Evils: A Short History of Humanitarian Violence« und »Hollow Land: The Architecture of Israel’s Occupation«. In dieser Arbeit liegt der Ursprung der forensischen Architektur, dem Forschungsfeld, das Weizman geprägt hat. »Ich fertigte Karten und Analysen an, die sich mit der Architektur im Zusammenhang mit der israelischen Besatzung des Westjordanlands und des Gazastreifens befassten«, erzählt er. »Ich stellte mir Fragen wie: Wo wurden die Siedlungen gebaut, die Straßen, die Infrastruktur? So begann ich mich zunehmend für urbane Kriegsführung zu interessieren. Ich betrachtete die Schnittstelle zwischen Architektur, Gewalt und Menschenrechten.«

formationen verbindet. Indem man sich die Beziehung zwischen den einzelnen Bildern anschaut, kann man Beweismaterial zusammentragen.« 2010 wurde Forensic Architecture in der Universität Goldsmith gegründet, seither haben sich Weizman und sein Team mit Dutzenden Fällen befasst. Der Mord an einem antifaschistischen Rapper durch einen griechischen Neonazi in Athen zählt ebenso dazu wie der Brand in einer Textilfabrik in Karatschi, bei dem 260 Menschen starben. Sie untersuchten die Entführung von 43 Studenten im mexikanischen Ayotzinapa, den Schiffbruch eines Flüchtlingsboots im Mittelmeer, nachdem die EU ihre Rettungsaktionen eingestellt hatte, und die Erschießung des schwarzen US-Amerikaners Harith Augustus durch die Polizei von Chicago. Wie alle Forensiker begeben sich Weizman und sein Team mit penibler Genauigkeit auf Spurensuche. Sie analysieren Videomaterial in Millisekunden-Schritten, fertigen detailgetreue 3-D-Modelle der Tatorte an, studieren Satellitenaufnahmen, programmieren Computersimulationen von Gewalttaten und zeichnen auf haargenauen Landkarten den Tathergang nach. Oft zieht Forensic Architecture weitere Fachleute hinzu – so arbeitete das Team zum Beispiel mit Spezialisten für Fluiddynamik zusammen, um nachzubilden, wie sich der Rauch bei einem Großbrand ausbreitet.

Mit penibler Genauigkeit Mit Beginn der Zweiten Intifada im Jahr 2000 und der US-geführten Invasion im Irak 2003 wurde dieses Thema immer dringender. Auf unzähligen Fotos und Videos waren Kriegshandlungen und potenzielle Menschenrechtsverletzungen zu sehen, Weizman wollte jedoch noch näher ran. »Ein einzelnes Bild oder eine Videoaufnahme kann man für sich analysieren, aber sobald man drei, vier oder siebenhundert hat, muss man die Beziehung zwischen ihnen untersuchen, sowohl im Raum als auch in der Zeit«, erklärt der Wissenschaftler. »Und dazu braucht man ein Architektur-Modell. Das Modell ist der Mechanismus, der In-

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Rauchschwaden über der Stadt. Rekonstruktion eines Großbrand.

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Manche der Projekte stößt Forensic Architecture selbst an, andere werden in Auftrag gegeben – Weizman wird von Anfragen überhäuft, mittlerweile können die Forensiker fünf oder sechs Projekte parallel verfolgen. Die Aufträge kommen von internationalen Organisationen, Menschenrechtskampagnen oder investigativen Journalisten. Amnesty zählt zu den wichtigsten Kunden. Als Präsident Baschar al-Assad begann, den Aufstand gegen sein Regime 2011 brutal niederzuschlagen, wurde Syrien zu einem wichtigen Arbeitsschwerpunkt der Organisation. Doch die Unzugänglichkeit vieler Kampfzonen stellte ein Hindernis für die Recherchen dar – das berüchtigte Militärgefängnis Sadnaya zum Beispiel, nördlich von Damaskus gelegen, war schlichtweg nicht zu erreichen. Berichte über grausame Folter machten die Runde, aber wer nicht dort gewesen war, hatte keine Ahnung, wie das Gebäude überhaupt aussah – es gab keine Videoaufnahmen, nicht einmal Fotos ließen sich finden. »Die einzigen Beweise, die existierten, waren im Gedächtnis der ehemaligen Gefangenen«, sagt Weizman. Als sich Forensic Architecture gemeinsam mit Amnesty 2016 daran machte, Menschenrechtsverletzungen in Sadnaya zu dokumentieren, waren diese Erinnerungen der Schlüssel, um an die nötigen Details zu kommen. Ein Team reiste nach Istanbul, um sich dort mit fünf Syrern zu treffen, die ihre Inhaftierung in dem Gefängnis überlebt hatten.

»Das Gedächtnis hat eine räumliche Dimension.« Eyal Weizman »Das Gedächtnis hat eine räumliche Dimension«, sagt Weizman. »Man kann in Gedanken zu einem bestimmten Ort zurückkehren und sich an das erinnern, was dort passiert ist. In Sadnaya mussten wir das Gebäude von unten aufbauen, angefangen mit dem Boden.« Die ehemaligen Häftlinge begannen mit den Steinplatten, deren Länge und Breite sie kannten. Dann zählten sie gedanklich nach, wie viele Platten sich nebeneinander befanden, so konnten die Forensiker die Maße einer Zelle feststellen. »Sie sagten uns, wie oft sie das Öffnen und Schließen der Türen hörten, und so wussten wir, wie viele Zellen ein einzelner Trakt hat«, erzählt Weizmann. »Diese Information konnten wir dann mit Satellitenbildern vergleichen. Auf diese Weise fanden wir heraus, wie die Architektur dieses Gefängnisses aussieht.« Ein Problem bestand darin, dass den Häftlingen oft die Augen verbunden oder ein Sack über den Kopf gestülpt wurde und ihre Erinnerungen rein akustischer Natur waren. Forensic Architecture engagierte deshalb den Künstler und Soundtechniker Lawrence Abu Hamdan. »Er entwarf ein akustisches Modell, das Geräusche und deren Nachhall simuliert – Türen, die geöffnet oder geschlossen werden, Schritte im Gang, der Klang von Schlägen auf menschliche Körper.« Auf diese Weise schuf Forensic Architecture mithilfe von räumlichen und akustischen Erinnerungen Stück für Stück ein detailreiches Computermodell des Gefängnisses. Die Arbeit mit den Opfern von Sadnaya war auch in psychologischer Hinsicht schwierig. »Traumatisierte Erinnerungen

Festgehalten. Rekonstruktion eines Überfalls.

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Behält den Überblick. Eyal Weizman in seinem Büro.

sind schwer zugänglich«, sagt Weizman. »Unsere Psyche schützt uns zuweilen vor den schlimmsten Erinnerungen, sie verzerrt sie, oder lässt sie manchmal ganz verschwinden.« Forensische Psychologen der Universität Goldsmith unterstützten Weizmans Team und begleiteten die Teilnehmer in diesem Prozess, erklärten ihnen die Gefahren, aber auch die Chancen. »So etwas kann auch therapeutisch sein. Die ehemaligen Häftlinge waren sehr dankbar. Die Erinnerungsarbeit erlaubte es ihnen, das Gebäude zu externalisieren und in gewisser Weise zu vergessen – ihre Erinnerung lebt jetzt irgendwo in einem architektonischen Modell.«

Überzeugen mit Fakten Mit Computersimulationen entschlüsselte Forensic Architecture auch ein anderes Verbrechen im Syrienkrieg: zwei Giftgasangriffe auf Douma im Frühjahr 2018, als die Stadt unter Kontrolle der Opposition stand, bei denen 70 Menschen getötet wurden. Nach der Eroberung der Stadt durch Assads Truppen behaupteten russische Medien, die Attacke sei gestellt gewesen – die Gaskanister seien nicht aus der Luft abgeworfen worden, die Rebellen hätten sie vielmehr selbst herbeigetragen. Forensic Architecture machte sich an die Arbeit.

GERECHTIGKEIT FÜR SYRIEN

»Im Kern betrieben wir Archäologie«, sagt Weizman. »Ohne dass wir Zugang hatten zum Tatort, schauten wir uns jedes Detail an, das auf dem Kanister zu sehen war«. Erneut wurde ein virtuelles 3-D-Modell des Fundorts und der Gasbehälter angefertigt. »Wir fanden zum Beispiel ein zerknittertes Stück Metall. Mit unserer Software konnten wir es entflechten, ausdehnen und messen. Wir stellten fest, dass es genau den Dimensionen des Balkons im Stock darüber entsprach. Auf dem Kanister hatten wir Spuren eines Gittermusters entdeckt, das genau auf dieses Metallstück passte. So kamen wir zum Schluss, dass der Kanister aus der Luft gekommen war – und die einzigen, die Lufthoheit hatten, waren die syrische Regierung und die Russen.« Die Recherchen von Forensic Architecture fließen in Berichte von Organisationen wie Amnesty ein oder werden in Prozessen verwendet, etwa vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Auch in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zur Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) wurden sie mit einer Recherche beauftragt. Aber immer ist das Beweismaterial für alle Welt zugänglich, nie ist es lediglich Teil eines juristischen Prozesses – denn ein zentraler Anspruch von Weizman besteht darin, die Öffentlichkeit aufzuklären: »Wir glauben, dass die Bürgerinnen und Bürger die Fakten kennen müssen, um Entscheidungen treffen, in einem Konflikt Haltung beziehen und Verbrechen verhindern zu können. Deshalb sind unsere Beweise stets öffentlich zugänglich, und wir legen unsere Fakten immer im Namen der Opfer vor.« !

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Bakschisch as usual Gegen das französische Bauunternehmen Lafarge wird wegen Beihilfe zu Verbrechen der Terrororganisation Islamischer Staat ermittelt. Von David Philippot

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afarge hat mein Leben, meine Karriere zerstört«, sagt Mohammed* und verzieht den Mund zu einem traurigen Lächeln. Er bedauere sehr, vor acht Jahren dem Angebot eines Freundes gefolgt zu sein, für den französischen Zementhersteller im Nordosten Syriens zu arbeiten. Das Jobangebot des globalen Branchenführers war für den jungen syrischen Vater höchst attraktiv: Es erlaubte ihm, seine Familie aus dem Konfliktgebiet nahe der türkischen Grenze in Sicherheit zu bringen. Jahre nach der folgenschweren Entscheidung spricht er zum ersten Mal mit einem Journalisten. Andere Opfer, die wie er von der Menschenrechtsorganisation Sherpa und dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) unterstützt werden, ziehen es vor, stumm und unsichtbar zu bleiben, eingeschüchtert von der Macht des Gegners. Höflich und in präzisem Englisch erzählt der Ingenieur in einem Café in Berlin, wie sein Leben durch den Krieg und die Verachtung seines ehemaligen Arbeitgebers aus dem Ruder lief. Der Schutzstatus, den er seit 2016 in Deutschland genießt, erlaubt ihm zwar, eine Arbeit aufzunehmen. Doch bei der Arbeitssuche erfährt er eine Abfuhr nach der anderen, obwohl es hierzulande an Ingenieuren mangelt: »Immer wenn meine Gesprächspartner in meinem Lebenslauf ›Lafarge und Syrien‹ lesen, rümpfen sie die Nase. Diese Scharte lässt sich nicht mehr auswetzen«, sagt er. Dabei hat er nur ein Jahr für die französische Gruppe gearbeitet, von Sommer 2011 bis Sommer 2012. Der Grund: Seit 2016 untersucht die französische Justiz die Aktivitäten im Zementwerk Jalabiya im Norden Syriens, das von Lafarge Cement Syria bis 2014 betrieben wurde. Das Unternehmen hatte schon zuvor eingeräumt, dort nach Beginn des Krieges 2012 bewaffnete Gruppen bezahlt zu haben, um den Betrieb der Fabrik aufrechterhalten zu können. Französische Geheimdienste wussten laut Medienberichten offenbar bereits länger davon. Sherpa spricht von 13 Millionen Euro an Schutzgeldern, die über mehrere Jahre geflossen sein sollen. In einem Bericht der Unternehmensgruppe Lafarge-Holcim werden fünf Millionen genannt. Anders als die etwa hundert nichtsyrischen Angestellten, die von der Firmenleitung nach Ausbruch der Kämpfe außer Landes geschleust wurden, blieben die rund 250 syrischen Arbeiter im Sommer 2012 vor Ort – was Mohammed zu Nachfragen über den Evakuierungsplan veranlasste. »Der Sicherheitschef der Firma, der Norweger Jacob Waerness, erklärte mir daraufhin,

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Schwere Last. Mitarbeiter der Lafarge-Fabrik im Norden Syriens.

dass ich das Unternehmen umgehend verlassen könne, wenn ich nicht zufrieden sei – was ich auch gemacht habe, aber nur, um meine Familie in der Türkei in Sicherheit zu bringen«. Dass es damals bereits zu Entführungen durch lokale Milizen kam, war der Unternehmensführung bewusst – es wurden Lösegelder gezahlt, aber auch Mitarbeiter ohne Abfindung entlassen, wenn sie nicht zur Arbeit erschienen. Das belegen E-Mails zwischen der Firmenzentrale in Paris und Lafarge Cement Syria (LCS), das zu 98,7 Prozent im Besitz von Lafarge ist. Nicht nur rivalisierende Milizen machten das Leben für die einheimischen Lafarge-Mitarbeiter zur Hölle; das Unternehmen zwang sie außerdem dazu, in einer 45 Kilometer entfernten Siedlung in Manbij zu leben, einer Stadt, die regelmäßig Ziel syrischer Luftangriffe war. Wie richtig seine Entscheidung war, Syrien früh zu verlassen, begriff Mohammed im September 2014, als es rund dreißig Kollegen gerade noch schafften, die Fabrik zu verlassen, bevor sie

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Foto: Daniel Riffet / Photononstop / pa

»Ich bin überzeugt, dass wir die letzte Schlacht gewinnen werden.« Frédéric Jolibois

von Milizionären des Islamischen Staats (IS) gestürmt wurde. Den Erfolg der Evakuierung schrieb sich indes Frédéric Jolibois zu, Direktor der Lafarge-Tochtergesellschaft LCS, der die Fabrik in Jalabiya von Kairo aus leitete: »Trotz der Komplexität der Situation und der extremen Dringlichkeit, mit der wir konfrontiert waren, ist es uns gelungen, unsere Mitarbeiter sicher aus dem Werk zu holen«, schrieb er an die Konzernzentrale. »Ich bin überzeugt, dass wir die letzte Schlacht gewinnen werden.« Die findet nun vor Gericht in Paris statt, nachdem die französische Justiz im Juni 2016 Ermittlungen gegen mehrere frühere Manager des Unternehmens einleitete. Ihnen wird »Terrorismusfinanzierung«, »Embargoverletzung« und »Gefährdung des Lebens anderer« vorgeworfen. Eine juristische Besonderheit des französischen Rechts erlaubt es, dass Lafarge selbst als juristische Person mit denselben Anklagepunkten belastet wird – und das Unternehmen im Falle einer Verurteilung ebenfalls strafrechtlich belangt werden könnte.

GERECHTIGKEIT FÜR SYRIEN

Als »historische Premiere«, bezeichnet Claire Tixeire vom ECCHR deshalb auch die Ermittlungen. »Das ist das erste Mal, dass ein multinationales Unternehmen – die Muttergesellschaft – auf diese Weise angeklagt wird.« Für die Durchsetzung ethischer Unternehmensverantwortung sei das sehr wichtig, schließlich stehe damit das Geschäftsmodell des gesamten Unternehmens vor Gericht, »das Streben nach Gewinn um jeden Preis«. Rund 680 Millionen Dollar hatte die Lafarge-Gruppe einst in Syrien investiert, um »das modernste Zementwerk im Nahen Osten« zu errichten. Um dieses Kapital nicht zu gefährden, kämpft die LafargeGruppe nun mit den besten Anwälten der französischen Hauptstadt gegen eine Verurteilung – im November gelang ihr dabei zumindest ein Teilerfolg: Ein Pariser Berufungsgericht hob die schwerwiegendste Anklage, »Mittäterschaft bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, auf. Doch der Prozess geht weiter, und damit das juristische Ringen um die Frage, inwieweit Geschäfte skrupellos weiterbetrieben werden können, obwohl Menschenrechte dabei massiv verletzt werden. Schließlich war Lafarge das einzige ausländische Unternehmen, das nach Ausbruch des Krieges im Norden Syriens blieb – nicht zuletzt, um nach Ende der Kämpfe als erstes bereitzustehen, um am Wiederaufbau zu verdienen. Eine strategische Entscheidung, die der Mutterkonzern durch Schmiergeldzahlungen an lokale Milizen eifrig beförderte. Die 13 Millionen Euro, die allein zwischen 2011 und 2013 an Bakschisch geflossen sein sollen, wurden vermittelt durch den nach Ausbruch des Aufstands nach Paris geflohenen Geschäftsmann Firas Tlass, den Sohn des ehemaligen Verteidigungsministers. Die Schmiergeldzahlungen gingen auch weiter, als der Islamische Staat im Juni 2014 die Kontrolle über die Region übernahm und die Errichtung eines Kalifats verkündete – unter Verstoß gegen ein europäisches Embargo und eine UN-Resolution, die finanzielle Beziehungen zu terroristischen Gruppen verbietet. Drei der angeklagten Führungskräfte haben inzwischen den Konzern verlassen. Der Kassationsgerichtshof muss nun darüber entscheiden, ob sich Lafarge vorsätzlich an den Verbrechen beteiligt hat, was der Konzern bestreitet. Oder ob er, wie das ECCHR behauptet, wissen musste, dass das eigene betrügerische Handeln die Verbrechen begünstigte. Es wäre das erste Mal, dass für derart schwerwiegende Taten ein multinationaler Konzern zur Rechenschaft gezogen wird. Mohammed hofft, dass Lafarge verurteilt wird – »nicht als Akt persönlicher Rache, sondern im Namen der Gerechtigkeit«: »Ich möchte, dass sie bezahlen, denn das Geld, das sie an Terroristen gezahlt haben, hat Frauen zu Witwen und Kinder zu Waisen gemacht.« ! * Name von der Redaktion geändert.

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SIE LÄSST NICHT LOCKER. IHR MUT BRAUCHT DEINEN SCHUTZ.


Schütze die, die Menschenrechte verteidigen – denn sie leben gefährlich. Weil sie sich für die eigenen und die Rechte anderer einsetzen, werden Menschenrechtler_innen weltweit bedroht, kriminalisiert und ermordet. Deshalb brauchen sie deine Unterstützung. amnesty.de/mut-braucht-schutz


POLITIK & GESELLSCHAFT

Tage des Zorns. Demonstranten in Santiago de Chile.

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Bis es sich zu leben lohnt Zu wenig, um zu leben, zu viel, um zu sterben: Die Proteste in Lateinamerika werden befeuert von sozialer Ungleichheit – und der Brutalität der Sicherheitskräfte. Von Wolf-Dieter Vogel, Mexiko-Stadt Erst Venezuela, dann Ecuador, Chile, Bolivien und zuletzt auch noch Kolumbien – Südamerika kam 2019 nicht zur Ruhe. Demonstranten zogen mit Trommeln und Kochtöpfen durch die Straßen, Barrikaden brannten, Jugendliche lieferten sich Schlachten mit der Polizei, hochgerüstete Beamte gingen gewaltsam gegen die Rebellierenden vor. Längst handelt es sich bei den Protesten nicht mehr nur um ein kurzfristiges Aufbäumen gegen ungerechte Sozialprogramme oder korrupte Politiker. Von einem »südamerikanischen Frühling« ist die Rede, und tatsächlich haben die Bewegungen das Potenzial, verkrustete, autoritäre Strukturen aufzubrechen und Machtverhältnisse infrage zu stellen. Ob dies aber am Ende zu mehr sozialer Gerechtigkeit, demokratischeren Verhältnissen und einer Stärkung der Menschenrechte führen wird, ist nicht ausgemacht. Die Anlässe, die die Menschen auf die Straße treiben, gleichen sich. In Ecuador führte im Oktober die Ankündigung von Präsident Lenín Moreno, die Benzinsubventionen zu streichen, zu landesweiten Protesten. Der Staatschef wollte damit die Auflagen des Internationalen Währungsfonds für einen 4,2 Milliarden-Dollar-Kredit erfüllen. Transportunternehmer, Gewerkschafter, Studenten und Indigene gingen auf die Barrikaden. Moreno rief den Ausnahmezustand aus, bei heftigen Kämpfen zwischen der Polizei und Demonstranten starben mehrere Menschen. Als die indigenen Gemeinden des kampfstarken Dachverbands CONAIE aus dem ganzen Land nach Quito zogen und die Hauptstadt mit Blockaden stilllegten, nahm Moreno die Streichungen zurück.

Foto: Luis Hidalgo / AP / pa

Gesundheit nur gegen Geld Zur gleichen Zeit begannen in Santiago de Chile Proteste von Schülerinnen und Schülern gegen die Erhöhung der U-Bahnpreise um 30 Pesos (ca. 3 Cent). Schnell weiteten sich die Aktionen aus und richteten sich auch gegen den konservativen Präsidenten und Unternehmer Sebastian Piñera. Bis zu eine Million Menschen gingen gegen soziale und wirtschaftliche Ungleichheit auf die Straße. Die 30 Pesos waren der Anlass der Proteste, die Ursachen der Ungleichheit reichen jedoch bis in die Diktatur Augusto Pinochets zurück, während der Chile zum Vorzeigemodell einer neoliberalen Ökonomie wurde. Nicht nur die arme Bevölkerung, sondern auch die Mittelschicht leidet an der Privatisierung des Bildungs-, Renten- und Gesundheitswesens. Nur wer viel Geld hat, kann sich eine gute medizinische Versorgung leisten. Und das sind nur wenige Men-

PROTESTE IN SÜDAMERIKA

schen. Die Mehrheit verdient höchstens 500 US-Dollar im Monat, und damit zu wenig, um die teuren Mieten oder Universitätsgebühren zu bezahlen. Auch Piñera musste dem Druck nachgeben, versprach höhere Renten und Löhne. Zudem sollen die Chileninnen und Chilenen über eine neue Verfassung abstimmen, die jene aus der Pinochet-Zeit ersetzen soll, mit der sich der Staat seiner sozialen Verantwortung entzogen hat. Doch die Proteste gehen weiter, und das ist wenig verwunderlich. Denn die Brutalität, mit der die Sicherheitskräfte vorgingen, werden die Demonstranten so schnell nicht vergessen. Auch Piñera rief den Ausnahmezustand aus und mobilisierte fast 10.000 Polizisten und Soldaten. 20 Menschen kamen ums Leben, Hunderte wurden durch Gummi- und Tränengasgeschosse schwer verletzt. Für Erika Guevara Rosas, Amerika-Expertin von Amnesty International, steht hinter dem Einsatz der Sicherheitskräfte eine bewusste Strategie: »Die Demonstranten werden verletzt, um den Protesten den Anreiz zu nehmen, und das sogar mit extremen Mitteln wie Folterungen und sexueller Gewalt.«

Polizei und Paramilitärs greifen hart durch Doch selbst Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte konnten die Proteste in Lateinamerika bislang kaum eindämmen. In Venezuela und Nicaragua mit ihren linken Regierungen gibt es heftige Kritik an den Einsätzen von Polizisten und paramilitärischen Gruppen. Im rechts regierten Kolumbien wurde der Schüler Dylan Cruz, der durch eine Tränengasgranate getötet wurde, zum Symbol des Widerstands. Bei den Protesten dort geht es um die Forderung, den Friedensvertrag mit den ehemaligen FARC-Guerilleros umzusetzen, aber auch um die soziale Lage: Gewerkschafter, Indigene und Linke kämpfen gegen eine geplante Renten- und Arbeitsreform. Und wie in Ecuador und Chile zwang auch in Kolumbien der Druck der Straße die Regierung zum Einlenken. Die Proteste hätten das Land verändert, stellt Fabio Arias fest, Generalsekretär der großen Gewerkschaft CUT: »Die Agenda der Regierung steht infrage.«

Die Kämpfe können jederzeit auf andere Länder des Kontinents übergreifen. 31


Fotos: Carlos Garcia Rawlins / Reuters, Natan Dvir / Polaris Images / laif

Drei Staaten, in denen die außerparlamentarische Opposition Erfolge erzielte. Die Kämpfe können jederzeit auf andere Länder des Kontinents übergreifen. Denn wie in Ecuador oder Chile herrscht auch in Argentinien, Peru oder Brasilien eine extreme Kluft zwischen Arm und Reich, und viele südamerikanische Staaten befinden sich in einer Krise, die diese Ungleichheit noch weiter verschärft. Sie leiden darunter, dass die Rohstoffpreise eingebrochen sind. So ist das Kupfer, das Chile in großen Mengen exportiert, derzeit 30 Prozent weniger wert als 2011. Der Preis des Erdöls, von dem Venezuela abhängt, sank um 40 Prozent, und der Exporterlös für das in Brasilien und Argentinien massenhaft angebaute Soja ist ein Drittel geringer als zu Beginn des Jahrzehnts. Anfang der 2000er Jahre hatten der chinesische Wirtschaftsboom und Aufschwünge in Europa und den USA für eine hohe Nachfrage nach Erzen, Öl und Agrarprodukten gesorgt. Die Preise stiegen, und lateinamerikanische Politiker aller Couleur setzten, wie schon seit kolonialen Zeiten, auf die rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Dieser sogenannte Extraktivismus spülte viel Geld in die Staatskassen, belebte die Märkte, schuf neue Konsumenten und Spielraum für Sozialprogramme. Linke Regierungschefs wie der Venezolaner Hugo Chávez nutzten die Einnahmen, um Gesundheitszentren und Stadtteiloder Arbeitskooperativen zu unterstützen. Der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« basierte auf dem Verkauf des Erdöls: 96 Prozent der Devisen kamen dadurch ins Land. Auch in anderen Staaten weckte der Boom Hoffnungen: Nach Angaben der UN-Wirtschaftskommission Cepal sank die Zahl der extrem Armen in Lateinamerika zwischen 2001 und 2011 von 19,3 auf 11,3 Prozent.

Die Demonstrationen, Streiks und Blockaden haben sich angesichts dieser Entwicklung zwar verschärft, sind aber auch nicht neu. Schon lange wehren sich indigene Gemeinschaften gegen das extraktivistische Modell, weil die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ihre Lebensgrundlage zerstört. Und es waren nicht zuletzt die Verlierer der wirtschaftsliberalen Politik, die Ausgeschlossenen und Armen, die vor mehr als 20 Jahren dazu beitrugen, dass mit Chávez ein linker Militär Präsident Venezuelas wurde. Dennoch trifft die aktuelle Krise Arbeiterinnen in Caracas ebenso wie Mittelschichtstudenten in Santiago de Chile. Angesichts fehlender Devisen ist von den venezolanischen Sozialprogrammen nichts geblieben, und auch dort sind in diesem Jahr Zehntausende gegen das Regime auf die Straße gegangen. Der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« konnte mit dem Abschwung ebenso wenig umgehen wie die neoliberalen Regimes. Im Gegenteil: Die fehlenden Petrodollars führten in Venezuela zu einer nie dagewesenen humanitären Krise. Das Gesundheitssystem brach zusammen, vier Millionen Menschen verließen

Die Krise trifft nicht nur die Armen Doch seit die Weltwirtschaft kränkelt, offenbaren sich die Fehler, die in diesen florierenden Zeiten gemacht wurden. Anstatt in nachhaltige Entwicklung zu investieren, orientierten sich staatliche Ausgaben häufig an populistischen Interessen. Ob in Brasilien oder Venezuela, viel Geld verschwand und verschwindet weiterhin in korrupten Kanälen. Zugleich müssen die Regierungen Kredite zurückbezahlen, die während des Aufschwungs aufgenommen wurden. Die Ungleichheit hat zugenommen, und die Zahl der Armen steigt wieder. Nach Angaben von Cepal leben derzeit 72 Millionen Menschen in Lateinamerika in extremer Armut, 2014 waren es 46 Millionen.

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Kontinent in Aufruhr. Proteste in Santiago de Chile und Bogotá.

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Gegen die Präsidenten. Demonstranten in Caracas und im bolivianischen Santa Cruz.

das Land. Amnesty wirft dem Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro willkürliche Festnahmen, außergerichtliche Hinrichtungen und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit vor.

Die Rechten profitieren vom Volksaufstand

nachdem Morales unter dem Druck des Militärs ins Exil nach Mexiko ging, »konnten die Ultrarechten diesen Volksaufstand für sich nutzen«. Dass nach der Flucht des Präsidenten ultrarechte Kräfte die Macht übernahmen, wird die Polarisierung verschärfen. Übergangspräsidentin Jeanine Áñez hielt im Regierungspalast eine Bibel in die Höhe, während ihre Anhänger auf den Straßen Wiphala-Fahnen, das Zeichen des plurinationalen indigenen Staats, verbrannten. Soldaten, »die an Operationen zur Wiederherstellung der Ordnung teilnehmen«, sind per Dekret von jeglicher strafrechtlicher Verfolgung ausgeschlossen – ein Freibrief für Massaker, wie Morales zurecht aus der Ferne kritisierte. Sollte die Rechte in Bolivien an der Regierung bleiben, wäre das ein schwerer Rückschritt für die Emanzipation der Indigenen und die Menschenrechte. Doch haben nicht zuletzt die Ureinwohner Ecuadors bewiesen, welche Kraft ihre autonome Organisation entfalten kann, um die Regierung in ihre Schranken zu weisen. So wie die außerparlamentarischen Proteste in Chile Politiker zum Handeln zwangen. Unabhängig davon, wer die Regierung stellt, wird das Ringen um soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte in Lateinamerika weitergehen, »bis es sich zu leben lohnt«. So haben es chilenische Aktivisten auf zahlreiche Häuserwände geschrieben. ! Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

Fotos: Ana Karina Delgado / Polaris Images / laif, Luisa Gonzalez / Reuters

Auch in Bolivien trieb das autokratische, repressive Verhalten der Regierung die Menschen auf die Barrikaden. Schon lange bevor der linke, indigene Präsident Evo Morales im November mit einer wahrscheinlich gefälschten Wahl seine Macht erhalten wollte (siehe Seite 34), hatte er bereits zahlreiche Anhänger gegen sich aufgebracht. Viele waren empört, weil er 2016 mit Hilfe des ihm ergebenen Verfassungsgerichts die Möglichkeit einer Wiederwahl erzwang, obwohl sich die Mehrheit in einem Referendum dagegen ausgesprochen hatte. Auch das Vorgehen des Präsidenten gegen Indigene, die sich einem Autobahnprojekt im Regenwald widersetzten, ließ seine Anhänger auf Distanz gehen. Nach Ansicht des uruguayischen Theoretikers Raúl Zibechi haben die systematischen Attacken der Regierung gegen die Basisbewegungen zur politischen Krise in Bolivien geführt. Und

72 Millionen Menschen in Lateinamerika leben in extremer Armut, fast 30 Millionen mehr als 2014.

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1998 erhielt der Bolivianer Waldo Albarracín den Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International. Nun setzte er sich an vorderster Front für ein Ende der Präsidentschaft von Evo Morales ein. Von Thomas Schmid Der Hilferuf kam über Facebook. »Man brennt mein Haus in Cota Cota nieder. Ich bitte um Hilfe, bitte bringt Feuerlöscher in die 34. Straße.« Cota Cota ist ein Stadtteil von La Paz, der Verwaltungshauptstadt von Bolivien, und in der 34. Straße wohnt, nein: wohnte, muss man nun sagen, Waldo Albarracín, der Rektor der Universidad Mayor de San Andrés, der ältesten, bereits 1830 gegründeten Universität des Landes. Das in meterhohen Flammen stehende zweistöckige Haus des 62-jährigen Professors kann man auf einem YouTube-Filmchen sehen. Man hört verzweifelte Schreie. Weder Feuerwehr noch Polizei schreiten ein. Der Brand brach am Sonntag, den 10. November, um neun Uhr abends aus. Drei Stunden zuvor hatte Präsident Evo Morales seinen Rücktritt verkündet, zu dem ihm der Armeechef »geraten« hatte, was nur eine verblümte Aufforderung war. Anhänger des gestürzten Präsidenten errichteten umgehend Barrikaden, setzten Busse in Brand. Albarracín ist ein Wissenschaftler. Aber bekannter ist er in Bolivien als ein Mann, der sich seit Jahrzehnten an vorderster Front für Bürger- und Menschenrechte einsetzt. Von 1988 bis 1993 gehörte er einem Komitee an, das sich zum Ziel setzte, einen Prozess gegen Luis García Meza durchzusetzen, den wohl schrecklichsten der zahlreichen Militärdiktatoren der jüngeren Geschichte des Landes. García Meza, der zwar nur ein Jahr nach seinem Putsch die Macht 1981 wieder abgeben musste, hatte sich 1987 ins Ausland abgesetzt und wurde 1993 zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. 1994 wurde er in Brasilien aufgespürt und im Folgejahr an Bolivien ausgeliefert, wo er im vergangenen Jahr starb. 1992 bis 2003 war Albarracín Präsident der Asamblea Permanente de Derechos Humanos de Bolivia (APDHB), der bekanntesten Menschenrechtsvereinigung des Landes. In jenem Jahrzehnt fand auch das »Weihnachtsmassaker« statt: Zwei Tage vor Heiligabend starben 1996 bei der polizeilichen Räumung von zwei besetzten Goldminen in der Provinz Potosí elf Menschen. Die APDHB recherchierte hartnäckig, ohne viel Erfolg – aber mit der Folge, dass im Januar 1997 Albarracín auf dem Weg zur Universität entführt wurde. »Acht Männer in Zivilkleidung zerrten ihn aus dem Fahrzeug«, berichtete Amnesty International damals, »mit verbundenen Augen wurde er an einen unbekannten Ort

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geführt, wo er während mehrerer Stunden auf Kopf, Ohren und Hoden geschlagen wurde. Man drohte ihm, ihn zu töten.« Schließlich wurde der Entführte ins Hauptquartier der Kriminalpolizei gebracht, die ihn mit gebrochenen Rippen ins Polizeikrankenhaus überwies. In den 1990er Jahren setzte sich Albarracín für politische Gefangene ein und für politische Flüchtlinge, die in Bolivien Schutz suchten, aber auch für Kokapflanzer, die sich gegen die Zerstörung ihrer Plantagen durch die Antidrogenpolizei wehrten. Für sein langjähriges Engagement für Bürger- und Menschenrechte wurde er 1998 in Frankfurt am Main mit dem Menschenrechtspreis von Amnesty International Deutschland ausgezeichnet. 2003 bis 2008 war Albarracín als Ombudsman gemäß der Verfassung dafür zuständig, die Menschenrechte und die Rechte der indigenen Gemeinschaften gegenüber den staatlichen Institutionen zu verteidigen. Seit 2013 ist er Rektor der Universidad Mayor de San Andrés. Albarracín gehört zu den bekanntesten Vertretern der Zivilgesellschaft in Bolivien. Dass sein Haus am 10. November lichterloh brannte, war aber weniger eine Antwort auf sein menschenrechtliches als auf sein politisches Engagement. Schon drei Wochen vor den dramatischen Ereignissen, die Evo Morales ins mexikanische Exil trieben, hatte Albarracín für Schlagzeilen gesorgt. Nachdem ihn eine Tränengasgranate getroffen hatte, stand er mit einer großen Platzwunde an der Stirn, blutüberlaufenem Gesicht und blutdurchtränktem Hemd vor einer Fernsehkamera. Am Vortag, dem 20. Oktober, hatte Bolivien gewählt. Evo Morales, seit Januar 2006 an der Macht, der erste Präsident Boliviens, der nicht der weißen Oberschicht, sondern als Abkömmling einer Aymara-Familie der indigenen Unterschicht entstammt, wollte ein viertes Mandat antreten. Die unter seiner Regierung verabschiedete Verfassung erlaubt zwar nur zwei Mandate hintereinander. Ein drittes hatte ihm das Verfassungsgericht jedoch zugestanden, weil er das erste noch aufgrund der

Albarracín hatte den Präsidenten mehrfach als »Diktator« bezeichnet. AMNESTY JOURNAL | 01/2020

Foto: David Mercado / Reuters

»Bringt Feuerlöscher, bitte!«


Beharrlicher Kämpfer für die Menschenrechte. Waldo Albarracín im November 2019 in La Paz.

alten Verfassung angetreten hatte. 2017 billigte das Verfassungsgericht ihm verfassungswidrig ein viertes Mandat zu – mit der merkwürdigen Begründung, dass die Beschränkung der Anzahl von Mandaten die »politischen Rechte« von Evo Morales unzulässig beschneide. Die Opposition sprach von Putsch. Soweit zur Vorgeschichte der umstrittenen Wahl vom 20. Oktober. Am Wahltag selbst geschah dann Seltsames: Nach Auszählung von 83,8 Prozent der Stimmen lag Morales mit 45,3 Prozent vor Carlos Mesa, dem Zweitplatzierten, der nur 38,2 Prozent erreichte. Aber dann wurden – angeblich auf Grund technischer Schwierigkeiten – mehr als 23 Stunden lang keine weiteren Ergebnisse verkündet, bis das Wahlgericht am 21. Oktober vor die Presse trat und bekannt gab, nach Auszählung von 95,30 Prozent der Stimmen hätten 46,86 Prozent für Morales und 36,72 Prozent für Mesa gestimmt. Der Vorsprung betrug demnach 10,14 Prozent. Wären es unter zehn Prozent geworden, worauf zunächst alles hinwies, hätte laut Wahlgesetz eine Stichwahl stattfinden müssen – und die hätte Mesa vermutlich gewonnen. Die Opposition sprach sofort von Wahlbetrug. Albarracín, nicht nur Universitätsrektor, sondern auch Präsident des Nationalen Komitees zur Verteidigung der Demokratie Boliviens (CONADE), einer zivilgesellschaftlichen Organisation, forderte umgehend ein neues Wahlgericht und Neuwahlen. Er rief zu Massenprotesten auf, die sich ausweiteten und den Armeechef schließlich bewogen, Morales zum Rücktritt zu »raten«. Der Präsident, den Albarracín in jüngster Zeit immer wieder als

BOLIVIEN

»Diktator« bezeichnet hatte, trat den Weg ins Exil an. Nicht nur seine Anhänger sprechen von einem Staatsstreich. Ein klassischer Putsch war es nicht. Weder wurde der Notstand ausgerufen, noch das Parlament aufgelöst, noch eine Pressezensur eingeführt, und es kam auch zu keinen Massenfestnahmen. Und doch riecht es sehr nach Putsch. Jeanine Áñez, die – bei Absenz des Präsidenten, des Vizepräsidenten und der Präsidenten des Senats und des Abgeordnetenhauses (alle hatten sich abgesetzt) – verfassungsgemäß bis zu Neuwahlen Präsidentin wurde, ernannte zu ihrem Innenminister Arturo Murillo, der sogleich versprach, seinen abgetauchten Vorgänger im Amt zu »jagen«. Der Armee stellte Áñez einen Freibrief aus, der internationales Aufsehen erregte. Sie unterzeichnete ein Dekret, wonach Militärs »für Operationen zur Wiederherstellung der Ordnung« strafrechtlich nicht belangt werden können. Die revanchistischen Kräfte der weißen Oberschicht, die die Präsidentschaft von Morales, dem Mann aus der Unterschicht, immer nur als Unfall in der Geschichte Boliviens begriffen haben, greifen nach der Macht. Das Parlament hat sich – mit den Stimmen der Partei von Morales – zwar nun auf Neuwahlen geeinigt, an denen Morales, der fast 14 Jahre lang Präsident war, nicht mehr teilnehmen darf. Doch die Situation in Bolivien ist weiterhin explosiv. Die Fronten sind verhärtet, und so forderte der Menschenrechtler Waldo Albarracín die Interimspräsidentin auf, die Bolivianer zur Versöhnung aufzurufen, denn »ein Zusammenleben in gegenseitigem Respekt ist möglich«. !

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Wächter des Waldes Auf der Hut. Die Waldwächter Claudio (links) und Leilson auf dem Rio Pindare.

Die Guajajara-Indianer im Nordosten Brasiliens haben Milizen gebildet, um ihre Lebensgrundlagen gegen illegale Holzfäller zu verteidigen. Von Andrzej Rybak Ein leiser Knacks verscheucht die Papageien. Claudio Guajajara, der als Kopf der Patrouille dem Urwaldpfad folgt, dreht sich um und ermahnt seine Männer mit Gesten zur Stille. Einer von ihnen ist auf einen trockenen Zweig getreten. Nach einer kleinen Pause setzt die Patrouille ihren Marsch fort. Claudio trägt Tarnkleidung, eine feste lange Hose, T-Shirt und Kappe. Seine Arme sind nach traditioneller Art mit geometrischen Mustern bemalt. Um seinen Hals hängen Ketten, darunter der riesige Stoßzahn eines Jaguars, den er vor Jahren erlegt hat. Der Pfad endet auf einer kleinen Lichtung, auf der jemand als Schutz gegen Regen einen winzigen Unterstand aus Zweigen und Blättern errichtet hat. Doch kein Mensch ist zu sehen. »Es waren weiße Wilderer«, sagt Claudio. »Sie waren vor etwa zwei Wochen hier.« Er und seine Mitstreiter sind Wächter des Urwalds, Guardiões da Floresta. Die indigenen Guajajara haben sich zu einer Miliz zusammengetan, um ihr Land gegen Überfälle von Weißen zu verteidigen. »Wir sind 32 Krieger, alle bereit, für unser Land zu sterben«, sagt der 52-Jährige pathetisch. »Der Wald ist unsere Mutter, er gibt uns alles, was wir zum Leben brauchen.« Der Wald von Caru, der in den 1980er Jahren als indigenes

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Gebiet ausgewiesen wurde, steht offiziell unter dem Schutz der brasilianischen Regierung. An seinen Grenzen stehen Tafeln, die Fremden den Zutritt verbieten. Doch das hindert die illegalen Holzfäller nicht daran, immer wieder einzufallen, Schneisen in den Wald zu schlagen und wertvolle Bäume zu fällen. Auch die Viehzüchter, deren Weideland an den Wald angrenzt, würden ihren Besitz gern vergrößern. Deswegen legten sie 2015 mehrere Feuer in dem Reservat – ein Teil des Waldes ging in Flammen auf. Seit dem Amtsantritt von Präsident Jair Bolsonaro im Januar 2019 hat sich die Lage weiter verschlimmert. »Es herrscht Krieg«, sagt Claudio. »Die Invasoren sind bereit, Gewalt anzuwenden. Jäger, Holzfäller, Farmer – alle haben Waffen. Es ist gefährlich.« Um sich zu verteidigen, tragen die Indigenen alte Schrotflinten, manchmal auch Pfeil und Bogen. In Brasilien sind seit 2015 rund 160 Indigene bei Landkonflikten getötet worden. Im Bundesstaat Maranhão, wo der Urwald mit Ausnahme der indigenen Gebiete fast komplett abgeholzt wurde, kommt es besonders oft zu Gewalt. Killerkommandos haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten etwa 80 Guajajara-Aktivisten getötet. Die Polizei greift kaum noch ein, und auch die nationale Behörde zum Schutz der Indigenen (FUNAI) ist hilflos – Bolsonaro hat sie weitgehend entmachtet und ihre Mittel gekürzt. Doch die Guajajara haben nicht vor, klein beizugeben. Sie

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Fotos: Andrzej Rybak

konnten ihre Kultur, ihre Sprache und ihre Traditionen bewahren, obwohl sie am Rande des Amazonas-Urwalds leben und schon seit fast 400 Jahren regelmäßig Kontakt zu weißen Glücksrittern, Missionaren und Kolonisten haben. Insgesamt leben in Maranhão heute etwa 13.000 Guajajara in elf offiziellen Schutzgebieten. In Caru, das mit 173.000 Hektar etwas kleiner ist als das Saarland, sind es rund 420 Indigene, die meisten leben im Dorf Maçaranduba. »Noch vor 40 Jahren war hier überall Urwald, der uns gehörte«, sagt Maneu Guajajara. »Als die Weißen kamen, haben wir unser Land mit ihnen geteilt. Doch sie holten sich immer mehr, holzten es ab, zäunten ihre Weiden ein und drängten uns zurück. Doch dieses letzte Stück Wald werden wir nicht abgeben, wir werden ihn verteidigen – oder sterben.« Wehren sich gegen Waldrodung. Maneu und Marcilene Guajajara. Maneu bedeutet in der GuajajaraSprache Tukan. Der alte Mann sitzt vor seinem Haus, das aus Holzbrettern geKanus mit Außenbordern, um auf den Grenzflüssen Caru und baut ist. »Alles, was wir zum Leben brauchen, haben wir immer Pindare zu patrouillieren und zwei Quads, die sie für den Transaus dem Wald geholt«, sagt er. Nun ist diese Lebensgrundlage port in der Trockenzeit nutzen. Die Frauen setzen inzwischen bedroht. »Die Weißen wollen uns unsere Heimat rauben und eine moderne Drohne für die Überwachung ein. »Wenn wir Spuunsere Identität zerstören.« ren von Eindringlingen entdecken, marschieren wir sofort los«, Die neue Bedrohung schweißt die Guajajara zusammen. Noch vor zehn Jahren paktierten einige von ihnen mit den Holz- sagt Marcilene. Der Waldschutz stellt die Guajajara vor manche Herausforfällern und verdienten am Holzschlag mit. Es war leicht verdienderungen. Wenn die Männer auf Patrouille gehen, bleibt die tes Geld. Doch inzwischen haben alle Guajajara in Caru diesen Arbeit auf den Pflanzungen für mehrere Tage liegen. »Wenn es Praktiken abgeschworen. »Allen ist klar geworden: Ohne Wald zu einer Konfrontation kommt, und etwas passiert, dann bleibt gibt es für uns keine Zukunft«, sagt Claudio Guajajara. die Familie ohne Vater – und es gibt keine Entschädigung«, Es waren vor allem die Frauen, die sich vehement für den schimpft Marcilene. Aufgeben kommt für sie dennoch nicht in Wald einsetzten – um ihren Kindern eine Zukunft zu sichern. Frage: »Ohne unser Land verlieren wir unsere Würde«, sagt die Sie begrüßten die Gründung der Miliz zum Schutz des Waldes Frau. »Die Indigenen in der Stadt leben meist in bitterer Armut und beschlossen vor vier Jahren, sich ebenfalls zu organisieren. und sind dem Alkohol verfallen.« »Wir wollten es nicht den Männern überlassen, den Wald zu Marcilene und ihre Kriegerinnen fahren oft in die nahe schützen, sondern sie tatkräftig dabei unterstützen«, sagt Marcigelegenen Orte Santa Inês, São João do Carú und Alto Alegre. Sie lene Guajajara. Ihren Zusammenschluss nannten sie Kriegerinnen des Waldes, Guerreiras da Floresta. Seit zwei Jahren wird das leisten dort Aufklärungsarbeit, halten Vorträge und nehmen an Diskussionen teil. »Wir wollen unseren Nachbarn erklären, wie Guerreiras-Projekt von der Berliner Aktionsgemeinschaft Soliwichtig der Wald für uns ist«, sagt Marcilene. Dabei stoßen sie darische Welt finanziell unterstützt. auch auf Ablehnung, Vorurteile und Feindschaft. Doch die FrauHeute machen etwa 16 Frauen bei den Kriegerinnen mit. en wissen, damit umzugehen. Sie haben in den vergangenen Die 36-jährige Marcilene Guajajara ist eine der Anführerinnen. Jahren neues Selbstbewusstsein gewonnen. Heute sind sie stolz »Wir begleiten die Männer auf den Patrouillen, schleppen Essen auf ihre Herkunft. ! und Geschirr und kochen«, sagt sie. Am Anfang marschierte die Angst mit. Doch die Frauen lernten schnell, mit potenziellen Gefahren umzugehen. »Die meisten Eindringlinge versuchen zu fliehen, wenn sie uns kommen hören, und lassen alles stehen und liegen«, erzählt Marcilene. Die Indios nehmen die Motorsägen, Flaschenzüge und Werkzeuge der Holzfäller an sich und übergeben sie später der Polizei. Ein paar Mal gelang es ihnen auch, Eindringlinge zu ergreifen. Vier Jahre nach der Gründung verfügen die Wächter und die Kriegerinnen über eine Ausrüstung, die ihnen die Arbeit erleichtert. Dank finanzieller Zuwendungen von NGOs und der FUNAI, konnten sie GPS- und Funkgeräte anschaffen. Sie haben

Vor allem Frauen setzen sich für den Wald ein, um ihren Kindern eine Zukunft zu sichern.

BRASILIEN

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Invasion gegen die Armen Im Dezember 1989 rückten Tausende amerikanische Soldaten in Panama ein. Angehörige der Opfer aus dem Armenviertel El Chorrillo kämpfen bis heute für Entschädigungszahlungen. Von Tobias Lambert, Panama-Stadt Schriftzüge und Bilder an den Wänden im Armenviertel El Chorrillo von Panama-Stadt erinnern an die Operation »Just Cause« (»Gerechte Sache«) vor dreißig Jahren. Der damalige US-Präsident George H. Bush hatte die größte Luftlandeaktion nach dem Zweiten Weltkrieg angeordnet, US-amerikanische Medien überboten sich mit Lobeshymnen auf die eigene militärische Effizienz. Die Zahl der Todesopfer kennt keiner genau, Schätzungen schwanken zwischen mehreren hundert und mehreren tausend, denn US-Soldaten verscharrten die meisten Leichen in Massengräbern. Von US-Seite wurde die Invasion als notwendiger Eingriff dargestellt, der Panama Freiheit und Demokratie gebracht habe. Doch die Betroffenen erinnern sich mit Schrecken daran. Eine von ihnen ist Trinidad Ayola. Sie verlor am 20. Dezember 1989 ihren Mann, der als Soldat zur Schicht in einer Kaserne eingeteilt worden war. Noch heute zittert ihre Stimme, wenn sie davon erzählt. Den USA sei es darum gegangen, neue Waffen in der Praxis zu erproben und das panamaische Militär zu zerschlagen. »Und sie wollten die für Ende 1999 vereinbarte Übergabe des Kanals an Panama verhindern, um sich eine dauerhafte Militärpräsenz im Land zu sichern.« Ziel der Invasion war die Absetzung von Militärmachthaber Manuel Noriega, dessen Hauptquartier sich damals mitten in El Chorrillo befand. Der 2017 verstorbene Chef der Nationalgarde hatte von 1971 bis 1987 auf der Gehaltsliste des US-Geheimdienstes CIA gestanden. Bald nach seiner Machtübernahme 1983 ließ er von den USA unterstützte Contras in Panama ausbilden. Sie sollten gegen die linken Sandinisten kämpften, die nach der Revolution 1979 die Macht in Nicaragua übernommen hatten. Außerdem stellte Noriega sein Land als Zwischenstation für illegale US-Waffenlieferungen an den Iran zur Verfügung, aus deren Erlösen die Contras finanziert wurden. Die USA sahen dafür großzügig über Noriegas Drogengeschäfte mit dem kolumbianischen Medellín-Kartell hinweg. Als Ende 1986 der Iran-

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Contra-Skandal aufflog, verlor der Militärmachthaber seine Bedeutung für die US-Kriegsstrategie in Zentralamerika und wurde plötzlich zum »Bad Guy«. Drei Jahre später folgte die Invasion, um ihn abzusetzen. Ayola kämpft seit Anfang der 1990er Jahre dafür, dass den Opfern des 20. Dezember Gerechtigkeit widerfährt. Als Präsidentin des Komitees der Angehörigen der Invasionsopfer spricht sie öffentlich über den anhaltenden Schmerz und die Geringschätzung, mit der die Opfer in der panamaischen Gesellschaft häufig konfrontiert werden. Zusammen mit ihren Mitstreitern fordert sie eine echte Erinnerungspolitik, Entschädigungen für die Hinterbliebenen, und dass der 20. Dezember zum nationalen Trauertag erklärt wird. Doch die konservativen Eliten des Landes sträuben sich dagegen. Aus einem einfachen Grund, so Ayola: Diese hätten damals selbst für die Invasion geworben und wollten auch drei Jahrzehnte später die guten Beziehungen zu den USA nicht aufs Spiel setzen. »Wenn sie offiziell anerkennen würden, dass dieser Tag für einen Teil der Bevölkerung Trauer bedeutet, müssten sie zugeben, dass die Invasion ein Verbrechen war.« Die Oberschicht des Landes feierte den Sturz Noriegas und kehrte nach anderthalb Jahrzehnten Militärherrschaft selbst an die Macht zurück. Auch das ist ein Grund, weshalb außerhalb von Armenvierteln wie El Chorrillo die Erinnerung an die Invasion bis heute kaum präsent ist. Selbst in Schulbüchern wird sie nur am Rande erwähnt. Heute erheben sich in der Ferne die imposanten Hochhäuser des Finanzdistriktes von Panama. Weder dort noch in den wohlhabenden Wohngegenden habe es die meisten Opfer gegeben, sondern in den Vierteln der unteren Schichten, sagt

Die Oberschicht kehrte nach dem Sturz Noriegas an die Macht zurück. AMNESTY JOURNAL | 01/2020


Foto: Tobias Lambert

Blick zurück im Zorn. Ernesto Fitzroy in El Chorillo.

Ayola. Es sei völlig unnötig gewesen, so viele Menschen zu töten. »Die USA konnten von der Kanalzone aus jeden Schritt Noriegas überwachen und hätten ihn jederzeit festnehmen können.« Eine Wahrheitskommission aus unabhängigen Experten ermittelt seit 2016 die genaue Zahl der Todesopfer. Die gehen weit auseinander: Ein internes Papier des US-Verteidigungsministeriums bezifferte sie auf 1.000, unterschiedliche Stellen in Panama gehen von 600 oder 700 getöteten Zivilisten aus, die Vereinten Nationen von 500. Opfer- und Menschenrechtsorganisationen sprechen von deutlich mehr. Das Komitee der Angehörigen der Invasionsopfer schätzt die Zahl auf 4.000. Auch Ayola wurde von der Kommission angehört. »Dass die Regierung die Kommission 20. Dezember erst nach 25 Jahren geschaffen hat, macht ihre Arbeit jedoch viel schwieriger«, beklagt sie. 2018 empfahl die Interamerikanische Menschenrechtskommission, die USA solle Entschädigungen an die Hinterbliebenen zahlen. Dafür haben die Angehörigen der Opfer lange gekämpft. Zwar gibt es bis heute keine offiziellen Reaktionen darauf, »aber das stärkt uns den Rücken und gibt uns moralisch recht«, sagt Ayola. Selbst in El Chorrillo gehen außer Ayola nur wenige Menschen mit ihren Erfahrungen offensiv an die Öffentlichkeit. Zu den Mitstreitern zählt Ernesto Fitzroy. Er war erst 15 Jahre alt, als das Viertel in Flammen aufging. Die meisten Häuser in El Chorrillo waren aus Holz gebaut und brannten während der Invasion am 20. Dezember vollständig ab. Dabei hatte Fitzroys Familie im Vergleich zu vielen anderen

PANAMA

Bewohnern noch Glück. In ihrer Wohnung zersplitterten nur die Scheiben, weil sie in einem der wenigen aus Stein gebauten Hochhäuser lebte. »Bis zum 20. Dezember hatte ich eine schöne Kindheit«, sagt der 45-jährige Universitätsdozent heute. »Wir lebten in einem Armenviertel, aber es war friedlich, und wir kannten keinen echten Mangel.« Dann kam die Invasion. »An diesem Tag endete meine Kindheit auf einen Schlag.« Zwei bis drei Jahre lang lebten Fitzroy und Tausende weitere Menschen aus El Chorrillo in einem Lager für Geflüchtete innerhalb der Kanalzone. Die während der Invasion auf einer US-Militärbasis vereidigte neue Regierung kümmerte sich nicht um sie. Mittlerweile steht auf dem Gelände des einstigen Flüchtlingslagers eine der größten Shoppingmalls des Landes. El Chorrillo ist heute von einfachen Neubauten geprägt, die in den 1990er Jahren entstanden. Die Familie von Ernesto Fitzroy konnte nach ein paar Jahren in ihr saniertes Haus zurückkehren. Seine Mutter lebt dort bis heute. Auch wenn sich die Lage gebessert hat, ist das Viertel noch immer verrufen. Bis vor wenigen Jahren lieferten sich Gangs mit Namen wie »Vietnam 23« oder »Bagdad« in der Gegend blutige Revierkämpfe. »Die Gewalt kam erst infolge der US-Invasion nach Panama«, sagt Fitzroy. Dass es heute friedlicher zugehe, liege vor allem daran, dass er und andere engagierte Bewohner im Viertel bereits seit den 1990er Jahren soziale Präventionsarbeit für Kinder und Jugendliche machten. »Die Regierungen haben sich nie darum gekümmert.« !

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WAS TUN

Für was bin ich verantwortlich? Meiner These nach für das Verhalten, für das ich Gründe habe. Wir müssen uns überlegen, wann Menschen in der Lage sind, sich in ihrem Verhalten von Gründen leiten zu lassen. Und wenn sie dazu in der Lage sind, tragen sie für dieses Verhalten Verantwortung. Woher weiß ich, dass ich gute Gründe für mein Handeln habe? Wenn ich angeben kann, was aus meiner Sicht dafür spricht, etwas zu tun. Dafür braucht man aber eine Form des möglichst inklusiven, umfassenden Austauschs. Welche Bedingungen müssen dafür gegeben sein? Meinungsund Pressefreiheit. Aber es gibt Staaten, die ein Interesse daran haben, dass Bürger Dinge nicht erfahren – Diktaturen, die geschickt mit den digitalen Medien umgehen und die Internetkommunikation kontrollieren. Die kommerziellen Kommunikationsgiganten machen das in geringerem Umfang auch – etwa Facebook. All das behindert eine rationale Meinungsbildung. Habe ich in einer Demokratie die Pflicht, von diesen Rechten Gebrauch zu machen? Eine Demokratie mutet den Menschen etwas zu. Sie hat nur so lange Sinn, wie man sich darauf verlassen kann, dass ihre Bürger sich politisch interessieren und informieren. Die Demokratie setzt voraus, dass wir ein Mindestmaß an öffentlicher Vernunft praktizieren.

Die sozialen Medien allerdings befördern das Blasendenken. Das ist eine durchaus gefährliche Entwicklung. Die Demokratie lebt davon, dass es eine geteilte Öffentlichkeit gibt – einen Raum der Gründe, wo das Für und Wider bestimmter Praktiken vorgetragen und wo widersprochen wird. Die Internetkommunikation bietet aber auch genau das Umgekehrte – nämlich inklusive Informationen, wie es sie bislang nie gegeben hat. Trägt der Einzelne auch für gesellschaftliche Entwicklungen Verantwortung, etwa für das Erstarken von Rechten? Die Frage ist, wie Demokratinnen und Demokraten darauf reagieren. Eine Reaktion ist: Mit solchen Leuten rede ich nicht. Nicht mit AfD-Mitgliedern oder -Abgeordneten zu reden, habe ich immer für falsch gehalten, und es hat sich auch nicht bewährt. Es hat diese Bewegung nur gestärkt. Ich plädiere dafür, alle, die überhaupt noch bereit sind zu argumentieren, in die öffentliche Debatte einzubeziehen – und sich zu streiten. Es gibt doch keinen Grund, so ängstlich zu sein. Wenn man gute Argumente hat, ist man überlegen. Interview: Lea De Gregorio Julian Nida-Rümelin lehrt Philosophie in München. Sein Buch »Verantwortung« erschien 2011 (Reclam).

Foto: Diane von Schoen

Denker fragen: Julian Nida-Rümelin

Über 23,5 Milliarden Pa ar Schuhe werden weltw eit pro Jahr produziert. Jed er Deutsche kauft davon jährlich durchschnittlic h mehr als fünf Paar. Die größten Herstellerlä nder sind China, Indien , Vietnam und Indonesie n.

unDie Arbeitsbeding n te eis m n gen in de d sin en rik ab hf Schu d en eg wi er Üb . är prek rinite be erhalten die Ar z en ist ex nen keinen , hn Lo n sichernde e gewerkschaftlich rd wi ng ru sie ni Orga t. er nd hi be t of

Der Einsatz von Farben, Klebern, Lösungsmitteln und Chemikalien ist gefährlic h. Gesundheitsschutz, Technik- und Sich erheitsstandards sind oft unzureichend. Beschäftigte berichten von Erkrankungen wie Asth ma oder Krebs, von verseuchten Böd en und Gewässern.

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y oongraph ck / Phot uttersto Foto: sh

Das steckt drin: Schuhe huhindustrie nde in der Sc tä ss is M e di Um ational veraucht es intern br n, de en be zu he Sorgfaltsschenrechtlic bindliche men regelmäßig n Einhaltung pflichten, dere n die Achtung . Dazu gehöre überprüft wird ts, existenzn Arbeitsrech internationale ortung der e, die Verantw hn Lö e nd er sich te Lieferkette, für die gesam en hm ne er nt U nkaufschäfts- und Ei sowie faire Ges praktiken.

Bewusster Kon sum kann helfe n, die Arbeits bedingungen in der Schuhp roduktion zu ve bessern: Wen riger, dafür ab er hochwertig Schuhe kaufen e und diese zum Schuster brin gen, wenn sie kaputt sind – selbst Sneake lassen sich re r parieren. Auf faire und ökol sche Herstellu ogingsbedingung en achten. Si gel wie Fairtra ede oder IVN-N aturleder gara tieren Sozialst nandards, bzw. eine Produktio ohne Chromge n rbung. Quelle: Südwind-Institut

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Malen nach Zahlen: Tote im Mittelmeer Während die Zahl der Flüchtlinge auf der Mittelmeerroute seit 2016 stark rückläufig ist, steigt das Risiko bei der Überfahrt: Der Anteil der Toten und Vermissten ist bis zum November 2019 auf 9,5 Prozent gestiegen.

Anteil der Toten und Vermissten

Zahl der Flüchtlinge auf der Mittemeerroute

Quelle: UNHCR, Stand November 2019

Besser machen: Obdachlosen helfen Im Winter 2018/2019 sind bundesweit mindestens zehn Menschen erfroren. Eine amtliche Statistik zur Wohnungslosigkeit gibt es bislang nicht, sie muss erst noch vom Bundestag beschlossen werden. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sind etwa 41.000 Menschen in Deutschland obdachlos, leben also auf der Straße. Was kann ich tun, um einer obdachlosen Person zu helfen? Karitative Einrichtungen haben hierfür folgende Tipps: D Ich spreche die obdachlose Person an. Schläft sie ungeschützt in der Kälte, wecke ich sie. Ich frage, ob sie Hilfe braucht. Möchte sie keine Hilfe, akzeptiere ich das. In manchen Großstädten kann ich eine Kältestreife oder ein Kältemobil telefonisch informieren. Oder ich wende mich an eine

KLICKEN FÜR AMNESTY WWW.AMNESTY.DE/MITMACHEN/PETITIONEN

! WAS TUN

Hilfsorganisation. Ist die Person nicht ansprechbar und gefährdet, rufe ich den Rettungsdienst unter 112. D Ich frage, womit ich konkret aushelfen kann – etwa mit Essen, Getränken, Drogerieartikeln, warmer Kleidung oder einem Nahverkehrsticket. D Ob ich Geld geben sollte oder nicht, wird in der Obdachlosenhilfe diskutiert. Ich riskiere, dass sich jemand mit meiner Spende Alkohol, Tabak oder andere Drogen kauft. Doch erspare ich dem Betroffenen einen unfreiwilligen kalten Entzug. D Ich nehme eine obdachlose Person nicht mit nach Hause, gebe nicht meine Adresse oder Telefonnummer heraus. Weitere Informationen: Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, Die Heilsarmee, Bahnhofsmission, Berliner Obdachlosenhilfe e. V.

FREISPRUCH FÜR AMAL FATHY!

Der ägyptischen Frauenrechtsverteidigerin Amal Fathy droht eine zweijährige Haftstrafe. Grund ist unter anderem ein Video auf ihrer Facebook-Seite, in dem sie eine von ihr erlebte sexuelle Belästigung thematisierte und staatliches Nichthandeln anprangerte. Mach mit bei unserer E-Mail-Aktion, fordere von dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, dass alle Anklagen gegen Amal Fathy fallen gelassen werden!

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Vernachlässigt und verfolgt Vor zwei Jahren verübte Myanmars Militär im Bundesstaat Rakhine einen Völkermord an den muslimischen Rohingya. Nun geht die Armee dort auch gegen Buddhisten vor. Aus Mrauk Oo Cape Diamond und Verena Hölzl Der bordeauxrote Nagellack ist schon fast wieder abgeblättert. Htay Htay Aung trägt ihn nur an der linken, ihrer kaputten Hand. Seit die 14-Jährige vor ein paar Monaten von einer Gewehrkugel getroffen wurde, schlängelt sich auf ihrem Oberarm eine wulstige Zick-Zack-Narbe. Ihre Hand liegt wie leblos auf dem Plastiktisch vor ihr, Nagellack auftragen kann sie damit nicht mehr. »Ich bin wütend, dass man das mit mir gemacht hat«, sagt sie leise. Htay Htay Aung versteckte sich in ihrer Bambushütte, als im April Soldaten in ihr Dorf im Bundesstaat Rakhine kamen und anfingen zu schießen. »Einfach so«, sagt das Mädchen. Auch in der Flüchtlingssiedlung nahe der Stadt Mrauk Oo, in der sie mittlerweile lebt, sind regelmäßig Schüsse zu hören. Rakhine im Westen Myanmars kommt nicht zur Ruhe. Nach dem Völkermord an den muslimischen Rohingya vor zwei Jahren geht das Militär nun gegen buddhistische Bewohner in dem Bundesstaat vor, zu denen auch Htay Htay Aung und ihre Familie gehören. Der Konflikt eskalierte im Januar, als Aufständische

Angegriffen. Htay Htay Aung (links) mit ihrer Familie.

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der Arakan Army (AA), die mit ihrem Kampf für einen unabhängigen Staat Rakhine ein Ende der Diskriminierung der Bevölkerungsgruppe der buddhistischen Rakhine erreichen wollen, mehrere Polizeiposten angriffen. Die rund 2,3 Millionen Angehörigen dieser Ethnie konkurrieren im gleichnamigen Bundesstaat mit derzeit noch einigen Hunderttausend muslimischen Rohingya um knappe Ressourcen. Die UN geht von 60.000 Menschen aus, die wie Htay Htay Aung und ihre Familie von den Kämpfen vertrieben wurden und jetzt in improvisierten Siedlungen im Norden des Bundesstaates leben. Myanmarische Medien berichten regelmäßig über getötete Soldaten und Zivilisten. Amnesty International veröffentlichte im Mai einen Bericht, der schwere Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, die als Kriegsverbrechen gelten können. Demnach macht das myanmarische Militär nicht nur bewusst Zivilisten zu Opfern seiner Angriffe, sondern ist auch für außergerichtliche Hinrichtungen, willkürliche Festnahmen, Folter und andere Misshandlungen, Plünderungen sowie Fälle von Verschwindenlassen verantwortlich. Es ist nicht das erste Mal, dass dem Militär von Myanmar schwere Verbrechen in Rakhine vorgeworfen werden. Zwei Jahre sind vergangen, seit Soldaten in den Norden des Bundesstaates

Nur das Nötigste. Die Flüchtlingssiedlung

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Myanmars Generäle wurden bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen.

Fotos: Cape Diamond

einmarschierten und mehr als 20.000 Angehörige der muslimischen Minderheit der Rohingya getötet haben sollen. 700.000 wurden nach Bangladesch vertrieben. Die Regierung Myanmars beruft sich weiter darauf, dass der Westen die Situation im Land nicht verstehe. Eine interne Untersuchungskommission setze sich mit den »falschen Anschuldigungen der UN und der internationalen Gemeinschaft« auseinander, betonen Regierungssprecher immer wieder. Doch Myanmars Generäle wurden bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. Und so gehen die Menschenrechtsverletzungen weiter – dieses Mal gegen die Bevölkerungsgruppe der Rakhine. »Wenigstens interessiert man sich jetzt auch einmal für uns«, sagt Maung Aye Kyaw. Der 24-Jährige ist Lehrer und als solcher auserkoren worden, sich um die Verwaltung der Flüchtlingssiedlung zu kümmern, in der Htay Htay Aung mit ihren Eltern und Geschwistern lebt. Die Vertriebenen haben sich in unmittelbarer Nähe zu buddhistischen Klöstern am Rande von Mrauk Oo angesiedelt. Die Hütten sind aus ganz frischem Bambus, im Hof des Klosters wird gehämmert und gehackt. Hinter Maung Aye Kyaw hängt eine weiße Tafel, auf der penibel die Anzahl der Flüchtlinge, Haushalte und ihre Ankunftsdaten vermerkt sind. Was außerhalb von Mrauk Oo vor sich geht, können die Bewohner nur schwer verfolgen, denn die Regierung hat das mobile Internet gekappt. »Jetzt hören wir es nur noch am Lärm der Waffen«, sagt Maung Aye Kyaw. Er mag keine Gewalt, aber für den Freiheitskampf der Arakan Army hat er dennoch Sympathie. »Wir werden unterdrückt. Man behandelt uns Rakhine nicht fair«, sagt er. Trotz seines Reichtums an natürlichen Ressourcen zählt der mehrheitlich von Buddhisten besiedelte Bundesstaat Rakhine zu Myanmars ärmsten Regionen. Im Rest des Landes werden seine Bewohner als ruppige, rückständige Provinzler mit merkwürdigem Akzent belächelt. Die Infrastruktur ist unterentwickelt. Wer sich keinen Flug leisten kann, muss mindestens einen Tag

von Htay Htay Aung.

MYANMAR

auf der Straße verbringen, um in Myanmars größte Stadt Rangun zu kommen. Die 200.000 Einwohner von Mrauk Oo haben erst seit 2013 Strom. Im Sommer, wenn der Monsun die Schulgebäude überflutet, kommen die Lehrer einfach nicht zur Schule. Die Rakhine fühlen sich vom Zentralstaat vernachlässigt – und vorgeführt. Obwohl eine Partei der Rakhine bei den Parlamentswahlen 2015 eine Mehrheit der Stimmen gewonnen hat, setzte die myanmarische Zentralregierung den Rakhine einen Regierungschef aus ihren eigenen Reihen vor die Nase. »Wen wundert es, dass unsere jungen Männer zu den Waffen greifen«, fragen viele in Rakhine. Der Arakan Army sollen bis zu 7.000 Mann angehören. Doch auch die bewaffneten Sezessionisten stellen eine Gefahr für die Zivilbevölkerung dar. Berichten zufolge entführen sie Zivilisten und zwingen sie dazu, die Rebellen zu unterstützen. In einem Café im Zentrum von Mrauk Oo sitzt der 48-jährige Aung Than Tun, der einen Rettungsdienst betreibt. Sich über politische Probleme den Kopf zu zerbrechen, dafür hat er keine Zeit. Er leistet lieber aktive Hilfe für Menschen in Notsituationen. »Wir haben viel zu tun, vor allem in letzter Zeit«, sagt er. Denn immer wieder schlagen in Dörfern der Rakhine Granaten ein – einmal sogar im Stadtzentrum von Mrauk Oo. Aus Sorge, ins Kreuzfeuer zu geraten, müssen Aung Than Tun und seine Kollegen regelmäßig Notrufe ablehnen. Außerdem riskieren sie den Vorwurf, die Rebellen zu unterstützen. »Wir sind jedes Mal besorgt, besonders, wenn wir Mrauk Oo für einen Einsatz verlassen.« »Wir leben immer in Gefahr – egal was wir tun«, sagt auch Yin Yin Khine*, eine Nachbarin von Htay Htay Aung. Ihr Bruder wurde beim Feuerholzsammeln von Soldaten angeschossen, die ihn für einen Kämpfer der Arakan Army hielten. Auch Htay Htay Aungs Vater hat kein gutes Gefühl, wenn er die Flüchtlingssiedlung verlässt und zum Fischen an den Fluss geht. Das Militär verdächtige alle Rakhine, den sezessionistischen Rebellen anzugehören oder sie zumindest zu unterstützen. »Selbst dieses Baby hier würden sie als aufständisch bezeichnen«, sagt er und deutet auf sein jüngstes Kind, das in einer Hänge-Wiege schläft. Manchmal geht der Vater dennoch zurück in sein Dorf. Wenn er draußen ist auf den Feldern, kommen die Erinnerungen zurück. An die Nacht im April, als er und seine Familie sich unter seinem Stelzenhaus vor den Soldaten versteckten. Die Kinder hätten damals am ganzen Körper gezittert. Und still war es. Nicht einmal das kleine Baby habe einen Mucks von sich gegeben. »Wenn das Baby geschrien hätte, wären wir jetzt alle tot«, sagt er. ! *Name von der Redaktion geändert

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PORTRÄT

Gegen den Hass Die schreckliche Botschaft erreichte Izzet Cagac in Istanbul. Sein Vater hatte dort einen schweren Autounfall, Cagac war nur wenige Stunden zuvor in der Stadt am Bosporus gelandet, um sich um ihn zu kümmern. Am 9. Oktober, kurz nach zwölf Uhr, erhielt er auf seinem Handy die Nachricht seiner Freundin: »Hier liegt ein Toter.« Dann folgten die Videos. Cagac sah, wie ein Attentäter seinen Imbiss in Halle betrat und dort einen jungen Mann erschoss. Zuerst konnte Cagac es nicht glauben. Dann wünschte er sich verzweifelt, selbst dort zu sein, um den Mann aufzuhalten, um irgendetwas zu tun. Auch Wochen später hat sich der 41-Jährige noch immer nicht von den Ereignissen an diesem Tag erholt. »Ich will nur noch, dass der Hass endlich aufhört«, sagt er. Vor wenigen Tagen habe ihn ein Mann in einem Fahrstuhl als Ausländer beschimpft, erzählt er. »Früher wäre ich auf ihn losgegangen, heute lasse ich ihn einfach reden.« Er glaubt, dass es vielen Menschen in Halle ähnlich geht: Die Stadt rückt zusammen. Ein wenig ist das auch Cagacs Verdienst. In den Tagen nach dem Attentat blickte das ganze Land auf die Stadt in Sachsen-Anhalt. Der Bundespräsident, die Kanzlerin und viele weitere Politiker besuchten die Synagoge und sprachen ihr Beileid aus. Nur an den Dönerladen dachte zunächst niemand. »Ich habe das nicht verstanden«, sagt Cagac, »von dem Anschlag waren wir doch auch betroffen«. Er schrieb deshalb auf Facebook: »Der Präsident, Herr Steinmeier, war am Ort. Ich bin sehr enttäuscht darüber, dass bei uns dieses Massaker war und der Präsident kein Wort an meine Mitarbeiter verloren hat.« Anschließend schrieb er die Parteien an. Anstatt einfach zum Alltag überzugehen, forderte er Aufmerksamkeit ein. Wenige Tage später rief Bundespräsident Steinmeier ihn an, kurz darauf meldeten sich auch andere Politiker.

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Foto: Paul Hildebrand

Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle erschoss der Attentäter am 9. Oktober im Imbiss von Izzet Cagac einen Menschen. Der Betreiber setzt sich für Versöhnung in der sachsen-anhaltinischen Stadt ein. Von Paul Hildebrand, Halle Eigentlich bräuchte er mal richtig Urlaub, sagt Cagac, Sonne, Ruhe, Zeit für sich. Aber er entschied sich für das Gegenteil und machte den »Kiez-Döner« zu einem Gedenkort. Vor zehn Jahren hatte Cagac seinen ersten Laden in Halle eröffnet, heute besitzt er vier Geschäfte: drei Imbisse und einen Kiosk. Er sagt, Fremdenfeindlichkeit habe er in Halle nie erlebt, er fühle sich dort zu Hause: »Ich will etwas zurückgeben.« In Interviews wirbt er für Versöhnung zwischen den Religionen, und auf Facebook schreibt er: »Wir sind eine weltoffene Gemeinschaft.« Mitte November eröffnete Cagac den Laden erstmals nach dem Anschlag wieder und lud zum gemeinsamen Essen ein. 40 Tage lang war der Kiez-Döner geschlossen gewesen, gemäß der islamischen Trauerzeit. Bei der Wiedereröffnung standen den ganzen Tag über Anwohner vor dem Buffet an, bedienten sich an Salat und Falafel, auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff kam vorbei. Cagac sagt, er habe damit den Toten Respekt erweisen wollen. Später am Tag überschrieb er den Laden offiziell an seine Mitarbeiter, als Geschenk. Mit seinen Gesten will er versöhnen. Inzwischen ist der Alltag zurückgekehrt in den Imbiss, nur das Einschlussloch im Schaufenster erinnert noch an das Attentat. Im Laden hängen Trikots und Schals vom Halleschen FC an der Wand, der Ermordete Kevin S. war ein Fan des Fußball-Clubs. Seine Freunde kommen nun zum Kiez-Döner, um zu trauern. Die Anhänger gelten als rechts, doch Cagac sagt, für ihn spiele das keine Rolle. Während ein Mitarbeiter das Fleisch vom Dönerspieß säbelt, steht Cagac draußen und zieht an seiner Zigarette. Er wirkt blass und schmal, aber entschlossen. »Ich glaube, es wird noch mehr solcher Anschläge geben.« Er schweigt kurz, dann sagt er: »Aber das wird die Gemeinschaft nur stärker zusammenbringen.« !

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DRANBLEIBEN

Amnesty-Generalsekretär Naidoo zurückgetreten Der internationale Generalsekretär von Amnesty International Kumi Naidoo hat im Dezember sein Amt niedergelegt. Er sei damit einem ärztlichen Rat gefolgt, erklärte er in einer Pressemitteilung. »Ich habe Amnesty International lange

als eines der wichtigsten globalen Güter der Menschheit betrachtet, und ich habe die Entscheidung, zurückzutreten, mit schwerem Herzen getroffen«, heißt es darin. Aufgrund seiner gesundheitlichen Situation habe er keine andere Wahl ge-

habt, so Naidoo. Er hatte das Amt im September 2018 übernommen. Nachfolgerin wird zunächst seine bisherige Stellvertreterin Julie Verhaar. (»Amnesty muss besser zuhören«, Amnesty Journal 12/2018)

Internierung von Uiguren in China belegt

(»Im Land der unsichtbaren Lager«, Amnesty Journal 03/2019)

Foto: Gilles Sabriè / The New York Times / Redux / laif

Geheime Dokumente der chinesischen Regierung belegen die massenhafte Internierung von Uiguren in der Autonomieregion Xinjiang im Nordwesten der Volksrepublik. Die sogenannten »China Cables« wurden dem Internationalen Konsortium Investigativer Journalisten zugespielt und von internationalen Medien wie der New York Times und der BBC ausgewertet, in Deutschland waren daran NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung beteiligt. Die Dokumente belegen, dass die chinesische Führung in Xinjiang Internierungslager betreibt, in denen Menschen gegen ihren Willen festgehalten werden. Sie zeigen detailliert auf, welche Maßnahmen von Peking direkt angeordnet wurden, um den Willen und die Identität der Inhaftierten zu brechen. Amnesty weist seit Jahren darauf hin, dass in Xinjiang bis zu eine Million Uiguren in Internierungslager eingewiesen wurden. Gefahr der Internierung. Restaurant am Stadtrand von Hotan in der Autonomieregion Xinjiang.

Transfrau braucht Polizeischutz Die Morddrohungen von Rechtsextremen gegen Felicia Ewert haben ein neues Ausmaß angenommen. Die 33-jährige Autorin hält Vorträge, in denen sie über Transfeindlichkeit in Deutschland aufklärt. Im November hat sie in Sachsen erstmals einen Vortrag unter Polizeischutz gehalten

PORTRÄT

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DRANBLEIBEN

– nachdem bei den Veranstaltern Morddrohungen gegen sie eingegangen waren. 60 bis 70 Personen sind dennoch gekommen, um ihr zuzuhören. »Sie haben sich nicht abschrecken lassen, obwohl ihnen klar war, dass es eine bedrohliche Situation ist«, sagt Ewert und freut sich über

die Solidarität. Bereits im August hatte sie aufgrund von Drohbriefen ihren TwitterAccount deaktiviert, auf dem sie über Transfeindlichkeit und ihr Leben als Transfrau berichtet hatte. (»Vom Tweet zur Tat«, Amnesty Journal 05/2019)

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KULTUR

Feine Stiche Die sibirische Künstlerin Mayana Nasybullova stickt die Tätowierungen von Strafgefangenen nach. Mit diesen Kunstobjekten will sie auf die inhumane Situation in russischen Gefängnissen aufmerksam machen. Von Beate Scheder

Gezeichnet. Nur wer eine lebenslange Freiheitsstrafe in Russland verbüßt, lässt sich das Gesicht tätowieren. Skulptur von Mayana Nasybullova.

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Foto: Mayana Nasybullova

RUSSLAND

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Ausgehend vom Schicksal ihres Bruders und von den Bildern auf seiner Haut, begann die Künstlerin zu recherchieren. Fast schon eine russische Tradition seien Folter und Unterdrückung im Gefängnis, sagt sie. Sie sei allgemein akzeptiert, sogar von den Strafgefangenen selbst. In deren Tätowierungen erkenne sie einen Ausdruck ihrer Sehnsucht nach den einfachen, menschlichen Dingen: »Man kann die wahren Gefühle der Gefangenen in ihnen lesen – ihren großen Schmerz, der kein Ende findet.«

Nicht immer lassen sich die Tattoos leicht lesen, manche sind verstörend. Unter den Tätowierungen ihres Bruders gibt es etwa ein Hakenkreuz – das in russischen Gefängnissen seit Sowjetzeiten für Anarchie und eine extrem negative Einstellung gegenüber dem Staat steht. Das furchteinflößendste Motiv ist für Nasybullova der Schriftzug auf seiner Brust: »Solange ich lebe, bist du von Trauer erfüllt«.

Mayana Nasybullova, 1989 geboren, bezeichnet ihr Projekt »Nazlo Rodine« (»Der Heimat zum Trotz«) als ein Statement über den Niedergang der freien Gesellschaft in ihrer Heimat. »Mein Ziel ist es, von der Geschichte und Gegenwart des Strafvollzugs in Russland zu erzählen und zu vermitteln, wie wichtig es ist, sich damit zu beschäftigen«, sagt sie. »Man muss darüber reden.«

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Foto: Goethe Institut Nowosibirsk

Fotos: Mayana Nasybullova

A

ls Teenager kam Mayana Nasybullovas Bruder mit dem Gesetz in Konflikt. Mit 15 wurde er zu acht Jahren verurteilt, sechs davon verbrachte er im Gefängnis und erlebte dort Gewalt, von Aufsichtspersonen wie Mitgefangenen. Er war traumatisiert, wurde selbst aggressiv, was ihm wiederum Respekt verschaffte. Wie die Tätowierungen, die er sich dort stechen ließ, zeichneten die Jahre hinter Gittern ihn für immer: Danach ein normales Leben zu führen, war unmöglich.

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Im Zentralgefängnis Wladimir saßen zu Sowjetzeiten politische Gefangene ein. Nasybullova zeigt auf ihrem Bild dazu zwei Tattoos: Totenköpfe und die Abkürzung »БОГ«. Totenköpfe symbolisieren eine negative Einstellung gegenüber dem Staat, БОГ ist das Wort für »Gott«, aber auch die Abkürzung für die Formel

»wurde vom Staat verurteilt«. Zudem weist die Kombination von Hammer und Sichel, die für die streng atheistische UdSSR stehen, mit dem Wort »Gott«auf den tiefen Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit des Systems hin.

Wer sein Gesicht tätowiert, tut das in der Gewissheit, sich nie wieder in die Gesellschaft eingliedern zu müssen. Oder zu können. Nur lebenslang Verurteilte tragen Tätowierungen so gut sichtbar, wie hier den Schriftzug »voller Liebe«. Wer lebenslänglich bekommen hat, kann seine Liebe keinem mehr geben, behält sie ganz für sich.

Einige der Tätowierungen finden sich bei Straftätern über die Jahrhunderte und Landesgrenzen hinweg. Die Blume, die von einem kleinen Schwert durchbohrt wird, gehört zu diesen Motiven. Ihre Bedeutung: »Tod dem Staatsanwalt«.

RUSSLAND

»Nazlo Rodine« ist ein Appell für mehr Menschlichkeit: in den Gefängnissen, wo Folter und Erniedrigung die Regel sind, aber auch in der russischen Gesellschaft, in der ehemalige Strafgefangene noch immer schwere Diskriminierungen erfahren. !

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Echter Sound. Emrah, Koki und Ferid von der Rap-Formation Gipsy Mafia wissen, wovon sie singen, wenn es um Diskriminierung geht (von links).

Fette Beats, volles Bewusstsein In Serbien als Roma gefährdet, in Deutschland als Flüchtlinge diskriminiert: Die Hip-Hop-Formation Gipsy Mafia rappt gegen Antiziganismus, Rassismus und Kapitalismus. Von Tanja Dückers

W

as ist hier los? Auf dem Konzert von Gipsy Mafia in Berlin stehen unter den üblichen Hip-Hop-Fans auch Leute, die man sonst eher bei Lesungen oder kulturpolitischen Veranstaltungen antrifft. Oder auf »unteilbar«-Demos. Tatsächlich klingen die Songs der Gipsy Mafia, bei durchaus genretypischem hackendem Hip-Hop-Sound, auf der Textebene ziemlich anders als das übliche Herabwürdigen von Müttern und Zurschaustellen von Statussymbolen. Jetzt

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stimmen die beiden auf Deutsch und Serbisch rappenden Jungs zu »Sicheres Herkunftsland« an. Sie skandieren, dass man in Deutschland ein Land wie Serbien für »sicher« halte, auch wenn dort immer wieder Roma-Siedlungen in Brand gesteckt und Morde an Mitgliedern der Minderheit nicht aufgeklärt werden. Und weiter: »32 Milliarden werden für Waffen ausgegeben, doch nur ein Bruchteil könnte Tausend Menschen retten.« Es wird über das »Asylpaket« und Ertrunkene im Mittelmeer nachgedacht und über Sprüche wie »Zigeuner – nicht willkommen!«. Mit solchen Sprüchen kennt sich die Gipsy Mafia aus. Die Brüder Ferid und Emrah, alias Skill und Buddy O.G., haben diese oft zu hören bekommen. Die beiden, heute 34 und 28 Jahre alt, waren noch Kinder, als sie 1991 während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien in die kleine Stadt Marl, ins nördliche Ruhrgebiet, kamen. 2003 wurde die Familie dann aufgefordert,

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Foto: Felix Huesmann

»Sicheres Herkunftsland, ja da komm ich her, als Zigeuner bist du sicher, wie Flüchtling auf dem Meer.« Gipsy Mafia Deutschland zu verlassen, der Krieg sei vorbei. Als sie, um einer Abschiebung zuvorzukommen, »freiwillig« zurück nach Serbien gingen, waren aus den Kindern längst Jugendliche geworden. Deutschland war ihr Zuhause. Die Probleme begannen bereits an der serbischen Grenze. Die Grenzsoldaten fragten die Familie: »Als der Krieg herrschte, wo wart ihr da?« Dass sie dreizehn Jahre nicht im Land gewesen waren, ließ sie vielen Landsleuten als Verräter erscheinen, erschwerte ihnen den Wiedereinstieg in die Gesellschaft. Papiere, Ausweise, bei allen bürokratischen Angelegenheiten ließ man sie besonders lang warten. Vor allem: In Serbien, in Zrenjanin, wurde Ferid und Emrah erst richtig deutlich, was es bedeutet, Roma zu sein. Emrah fand es im Ruhrgebiet da einfacher, wie er in einem Interview mit dem Magazin Vice berichtete: »Wir hatten viele Freunde, die Türken oder Araber waren, das hat man gar nicht so gecheckt. Richtig gemerkt hat man das erst in Serbien.« Und Ferid ergänzte: »Ich hatte damals noch so ’ne gewisse Verbundenheit mit Serbien, weil ich dachte, das ist meine Heimat. Aber als wir wieder da waren, waren wir quasi immer noch Ausländer.« Der Antiziganismus, den sie in Deutschland erlebten, stellte sich in Serbien als noch krasser dar. »Hier hast du Leute aus der Türkei und von überall her. Aber da bist du halt entweder Serbe oder Zigeuner.« Hinzu kamen finanzielle Probleme: In Serbien arbeiteten Ferid und Emrah in einem deutschen Callcenter und für einen Zuliefererbetrieb für BMW – für ein lächerliches Gehalt im Vergleich zu dem, was sie in Deutschland verdient hätten. Lohndumping per Abschiebung. Ihre persönlichen Erfahrungen als unerwünschte Roma, Asylbewerber und Abgeschobene dienen Ferid und Emrah als Grundlage für ihre Raptexte. Als Buddy O.G. und Skill rappen sie seit 2007 gegen Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung. Auch heimische Nationalisten bekommen ihr Fett weg. Damit begeistern sie nicht nur junge Leute auf dem Balkan. Zusammen mit DJ Koki – Ferids Freundin – touren sie europaweit und spielen vor allem auf linken Konzerten und Festivals, so zum Beispiel in einem besetzten Haus in Barcelona im Rahmen einer Antifa-Nacht. Zu sehen ist die Szene in dem eindrucksvollen filmischen Porträt »I am what I am – The story of Gipsy Mafia«, das das Goethe-Institut Belgrad initiiert hat. O-Ton Gipsy Mafia: »No borders – no nations, I throw molotov-cocktails at the Police und Fuck the police.« Und das Publikum skandiert laut mit. Feingeistige Poeten – das sind die Jungs von Gipsy Mafia nicht. Man könnte ihre Lyrics als ehrlich bezeichnen. Tatsächlich ist den beiden Authentizität wichtig, und ihre Wut ist keine Marketingstrategie, sondern kommt »Straight Outta Mahala« – so der Titel einer ihrer CDs. Die meisten Roma leben auf dem Balkan in sogenannten Mahalas, heruntergekommenen Armenvierteln, die es in fast jeder serbischen Stadt gibt. Die Häuser dort sind aus Blech, Holz oder Karton und direkt aufs Feld gebaut. »Du baust mit dem, was du auf der Straße findest«, erklärt Ferid. Dafür ist man in

GIPSY MAFIA

den Mahalas aber unter sich und braucht weniger Angst vor der Mehrheitsgesellschaft zu haben. Die Selbstausgrenzung hat durchaus auch Selbstschutzcharakter. Leuten wie ihnen hilft die Polizei nicht, haben Ferid und Emrah gelernt. Den Begriff Roma verwendet die Gipsy Mafia fast nie. Sie sprechen in ihren Songs von »Zigeunern«. »Und das tun wir mit Stolz«, sagt Ferid dem Amnesty Journal nach dem Berliner Konzert. Man merkt, von der neuen Manier, die Menschen zwar bemüht korrekt zu bezeichnen, dann aber doch herabzuwürdigen, hält er nichts. Seiner Freundin Koki, inzwischen festes Mitglied des Ensembles, ist aufgefallen, dass viele ihrer Konzertbesucher »Gadje« sind, also keine Roma. Denn, so sagt Koki: »Viele Roma mögen unsere Musik nicht, weil sie denken, dass man nicht offen über die Probleme reden soll, um nicht noch mehr Ärger zu bekommen.« Auch in Deutschland ist auf die Polizei nicht immer Verlass. Ferid erinnert sich an ein Horrorerlebnis aus seiner Kindheit. Emrah, der sechs Jahre jünger ist, war damals noch ein Baby. Die Familie war nach der Flucht vor dem Krieg auf dem Balkan zunächst in einem Asylbewerberheim im Ruhrgebiet untergebracht worden. Eines Tages kamen junge Männer mit Baseballschlägern in den Flur. Sie suchten Streit, fingen an, wahllos Dinge zu zerstören und herumzuschreien. Die Flüchtlinge wehrten sich und riefen die Polizei. Die kam, blieb aber im Flur vor einer Glastür stehen. Nachdem die Neonazi-Hooligans endlich abgezogen waren, traten die Polizisten ein und fragten: »Was habt ihr vorher hier getan? Ohne einen Grund wären die Jungs doch nie hierhergekommen.« Seit 2015 leben die Brüder – Ferid mit Koki und Baby – wieder in Deutschland. Mit Hilfe eines Sonderprogramms des Bundesfreiwilligendienstes konnten sie zurückkehren. Zu reisen ist für die Gipsy Mafia nicht immer leicht. Gern wollten sie einer Einladung nach Manchester folgen. Die Kosten für Flug und Hotel sollten übernommen werden, wie Ferid mit Stolz erzählt. Die beiden hatten sich schon sehr auf den Gig gefreut. In der alten Arbeiterstadt hätten ihre antikapitalistischen Brachialsongs sicher ein interessiertes Publikum gefunden. Aber die Visa wurden verweigert. Aus der Traum von einer ersten Reise nach Großbritannien. Auf der Bühne in Berlin gibt die Gipsy Mafia wirklich alles. Aus der Ich-Perspektive wird über einen deutschen NeonaziHool-Macho erzählt (»Ich bin ein glatzköpfiger Faschist, habe ein Jesus-Tattoo auf dem linken Arm, Hitler auf dem rechten«), dessen Fortpflanzungsorgan klein ist, der einen auf Superheld macht und täglich ins Fitnessstudio rennt. Neben der wütenden Gesellschaftskritik nimmt Gipsy Mafia das tradierte Männlichkeitsbild der Hip-Hop-Szene gründlich auseinander: »Online bin ich sehr aktiv und beleidige jedem seine Mutter.« Sowohl Deutschland als auch Serbien bekommen ihr Fett weg: »Sicheres Herkunftsland, ja da komm ich her, als Zigeuner bist du sicher, wie Flüchtling auf dem Meer.« !

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Arabische Literatur hat in Deutschland einen schweren Stand. Dank geflüchteter Autoren ist inzwischen aber eine neue Szene entstanden. Von Moritz Behrendt

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s war ein Experiment mit erschreckendem Ausgang. Die Übersetzerin Leila Chammaa wollte erfahren, wie die arabische Sprache auf ein deutsches Publikum wirkt. Auf der Leipziger Buchmesse vor gut drei Jahren las sie aus einem arabischen Kinderbuch vor. Im Original. In der Diskussion meldete sich ein Zuhörer zu Wort. Er meinte, die Begriffe Allah und Islam gehört zu haben. »Da war ich schon geschockt«, sagt Chammaa, »denn weder das eine noch das andere Wort kam im Text vor.« Auch Ramy al-Asheq kommt es so vor, als seien arabische Buchstaben mit einem Stigma behaftet. Sobald er in Deutschland in der U-Bahn ein arabisches Buch aufschlage, ernte er abschätzige Blicke, erzählt der syrisch-palästinensische Dichter, der seit 2014 in Deutschland lebt. Bei vielen Menschen löse Arabisch, diese reiche und vielfältige Sprache, Angst aus und werde sofort mit Terrorismus verknüpft. Eine Sprache unter Generalverdacht. Die Beziehung der arabischen Sprache und Literatur zum deutschen Lesepublikum ist geprägt von Missverständnissen und Vorurteilen. Manche Leser erwarten einen blumigen, märchenhaften Stil à la »1001 Nacht«, andere sehen arabische Literatur vor allem als Wegweiser durch die politischen Konflikte der Region. Die preisgekrönte ägyptische Autorin Basma Abdelaziz reagiert fast schon ein bisschen genervt, wenn sie auf den politischen Gehalt ihrer Romane angesprochen wird: »Natürlich verdaut ein Autor das, was in der Realität geschieht. Das drückt sich auch in den Protagonisten von Kurzgeschichten und Romanen aus. Aber ich versuche, das dennoch vom literarischen Schreiben zu trennen.« Ihr Debütroman »Das Tor« von 2013 erscheint im kommenden Jahr auf Deutsch. Er kann durchaus als Allegorie auf den Autoritarismus in Ägypten gelesen werden. So ganz leicht lassen sich Politik und Literatur dann also doch nicht trennen, zumal Abdelaziz auch als Psychiaterin für das Nadeem-Zentrum für

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die Rehabilitierung von Opfern von Gewalt und Folter in Kairo arbeitet. 2018 erhielt das Zentrum den Amnesty-Menschenrechtspreis. Aber Abdelaziz’ Werk und das vieler anderer Autoren hat literarisch weit mehr zu bieten: Die Bandbreite reicht von dystopischer Science-Fiction über lakonische Liebesgedichte bis hin zu ausschweifenden Familienepen. Nur, vieles davon gelangt nie auf den deutschen Buchmarkt – vielleicht auch, weil es nicht den Erwartungen entspricht. Lediglich zwischen neun und zwölf Romane würden jährlich in Deutschland veröffentlicht, schätzt die Übersetzerin Chammaa. In seinem jüngst erschienenen Kompendium der Literaturen des Orients schreibt der Autor und Übersetzer Stefan Weidner zwar, diese Literaturen seien »in der glücklichen Lage, vor niemandem mehr ihre weltliterarische Bedeutung und Reichweite unter Beweis stellen zu müssen«. Dass seine Einführung »1001 Buch« nicht ohne einen Bezug zum Stereotyp des märchenhaften Orients im Titel auskommt, scheint dem jedoch zu widersprechen. Ebenso Weidners unermüdliche Bestrebungen, arabische Literatur den Deutschen näherzubringen. Häufig sind es die Übersetzer, die bei Verlagen für spannende Schriftsteller oder Bücher werben. Mit unterschiedlichem Erfolg: »Deutsche Verlage interessieren sich eher für Länder, die sie schon kennen«, berichtet Chammaa. So sind Werke aus Ägypten und dem Libanon im Buchhandel durchaus gut vertreten, Romane aus dem Irak oder Jemen haben dagegen Seltenheitswert. Dass die arabische Literatur auf dem deutschen Buchmarkt nur ein Schattendasein führt, hat aber nicht nur mit der mangelnden Experimentierfreudigkeit der Verlage oder dem Desinteresse deutscher Leser zu tun. Es gibt auch in der arabischen Welt handfeste Gründe, die verhindern, dass Literatur sich ent-

Wer in Deutschland in der U-Bahn ein arabisches Buch aufschlägt, erntet abschätzige Blicke. AMNESTY JOURNAL | 01/2020

Foto: Bildagentur-online / Fischer / pa

Sprache mit Stigma


Belesen. Eine Plastik aus Büchern schmückt einen Kreisverkehr in Nizwa, Sultanat Oman.

falten kann: Die nationalen Märkte sind nicht besonders gut miteinander vernetzt. Jenseits der Buchmessen kann es schwierig sein, in Marokko Literatur aus dem Irak zu kaufen und andersherum. Ein nicht besonders sorgfältiges Lektorat hilft den Büchern auch nicht gerade weiter, und Basma Abdelaziz beklagt zudem einen grundsätzlichen Verfall der arabischen Sprache. Selbst hochgestellte Persönlichkeiten könnten häufig keinen fehlerfreien Satz formulieren. Anspruchsvolle Literatur hat es da nicht leicht! Am stärksten wirken sich aber Krieg und Unfreiheit aus: Wenn sich Schriftsteller politisch äußern oder engagieren, werden sie in vielen arabischen Staaten zensiert oder müssen gar um ihr Leben fürchten. Die arabisch-deutschen Literaturtage in Berlin im Oktober – organisiert vom Kulturportal Fann-Magazin und der Heinrich-Böll-Stiftung – boten dankenswerterweise auch Autoren eine Bühne, die nicht da sein konnten, weil sie verschleppt oder verhaftet wurden. So wurden Texte von Ashraf Fayyad vorgelesen, der in saudischer Haft sitzt, sowie Texte der syrischen Autoren Samira Al-Khalil und Nazem Hamadi, die vor sechs Jahren von einer salafistischen Miliz verschleppt wurden. Zahlreiche Schriftsteller sind vor dem Krieg oder den Repressionen des Assad-Regimes aus Syrien geflüchtet: Manche haben die mühseligen und gefährlichen Routen über den Balkan oder das Mittelmeer genommen. Ramy al-Asheq hatte das Glück, mit einem Autorenstipendium nach Deutschland zu kommen. Heute ist er Chefredakteur des Fann-Magazins, das im Netz unter anderem arabische Lyrik veröffentlicht. »Inzwischen

ARABISCHE LITERATUR

leben mehr als 200 arabische Autoren in Deutschland, das ist schon eine richtige Szene«, sagt er. Und man begegne ihr in Deutschland durchaus mit Wohlwollen. Es gebe Möglichkeiten, zu publizieren, etwa über öffentlich geförderte Projekte wie »Weiter Schreiben jetzt«. Den Begriff Exil-Literatur sieht al-Asheq dennoch zwiespältig. Darin schwinge mit, dass das Schicksal der Autoren interessanter sei als ihre Werke. Leila Chammaa drückt es so aus: »Es stimmt mich traurig, dass man immer auf eine Katastrophe warten muss, bis man auf die Literatur aufmerksam wird. Und dann wird über Politik gestritten und nicht über Literatur.« Erfreut registriert al-Asheq dagegen, dass seine Werke und die anderer nach Europa geflüchteter Autoren auch in den arabischen Staaten gelesen werden. So überschreitet Literatur Grenzen – in alle Richtungen. Für Stefan Weidner sind es gerade die »weltliterarischen Verflechtungen«, die arabische Literatur auszeichnen: So manches Buch sei nur dank einer wechselseitigen arabisch-europäischen Rezeptionsgeschichte zum Klassiker geworden. Das gilt für die Märchen aus Tausendundeiner Nacht, aber auch für Abu l-’Ala al-Ma’arris »Sendschreiben über die Vergebung«, das als Vorläufer für Dantes »Göttliche Komödie« gilt. In der arabischen Welt war das »Sendschreiben« über Jahrhunderte fast vergessen und konnte nur durch europäische Vermittlung in der Heimat wiederentdeckt werden. Von Islamisten verpönt, von vielen anderen geliebt, avancierte die satirische Jenseitsreise zu einem der meistgelesenen Bücher der klassischen arabischen Literatur. !

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Die Trauer helferin Die namibische Choreografin Trixie Munyama verarbeitet das Schweigen über die Schrecken der deutschen Kolonialvergangenheit. Aus Yaoundé Elisabeth Wellershaus

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Foto: Jacob Shichilenge

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isstrauisch schauen die beiden jungen Frauen auf einen Stock, der vor ihnen auf dem Boden liegt. Den langen Weg, den sie mit anderen Zuschauern aufs Nationalmuseum in Yaoundé zugeschritten sind, haben sie hinter sich – ebenso das Reinigungsritual, die weinende Frau am Fuße des Hügels und die Tamtam-Spieler, die der Verstorbenen gedenken. Sechs oder sieben Stationen haben sie im Dunkeln passiert, sind vor intimen Szenen der Trauer stehen geblieben. Doch vor diesem Stock ist jetzt Schluss. »Ist das wirklich noch Theater?«, fragen sie, als sie im Park vor dem ehemaligen kamerunischen Präsidentenpalast durch Trixie Munyamas Performance laufen. Wer weiß, mit welchen Ritualen die namibische Theatermacherin hier experimentiert? Die emotionale Wucht ihres inszenierten Trauermarsches nimmt die Zuschauer sichtlich mit. »The Mourning Citizen« ist Auftakt für die Veranstaltungsreihe »The Burden of Memory«. Knapp hundert Kulturschaffende sind dafür nach Yaoundé gereist, manche mischen sich jetzt unters Publikum. Eingeladen vom Goethe Institut wollen sie sich mit einem Thema beschäftigen, das vielen Deutschen als »geschichtliche Randnotiz« gilt, in afrikanischen Ländern aber Traumata ausgelöst hat, die bis heute nachwirken: die deutsche Kolonialvergangenheit. Seit dem politischen und juristischen Tauziehen um den Genozid an Herero und Nama wird seit ein paar Jahren verhalten darüber diskutiert. Insgesamt aber steht die Auseinandersetzung noch relativ am Anfang – auch im innerafrikanischen Raum. Schon an diesem Abend zeigt sich: Die Kulturkollegen aus Tansania, Ruanda, Burundi, Togo und Kamerun wissen wenig über die Ereignisse, die in den jeweils anderen Ländern stattgefunden haben. Namibias Wunden, die Munyama beklagt, sehen viele zum ersten Mal deutlich. Sie selbst weiß erst seit Kurzem um das genaue Ausmaß der Gewalt, die deutsche Kolonialherren in ihrem Land verübt haben. 2015 begann sie mit ihren Recherchen und entfernte sich dabei zunehmend von den ästhetischen Choreografien, mit denen sie bekannt wurde. Ihr Interesse am kolonialen Trauma wurde immer größer. Munyama arbeitete sich durch das namibische Nationalarchiv, las Aufzeichnungen über Lothar von Trothas Vernichtungsbefehl von 1904, sah sich koloniale Fotografien von Herero und Nama an – Bilder von Menschen, die verdursteten, in Konzentrationslagern litten, zu Zehntausenden ermordet wurden. »Wie kann es sein, dass wir die Trauer darüber so vernachlässigen?«, fragte sie sich. Am kommenden Tag erfährt Munyama, dass zwei Minister ihres Landes zurücktreten mussten. »Korruption gehört bei uns zum Tagesgeschäft«, sagt sie. Und sie erzählt, dass zwischen undurchsichtigen Strukturen der aktuellen SWAPO-Regierung (South-West Africa People’s Organisation) und dem Helden-

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Narben zeigen. Die Choreografin Trixie Munyama kritisiert den Umgang der namibischen Regierung mit dem Genozid.

mythos aus Befreiungszeiten kaum Raum für Trauer bleibe: nicht für die öffentliche Aufarbeitung des Kolonialismus, der Apartheid oder der Verbrechen, die während der Befreiungskämpfe – unter anderem in den Kerkern des SWAPOSicherheitsapparats – verübt wurden. Munyamas Eltern waren 16 und 17, als sie Ende der 1970er Jahre mit der SWAPO in den Krieg gegen das Apartheidregime zogen. Sie selbst ist eines der Kinder, die in Lagern außerhalb Namibias aufwuchsen. Ihr Camp lag im Dschungel von Angola, dort ging sie zur Schule, wurde mit Befreiungsideologien gefüttert und tanzte als Leiterin einer Kindertanztruppe vor hohen SWAPO-Funktionären. »Wenn wir nur Poster von Sam Nujoma sahen – dem späteren ›Gründungsvater der namibischen Nation‹ –, fingen wir an zu heulen. Er erschien uns wie ein Heiliger, wie unser aller Retter.« Wenn die Anführer ins Lager kamen, war Munyamas Tanzgruppe für Unterhaltung zuständig. Zehn Jahre im Wald von Angola – entsprechend lange dauerte es, bis sie den Kulturschock überwand, den ihr Umzug nach London auslöste. Bis sie das neue Umfeld ihrer Mutter annahm, die von der SWAPO nach Europa geschickt worden war, um als Krankenschwester ausgebildet zu werden. In den ersten Wochen in Großbritannien weigerte sich Munyama, Schuhe anzuziehen, sie vermisste das struktu-

TRIXIE MUNYAMA

»Afrikaner haben heute Angst vor ihren eigenen Ritualen.« Trixie Munyama

rierte Lagerleben, das Trommelspiel der alten Frauen im Camp. Die Sehnsucht nach ihren Tänzen war so stark, dass ihre Mutter sie schließlich bei einer Jazztanzgruppe anmeldete. Jahre später studiert sie in Kapstadt Tanz, gründet in Windhoek ihre eigene Company und unterrichtet an der Kunsthochschule. Es dauert jedoch weitere Jahre, bis sie das Paradies, als das die SWAPO ihr die Heimat verkaufte, öffentlich kritisiert. »Die Erkenntnis kam vor etwa zwei Jahren. Die Erkenntnis, dass ich immer aus der Perspektive anderer gedacht, für andere getanzt habe«, sagt sie. Konzentriert blickt Munyama auf die Szenen in den Straßen von Yaoundé, auf Mütter, die auf dem Bürgersteig mit ihren Kindern Erdnüsse verkaufen, auf junge Männer, die versuchen, ein Paar Schuhe an den Mann zu bringen. »Für sie mache ich heute meine Arbeit, für ganz normale Menschen.« Am vorletzten Konferenztag treffen sich die Kulturschaffenden in der ehemaligen Zensurbehörde von Yaoundé, Munyama sitzt auf dem Podium. Sie erzählt von den psychologischen Schatten, die die Kolonialvergangenheit bis ins heutige Namibia wirft. »Afrikaner haben heute Angst vor ihren eigenen Ritualen«, sagt sie. »Das Christentum hat sie uns abtrainiert, wir leiden längst selbst unter Afrophobie.« Gerade junge Menschen hätten noch immer das Gefühl, einer weißen Minderheit zu dienen. Es sind die unaufgearbeiteten Gräuel, die sie noch immer verfolgen. Auch das Fortleben einer systematischen Abwertung ihrer Identitäten. Doch Therapien kosten Geld. Mit »The Mourning Citizen« spricht Munyama deshalb nicht nur ein europäisches Publikum an. Sondern auch die eigene Gesellschaft, die sich – noch immer vom Unabhängigkeitssieg berauscht – schwierige Themen wie HIV, Korruption oder die offene Auseinandersetzung über Landfragen vom Leib hält. »Natürlich haben wir auch hausgemachte Probleme im Land«, sagt die Theatermacherin. Doch allein die Tatsache, dass die Nachkommen einstiger deutscher Siedler noch immer große Teile der landwirtschaftlichen Nutzflächen besitzen, zeige deutlich, wie gegenwärtig die Verstrickungen zwischen Namibia und Deutschland sind. Gewalt macht den Großteil der »gemeinsamen« Geschichte aus, eine Gewalt, die Munyama nicht mehr kleinreden will. Doch genauso wenig will sie in der Wut verharren. Ganz am Ende schlägt sie in »The Mourning Citizen« versöhnliche Töne an. »Der Stock, vor dem die Frauen aus Kamerun sich gefürchtet haben, ist ein Symbol des Loslassens«, erzählt sie. »Wenn die Trauer überwunden ist, steigt man darüber – in eine neue Zukunft.« Eine Zukunft, die vor allem neue Narrative brauche, wie Munyama zum Abschied sagt. Narrative, in denen die afrikanische Perspektive deutlich vorkomme, in denen Geschichte offen verhandelt werde. »Und in der wir die Narben der Vergangenheit nicht mehr überschminken.« !

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Foto: Sebastian Castañeda / Anadolu Agency / pa

Schmutziges Geschäft. Arbeiter schürfen unter sklavenähnlichen Bedingungen Gold in der peruanischen Mine La Rinconada.

Grausamer Glanz Menschenrechtsverletzungen und ökologische Schäden: Der Schweizer Strafrechtsprofessor Mark Pieth untersucht die schmutzigen Geheimnisse des Goldhandels und fordert Verantwortlichkeit in der gesamten Lieferkette. Von Maik Söhler

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old – vom Erschließen und Schürfen des Edelmetalls in aller Welt bis zur Raffinerie in der Schweiz und dem Handel zurück in alle Welt: Wer da genau hinschaut, entdeckt schnell »die schmutzigen Geheimnisse des Goldhandels«, so der Untertitel des neuen Buches »Goldwäsche« des Schweizers Mark Pieth. Und der Jurist schaut genau hin: Von Formen der Sklaverei und Zwangsprostitution, etwa im peruanischen La Rinconada, und anderen Menschenrechtsverletzungen bis hin zu ökologischen Schäden listet er zahlreiche Verbrechen auf, die zum Goldhandel der Gegenwart gehören. Der Autor ist Schwierigkeiten mit großen Organisationen und auch mit Staaten gewohnt, denn er ist Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Basel. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde er als Vorsitzender einer unabhängigen Kommission des Weltfußballverbands FIFA. Von 2011 bis 2013 sollte die Kommission den schlechten Ruf der FIFA verbessern, und Pieth legte sich mit hochrangigen Funktionären an. 2016 benannte die Regierung Panamas den Schweizer als Mitglied eines Gremiums, das die Finanz- und Rechtssysteme des Landes transparenter machen sollte. Vorausgegangen waren die sogenannten Panama Papers, ein Datenleak zur Rolle panamaischer Firmen bei der internationalen Geldwäsche und Steu-

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erhinterziehung. Später verließ er das Gremium und protestierte gegen politische Störmanöver der Regierung Panamas. Die Kritik Pieths zu spüren bekommen nun am Goldgeschäft beteiligte Banken, Raffinerien sowie jene politischen Akteure, die den Handel vor verbindlichen Regeln schützen. Hauptschauplatz ist die Schweiz, denn »nach wie vor werden Jahr für Jahr circa 3.000 Tonnen Gold in die Schweiz importiert, und nahezu dieselbe Menge wird wieder exportiert. Es soll sich um 50 bis 70 Prozent der weltweiten Goldproduktion handeln«, schreibt Pieth. Er beleuchtet Historisches, aktuelle Berichte aus Minengebieten oder die Lieferkette des Goldes sowie vergiftete Böden, Kinderarbeit und »Problemgold« aus Kriegsgebieten. Entsprechend fordert der Jurist »eine verantwortliche Lieferkette«. Im zweiten Teil des Buches geht es um OECD-Leitsätze, UNLeitprinzipien, EU-Verordnungen und andere Rechtsnormen zum Goldhandel. Der Autor diskutiert Fragen der Zertifizierung, von Sorgfaltsstandards, »Auditing und Reporting«, der Selbstregulierung oder des »zwingenden Rechts«; alle großen Unternehmen der Goldindustrie begutachtet er anhand solcher Kriterien – trockener Stoff statt schönen Glanzes. Aber das Ergebnis kann sich sehen lassen: Kaum einer der Akteure wird Pieths »Goldwäsche« einfach so abtun können, zu kenntnisreich und detailliert fällt das Buch aus. Zumal der Autor der Schweiz gegenüber kritisch-konstruktiv bleibt: »Einem Land, das geschäftsmäßig in der obersten Liga mitspielt, ist auch zuzumuten, sich entsprechend intensiv für den Schutz der Menschenrechte einzusetzen.« ! Mark Pieth: Goldwäsche. Die schmutzigen Geheimnisse des Goldhandels. Elster & Salis, Zürich 2019. 304 Seiten, 24 Euro.

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Unbehaust

Ruf vom Rand

Von New York aus, also von Norden kommend, macht sich eine Familie mit zwei Kindern auf in das Grenzgebiet der USA zu Mexiko. Vom Süden aus kommt ihnen ein Zug entgegen, der weit mehr als nur zwei Kinder mit sich führt. Die Eltern aus dem Norden wollen ins ehemalige Stammesgebiet der Apachen, um dort zu forschen, und ihre Kinder lernen schon auf der Fahrt vieles über Apachen. Die Kinder im Zug wollen in die USA, denn dort leben ihre Eltern oder Verwandten, bei denen sich wohl ein besseres Leben führen ließe als in Mittelamerika. Die Gegensätze in Valeria Luisellis Roman »Archiv der verlorenen Kinder« könnten größer kaum sein, und doch überwiegt das Gemeinsame: Die Protagonisten der verschiedenen Erzählstränge sind überwiegend Kinder. Und so klar sich Reise und Flucht unterscheiden lassen, so sehr verschwindet der Unterschied, wenn man der Perspektive der Kinder folgt. Die mexikanische Autorin hat auf Spanisch bereits Romane veröffentlicht, dies ist ihr erster, den sie auf Englisch geschrieben hat. Experimentell ist ihre Art des Erzählens, klare Handlungsstränge mischen sich mit Träumen, literarischen Anspielungen und Perspektivwechseln. Luiselli vermittelt damit das, was Flucht und Reise gemeinsam haben: dass ein Zuhause vorübergehend fehlt. Ihr Buch ist unruhig, es verweigert dem Leser, geistig eine Heimstatt zu finden. Dieser verstörende Eindruck bleibt am Ende eines kunstvollen Werks.

Woher er stammt und worüber er schreibt, fällt in eins: »Eine Gemeinschaft, die als ›sozial benachteiligt‹ gilt, in der es einen pathologischen Argwohn gegenüber Außenseitern und den Behörden gibt, in der der eingefleischte Glaube herrscht, dass eine Teilhabe am demokratischen Prozess nichts bringt, weil den Mächtigen die Sorgen der ›Unterschicht‹ gleichgültig sind.« Der Schotte Darren McGarvey schreibt in »Armutssafari« über die Armen und Abgehängten in Pollok, einem Stadtteil Glasgows. Dort ist McGarvey aufgewachsen, irgendwo zwischen Straßengewalt, einer suchtkranken Mutter und anderweitig zerrütteten Lebensverhältnissen. Egal ob in Schottland, England, in den USA, in Frankreich oder Deutschland – es ist viel geschrieben worden über abgehängte Weiße, die sich den Brexiteers, Trump, dem Rassemblement National oder der AfD aktiv zuwenden oder dabei passiv-apathisch zuschauen. Der Autor will aktive Rassisten nicht bekehren, wendet sich aber einer Ursache der Apathie zu: »Jeder Enthusiasmus, aktiv am Gemeinschaftsleben teilzunehmen, verfliegt, wenn die Leute erkennen, dass der demokratische Prozess vor Ort nicht auf ihre Teilhabe ausgerichtet ist.« McGarvey schreibt mit Leidenschaft für die Sache der Armen und Abgehängten und fordert sie und andere noch leidenschaftlicher auf, aktiv zu werden, um Isolation, Sucht und Elend zu überwinden und an der Gesellschaft und der Demokratie teilzuhaben.

Valeria Luiselli: Archiv der verlorenen Kinder. Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit. Kunstmann, München 2019. 432 Seiten, 25 Euro.

Darren McGarvey: Armutssafari. Von der Wut der abgehängten Unterschicht. Aus dem Englischen von Klaus Berr. Luchterhand, München 2019. 320 Seiten, 15 Euro.

Oma hat recht

Wo die Angst zu Hause ist

Mit vielem hatte die parlamentarische Rechte in Österreich auf ihrem Weg an die Macht gerechnet: mit politischen Gegnern und verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten, mit außerparlamentarischem Widerstand und womöglich auch mit wirtschaftlichen Problemen. Aber »Omas gegen rechts«, die sich überall dort unter die Demonstranten mischen, wo gegen die Freiheitlichen und ihr Regierungsbündnis mit Sebastian Kurz’ ÖVP demonstriert wird? Die hatte niemand auf dem Schirm. Umso genüsslicher zelebriert Monika Salzer, eine der Gründerinnen der »Omas gegen rechts«, den Sturz der konservativ-rechtsextremen Regierung nach dem Bekanntwerden des »Ibiza«-Videos und dem Rücktritt HeinzChristian Straches als Vizekanzler und FPÖ-Chef. Diese Stelle ist eines der Highlights in Salzers Buch »Omas gegen rechts«. Es ist eine Mischung aus Selbstdarstellung und politischem Pamphlet. Die »Omas gegen rechts« erklären, wer sie sind, was sie tun und welche Motive sie antreiben. »Humanismus, Demokratie, Menschenrechte – das ist die Seele Europas«, behaupten sie. Wenn es denn so wäre. Immerhin, anders als über Thesen von Rechtsaußen ließe sich darüber streiten. Auch in Deutschland und anderen Ländern haben sich längst Gruppen der »Omas gegen rechts« oder »Grannies against the right-wing parties« gegründet.

Eben war Bojs Vater noch gut gelaunt, nun aber kriecht etwas Bedrohliches aus allen Ecken hervor und gefährdet das Familienidyll: Im Vater steigt Wut auf. Seine unbändige Aggression richtet sich gegen Bojs Mutter, die sich schützend vor ihren Sohn stellt. Der kleine Junge sitzt auf dem Bett und hält sich die Ohren zu: »Er will nichts hören. Will nichts sehen. Will nichts wissen. Nichts denken. Bösemann raucht. Bösemann brennt.« Bösemann nennt Boj die Wut und Gewaltausbrüche seines Vaters und koppelt sie damit von dessen Person ab. Eindrucksvoll und berührend halten Gro Dahle und Svein Nyhus in Text und Bild fest, wie sich Bojs Begegnung mit dem Bösemann anfühlt. Was es für eine Kinderseele bedeutet, in Angst durch die Wohnung zu schleichen, sich selbst die Schuld an Wut und Gewalt zu geben und mit niemandem darüber sprechen zu dürfen. Das Bilderbuch macht klar, was es heißt, zu sehen, wie der eigene Vater um sich schlägt, und zu erleben, wie die eigene Mutter leidet. All das ist für die Leser keine leichte Kost. Doch gerade, weil das Tabuthema häusliche Gewalt offen und ehrlich angesprochen wird, ist »Bösemann« nicht nur ein herausragendes, sondern auch ein wichtiges Buch. Nicht zuletzt deshalb, weil es einen Ausweg aufzeigt, ohne ein Happy End zu versprechen.

Monika Salzer: Omas gegen rechts. Warum wir für die Zukunft unserer Enkel kämpfen. Droemer, München 2019. 160 Seiten, 12,99 Euro.

Gro Dahle und Svein Nyhus: Bösemann. Aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt. NordSüd Verlag, Zürich 2019. 42 Seiten, 18 Euro. Ab 6 Jahren.

Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer BÜCHER

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Machismo und Martyrium

Sahrauische Stimme

Rio in den 1950er Jahren: Eurídice will Konzertpianistin werden, Guida träumt von einem freien Leben. Aber in der Enge des konservativen Elternhauses, in dem der Vater seine Macht mit Intrige und Gewalt sichert, ist für die individuelle Entwicklung der beiden Mädchen kein Platz. Regisseur Karim Aïnouz hat den »verhängnisvollen Hyper-Machismus« in seinem Heimatland Brasilien zum Thema seines neuen Films gewählt. Aïnouz, der mit »Zentralflughafen THF« 2018 den Filmpreis von Amnesty International auf der Berlinale gewann, erzählt mit dieser Buchverfilmung auch die Geschichte seiner Mutter und seiner Tanten, wie er sagt. Wie die Unterdrückung der Frauen funktionierte, wie sie auf sich allein gestellt waren, ihre Wünsche nicht leben konnten, und wie häusliche Gewalt ihr Leben dominierte, davon zeugt dieses zweieinhalbstündige, vielfach ausgezeichnete Werk. Schön fotografiert, stilistisch mit den Mitteln der in Südamerika so überaus beliebten Telenovela in Szene gesetzt, ragt die Geschichte bis in die Gegenwart und stellt Bezüge zum heutigen politischen Klima in Brasilien her: Wie geht Leben in einer Gesellschaft, in der mindestens die eine Hälfte der Bevölkerung mit einer spezifischen Ungleichheit zu kämpfen hatte und hat?

Ein junges Mädchen in Ballettschuhen und weißem Tutu wirft sich in Tanzpose. Im Hintergrund sind eine Wüstenlandschaft sowie die Zelte und einfachen Gebäude eines Flüchtlingslagers zu sehen. So leben Tausende Sahrauis, die aus der von Marokko besetzen Westsahara vertrieben wurden, seit Jahrzehnten im Westen Algeriens. Die Sängerin Aziza Brahim ist in einem solchen Lager aufgewachsen. Heute lebt sie in Spanien und ist dort zur wichtigsten musikalischen Stimme ihres Volkes geworden. Erst mit einer Band, dann als Solo-Künstlerin, hat sie spanisch-andalusische Elemente auf unverkennbare Weise mit den traditionellen Klängen aus der Westsahara kombiniert. Für ihr viertes Album hat sich die 43-Jährige mit der spanischen Sängerin Amparo Sánchez zusammengetan, ehemals Frontfrau der Mestizo-Band Amparanoia. Die empfahl ihr, es doch einmal mit dezenter Elektronik zu versuchen. So mischen sich die Rhythmen der T’bal-Trommel, seit Jahrhunderten das Rückgrat der SahrauiMusik, und Aziza Brahims seelenvoller Gesang auf »Sahari« erstmals mit sparsam gesetzten elektronischen Beats. Hinzu kommen westafrikanische Gitarren-Grooves und ein Hauch von Reggae. Welchen Zauber das entfalten kann, zeigt der ätherische und zugleich treibende Song »Hada Jil« (»Diese Generation«), der vorab veröffentlicht wurde. Im dazu in einem Flüchtlingslager gedrehten Videoclip taucht auch das Mädchen im Tutu auf. Die Sehnsucht nach einer unbeschwerten Kindheit ist universell.

»Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão«. BRA/D 2019. Regie: Karim Aïnouz, Darstellerinnen: Carol Duarte, Julia Stockler. Kinostart: 26. Dezember 2019

Aziza Brahim: Sahari (Glitterbeat)

Moral und Möglichkeit Wie beeinflussbar sind Menschen, wie autonom handeln sie unter den Bedingungen der Bobachtung, welche Rechte haben sie im Zeitalter der Digitalisierung und Genforschung? Regisseurin Jessica Hausner reflektiert diese und andere existentielle Fragen der Postmodernität. Am Beispiel ihrer Protagonistin Alice, einer Biotechnologin, werden die Grundlagen der heutigen Zivilisation diskutiert. Alice designt Pflanzen, im Prinzip verleiht der Job im Labor ihr den Status einer Göttin. Sie schöpft Leben und verändert es nach ihren Wünschen. Nicht umsonst benennt sie ihre neueste Kreation nach ihrem Sohn, »Little Joe«. Die neue Blume soll glücklich machen. Indem sie das Kuschelhormon Oxytocin verströmt, kann sie das allgemeine Wohlbefinden ihrer Besitzer verbessern. Diese Pflanze ist nicht weniger als ein Antidepressivum, das in den Körper eingreift. Und wie bei jedem Medikament wächst langsam der Verdacht, dass Little Joe nicht so harmlos ist, wie Alice glaubt. Die Vorgänge in ihrem Labor werden zusehends merkwürdiger, es kommt zu Mobbing und Selbstmord. Hausners Film geht zurück zu den Anfängen der Wissenschaftskritik. Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder diskutiert wurde, wie gefährlich unethische, unüberlegte Forschung aus reinem Kapitalinteresse werden kann, wird einfach weitergemacht wie bisher. Hausner stellt nicht weniger als die Frage, wem das Label für die Lebewesen dieses Planeten gehört. »Little Joe«. D 2019. Regie: Jessica Hausner, Darsteller: Emily Beecham, Kerry Fox u. a. Kinostart: 9. Januar 2020

Brasilianische Abrechnung Das progressive Brasilien hat den Blues. Entsprechend leise fällt das neue Album von Lucas Santtana aus. Der 49-jährige Sänger, Komponist und Produzent aus Salvador hat sich mit Erkundungen zwischen Tropicália, Bossa Nova, Electronica und HipHop einen Namen gemacht. Auf »O céu é velho há muito tempo« (»Der Himmel ist seit langer Zeit alt«) stützt er sich auf seine Stimme und seine Gitarre, ganz im Stile seines Vorbilds João Gilberto, des Vaters der Bossa Nova, der im Juli verstorben ist. So zeichnet Santtana ein eindrückliches Porträt seines Heimatlands Brasilien unter dem Rechtspopulisten Jair Bolsonaro. Es ist eine harsche Abrechnung, die auf leisen Pfoten daher kommt. Santtana klagt die Instrumentalisierung der Justiz, die Korruption und den Raubbau an der Natur an (»Ninguém Solta a Mão De Ninguém«). Er macht sich über die Verquickung von Sport und Nationalismus lustig (»Brasil Patriota«) und kommt in »Um Professor Está Falando Com Você« zum orwellschen Schluss: »Nonsens ist Nachricht / Museen sind Müllhalden / Dummheit ist Stolz.« Als Ausweg bleibt da nur die Liebe, die Klassengrenzen überwindet. In »Meu Primeiro Amor« besingt er im Duett mit Kollegin Duda Beat eine Liebe zwischen einem Mädchen aus der Mittelschicht und einem Jungen vom Land. In einer Klassengesellschaft wie Brasilien ist schon das eine Utopie. Lucas Santtana: O Céu é Velho Há Muito Tempo (Nø Førmat!)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 58

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Sowjetischer Blues Eine Hommage an einen sowjetischen Dissidenten – der Klezmer-Modernisierer Daniel Kahn interpretiert den russischen Liedermacher und Dichter Bulat Okudschawa. Von Daniel Bax

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Daniel Kahn: Bulat Blues (Oriente)

Foto: Elya Yalonetsk

er russische Liedermacher Bulat Okudschawa ist eine Legende. Mit seinen satirischen, philosophischen und hintergründigen Versen und seinen melancholischen Melodien eroberte er in den 1960er Jahren ein intellektuelles Großstadt-Publikum – in der Sowjetunion, im Ostblock und darüber hinaus. Da die meisten seiner Lieder in der Sowjetunion lange Zeit nicht veröffentlicht werden durften, weil seine Texte den Behörden suspekt waren, machten Tonbandmitschnitte, die am Küchentisch oder, später, bei seinen Konzerten entstanden waren, privat die Runde. Okudschawa war im wahrsten Sinne des Wortes ein Underground-Star, seine Lieder wurden von der Jugend auf der Gitarre nachgespielt und -gesungen. Aufgrund seiner Breitenwirkung und seines Stils wurde er wahlweise mit dem französischen Chansonnier George Brassens oder mit Bob Dylan verglichen. Im Unterschied zu diesen blieb Okudschawa ein kommerzieller Erfolg jedoch lange verwehrt. Erst Mitte der 1970er Jahre, als in der Sowjetunion ein kulturelles Tauwetter einsetze, erschienen dort erste Alben von ihm auf Vinyl. Bis dahin waren seine Lieder lediglich in einigen Filmen erschienen, die nicht zuletzt dadurch Kultstatus erhielten. Außerdem schrieb er Drehbücher und verfasste Gedichte. Die offizielle Anerkennung kam erst spät: 1991 wurde Okudschawa mit dem Staatspreis der untergehenden Sowjetunion ausgezeichnet. 1997 starb er auf einer Lesereise in Paris, er hinterließ rund 200 Lieder und etwa tausend Gedichte.

Der Songwriter Daniel Kahn hat Okudschawa schon vor langer Zeit für sich entdeckt, da lebte er noch in Detroit. Seit er vor 14 Jahren nach Berlin zog, hat sich Kahn mit seiner Band »The Painted Bird« und einer Mischung aus Klezmer, Punk und Folk einen Namen gemacht. Auf seinem neuen Album »Bulat Blues« widmet sich Kahn Okudschawas Oeuvre, dessen poetische Liedtexte er ins Englische übertragen hat. Begleiten ließ er sich vom Moskauer Virtuosen Vanya Zhuk auf dessen russischer siebensaitiger Gitarre. Entstanden ist eine leidenschaftliche Hommage, die Okudschawa in den Songwriter-Olymp erhebt, in den er gehört. Zusammen mit Zhuk spielte Kahn das Album in wenigen Tagen ein, wobei die Reihenfolge der Lieder auf dem Album der zeitlichen Abfolge entspricht, in der Kahn die Songs für sich entdeckt und übersetzt hat – es beginnt mit dem »Gebet des François Villon«. Okudschawas Balladen waren meist persönlich, metaphorisch und auf den ersten Blick unpolitisch. Seine obrigkeitskritische und antimilitaristische, von der Erfahrung des Kriegs geprägte Haltung lässt sich aus Stücken wie »Papiersoldat« herauslesen. Okudschawas Ruf als Oppositioneller rührte aber vor allem daher, dass er sich einer offiziellen Karriere verweigerte, gegen die staatliche Zensur protestierte und auch Petitionen für verfolgte Autoren wie Alexander Solschenizyn unterschrieb. Diese Verweigerungshaltung ließ ihn zu einem Idol der Jugend im Ostblock werden, in der postsowjetischen Diaspora wird sein Name bis heute mit ehrfürchtigem Klang ausgesprochen. Mit seinen einfühlsamen Nachdichtungen hat Daniel Kahn ihm nun ein Denkmal gesetzt, das zur Neuentdeckung dieses russischen Volksbarden anregt. !

Ehrenhalber. Vanya Zhuk und Daniel Kahn (rechts) widmen sich den hintergründigen Liedern Bulat Okudschawas.

FILM & MUSIK

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MACH MIT: BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden.

Foto: privat

Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.

ÄGYPTEN IBRAHIM EZZ EL-DIN In der Nacht des 11. Juni 2019 nahmen Sicherheitskräfte in Zivil Ibrahim Ezz ElDin in seinem Viertel Moqattam in Kairo auf der Straße fest. Seitdem war er »verschwunden«. Nach seiner Festnahme erkundigte sich die Familie gemeinsam mit Anwält_innen auf der Polizeiwache von Moqattam nach seinem Verbleib, die Behörden bestritten jedoch, ihn in Gewahrsam zu halten. Ibrahim Ezz El-Din arbeitet bei der Ägyptischen Kommission für Rechte und Freiheiten (ECRF) zum Recht auf Wohnen. Er untersucht, ob die Behörden des Landes allen Menschen Zugang zu sicherem und bezahlbarem Wohnraum bieten, dokumentiert rechtswidrige Zwangsräumungen und Stadtplanungsmaßnahmen. Ibrahim Ezz El-Din tauchte erst am 26. November wieder auf, als man ihn der Generalstaatsanwaltschaft vorführte. Er wirkte geschwächt, hatte an Gewicht verloren und gab an, in der Haft gefoltert worden zu sein. Derzeit ist Ibra-

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him Ezz El-Din im Tora-Hochsicherheitsgefängnis in Kairo willkürlich inhaftiert. In Ägypten werden regelmäßig Menschen willkürlich festgenommen und inhaftiert, die lediglich friedlich Kritik am Staat geübt oder Menschenrechte eingefordert haben. Viele verschwinden nach ihrer Festnahme und werden monatelang in geheimer Haft festgehalten – ohne Kontakt zu ihren Familien oder Rechtsbeiständen und ohne Anklage. In den vergangenen drei Jahren wurden neben Ibrahim Ezz El-Din schon vier weitere Mitarbeiter_innen der Organisation ECRF festgenommen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Generalstaatsanwalt Ägyptens und fordern Sie ihn auf, sicherzustellen, dass Ibrahim Ezz El-Din umgehend und bedingungslos freigelassen wird, sofern man ihn keiner international als Straftat anerkannten Handlung anklagt. Bitten Sie ihn auch, sicherzustellen, dass Ibrahim Ezz El-Din Zugang zu Rechtsbeiständen und seinen Angehörigen erhält und dass er vor Folter und anderer Misshandlung geschützt wird. Drin-

gen Sie darauf, dass alle für sein Verschwindenlassen Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: Generalstaatsanwalt Hamada al-Sawi Office of the Public Prosecutor Madinat al-Rehab Cairo, ÄGYPTEN Fax: 00 202 - 25 77 47 16 (Anrede: Dear Counsellor / Sehr geehrter Generalstaatsanwalt) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Arabischen Republik Ägypten S.E. Herrn Khaled Mohamed Galaleldin Abdelhamid Stauffenbergstraße 6–7, 10785 Berlin Fax: 030 - 477 10 49 E-Mail: embassy@egyptian-embassy.de (Standardbrief: 0,80 €)

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Foto: privat

IRAN GOLROKH IRAEE EBRAHIMI UND ATENA DAEMI Die 31-jährige Atena Daemi verbüßt nach einem unfairen Verfahren wegen konstruierter Vorwürfe wie »Versammlung und Konspiration zu Verbrechen gegen die nationale Sicherheit« eine siebenjährige Haftstrafe. Hintergrund sind ihre friedlichen Menschenrechtsaktivitäten. Am 17. Juni 2019 wurde Atena Daemi zusammen mit Golrokh Iraee Ebrahimi zu Unrecht zu weiteren drei Jahren und sieben Monaten Gefängnis verurteilt: wegen »Beleidigung des Obersten Religionsführers« und wegen »Verbreitung

von Propaganda gegen das System«. Die beiden Frauen hatten im Gefängnis ein Revolutionslied gesungen, um gegen die Hinrichtung von zwei Kurden im September 2018 zu protestieren. Zudem hatten sie offene Briefe zu den Hinrichtungen und auch zu ihren Haftbedingungen an die Behörden geschrieben. Golrokh Iraee Ebrahimi war seit April 2019 gegen Kaution auf freiem Fuß, wurde aber am 9. November erneut inhaftiert. Atena Daemi wird zudem die fachärztliche Behandlung einer Geschwulst in ihrer Brust verweigert, die bereits vor Monaten bei einer Untersuchung entdeckt worden war. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Oberste Justizautorität des Irans. Fordern Sie ihn auf, Atena Daemi und Golrokh Ebrahimi Iraee umgehend und bedingungslos freizulassen, da sie gewaltlose politische Gefangene sind, die nur aufgrund der Ausübung ihrer Rechte

Foto: privat

Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de

CHINA ILHAM TOHTI Ilham Tohti befindet sich seit mehr als fünf Jahren in Haft. Der Professor für Wirtschaftswissenschaften kritisierte seit Jahren den Umgang der chinesischen Regierung mit der vornehmlich muslimischen uigurischen Minderheit, der er selbst angehört. Uiguren sind in China regelmäßig schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt und leiden unter Diskriminierung. Ilham Tohti warb für einen friedlichen Dialog mit der Mehrheits-

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit und wegen ihrer friedlichen Menschenrechtsarbeit inhaftiert sind. Fordern Sie ihn auf, dafür zu sorgen, dass Atena Daemi Zugang zu fachärztlicher Versorgung außerhalb des Gefängnisses erhält. Schreiben Sie in gutem Persisch, Englisch oder auf Deutsch an: Oberste Justizautorität Ebrahim Raisi c/o Permanent Mission of Iran to the UN Chemin du Petit-Saconnex 28 1209 Geneva, SCHWEIZ (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Islamischen Republik Iran S. E. Herrn Mahmoud Farazandeh Podbielskiallee 65–67, 14195 Berlin Fax: 030 - 832 22 91 33 E-Mail: info@iranbotschaft.de (Standardbrief: 0,80 €)

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de

gesellschaft und gründete das Internetportal »Uighur Online«. Anfang 2014 wurde Ilham Tohti verschleppt, monatelang ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten und gefoltert. Im September desselben Jahres wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Seit Dezember 2014 befindet sich Ilham Tohti im Gefängnis Nr. 1 der Region Xinjiang. Das Europäische Parlament gab im Oktober 2019 bekannt, dass der diesjährige Sacharow-Menschenrechtspreis an Ilham Tohti geht. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Direktor des Gefängnisses Nr. 1 in Xinjiang. Bitten Sie ihn, sich für die sofortige und bedingungslose Freilassung von Ilham Tohti auszusprechen, da er ein gewaltloser politischer Gefangener ist, der allein wegen der friedlichen Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung festgehalten wird. Fordern Sie ihn zudem auf, dafür zu sorgen, dass Ilham Tohti bis zu seiner Freilassung vor

Folter und Misshandlungen geschützt ist, jegliche erforderliche medizinische Behandlung erhält und regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie und seinen Rechtsbeiständen hat. Schreiben Sie in gutem Chinesisch, Englisch oder auf Deutsch an: Director Xinjiang Uighur Autonomous Region No. 1 Prison, 215 Hebeidonglu Urumqi 830013 Xinjiang Weiwuer Zizhiqu VOLKSREPUBLIK CHINA (Anrede: Dear Director / Sehr geehrter Herr Direktor) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Volksrepublik China S. E. Herrn Ken Wu Märkisches Ufer 54, 10179 Berlin Fax: 030 - 27 58 82 21 (Standardbrief: 0,80 €)

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BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES In jedem Amnesty Journal veröffentlichen wir drei Einzelschicksale, verbunden mit dem Appell, einen Brief zu schreiben, um Menschenrechtsverletzungen zu beenden. In regelmäßigen Abständen informieren wir darüber, wie sich die Situation der Betroffenen weiterentwickelt hat. Hier nun neue Informationen zu den »Briefen gegen das Vergessen« von Januar 2019 bis August 2019.

Foto: Amnesty

UKRAINE –OLEG SENTSOV (AUGUST 2019)

Der ukrainische Regisseur Oleg Sentsov ist im September im Rahmen eines Gefangenenaustauschs zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation freigelassen worden. Er war im Mai 2014 von russischen Spezialeinheiten auf der Krim verhaftet worden und saß fünf Jahre im Gefängnis. Ein russisches Militärgericht hatte ihn im August 2015 wegen »terroristischer Aktivitäten« zu zwanzig Jahren Haft in einer Strafkolonie im westsibirischen Labytnangi verurteilt. Sentsov hatte zuvor gegen die russische Intervention auf der Krim und die Annexion der Halbinsel protestiert. Das Urteil stützte sich auf die Aussage eines Zeugen, der seine Angaben später widerrufen und angegeben hatte, sie seien unter Folter erzwungen worden. Amnesty International hatte das Verfahren als unfair kritisiert und sich für Sentsovs Freilassung eingesetzt.

BAHRAIN – ALI MOHAMED HAKEEM AL-ARAB UND AHMED ISSA AHMED AL-MALALI (JULI 2019)

SAUDI-ARABIEN – IMAN AL-NAFJAN, AZIZA AL-YOUSEF, LOUJAIN AL-HATHLOUL, SAMAR BADAWI UND NASSIMA ALSADA (JANUAR 2019)

Von den fünf saudi-arabischen Frauenrechtlerinnen, für deren Freilassung sich Amnesty International seit Januar 2019 eingesetzt hatte, sind seit März 2019 zwei unter Auflagen wieder auf freiem Fuß: Iman al-Nafjan und Aziza al-Yousef. Die beiden Feministinnen sind prominente Gegnerinnen des Fahrverbots für Frauen, das 2018 auf ihre Initiative hin endlich aufgehoben wurde. Im Juni 2018 inhaftierte man sie gemeinsam mit Loujain al-Hathloul unter fadenscheinigen Anschuldigungen, die sich auf ihr frauenrechtliches Engagement bezogen. Im Juli 2018 wurden auch die beiden Menschenrechtsverteidigerinnen Samar Badawi und Nassima al-Sada festgenommen. Wie alHathloul sitzen sie weiter in Haft. Die Aktivistinnen hatten neben dem Ende des Fahrverbots für Frauen auch die Abschaffung der männlichen Vormundschaft gefordert. Amnesty hatte sich für sie und weitere Menschenrechtsverteidigerinnen eingesetzt, die im Gefängnis sitzen, und ihre umgehende Freilassung gefordert.

HONDURAS –BERTA CÁCERES (MÄRZ 2019)

Im Dezember sind in Honduras sieben Männer für den Mord an Berta Cáceres zu langen Haftstrafen verurteilt worden: Vier der Tatbeteiligten erhielten eine Haftstrafe von 50 Jahren, drei weitere müssen für 30 Jahre ins Gefängnis. Die Menschenrechts-

Foto: Charlotte Weidenbach / Amnesty

Fotos: privat

Trotz internationaler Proteste sind der 25jährige Ali Mohamed Hakeem al-Arab (links) und der 24-jährige Ahmed Issa Ahmed al-Malali im Juli zusammen mit einem

weiteren Mann in Bahrain exekutiert worden. Die Hinrichtung erfolgte durch Erschießen im Jaw-Gefängnis südlich der Hauptstadt Manama. Ihre Familien wurden am Vortag kurzfristig aufgefordert, die Männer ein letztes Mal unter erhöhten Sicherheitsmaßnahmen zu besuchen. Ein Gericht hatte die beiden Männer im Januar 2018 in einem Massenverfahren gegen 60 Personen unter anderem der »Gründung und Mitwirkung an einer terroristischen Gruppierung« für schuldig befunden. Sicherheitskräfte folterten und misshandelten sie, um Geständnisse zu erzwingen. Amnesty hatte gegen das unfaire Verfahren und die Todesurteile protestiert.

Engagement für Freiheit. Amnesty-Mitglieder protestieren vor der russischen Botschaft in Berlin für die Freilassung von Oleg Sentsov, Mai 2019.

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Foto: Pierre Crom

Freiheit für saudi-arabische Frauenrechtlerinnen. Amnesty-Protestaktion in Den Haag im Oktober 2018.

und Umweltaktivistin Cáceres war im März 2016 in ihrem Haus erschossen worden. Sie war Koordinatorin der Indigenenorganisation Consejo Cívico de Organizaciones Populares e Indígenas de Honduras (COPINH) und hatte unter anderem gegen den Bau des Wasserkraftwerks Agua-Zarca am Fluss Gualcarque gekämpft. Sowohl COPINH als auch eine internationale Expertengruppe gehen davon aus, dass noch weitere Personen an dem Mord beteiligt waren. Die Täter sollen mit der Armee bzw. dem Betreiberunternehmen des Agua-Zarca-Staudamms (DESA) in Verbindung stehen. Berta Cáceres und die COPINH waren aufgrund ihres Einsatzes für die Rechte indigener Gemeinden und gegen die rücksichtslose Ausbeutung von Bodenschätzen immer wieder Drohungen, Angriffen und Einschüchterungen ausgesetzt.

TSCHETSCHENIEN – OYUB TITIEV (JUNI 2018)

Opfer ihres Engagement. Berta Cáceres.

Solidaritätsaktion. Amnesty-Generalsekretär Kumi Naidoo und Oyub Titiev.

Fotos: Amnesty

Foto: Goldman Environmental Prize

Der tschetschenische Menschenrechtsverteidiger Oyub Titiev ist im Juni nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen worden. Er war im Januar 2018 unter konstruierten Drogenvorwürfen willkürlich festgenommen worden. Im März 2019 hatte ihn ein Gericht in einem unfairen Verfahren zu einer vierjährigen Haftstrafe in einer Strafkolonie verurteilt. Titiev hatte 2009 die Leitung des Büros der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial in Grosny übernommen, nachdem die Memorial-Mitarbeiterin Natalia Estemirova ermordet worden war. Amnesty hatte die unverzügliche und bedingungslose Freilassung von Oyub Titiev gefordert, da er allein wegen seiner Menschenrechtsarbeit in Tschetschenien inhaftiert war.

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES

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EINSATZ MIT ERFOLG

UKRAINE Am 23. November ermöglichte es die ukrainische Polizei, dass der Gedenktag für die Opfer von Transfeindlichkeit (Transgender Day of Remembrance) in Kiew friedlich stattfinden konnte. Rund hundert Menschen konnten so ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlung wahrnehmen. Der effektive Polizeischutz stand im krassen Kontrast zu den Ereignissen um den TransMarch 2018. Als dieser von gewalttätigen Gruppierungen angegriffen wurde, ging die Polizei weder gegen die Angreifer vor noch schützte sie die Teilnehmenden. !

Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge

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USA Am 20. November hat ein Gericht in Arizona Scott Warren von den gegen ihn erhobenen Anklagen freigesprochen. Der Geograf hatte zwei Migranten in der Wüste von Arizona mit Brot und Wasser versorgt. Im Falle einer Verurteilung drohten ihm zehn Jahre Haft. Der Prozess war das zweite Gerichtsverfahren gegen Warren wegen des »Gewährens von Unterschlupf« in Ajo im US-Bundesstaat Arizona. »Heute hat der gesunde Menschenverstand gesiegt«, sagte Erika Guevara-Rosas, Amnesty-Direktorin für Amerika. »Das Gericht hat Dr. Scott Warren aus einem einfachen Grund freigesprochen: Weil humanitäre Hilfe niemals eine Straftat sein kann.«

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MAROKKO Am 16. Oktober kamen Hajar Raissouni, ihr Verlobter und ein Arzt frei, nachdem Marokkos König Mohammed VI. sie begnadigt hatte. Die drei Personen waren im Zusammenhang mit einer mutmaßlichen Abtreibung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden. Bei der willkürlichen Inhaftierung von Hajar Raissouni könnte es sich um einen politisch motivierten Angriff gegen ihre journalistische Arbeit bei der Zeitung Akhbar al-Yaoum gehandelt haben und damit um einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Privatleben.

PALÄSTINENSISCHE GEBIETE Am 24. Oktober wurde der palästinensische Fotojournalist Mustafa al-Kharouf nach neun Monaten Haft aus dem israelischen Givon-Gefängnis entlassen. Al-Kharouf war im Januar 2019 festgenommen worden, nachdem das israelische Innenministerium seinen Antrag auf Familienzusammenführung mit seiner Frau und Tochter abgelehnt und seine sofortige Abschiebung nach Jordanien angeordnet hatte. Im September urteilte ein Gericht, dass er freigelassen werden müsse, wenn er nicht innerhalb eines Monats abgeschoben werden könne.

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TÜRKEI Die türkischen Behörden haben den Familien von Gökhan Türkmen und Mustafa Yılmaz mitgeteilt, wo sich die beiden Männer befinden, die seit Februar 2019 als vermisst galten. Den Angaben zufolge wurde Gökhan Türkmen am 5. November in Polizeigewahrsam registriert, Mustafa Yılmaz am 21. Oktober. Inzwischen wurden die beiden Männer in das Gefängnis Sincan in Ankara überstellt. Gegen sie wird wegen »Leitung einer bewaffneten terroristischen Organisation« ermittelt. Während der Zeit ihres Verschwindens und danach bestritten die Behörden, die Männer in Gewahrsam gehalten zu haben. +

IRAK Die Sanitäterin Saba Mahdawi wurde am 13. November freigelassen. Sie war am 2. November von einer unbekannten Gruppe verschleppt worden, als sie mit dem Auto vom Tahrir-Platz in Bagdad nach Hause fuhr. Auf dem Platz finden seit Oktober Proteste gegen die Regierung statt. Am Tag ihrer Entführung hatte Saba Mahdawi den Protestierenden in Bagdad als Freiwillige medizinische Hilfe geleistet. Mahdawi gab an, von ihren Entführern wiederholt zu ihren Aktivitäten auf dem TahrirPlatz verhört worden zu sein. Ihre Familie hat Amnesty bestätigt, dass sie bei guter Gesundheit ist und nicht misshandelt wurde. -

TURKMENISTAN Der turkmenische Arzt Kasymberdi Garaev ist am 6. November wieder nach Hause zurückgekehrt. Er hatte am 21. Oktober in einem Interview mit Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) über die Schwierigkeiten gesprochen, die es mit sich bringt, in Turkmenistan schwul zu sein. Einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Männern sind in dem Land eine Straftat. Am 24. Oktober wurde er auf eine Polizeiwache vorgeladen. Ab diesem Zeitpunkt gab es kein Lebenszeichen mehr von ihm, bis er am 6. November bei RFE/RL anrief und sagte, dass er wieder zu Hause sei. ,

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ÄTHIOPIEN Der Universitätsdozent Firew Bekele wurde am 19. November aus dem Gefängnis entlassen, nachdem er drei Monate inhaftiert war. Ihm war im August vorgeworfen worden, ein Buch mit dem Titel »Yetetlefe Tigil« (»Der instrumentalisierte Kampf«) geschrieben und veröffentlicht zu haben. Das Buch wirft Politikern, Sicherheitskräften und Unternehmern vor, den politischen Übergang in Äthiopien für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert zu haben. Bekele war ein gewaltloser politischer Gefangener, der bestreitet, das Buch überhaupt geschrieben zu haben.

EINSATZ MIT ERFOLG

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SAUDI-ARABIEN Am 1. November haben die saudi-arabischen Behörden die katarischen Staatsangehörigen Ali Nasser Ali Jarallah und seinen Sohn Abdulhadi Ali Nasser Ali Jarallah freigelassen, sodass sie zur ihrer Familie nach Doha zurückkehren konnten. Am 18. August hatte diese jeden Kontakt mit ihnen verloren, als die beiden in der Stadt alHofuf in der Ostprovinz Verwandte besuchen wollten. Amnesty International hatte Grund zu der Annahme, dass die beiden von der Leitung der Staatssicherheit inhaftiert worden waren.

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Foto: Nicolina Zimmermann

AKTIV FÜR AMNESTY

Genaue Ermittlerin. Diana Semaan in Berlin.

»DIE GESCHICHTEN DIESER MENSCHEN WERDE ICH NIE VERGESSEN« Diana Semaan arbeitet als Ermittlerin bei Amnesty in Beirut. Die 32-jährige Libanesin und ihr Team decken Menschenrechtsverletzungen in Syrien auf. Mit ihr sprach Nicolina Zimmermann. Sie beschäftigen sich täglich mit grausamen Kriegsverbrechen in Syrien. Wie verarbeiten Sie das? Zu Beginn war vor allem die Auswertung von Fotos und Videos sehr schwierig für mich. Auf den Bildern sind unterschiedliche Menschen zu sehen, doch ihre Geschichten sind alle gleich: Menschen werden verletzt und getötet, Familien zerstört. Ab einem gewissen Punkt lässt die Intensität dieser Bilder aber nach. Ich sehe es als Teil meiner Arbeit an, die erledigt werden muss. Das macht es zumindest etwas leichter. Dennoch gibt es etliche Menschen, deren Geschichten mich auf eine Art und Weise berührt haben, dass ich sie für den Rest meines Lebens nicht vergessen werde. Ganz besonders betroffen bin ich von Fällen, bei denen Familien nach ihren Angehörigen suchen, die verschleppt wurden und seit Jahren »verschwunden« sind. Worin besteht Ihre Arbeit sonst noch? Ich dokumentiere Menschenrechtsverletzungen in Syrien, um mit diesen Informationen Material für Kampagnen- und Lobbyarbeit herzustellen. Dafür spreche ich mit Menschen innerhalb und außerhalb Syriens – mit Geflohenen, mit Familien von Betroffenen und mit Menschen, die vor Ort waren und das Geschehen mit eigenen Augen gesehen haben. Weil mir die syrische Regierung keinen Zugang zu Syrien erlaubt, kann ich

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lediglich über WhatsApp und andere Kommunikationsdienste mit Menschen in Syrien sprechen. Wie stellen Sie sicher, dass die Informationen korrekt sind? Amnesty hat sehr strenge Richtlinien für die Auswertung von Informationen. Jede Information, die an uns herangetragen wird, wird überprüft. Dafür gibt es verschiedene Wege. Amnesty hat zum Beispiel ein spezielles Team von Fachleuten, das Digital-Corps-Team, das Bilder und Videos auswertet und auf Echtheit überprüft. Wir nutzen niemals nur eine Quelle. Wie sind Sie zu Ihrer Arbeit als Syrien-Ermittlerin gekommen? Ich wollte schon immer im Bereich Menschenrechte arbeiten, vor allem auf politischer Ebene. Dennoch habe ich mich zunächst für ein Studium der Betriebswirtschaft entschieden. Nachdem ich Erfahrungen in der Finanzbranche gesammelt hatte, beschloss ich, mein eigentliches Ziel zu verfolgen, und belegte im Masterstudium Kurse zum Thema Menschenrechte. Erste Erfahrungen konnte ich bei Human Rights Watch in Beirut sammeln. Nach etwa vier Jahren wechselte ich zu Amnesty. Können Sie mit Ihrer Arbeit etwas bewirken? Es ist grundsätzlich sehr schwierig, in einer akuten Krisensituation etwas zu bewirken. Und dennoch hat unser Engagement und das anderer Organisationen dazu beigetragen, dass weitere Gräueltaten verhindert wurden. Für mich ist jedoch das Wichtigste, dass wir als Organisation die Betroffenen unterstützen. Wir hören ihnen zu und tragen ihre Stimmen hinaus in die Welt.

AMNESTY JOURNAL | 01/2020


Chiharu Shiota, Being Human, 2019. © Art 19 GmbH

Rosemarie Trockel, Film Muet, 2019. © Art 19 GmbH

ART FOR AMNESTY

Yoko Ono, A Piece of Sky, 2019. © Art 19 GmbH

Zehn renommierte Künstler haben zur Unterstützung von Amnesty International neue Arbeiten geschaffen, unter ihnen Ayse Erkmen, Shilpa Gupta, Yoko Ono und Gerhard Richter. In handgefertigten Leinenboxen werden die zehn Originalgraphiken in einer limitierten Auflage von 100 Exemplaren (für 50.000 Euro per Box) für Kunstliebhaber und Unterstützer von Amnesty zum Verkauf stehen. Unterstützt wird die Aktion von Art 19, einer von vier Freunden ins Leben gerufenen Initiative, die sich für Art for Amnesty einsetzen, einem globalen Programm, bei dem die Menschenrechtsorganisation mit Künstlerinnen und Künstlern zusammenarbeitet. Ziel der Initiative ist es, den Einsatz für Menschenrechte finanziell zu unterstützen. Der Name Art 19 bezieht sich auf Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: »Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung.« Die erste Ausstellung von »Art 19 – Box One« ist bis Ende Januar im Collectors Room Berlin/Stiftung Olbricht zu sehen. Auch in Prag, Paris und Genf werden die Werke gezeigt.

Gerhard Richter, Cut, 2018. © Art 19 GmbH

William Kentridge, God's Opinion is Unknown, 2019. © Art 19 GmbH

Weitere Informationen unter www.art-19.com

Große Kunst für die gute Sache. Graphiken aus »Art 19 – Box One«.

IMPRESSUM Amnesty International Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Markus Bickel (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner, Lea De Gregorio, Anton Landgraf, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Yassin al-Haj Saleh, Daniel Bax, Moritz Behrendt, Cape Diamond, Tanja Dückers, Hannah El-Hitami, Oliver Grajewski, Paul Hildebrand, Verena Hölzl, Jürgen Kiontke, Tobias Lambert, David Philippot, Wera Reusch, Andrzej Rybak, Beate Scheder, Thomas Schmid, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Peter Stäuber, Wolf-Dieter Vogel, Elisabeth Wellershaus, Nicolina Zimmermann Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg GmbH & Co. KG

Spendenkonto: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 2199-4587

Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel

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