Amnesty Journal Januar/Februar 2023

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AMNESTY

Selbstbewusst

»Mullah muss weg« Seit Wochen halten die Proteste im Iran an. Vorneweg gehen die Frauen

Schmerzhafte Rückgaben

Das Grassi-Museum ist ein Vorbild für die Aufarbeitung des kolonialen Erbes

JOURNAL WWW.AMNESTY.DE/JOURNAL MAGAZIN FÜR MENSCHENRECHTE 01/23 JANUAR / FEBRUAR
fordern ihre Rechte ein
Indigene

TITEL: INDIGENENRECHTE

Brasilien: Politische Repräsentation Indigener 12 Kolumbien: Friedlicher Selbstschutz 16

Amnesty unterstützt Indigene: Würde und Autonomie 19

Kanada: Tausende misshandelte Kinder 20 USA: Schutz vor sexualisierter Gewalt nötig 23

Australien: Verschleppt und im Zirkus vorgeführt 24 Massai in Tansania: Vertreibung droht 28

Raute in Nepal: König*innen des Waldes 30 Sámi in Schweden: »Unser Land ist unsere Zukunft« 31

POLITIK & GESELLSCHAFT

Migration in die USA: Die Wüste als Waffe 34

Protest im Iran I: Aufstand und Repression 38

Protest im Iran II: Frauen gehen voran 40 Digitale Rechte: Welcher Datenschutztyp sind Sie? 44

Archiv sozialer Kämpfe: »Eine antirassistische Suchmaschine« 46

Graphic Report Myanmar: Facebook verbreitete Hass 48 Südkorea: Frauenrechte gefährdet 50

Bosnien-Herzegowina: Diskriminierendes Wahlrecht 52 Erinnerung an Völkermord: Srebrenica überlebt 56 Zivilgesellschaft in der Türkei: Ein großes Gefängnis 60

KULTUR

Kolonialismusdebatte im Museum: Das Grassi-Museum für Völkerkunde in Leipzig 64 Russischer Filmkritiker im Exil: Radio Dolin sendet noch 68 Menschenrechte in der Oper: Hessisches Staatstheater kooperiert mit Amnesty 70 Musik aus Kaschmir: Ali Saffudin rockt Folklore 72 Filme gegen die Todesstrafe: Die Unerbittlichkeit des Urteils 74 Kinder- und Jugendliteratur: Vom Krieg erzählen – über den Krieg sprechen 76 Spielfilm »Stille Post«: Hinsehen ist Pflicht 78

RUBRIKEN

Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 08 Spotlight: Gesichtserkennung 42 Was tun 58 Porträt: Alexander Belik 62 Dranbleiben 63 Rezensionen: Bücher 77 Rezensionen: Film & Musik 79 Briefe gegen das Vergessen 80 Aktiv für Amnesty 82 Kolumne: Eine Sache noch 83 Impressum 83

Safaritourismus statt Weidewirtschaft. Im Norden Tansanias sind mehr als 70.000 Massai von Vertreibung bedroht. Die Regierung spricht von Umsiedlung auf freiwilliger Basis, das Land sei überlastet.

»Rückgaben dürfen schmerzhaft sein.« Abseits der großen Diskussionen hat sich das GrassiMuseum für Völkerkunde in Leipzig zu einem Vorbild für deutsche Museen in Sachen Rückgabe und Aufarbeitung des kolonialen Erbes entwickelt.

»Es geht um unser Leben.« In Brasilien kandidierten 2022 so viele Indigene wie nie zuvor für den Nationalkongress und die Parlamente der Bundesstaaten. Einige von ihnen wurden auch gewählt.

»Mullah muss weg.« Nach dem Tod von Jina Mahsa Amini kommt der Iran nicht zur Ruhe. Jeden Tag flammen Proteste auf, die oft gewaltsam unterdrückt werden. Diese gab es auch schon in früheren Jahren, doch ist die Situation jetzt anders.

»Wir stecken in der Falle.« Auf seinem Debutalbum »Wolivo« verschmilzt der Sänger, Gitarrist und Songschreiber Ali Saffudin die Folklore seiner Heimat Kaschmir mit Rock – und Kritik an der politischen Situation. Ein Gespräch über Bollywood-Propaganda und Grunge.

2 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 INHALT
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Auf den Spuren der gestohlenen Frau.

Sussy Dakaro wurde 1883 aus Australien verschleppt und danach in US-Zirkusshows und deutschen Zoos als »exotische Wilde« dargestellt und vorgeführt. Sie starb 1885 in Wuppertal. Ihre Nachfahren wollen über die mögliche Rückführung ihrer Gebeine mitbestimmen.

Vom Objekt zur Konkurrentin.

Frauen werden in Südkorea benachteiligt und bedroht. Sie befinden sich trotz guter Bildung in prekären Arbeitsverhältnissen, sind durch Stalking und Femizide gefährdet. Nun will die Regierung auch noch das Gleichstellungsministerium abschaffen.

Im Kakteenfeld gestorben. Seit fast 25 Jahren kommen Flüchtende im Grenzgebiet zwischen Arizona und Mexiko um. Gerichtsmediziner*innen, Anthropolog*innen und Freiwillige suchen nach Toten, sichern Spuren und tragen zur Identifizierung bei.

EDITORIAL FRUST, HOFFNUNG UND ZWEI PREISE

Ein Jahr, das kurz nach seinem Beginn mit einem neuen Krieg aufwartete, der am Jahresende immer noch tobte, kann kein gutes Jahr genannt werden. Wladimir Putin hat eine weitere Menschenrechtskrise zu verantworten, und auch in den westlichen Ländern werden angesichts steigender Preise und unsicherer Perspektiven die Sorgenfalten tiefer.

Es ist in solchen Momenten umso wichtiger, sich zu freuen, wenn etwas Gutes geschieht. Der Protest der iranischen Frauen und all derer, die mit ihnen verbündet sind, beweist, dass sich der Einsatz für Menschenrechte weltweit nicht stoppen lässt (mehr dazu auf den Seiten 38 bis 41). Und auch unser Schwerpunkt über Indigenenrechte (auf den Seiten 10 bis 31) erzählt von Erfolgen, die Indigene in den vergangenen Jahren errungen haben – allen Widrigkeiten und aller Repression zum Trotz.

Grund zur Freude gibt es auch in eigener Sache: Anfang Dezember wurde zum dreizehnten Mal der International Creative Media Award (ICMA) für zeitgenössisches Grafikdesign vergeben. Eingereicht wurden 383 Arbeiten aus 23 Ländern, und wieder einmal zählt das Amnesty Journal zu den Preisträger*innen: Für das Titelbild der Ausgabe 01/2022 zum Thema »Im Netz – Menschenrechte im digitalen Zeitalter« erhielten wir einen »Award of Excellence«! Unser herzlicher Dank geht an unseren Layouter und Bildredakteur Heiko von Schrenk sowie an den Illustrator Lennart Gäbel, der das Titelbild gezeichnet hat.

Doch damit nicht genug. Beim renommierten World Illustration Award gewann die Illustratorin Lea Berndorfer für das Titelbild der Ausgabe 02/2021 (»Gesundheit für alle –Medizinische Versorgung ohne Privilegien«) in der Kategorie »New Talent Editorial«. Herzlichen Glückwunsch!

Titelbild: Indigener Protest beim »Amazon Day« in São Paulo, Brasilien, 4. September 2022.

Foto: Andre Penner / AP / pa

Maik Söhler ist verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals.

Foto: Gordon Welters

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Fotos oben: Lisa Kuner | Cameron Laird | Rasha Al Jundi | Arndt Peltner Middle East Images / laif | Anthony Wallace / AFP / Getty Images Tom Dachs / GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig | Lena Obst | Azadi Records
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Befreiung unterm goldenen Lüster. Das Hessische Staatstheater Wiesbaden legt mit den Opernproduktionen »Fidelio« und »Aus einem Totenhaus« einen Schwerpunkt auf das Thema Gefangenschaft und arbeitet dabei mit Amnesty International zusammen.

RUSSLAND

VERSCHLEPPT ZIVILPERSONEN

Russland hat Zivilpersonen in den besetzten Gebieten in der Ukraine unter Zwang nach Russland oder in andere besetzte Gebiete verschleppt. Sie wurden zudem gezwungen, einen »Filtrationsprozess« zur Personenüberprüfung zu durchlaufen, der in einigen Fällen mit Festnahmen und Folter einherging. In anderen Fällen wurden Kinder im Zuge der Verschleppung von ihren Familien getrennt. Amnesty International veröffentlichte im November einen Bericht, der diese Kriegsverbrechen dokumentiert. Er beruht auf Interviews mit 88 Zivilpersonen aus der Stadt Mariupol und den Regionen Charkiw, Luhansk, Saporischschja und Cherson, teilweise nach der Befreiung durch die ukrainische Armee. Das humanitäre Völkerrecht verbietet es, Zivilpersonen aus besetzten Gebieten gegen ihren Willen abzutransportieren und Kinder von ihren Familien zu trennen. »Die Verantwortlichen für diese Verbrechen müssen zur Rechenschaft gezogen werden«, forderte Janine Uhlmannsiek, Amnesty-Expertin für Europa und Zentralasien, bei der Vorstellung des Berichts. Im Bild: Eine Frau nach dem Abzug russischer Truppen und der Zerstörung ihres Hauses in der Region Cherson, November 2022.

Foto: Viacheslav Ratynskyi / Reuters

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PANORAMA
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PROTESTE FÜR MEHR FREIHEIT IN CHINA

Ende November zeigten Chines*innen in mehreren Städten offen ihren Unmut über die strenge Null-Covid-Politik der Regierung, die vielerorts die Bewegungsfreiheit stark einschränkt. Die Kritik richtete sich auch gegen die Einführung eines Sozialkreditsystems zur Kontrolle der Bürger*innen. Laut Medienberichten gab es unter anderem in Peking, Shanghai, Nanjing und Urumqi Kundgebungen. Demonstrierende sangen die chinesische Nationalhymne und die »Internationale«, riefen »Nieder mit Xi Jinping, nieder mit der Kommunistischen Partei« und hielten weiße Blätter in die Höhe, um gegen die Zensur zu protestieren. Proteste in diesem Ausmaß sind ein Novum seit Xis Amtsantritt als Staatspräsident vor zehn Jahren. Die Regierung schickte ein Großaufgebot an Polizeikräften auf die Straßen, um die Demonstrierenden abzuschrecken. Gleichzeitig wurden einige CoronaMaßnahmen im ganzen Land gelockert. Im Bild: Protest in Peking am 27. November.

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WAFFENSTILLSTAND IM NORDEN ÄTHIOPIENS

Eine Delegation der Afrikanischen Union hat am 2. November 2022 ein Friedensabkommen in dem seit zwei Jahren anhaltenden bewaffneten Konflikt zwischen der äthiopischen Regierung und der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) im Norden Äthiopiens vermittelt. Das in Südafrika unterzeichnete Abkommen umfasst neben einem sofortigen Waffenstillstand Maßnahmen zur Entwaffnung der TPLF, die Schaffung eines Kommunikationskanals zwischen den Konfliktparteien sowie den humanitären Zugang zur Region Tigray. Außerdem soll die Autorität der äthiopischen Regierung in der Konfliktregion wieder hergestellt werden. Erste Konvois mit Nahrungsmitteln erreichten die Region am 16. November. Bis Mitte Dezember wurden keine Verstöße gegen den Waffenstillstand dokumentiert. Amnesty International bleibt jedoch skeptisch, da die Bestimmungen des Abkommens vage formuliert sind und Menschenrechtsverletzungen wie sexualisierte Gewalt, die in dem Konflikt weit verbreitet waren, straffrei bleiben könnten. Im Bild: Flüchtende warten im Westen Tigrays auf Versorgung, Mai 2022.

Foto: Claire Nevill / WFP / AP / pa

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EINSATZ MIT ERFOLG

Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge

KANADA

Mamadou Konaté wird vorerst nicht aus Kanada abgeschoben. Ein Bundesgericht urteilte am 30. September, dass er bleiben darf, bis eine endgültige Entscheidung über den Abschiebebeschluss der kanadischen Grenzbehörde vorliegt. Laut Konatés Rechtsbeistand könnte dieser Prozess mehrere Monate dauern. Der aus Côte d’Ivoire stammende Mann lebt seit sechs Jahren in Kanada und sollte am 5. Oktober 2022 abgeschoben werden. Während der CoronaPandemie hatte er schutzbedürftige Senior*innen in Gesundheitseinrichtungen begleitet und sich dabei selbst mit dem Virus infiziert. Konaté fürchtet Misshandlungen, sollte er nach Côte d’Ivoire abgeschoben werden. Ein Bericht von Amnesty International stützt seine Befürchtungen. Darin heißt es, es bestehe dort eine ernsthafte Bedrohung für Leib und Leben Konatés.

TÜRKEI

Ende November hat das türkische Kassationsgericht die Urteile gegen vier Vertreter*innen von Amnesty International aufgehoben. Der Ehrenvorsitzende der türkischen Sektion Taner Kılıç, die frühere Direktorin İdil Eser sowie die beiden langjährigen Mitglieder Günal Kurşun und Özlem Dalkıran hatten zuvor Widerspruch gegen die Schuldsprüche eingelegt. Ihre politisch motivierte Verfolgung ist damit jedoch noch nicht zu Ende. Die vier Fälle sollen vor einem Strafgericht in Istanbul neu verhandelt werden. Die Menschenrechtsverteidiger*innen waren im Sommer 2017 unter absurden »Terrorismus«Vorwürfen festgenommen worden. Ein Gericht verurteilte Kılıç trotz fehlender Beweise am 3. Juli 2020 zu sechs Jahren und drei Monaten Haft wegen »Mitgliedschaft in einer Terrororganisation«. Eser, Dalkıran und Kurşun wurden zu zwei Jahren und einem Monat Haft verurteilt (siehe auch Seite 60).

SLOWENIEN

Nach den Wahlen und einem Regierungswechsel in Slowenien sind die zivilrechtlichen Verfahren gegen Jaša Jenull eingestellt worden. Der Theaterregisseur hatte im Jahr 2020 an Protesten teilgenommen und war im März 2022 aufgefordert worden, für den damit verbundenen Polizeieinsatz zu bezahlen. Gegen Jenull waren zu diesem Zeitpunkt bereits zwei weitere Verfahren über Kostenerstattungen anhängig. Insgesamt beliefen sich die Forderungen auf mehr als 40.000 Euro. Die Zahlungsaufforderungen zielen darauf ab, Menschen davon abzuhalten, ihre Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahrzunehmen. Nach der Einstellung der Verfahren dankte Jenull den Mitgliedern und Unterstützer*innen von Amnesty International, die sich für ihn eingesetzt hatten.

IRAN

Der UN-Menschenrechtsrat in Genf hat Ende November für eine Untersuchung der staatlichen Gewalt gegen Demonstrierende im Iran votiert. 25 Mitglieder stimmten für eine entsprechende Resolution, sechs Mitglieder dagegen, 16 enthielten sich. Deutschland und Island hatten die Sondersitzung beantragt und das Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Zuvor hatten mehr als eine Million Menschen eine Petition von Amnesty International unterschrieben. Darin wurde ein unabhängiger Untersuchungsmechanismus gefordert, um Menschenrechtsverletzungen des Regimes aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Im Iran demonstrieren seit September Tausende Menschen für ihre Rechte und riskieren dabei ihre Freiheit und ihr Leben. Die Regierung reagiert mit Repression: Nach UN-Angaben wurden bis Anfang Dezember bereits mehr als 300 Menschen getötet (siehe auch Seite 38).

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RUSSLAND

Ein Berufungsgericht in der ostrussischen Stadt Komsomolsk am Amur hat am 22. November den Freispruch der russischen Künstlerin und Frauenrechtsaktivistin Yulia Tsvetkova bestätigt. Im Juli war sie in erster Instanz vom Vorwurf der »Herstellung und Verbreitung pornografischen Materials« freigesprochen worden. Die feministische Künstlerin hatte Zeichnungen des weiblichen Körpers angefertigt und im russischen Online-Netzwerk VKontakte veröffentlicht. Tsvetkova war am 20. November 2019 festgenommen worden und stand bis 16. März 2020 unter Hausarrest. Die Russland-Expertin von Amnesty, Natalia Zviagina, sagte nach dem Urteil im Berufungsverfahren: »Die Bestätigung des Freispruchs von Yulia Tsvetkova ist ein seltenes Beispiel tatsächlicher Gerechtigkeit im heutigen Russland.«

THAILAND

Die beiden Aktivistinnen Nutthanit Duangmusit und Netiporn Sanesangkhom wurden nach fast drei Monaten Untersuchungshaft am 4. August freigelassen. Weil sie im Februar 2022 vor einem Bangkoker Einkaufszentrum eine Umfrage zu Verkehrskontrollen anlässlich königlicher Fahrzeugkonvois durchgeführt hatten, leitete die Polizei im März ein Strafverfahren wegen Majestätsbeleidigung gegen sie ein. Die Aktivistinnen kamen später in Haft, eine Freilassung auf Kaution wurde ihnen verweigert. Am 2. Juni traten Netiporn Sanesangkhom und Nutthanit Duangmusit aus Protest gegen ihre Inhaftierung in den Hungerstreik. Nach ihrer Freilassung dankten die beiden Frauen allen, die sich für sie eingesetzt hatten.

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES

Mit den Briefen gegen das Vergessen (siehe Seite 80) können sich alle gegen Unrecht stark machen – allein zu Hause oder gemeinsam mit anderen. In jedem Amnesty Journal rufen wir dazu auf, an Regierungen oder andere Verantwortliche zu schreiben und sich für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Was aus ihnen geworden ist, erfahren Sie hier.

SRI LANKA

Am 29. August 2022 ist Mohamed Imaam Mohamed Imran nach mehr als drei Jahren Verwaltungshaft gegen Kaution freigekommen. Der Computertechnikstudent war Anfang Mai 2019 festgenommen worden. Die Behörden verdächtigten den damals 20-Jährigen unter anderem der »Beihilfe für die Selbstmordattentäter bei den Anschlägen am Ostersonntag 2019«. Bei den Terrorakten waren insgesamt 250 Menschen getötet worden. Die Haftanordnung für Mohamed Imran wurde jedoch erst knapp drei Jahre nach seiner Festnahme ausgestellt. Die Staatsanwaltschaft hatte weder Anklage erhoben noch Beweise dafür vorgelegt, dass der mittlerweile 23-Jährige eine international anerkannte Straftat begangen hat. Als Grundlage für seine Festnahme diente das drakonische Antiterrorgesetz Sri Lankas (Prevention of Terrorism Act). (Juli 2022)

PHILIPPINEN

Am 10. Oktober hat das philippinische Berufungsgericht den Antrag der Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa (Foto) und ihres ehemaligen Journalistenkollegen Reynaldo Santos Jr. auf Wiederaufnahme ihres Verfahrens wegen Verleumdung im Internet abgelehnt. Die Chefredakteurin und der ehemalige Mitarbeiter der Nachrichten-Website Rappler waren am 15. Juni 2020 von einem Gericht in Manila aufgrund eines kritischen Artikels über den ehemaligen Obersten Richter des Landes Renato Corona und den Geschäftsmann William Keng schuldig gesprochen worden. Ihnen drohen mehr als sechs Jahre Haft. Im Juli 2022 hatte das Berufungsgericht die Verurteilung der beiden bestätigt und die Höchststrafe auf sechs Jahre, acht Monate und 20 Tage, bei einer Mindesthaftdauer von sechs Monaten und einem Tag, verlängert. Amnesty International fordert, dass die Regierung sämtliche Anklagen gegen Maria Ressa und die Mitarbeiter*innen von Rappler umgehend fallen lässt und die Rechte auf freie Meinungsäußerung sowie auf Medienfreiheit gewährleistet.

(November 2020)

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Foto: Rappler (CC BY-SA 4.0)
TITEL 10 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023

Indigenenrechte

Indigene Gemeinschaften geraten weltweit immer mehr unter Druck. Staaten und Konzerne beanspruchen ihr Land aus wirtschaftlichen Interessen. Restriktiver Naturschutz schränkt ihren Lebensraum zusätzlich ein.

Und koloniale Kontinuitäten prägen ihren Alltag bis heute. Gleichzeitig werden Indigene immer aktiver und kämpfen erfolgreich für ihre politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte.

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Demonstration für indigene Rechte, New York City am 19. September 2022. Foto: Karla Cot / SOPA Images / ZUMA Press Wire / pa AMNESTY JOURNAL

»Es geht um unser Leben«

In Brasilien kandidierten 2022 so viele Indigene wie nie zuvor für den Nationalkongress und die Parlamente der Bundesstaaten. Einige von ihnen wurden auch gewählt.

Aus Cuiabá von Lisa Kuner und Laís Clemente

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Eliane Xunakalo steht an einem kleinen Flusslauf im Pantanal, einem Feuchtgebiet im Südwesten Brasiliens. Hinter ihr liegen mehrere Stunden Fahrt mit einem Geländewagen und rund eine Stunde auf dem Boot. Obwohl die Sonne schon untergegangen ist, ist die Temperatur noch immer nicht unter 30 Grad gesunken.

»Wir brauchen Gesundheitsversorgung, gute Schulen und vor allem die Anerkennung unseres Landes«, erklärt Xunakalo einer kleinen Versammlung von Indigenen der Bevölkerungsgruppe der Guató in der Gemeinde Aterradinho. In ihre langen, schwarzen Haare hat die 36Jährige Federschmuck geklemmt, für Fotos zieht sie auch eine kleine, traditionelle Federkrone auf, eine sogenannte Cocar.

Die Anwältin gehört zum Volk der Ba-

kairi und engagiert sich schon lange für die Rechte von Indigenen. Im Jahr 2022 entschied sie, ihre politischen Aktivitäten auszuweiten und bei den Wahlen am 2. Oktober für das Parlament des Bundesstaates Mato Grosso zu kandidieren. »Wir brauchen mehr indigene Repräsentation in der Politik«, sagt Xunakalo, die für die Arbeiterpartei (PT) antrat.

In den vergangen vier Jahren erlebten Brasiliens indigene Völker viele Rückschritte: Der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro hatte zu Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2019 angekündigt, kein indigenes Land mehr auszuweisen. Dieser Ankündigung folgten auch Taten. Außerdem schwächte er die Indigenenschutzbehörde FUNAI und brachte Gesetze auf den Weg, die Bergbau und industrielle Landwirtschaft in indigenen Gebieten ermöglichten.

Am 30. Oktober verlor Bolsonaro von der Liberalen Partei (PL) die Stichwahl um das Präsidentenamt gegen seinen Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva von der PT. Für die Indigenen könnte der Amtsantritt von Lula da Silva im Januar 2023 Verbesserungen mit sich bringen. So hat er beispielsweise versprochen, ein Ministerium für Indigene zu schaffen.

In der Vergangenheit waren Indigene in politischen Ämtern unterrepräsentiert. In der Abgeordnetenkammer sitzt seit vier Jahren Joênia Wapichana – als erste indigene Frau und zweite indigene Person überhaupt. Sie wurde nun aber nicht wiedergewählt. Der erste und bis dahin einzige Indigene im Kongress war Mario Juruna, der von 1983 bis 1987 gewählter Abgeordneter war. Im Senat und unter den Gouverneuren gab und gibt es keine Indigenen.

Weit abgeschiedene Gebiete

Die bisher mangelnde Repräsentation lag unter anderem daran, dass die Hürden für politische Ämter hoch sind. Leonardo Barros Soares, Professor für Politikwissenschaft an der Bundesuniversität von

Viçosa, beklagt die mangelnde Aufmerksamkeit für indigene Themen. Seiner Ansicht nach sorgt die gesellschaftliche Ungleichheit dafür, dass nicht alle Gruppen denselben Zugang zur Macht haben: »Eher elitäre Gruppen, die bereits Teil der institutionellen Politik sind, haben Zugang zu Ämtern und priorisieren politische Themen innerhalb ihres Interessenbereichs und ihrer politischen Erfahrungen«, sagt er.

Ein weiterer Grund für die geringe Beteiligung der Indigenen an der institutionellen Politik ist laut Barros Soares, dass sich die indigene Minderheit über ein riesiges Territorium verteilt.

Das bekam auch Eliane Xunakalo in ihrem Wahlkampf im Bundesstaat Mato Grosso zu spüren, der rund zweieinhalbmal so groß ist wie Deutschland. Der Bundesstaat gilt als konservativ und als Hochburg der Agrarindustrie. Teilweise fährt man stundenlang nur an Sojafeldern vorbei.

Um möglichst viele der dort lebenden 43 indigenen Bevölkerungsgruppen anzusprechen, legte die PT-Politikerin Xunakalo im Wahlkampf mehr als 7.000 Kilometer zurück. Sie verbrachte Tage im Auto und schlief in Hängematten, weit weg von ihrem Ehemann und ihren Kindern. »Meine indigenen Verwandten zu besuchen, war mir sehr wichtig«, erzählt sie. Sie habe deren Bedürfnisse und Probleme verstehen wollen.

»An vielen dieser Orte war zuvor noch nie ein Politiker«, berichtet Xunakalo. Auch in Aterradinho ist sie die erste. Die indigenen Guató freuen sich über den Besuch, tragen Wünsche und Forderungen an die Kandidatin heran. Vor allem die Infrastruktur ist ein großes Thema, denn das indigene Schutzgebiet ist nur mit dem Boot zu erreichen. Außerdem haben viele Häuser keinen Strom, Internet gibt es nicht.

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Alles im Fluss. Eliane Xunakalo auf Wahlkampftour im Pantanal. Foto: Lisa Kuner

Die Abgeschiedenheit vieler indigenen Gemeinden erschwert nicht zuletzt deren politische Beteiligung. So baten Gemeinden im Pantanal Xunakalo um Benzin für ihre Boote, um am 2. Oktober zum Wahllokal fahren zu können.

Jahrhunderte der Misshandlung

Auch die historische Erfahrung einer permanenten Benachteiligung und Diskriminierung ist ein Hindernis für die formale Teilhabe am politischen Betrieb. »Wir reden von Völkern, die seit dem Jahr 1500 unter Völkermord gelitten haben und weiterhin leiden«, sagt der Politik-

wissenschaftler Barros Soares. »Jedes Volk, das Völkermord, Zwangsassimilierung, Vergewaltigung und andere Misshandlungen erlebt hat, tut sich schwer damit, sich zu organisieren und politische Ämter zu übernehmen.«

Wellthon Rafael Aguiar Leal, Aktivist für indigene Rechte, warnt davor, die mangelnde politische Repräsentanz mit mangelndem Interesse an der Politik zu verwechseln. »Die indigene Bewegung hat immer protestiert: egal wie die Regierung hieß. Denn die Agenda der indigenen Bewegung stellt die heutige Welt und die Logik des Kapitalismus ganz grundsätzlich infrage«, sagt Leal. Neu sei nur, dass immer mehr Indigene bei Wahlen kandidierten. Er sieht darin eine Reaktion

auf die zunehmenden Aggressionen, die sich gegen indigene Bevölkerungsgruppen und Territorien richten. Für viele Indigene sei Politik bisher ein Geschäft der Weißen gewesen. »Aber wenn die Weißen beginnen, indigenes Territorium zu übernehmen, dann ist klar: Wenn wir uns jetzt nicht einmischen, werden wir unser Territorium verlieren.«

Der Leidensdruck wurde in den vergangenen Jahren immer stärker. Dementsprechend stieg die Zahl der indigenen Kandidat*innen bei den Wahlen im Oktober 2022 gegenüber den Wahlen im Jahr 2018 um 32 Prozent. Laut einer Studie des Instituts für sozioökonomische Studien (INESC) kamen sie hauptsächlich aus den Amazonasgebieten im Norden des Landes und bewarben sich zumeist – wie Xunakalo – um Mandate auf bundesstaatlicher Ebene. Mit Raquel Tremembé gab es aber auch eine indigene Kandidatin, die für das Amt der Vizepräsidentin antrat, allerdings ohne große Aussicht auf Erfolg.

Auf dem Rückweg von Aterradinho nach Cuiabá, der Hauptstadt von Mato Grosso ist Eliane Xunakalo die Erschöpfung anzumerken. Es ist Ende September, ein kräftezehrender Wahlkampf liegt hinter ihr. Als die Stadt näher rückt und die Internetverbindung stabiler wird, beginnt ihr Smartphone zu vibrieren. Die Politikerin muss Finanzierungsfragen klären, Posts in Online-Netzwerken abstimmen und die letzten Wahlkampftage planen. »Unsere personellen Ressourcen und unsere Finanzen sind immer knapp«, erklärt sie, viele Aufgaben blieben deshalb an ihr hängen. Sie ist froh, dass sich ihr Mann in diesen Monaten um die Kinder kümmert.

Linke und rechte Indigene Es fällt auf, dass die indigenen Kandidaturen ein deutlich besseres Geschlechtergleichgewicht aufwiesen als der Rest der brasilianischen Politik. »Es gab 82 Kandidaturen von Frauen und 90 Männer«, stellt die Anthropologin Carmela Zigoni vom INESC fest. Der Anteil der Frauen lag damit deutlich sowohl über dem nationalen Durchschnitt als auch über dem Durchschnitt der Kandidat*innen, die in die Parlamente der Bundesstaaten gewählt werden wollten.

Bei den Wahlen am 2. Oktober schafften es zwar die allermeisten indigenen Kandidat*innen nicht in die Parlamente, doch waren einige wichtige Kandidaturen erfolgreich. In der brasilianischen Abgeordnetenkammer werden die traditionellen Gemeinschaften stärker vertreten sein als je zuvor: Insgesamt fünf Indigene wurden gewählt, darunter Célia Xakriabá aus dem Bundestaat Minas Gerais und

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»Kämpfe wie eine indigene Frau«: Eliane Xunakalo untewegs. Foto: Lisa Kuner In vielen Dörfern des Pantanal ist Eliane Xunakalo (4.v.l.) die allererste Politikerin. Foto: Lisa Kuner

Sônia Guajajara aus São Paulo. Beide ziehen für die Partei des Sozialismus und der Freiheit (PSOL) ins Parlament.

Die Vereinigung der indigenen Völker Brasiliens hat diese beiden Politikerinnen legitimiert, deshalb sprechen sie oft über die Gesamtinteressen der Indigenen im Land. Schon im Wahlkampf planten sie, eine »Bancada de Cocar« (Koalition der Federkronen) zu bilden. Diese könnte sich politisch für die Einrichtung indigener Schutzgebiete, das Ende von Abholzung und illegalem Bergbau sowie gegen industrielle Landwirtschaft einsetzen. »Für uns geht es nicht nur um den Schutz der Umwelt, es geht um unser Leben«, sagt Célia Xakriabá.

Xakriabá ist die Freude über ihren Wahlerfolg anzusehen, allerdings spricht

sie lieber über ernste Themen. »Die Menschen in Brasilien verstehen inzwischen die Dringlichkeit der Klimakrise«, sagt sie. »Unsere Wahl ist aber auch eine Antwort auf die starke Einschränkung unserer Rechte unter der Regierung Bolsonaro«. Xakriabá und Guajajara wissen, dass es nicht leicht wird, die Interessen von Indigenen durchzusetzen, dennoch sind sie optimistisch: »Wir sind zwar nicht viele«, meint Xakriabá. »Aber mit uns kommt die Stärke unserer Ahnen. Und so werden wir uns auch in die Politik einbringen.«

Es gab auch eine kleine Zahl indigener Kandidat*innen, die für rechte Parteien angetreten sind. »Das kam erst bei dieser Wahl auf«, sagt die Anthropologin Zigoni. »Die Rechten haben erkannt, dass sie sich in diesem Bereich bewegen müssen.« Konservative indigene Kandidat*innen betonen den indigenen Anspruch auf Autonomie im eigenen Territorium. Dies kann auch bedeuten, dass man sich dort mit der Agrarindustrie und dem Bergbau verständigt. Die vielleicht wichtigste Vertreterin der rechtsgerichteten indigenen Bewegung ist die neugewählte Abgeord-

nete Silvia Nobre Waiãpi von der PL. Sie war die erste indigene Frau, die in der brasilianischen Armee diente, und tritt den Anliegen der Vereinigung der indigenen Völker Brasiliens entgegen. »Man hat in ihre Kandidatur investiert, um diesen Kontrapunkt im Parlament zu setzen«, sagt Zigoni. »Man wird sehen, wie sie abstimmt und welche Auswirkungen das auf die Territorien haben wird.«

Eliane Xunakalo hat trotz ihres engagierten Wahlkampfs den Einzug in das Parlament von Mato Grosso verpasst. Entmutigen lässt sie sich durch diesen Rückschlag aber nicht. Sie will weiter für die Indigenen in Mato Grosso und Brasilien kämpfen, »besonders für Frauen und für Nachhaltigkeit«. Das sind keine leeren Worte. Im November reiste sie wie auch andere indigene Politiker*innen zur Weltklimakonferenz nach Ägypten. Dass Brasiliens Präsident ab Januar nicht mehr Bolsonaro heißt, gibt ihr Hoffnung, dass sich etwas ändern kann. ◆

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Célia Xakriabá (l.) und Sônia Guajajara auf der Weltklimakonferenz in Ägypten im November 2022. Foto: Nariman El-Mofty / AP / pa
Viele Häuser im Pantanal haben keinen Strom, Internet gibt es nicht.

Armee der Friedlichen

Die Guardia Indígena verteidigt indigene Gebiete mit pazifistischen Mitteln. In einer der konfliktreichsten Regionen Kolumbiens haben die Männer, Frauen und Kinder in den blauen Westen viel zu tun. Aus Tacueyó von Knut Henkel (Text und Fotos)

Oveimar Tenorio steht am Rande des Versammlungshauses von Tacueyó. Aufmerksam mustert er die Umgebung, während ein Pick-up nach dem anderen auf den nahe gelegenen Parkplatz rollt. Sein Funkgerät scheppert, hin und wieder hört er zu oder gibt Anweisungen. Dazwischen begrüßt

er die Neuankömmlinge. Im Versammlungshaus treffen sich heute die traditionellen Autoritäten der Indigenen aus dem Norden des Verwaltungsbezirks Cauca. Das kleine Dorf Tacueyó gehört zur Region Toribio und liegt mitten im Cauca in einer »roten Zone«.

Es gibt nicht mehr viele »rote Zonen« in Kolumbien. Schon auf der kurvigen, oft steil ansteigenden Schotterpiste nach Tacueyó sieht man Transparente zu Ehren von Manuel Marulanda, dem längst ver-

storbenen Gründer der FARC, der ehemals ältesten Guerilla der Region. Sie hat zwar nach der Unterzeichnung eines Friedensabkommens mit der kolumbianischen Regierung im November 2016 die Waffen abgegeben, doch leider nicht vollständig (siehe Infokasten). Gebiete, in denen das nicht geschehen ist, nennt man »rote Zonen«.

Zusammen mit Oveimar Tenorio ist auch Henry Chocué nach Tacueyó gekommen. »Hier sind zwei abtrünnige Einheiten aktiv«, sagt der kräftige Mann, Anfang 50, der auf der Versammlung die indigene Gemeinde Las Delicias vertritt. Sein Dorf und die dazu gehörenden Weiler liegen in der zerklüfteten Bergregion von Toribio, wo tiefe Schluchten und mächtige Felsen die Landschaft prägen und in Treibhäusern massenhaft Marihuana angebaut wird. »Das ist der Fluch der Region«, meint Chocué und stützt sich auf seinen Bastón, einen halblangen, mit Silber beschlagenen und mit rot-grünen Bändern verzierten Stock aus einem lokalen Edelholz.

Oveimar Tenorio leitet mehrere Dutzend Freiwillige an, die fast alle einen Bastón mit sich führen. Sie gehören zur Guardia Indígena, einer lokalen Selbstverteidigungstruppe, die dafür sorgen soll, dass sich die traditionellen Autoritäten sicher fühlen können. Dass das nötig ist,

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INDIGENENRECHTE KOLUMBIEN
Zeigen Präsenz und Flagge: Guardia Indígenas im Cauca.

zeigte Mitte September ein Angriff auf das Haus von Henry Chocué. Mehrere dissidente FARC-Guerilleros versuchten, dort einzudringen. »Wir gehen davon aus, dass sie ihn umbringen wollten, aber er war nicht da«, sagt Oveimar Tenorio. Seit Jahresbeginn gab es allein im Norden des Cauca 16 Morde.

Chocué wendet seinen Blick von den Bergen und Tälern der Anden ab, die die Landschaft prägen. »Mein Name und auch der von Oveimar stehen regelmäßig auf Pamphleten der Guerilleros«, erklärt er. »Wir haben Attentate überlebt. Wir erhalten telefonisch und per WhatsApp Morddrohungen. Doch wir machen weiter, weil es keine Alternative gibt«, sagt Chocué. »Sie versuchen uns zu attackieren und nehmen dabei auch die traditionellen Autoritäten und die Guardia Indígena ins Visier.«

Schule des Lebens

Oveimar Tenorio trägt die markante himmelblaue Weste der Guardia Indígena, auf deren Rücken »Kiwe Thegnas« aufgestickt ist. »Verteidiger des Territoriums« heißt das in der Sprache der Nasa, der zweitgrößten indigenen Bevölkerungsgruppe Kolumbiens. 97 Prozent der Bevölkerung in der Region Toribio gehören ihr an, darunter auch Tenorio.

Der 29-Jährige kennt die Region so gut

wie kaum ein anderer. Er ist in dem Dorf San Francisco aufgewachsen und lebte dort bis zum September 2021. Seit »verdächtige Gestalten« seine Lebensverhältnisse ausspionierten und wenige Tage später Kugeln in die Wände seines Hauses einschlugen, lebt Tenorio mit seiner Frau und der kleinen Tochter in Santander de Quilichao, wo die Dachorganisation der 22 Nasa-Gemeinden ihre Zentrale hat und ihm Schutz bieten kann. Zum Glück wurde bei dem Anschlag niemand verletzt, doch an eine Rückkehr nach San Francisco ist nicht zu denken, erzählt Tenorio.

»Unsere Aufgabe ist es, indigenes Leben und indigenes Territorium zu schützen – ganz ohne Waffen«, sagt er. Zu seiner Ausrüstung gehören neben dem Bastón ein Telefon, eine Machete und ein Funkgerät, das vor allem in den Bergen zum Einsatz kommt, wo Mobiltelefone oft keinen Empfang haben. Tenorio stehen zehn Frauen und Männer zur Seite, gemeinsam leiten sie den Einsatz von 2.600

Guardia Indígenas im Norden des Cauca. Die Truppe aus Frauen, Männern und Kindern über zehn Jahren vertreibt Eindringlinge aus indigenen Gebieten und sorgt als Ordnungsdienst bei Demonstrationen, Versammlungen und vor indigenen Gerichten für Sicherheit.

Doch die Guardia Indígena ist weit mehr als das. »Sie ist vor allem eine Schule des Lebens. Wir bilden die Anführerinnen und Anführer von morgen aus, bewahren und fördern unsere eigene Identität, von der Sprache bis zu Handarbeit«, sagt Tenorio. Das seien die wichtigsten Aufgaben, die er mit seinem Team zu koordinieren habe. Im Mai 2001, nach einem von Paramilitärs verübten Massaker in Naya, bei dem mindestens 27 Indigene ermordet wurden, wurde die Guardia Indígena zum Schutz der Nasa gegründet. Längst hat das Modell aber auch überregional Schule gemacht.

»Im gesamten Cauca gibt es rund 10.000 Guardias, landesweit 70.000 und nicht nur indigene, auch afrokolumbianische Gemeinden haben nun Guardias«, ergänzt Chocué und begrüßt Dora Muñoz. Die Journalistin ist Mitte 40 und hat ein Netz von Radiostationen in den NasaGemeinden mit aufgebaut. Sie gehört zu

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Gebiete, in denen die Guerilla die Waffen nicht abgegeben hat, heißen »rote Zone«.
Viel zu besprechen: Im Versammlungshaus treffen sich die indigenen Gemeinden der Region. Koordinator der Guardia Indígena: Oveimar Tenorio.

den bekanntesten Frauen in der Region. Ihrer Ansicht nach hat der Erfolg der Guardia Indígena, die bereits von Brot für die Welt und Frontline Defenders für ihre friedliche Arbeit gegen Gewalt ausgezeichnet wurde, auch Schattenseiten: »Sie sind sichtbar, zeigen ihre Brust, wie wir hier sagen, und riskieren damit ihr Leben.«

Anschläge, Morde und ein bisschen Hoffnung

Am 24. Januar 2022 erschossen Dissidenten der FARC José Albeiro Camayao, den ehemaligen Koordinator der Guardia Indígena, und den noch minderjährigen Bréiner David Cucuñame, der ebenfalls zu der Truppe gehörte. Die Morde sorgten unter den Indigenen für Angst und Schrecken und erfüllten damit genau ihren Zweck, meint die Journalistin Muñoz. Ihr Mann, José Miller Correa, wurde Mitte März ermordet. Einer der mutmaßlichen Täter wurde mittlerweile festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Für die Witwe ist das nicht nachvollziehbar: »Ein Kapitalverbrechen – und dann Hausarrest?«

Die staatlichen Stellen boten ihr weder Schutz noch anderweitige Unterstützung an. »Typisch«, sagt Oveimar Tenorio. »In allen 16 Mordfällen des Jahres 2022 kommen die Ermittlungen nur schleppend voran.« Zahlreiche Mörder könnten straffrei davonkommen.

Im Versammlungshaus von Tacueyó sind mittlerweile die meisten Plätze besetzt. In ein paar Minuten kann die Diskussion beginnen, es soll über neue Sicherheitskonzepte und die Initiative der

KOLUMBIEN

neuen Regierung gesprochen werden. Die Regierung hat Mitte des Jahres einen Dialog mit allen bewaffneten Akteur*innen auf regionaler Ebene begonnen. Positiv bewertet das Oveimar Tenerio, der wie Henry Chocué und Dora Muñoz bestätigt, dass die Zahl der Morde an indigenen Anführer*innen seither zurückgegangen sei.

Anders sieht es jedoch bei der Rekrutierung Minderjähriger aus. Viel zu viele würden immer noch von bewaffneten Akteuren in den Dienst genommen, meint Dora Muñoz. Das sei ein Risiko für die Familien und die Guardia Indígena, denn die mache den Bewaffneten den Nachwuchs streitig. Wer die Guardia Indígena durchlaufen habe, lasse sich nicht mehr so einfach für die Guerilla rekrutieren. Die Guardia habe außerdem in vielen Fällen Jugendliche aus den Fängen von Drogenhändlern oder der Guerilla befreit –friedlich, durch bloße Präsenz und hart-

DIE FARC UND DER FRIEDENSVERTRAG

Im Oktober 2012 begannen Friedensgespräche zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerilla FARC-EP (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee). Am 22. Juni 2016 wurde ein Waffenstillstand beschlossen, das Friedensabkommen wurde Ende November 2016 unterzeichnet. Nach Angaben der kolumbianischen Regierung wurden bis 2021 mehr als 12.000 Kämpfer*innen der Guerilla demobilisiert. Schon damals gab es jedoch rund 400 FARC-Kämpfer*innen, die sich abspalteten und die Waffen nicht niederlegten – viele davon in einer der Hochburgen der ehemaligen FARC, dem Bezirk Cauca (siehe Karte). Dort sind sie in den Anbau und Schmuggel von Marihuana involviert. Vor allem weil die 2022 abgewählte Regierung unter Iván Duque das Friedensabkommen nur halbherzig umsetzte, stieg die Zahl der ehemaligen FARC-Guerilleros, die wieder zur Waffe griffen. Die einstigen Kommandanten Iván Márquez und Danilo Alvizu warfen der kolumbianischen Regierung Vertragsbruch vor und nahmen den bewaffneten Kampf wieder auf. Derzeit wird die Zahl bewaffneter FARC-Kämpfer*innen auf 1.000 bis 2.000 geschätzt.

näckiges Insistieren. Das sei riskant, aber erfolgreich gewesen, sagt Dora Muñoz.

Die vielen jungen Freiwilligen in den blauen Westen, die an diesem Abend rund um den Versammlungsort in Tacueyó Präsenz zeigen, beweisen dies. Dann summt das Mobiltelefon Tenorios. Er wird zur Versammlung gerufen, denn als Koordinator der Guardia Indígena darf er nicht fehlen. ◆

Bogotá Tacueyó VENEZUELA PERU Cauca BRASILIEN ECUADOR
18 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 Eine der bekanntesten Frauen der Region: Die Journalistin Dora Muñoz. Zählt im Cauca zu den traditionellen Autoritäten: Henry Chocué.

»Indigene organisieren sich«

Immer wieder kommt es zu Konflikten um indigene Gebiete, weltweit sind indigene Bevölkerungsgruppen gefährdet. Der Amnesty-Experte Chris Chapman über ihre Rechte und Kämpfe.

Die UN-Erklärung über die Rechte der indigenen Völker enthält die Rechte auf Selbstbestimmung und auf Teilhabe an Entscheidungen, die zum Beispiel die Ressourcenausbeutung auf indigenem Land betreffen. Warum sind diese Rechte von zentraler Bedeutung?

Das Völkerrecht versteht Indigene als eine Gruppe, die von anderen Gruppen kolonisiert und entrechtet wurde. Es gibt indigenen Völkern die Möglichkeit, dies anzufechten und ihre Würde und Autonomie zurückzuerlangen. Das Recht auf Selbstbestimmung bedeutet, dass sie das Recht haben, über sich selbst, ihr Land und ihre Ressourcen zu bestimmen. Das Recht auf eine freie, vorherige und informierte Zustimmung zu Entscheidungen bedeutet, dass Regierungen in aufrichtiger Absicht auf indigene Völker zugehen müssen, um deren Zustimmung zu erhalten, wenn geplante Projekte das Land, die Ressourcen oder die kulturelle Identität Indigener betreffen.

Welche Bedingungen gelten in diesen Fällen?

Nachdem alle relevanten Fakten offengelegt wurden, muss die Zustimmung ohne Zwang erfolgen. Regierungen müssen den Prozess der Entscheidungsfindung der indigenen Bevölkerung respektieren und ihr dafür so viel Zeit wie nötig ein-

räumen. Wenn möglich muss der Staat auch technische oder juristische Hilfe stellen, sodass Indigene in vollem Umfang einschätzen können, was das jeweilige Vorhaben für sie bedeutet.

Viele Länder, die der Erklärung zugestimmt haben, halten sich dennoch nicht daran. Wie werden Indigenenrechte umgangen?

Indem zum Beispiel Schutzgebiete wie Nationalparks oder geschützte Wälder ausgeweitet werden. In vielen Fällen wird das Prinzip der »abgeschotteten Konservierung« (»Fortress-Conservation«) angewendet. Das heißt, dass außer Tourist*innen und Naturschützer*innen alle Menschen das jeweilige Gebiet verlassen müssen. Auf diese Art wurden bereits viele indigene Völker aus ihren Gebieten vertrieben und in Armut gedrängt. Außerdem trennt man sie damit vom Land ihrer Ahnen, das die Basis ihrer spirituellen und kulturellen Identität darstellt.

Gibt es noch andere Beispiele? Derzeit arbeiten Regierungen, die das Übereinkommen über biologische Vielfalt unterzeichnet haben, an einem globalen Rahmenabkommen zu Biodiversität. Es sieht vor, 30 Prozent der Erdoberfläche unter Schutz zu stellen. Indigene Völker sehen darin eine Bedrohung und fordern Schutzmechanismen, um sicherzustellen, dass auf ihrem Land keine Schutzgebiete ohne ihre Zustimmung eingerichtet werden. Die Regierungen haben aber bei der

Vereinbarung das letzte Wort. Auch beim Naturschutz meinen viele Regierungen und Bürger*innen wohlhabender Länder, »es besser zu wissen«, und drängen entrechteten Völkern ihre Projekte auf. Das muss aufhören. Stattdessen sollten die indigenen Völker zu Wort kommen, die die Biodiversität und die Umwelt viel erfolgreicher schützen als die Regierungen. Was unternehmen indigene Völker, um ihre Rechte durchzusetzen? Sie äußern sich häufiger und lauter als bisher und prangern die Missstände an, denen sie ausgesetzt sind. Außerdem organisieren sie sich – sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene.

Welche Rolle kann Amnesty International dabei spielen?

Amnesty sollte unterstützend tätig sein. Wir stehen nicht im Mittelpunkt, sollten aber unsere Möglichkeiten nutzen, um den Stimmen der indigenen Völker mehr Gehör zu verschaffen. ◆

Übersetzung: Viktoria Kunz und Alexandra Reuer

Chris Chapman arbeitet im Internationalen Sekretariat von Amnesty International in London zu den Rechten indigener Völker. Foto: privat

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Interview: Marianne Kersten und Maik Söhler
INDIGENENRECHTE AMNESTY INTERNATIONAL

Zu kleine Mahnmale

Es ist einfach, die drei Tafeln zu übersehen. Ich wäre fast daran vorbeigegangen, obwohl ich nur ihretwegen quer durch die kanadische Provinz Nova Scotia in das kleine Dorf Shubenacadie gefahren bin. Einzig ein Plakat mit der Aufschrift »Every Child Matters« – »Jedes Kind zählt« – vor dem Haus am Anfang der Schotterstraße deutet darauf hin, dass die Adresse stimmt.

Drei Tafeln mit sechs Sätzen in fünf Sprachen genügen aus Sicht der kanadischen Regierung offenbar, um das Elend zu beschreiben, das mehr als tausend indigene Kinder in der ehemaligen Shubenacadie Indian Residential School erleb-

ten. Vom dreistöckigen Backsteingebäude der Internatsschule, in der indigenen Kindern zwischen 1930 und 1967 die diskriminierenden Wertvorstellungen der Regierung und der katholischen Kirche aufgezwungen wurden, ist nichts mehr übrig. Stattdessen steht auf der Anhöhe nun das Firmengebäude eines lokalen Plastikherstellers. Wie würde der Ort wohl aussehen, wenn er für die Geschichte der nicht-indigenen Kanadier*innen relevant wäre?

Die Schule in Shubenacadie ist nur eine von 139 kanadischen Institutionen, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1996 in Betrieb waren. Mehr als 150.000 Kinder der First Nations, wie die größte Gruppe der Indigenen in Kanada genannt wird, und auch der Inuit wurden in dieser Zeit von ihren Eltern getrennt

und in Internate gesteckt, die mehrheitlich von der Regierung und der katholischen Kirche betrieben wurden. Die Kinder sollten dort »zivilisiert« und assimiliert werden. Sie wurden gezwungen, Englisch zu sprechen, christliche Rituale zu vollziehen, mussten schwere körperliche Arbeit verrichten, hungerten, wurden vielfach körperlich schwer misshandelt und sexuell missbraucht.

»Ziel dieser Institutionen war es, das indigene Erbe der Kinder zu zerstören«, sagt Guy Freedman, Berater für indigene Belange. Die Kinder seien behandelt worden wie »Wilde, die erzogen werden müssen«. Die Praxis der Residential Schools wurde 2015 vom Obersten Gerichtshof Kanadas als kultureller Völkermord gegen die Indigenen eingestuft. Derzeit wird in etlichen Internaten nach den sterblichen

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INDIGENENRECHTE KANADA

Geschlagen, gedemütigt, missbraucht: Bis 1996 wurden in Kanada Tausende indigene Kinder von ihren Eltern getrennt und in Internatsschulen mit Zwang an weiße Normen angepasst. Ein Besuch in dem kleinen Ort Shubenacadie zeigt die schweren Folgen der Residential Schools.

Überresten der Kinder gesucht, die die Behandlung nicht überlebten.

Das Schweigen durchbrechen

Bis in die 1990er Jahre wurde die Geschichte der Residential Schools von der kanadischen Regierung vertuscht. Wenn Überlebende öffentlich über ihre Erlebnisse berichteten, wurden sie belächelt, ihre Aussagen als Hirngespinste abgetan. Das gesellschaftliche Misstrauen und die eigene Scham habe viele Überlebende davon abgehalten, ihre Geschichte zu erzählen, stellt Guy Freedman fest. Ein Wendepunkt war der öffentliche Auftritt von Phil Fontaine im Jahr 1990. Damals sprach der ehemalige Chief der indigenen Gemeinschaft der Sagkeeng in Manitoba und spätere Vorsitzende der Versammlung der First Nations zum ersten Mal öffentlich

über den körperlichen und sexuellen Missbrauch, den er in der Fort Alexander Indian Residential School in Winnipeg erlebt hatte. Bis 2007 reichten daraufhin mehr als 15.000 Personen Klage wegen sexuellen und körperlichen Missbrauchs in den Residential Schools ein.

Die Regierung konnte nicht länger wegsehen: 2008 entschuldigte sich der damalige Premierminister Stephen Harper für die Politik der Assimilation und rief eine Wahrheits- und Versöhnungskommission ins Leben, um die Geschichte der Residential Schools aufzuarbeiten.

Rose Marie Prospers, William Henry und Alan Knowchwood gehören zu den wenigen Überlebenden der Schule in Shubenacadie, die der Kommission von ihren Erfahrungen erzählten. Viele andere nahmen ihre Geschichte mit ins Grab.

Prospers erste Aufgabe in der Schule war es, die Treppe zu putzen. »Ich musste die Stufen fegen und darauf achten, dass kein Sandkorn mehr zwischen den kleinen Läufern war. Sie kontrollierten alles, was wir taten. Es musste perfekt sein. Wenn nicht, mussten wir es nochmal machen.«

Henry wurde von einer Mitarbeiterin dabei erwischt, wie er mit seinem Bruder in der Sprache Mi’kmaq sprach. »Sie nahm einen Stock, drückte mich gegen die Badewanne und packte mich am Hals. Ich weiß nicht, wie viele Schläge sie mir verpasste. Ich weinte. Dann nahm sie ein Stück Seife und wusch mir damit den Mund aus. Ich kann die Seifenlauge heute noch schmecken.«

Knockwood wurde mit einem Riemen geschlagen, weil er in seiner eigenen Sprache gesprochen hatte: »Ich wurde von einem Klosterbruder erwischt und festgezurrt, dann kamen die Schläge. Mein Cousin Ivan musste mich beim Abendessen füttern, weil meine Hände wegen der Schläge mit den Riemen so geschwollen waren.«

Mehrere Überlebende berichten von sexueller Gewalt. Ein Mädchen starb aller Wahrscheinlichkeit 24 Stunden nachdem sie missbraucht worden war. Insgesamt kamen mindestens 16 Kinder während ihrer Schulzeit in Shubenacadie zu Tode. Viele der Überlebenden leiden bis heute unter den damaligen Erlebnissen.

Vom Staat benachteiligt

An die ehemalige Schule von Shubenacadie grenzt das Reservat Sipekne’katik an. Die Straße dorthin wird mit jedem Kilometer holpriger. Die Tankstelle kurz vor dem Eingang zum Reservat ist heruntergekommen, die Benzinpreise sind fast doppelt so hoch wie im Rest der Provinz. Die Häuser sind kleiner, baufälliger. Wie in vielen Reservaten ist der Eingang zu Sipekne’katik von Cannabis-Shops gesäumt. Viele Indigene verdienen seit Jahrzehnten hiermit ihr Geld. Seit Kanada Cannabis Ende 2018 landesweit legalisierte, sind die Geschäfte schlecht geworden.

»Viele Bewohner*innen leben in Armut, die Arbeitslosigkeit ist hoch«, sagt Chief Mike Sack. Er hält wenig von der Regierung in Ottawa. »Eine Entschuldigung ist zwar eine nette Geste, doch

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Ein Kleidchen als Mahnmal: Auf dem Gelände der kanadischen Kamloops Indian Residential School wurde ein Massengrab von 215 indigenen Kindern gefunden. Foto: Amber Bracken / The New York Times / Redux / laif

ohne Veränderungen ist sie nichts wert«, sagt er.

Guy Freedman versteht die Frustration vieler indigener Gemeinschaften. »Indigene werden in Kanada systematisch benachteiligt, viele leben unter prekären Bedingungen«, sagt er. Die Statistiken bestätigen dies. Mehr als 60 Gemeinschaften der First Nations in ganz Kanada haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und nicht genügend Nahrungsmittel. Indigene verdienen weniger, sind häufiger arbeitslos, schlechter ausgebildet und beziehen häufiger Sozialhilfe als Nicht-Indigene. Viele kämpfen mit Depressionen, greifen zu Alkohol und Drogen, werden straffällig.

Die Weigerung der Kirche

Der Schlussbericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission brachte positive Veränderungen mit sich. So beschloss das kanadische Parlament im Juni 2021 – nach jahrzehntelangem Einsatz indigener Gemeinschaften − die Umsetzung der UNO-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker. Diese erkennt das Recht auf Selbstbestimmung und den Erhalt der indigenen Kultur an und verbietet Diskriminierung und Marginalisierung.

Die katholische Kirche weigerte sich jedoch, den Missbrauch in den Residential Schools anzuerkennen. Auch wurde bekannt, dass sie zahlreiche Akten vernichtet hatte, um die düstere Vergangenheit zu vertuschen. Obwohl Gerüchten zufolge Tausende Kinder in diesen Schulen starben, fehlten die Beweise − bis im Mai 2021 auf dem Gelände der Kamloops Indian Residential School in British Columbia ein Massengrab mit den sterblichen Überresten von 215 indigenen Kindern gefunden wurde. »Mir brach es das Herz, doch erstaunt war ich nicht«, sagt Guy Freedman. Bis heute wurden landesweit mehr als 2.200 solcher Grabstätten ausfindig gemacht.

An der Shubenacadie Residential School wird noch immer nach Gräbern gesucht. Laut den Aussagen von Überlebenden wurden auch an dieser Schule Kinder beerdigt. Bisher verlief die Suche nach ihren Überresten jedoch erfolglos. Viele Menschen reisten nach Shubenacadie, um der vermissten Kinder zu gedenken und ihre Solidarität mit den Überlebenden zu bekunden. Sie legten Hunderte Kinderschuhe vor der Kirche des Dorfes ab.

Doch die katholische Kirche schwieg weiter. Aufforderungen der Regierung, sich öffentlich zu entschuldigen, wurden vom Vatikan ignoriert. Viele Indigene gingen auf die Straße. Als nichts passierte, griffen einige zu drastischeren Maßnah-

men: Im Juli 2021 wurden 68 Kirchen beschmiert, zerstört oder in Brand gesetzt.

Am 1. April 2022 entschuldigte sich Papst Franziskus dann offiziell für die Rolle der katholischen Kirche als Betreiberin der Schulen: »Ich bedauere den Missbrauch, den Sie erlitten haben, und den Mangel an Respekt für Ihre Identität, Ihre Kultur und sogar Ihre geistigen Werte.« Ende Juli 2022 reiste der Papst nach Kanada, um diese Entschuldigung zu erneuern. Dies ist für viele Indigene von großer Bedeutung. Doch den meisten reichen Worte nicht als Wiedergutmachung.

Ein Großteil des kulturellen Erbes der Indigenen ist durch die Residential Schools zerstört. Sprachen und Bräuche sind ausgestorben, weil sich niemand mehr an sie erinnert. Daran kann eine Entschuldigung nichts ändern. »Ein generationenübergreifendes Trauma lässt sich nicht von heute auf morgen beheben«, sagt Guy Freedman. Dafür braucht es mehr als drei Tafeln auf einem Hügel. ◆

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»Mir brach es das Herz, doch erstaunt war ich nicht.«
Guy Freedman, Indigenenberater
Generationenübergreifendes Trauma: Mehr als tausend indigene Kinder litten in der Shubenacadie Indian Residential School in Nova Scotia. Foto: Natalie Wenger

Epidemische Ausmaße

Die US-Regierung schützt indigene Frauen und Mädchen nicht ausreichend vor sexualisierter Gewalt.

Von Uta von Schrenk

Wir sagen unseren Kindern: Macht einen Bogen um dieses Haus. Wir sagen unseren Frauen: Geht nicht im Dunkeln raus.« Mit diesen Worten weist Tami Truett Jerue, Geschäftsführerin des Alaska Native Women’s Resources Center, auf die Gefahr indigener Frauen und Kinder in den USA hin, sexuell belästigt oder gar missbraucht zu werden. Daten der US-Regierung zeigen, dass mehr als die Hälfte der indigenen Frauen in Alaska und im US-Kernland sexualisierte Gewalt erlebt haben – das übertrifft den nationalen Durchschnitt um mehr als das Doppelte. Amnesty USA spricht von »epidemischen Ausmaßen«.

Expert*innen gehen darüber hinaus von einer hohen Dunkelziffer aus. Viele Frauen zeigen die erlebte sexualisierte Gewalt gar nicht erst an, denn die komplexe Gesetzeslage macht es ihnen fast

unmöglich, dagegen vorzugehen. Hinzu kommt, dass die US-Regierung keine eindeutigen und einheitlichen Daten über Gewalttaten an indigenen Frauen erhebt. So bleibt unklar, ob Betroffene und/oder Beschuldigte Angehörige einer ethnischen Gruppe sind. Auch wird nicht erhoben, ob die Straftat in Gebieten indigener Bevölkerungsgruppen begangen wurde. Häufig verhindern auch unklare Zuständigkeiten, dass die Strafverfolgungsbehörden die notwendigen Maßnahmen ergreifen.

Auch angemessene und rechtzeitige gerichtsmedizinische Untersuchungen im Falle eines sexualisierten Übergriffs sind bei Weitem nicht garantiert. Die zuständige Behörde des Indian Health Service (IHS) erhält von der US-Regierung nur wenig Geld und ist chronisch unterfinanziert. »Die Einrichtung des IHS ist nicht rund um die Uhr besetzt«, berichtet

Charon Asetoyer, Geschäftsführerin des Native American Women’s Health Education Resource Center. »Die nicht-indigenen Krankenhäuser in der Nähe der Reservate wollen aber mit diesen Fällen nicht behelligt werden, weil sie sich Sorgen machen, dass niemand für die Untersuchung der Vergewaltigung aufkommt.«

Gerechtigkeit zu erlangen, ist für die überlebenden Frauen nahezu unmöglich. Bereits im Jahr 2007 hatte Amnesty International moniert, dass die US-Regierung ihrer Verpflichtung zur Wahrung der Menschenrechte indigener Frauen nicht nachkommt. Ein Amnesty-Bericht vom Mai 2022 zeigt, dass sich an den Missständen auch 15 Jahre später nichts geändert hat.

Amnesty betrachtet das fortdauernde Unrecht an indigenen Frauen als eine unmittelbare Folge des nordamerikanischen Siedler*innenkolonialismus. Die jahrhundertealte systematische Diskriminierung, die tief verwurzelte Marginalisierung und Voreingenommenheit gegenüber der indigenen US-Bevölkerung setzt sich hier fort.

Amnesty fordert von der US-Regierung Maßnahmen, um die sexualisierte Gewalt gegen indigene Frauen zu beenden. Dazu gehört die vollständige Anerkennung der indigenen Gerichtsbarkeit bei Verbrechen, die in ihren Gebieten begangen werden. Die Regierung muss die entsprechenden Bundesmittel aufstocken, um sicherzustellen, dass Strafverfolgung und Gerichtsverfahren unverzüglich erfolgen und zu Gerechtigkeit führen. Außerdem muss sie die indigenen Gemeinschaften mit angemessenen Mitteln und Ressourcen ausstatten, damit sie die Strafverfolgung, die Gesundheitsversorgung und die Datenerhebung zu sexualisierter Gewalt gegen indigene Frauen sicherstellen können. ◆

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Eine Aktivistin fordert das Ende der Gewalt gegen indigene Frauen. Yuma, Arizona, im Mai 2022. Foto: Katie McTiernan / Anadolu Agency / Getty Images
INDIGENENRECHTE USA

Auf den Spuren der gestohlenen Frau

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Sussy Dakaros Nachfahren: Destiny Devow, Walter Palm Island, Daphne Morganson und Dion Devow in Townsville, Australien.
INDIGENENRECHTE AUSTRALIEN

Sussy Dakaro wurde 1883 aus Australien verschleppt und danach in US-amerikanischen Zirkusshows und deutschen Zoos als »exotische Wilde« dargestellt und vorgeführt. Sie starb 1885 in Wuppertal. Ihre Nachfahren wollen über die mögliche Rückführung ihrer Gebeine mitbestimmen.

Ende des 19. Jahrhunderts erhielt der Menschenhändler Robert A. Cunningham einen Auftrag: Er sollte sogenannte »lebende Kuriositäten« für die entmenschlichenden Shows des berühmten Zirkuspioniers Phineas Taylor Barnum beschaffen. Auf der australischen Inselgruppe Palm Island und dem benachbarten Hinchinbrook Island wurde er fündig. 1883 verschleppte Cunningham neun Menschen, die mehrheitlich der indigenen Gemeinschaft der Manbarra angehörten. Fortan wurden sie als vermeintlich »exotische Wilde« inszeniert und sollten so westliche Kolonialfantasien verkörpern.

Unter ihnen war auch eine 14-Jährige, die »Sussy Dakaro« genannt wurde. Ihr wahrer Name ist bis heute unbekannt.

Cunningham beschrieb Sussy Dakaro als lebensfroh. Sie sei in ihrer Gruppe sehr beliebt gewesen. In den USA traten die Manbarra bei Barnums rassistischer Zirkustournee »Ethnological Congress of Strange Tribes« auf. Die Zuschauer*innen gierten nach den indigenen Australier*innen und gaben sich nur allzu gern der Illusion hin, es handele sich um die »letzten Kannibalen«. Die den Manbarra aufgezwungenen Tanzeinlagen folgten vor allem einer Devise: Je bizarrer, desto besser. Die zur Schau gestellten Männer trugen daher Knochen anstatt ihres Nasenschmucks.

Die Tournee führte Sussy Dakaro und die anderen Verschleppten durch 130 Städte in den USA und Kanada, bis ihr Partner Kukamunburra 1884 erkrankte und starb. Cunningham verkaufte die einbalsamierte Leiche des jungen Mannes an ein Kuriositätenkabinett. 1993 wurde Kukamunburras mumifizierter Körper im Keller eines Bestattungsinstituts in Cleveland (Ohio) entdeckt. Seine Nachfahren brachten den Leichnam mit Unterstützung der australischen Regierung zurück nach Palm Island, wo er nach den Riten der Manbarra beigesetzt wurde.

Sussy Dakaro und den Rest der Gruppe führte der Leidensweg weiter nach Europa. Auf sogenannten »Völkerschauen« mussten die Indigenen inszenierte Tänze zeigen und in Zoos und auf Jahrmärkten Bumerangs werfen. Dafür erhielten sie eine geringe Entlohnung. Wissenschaftler

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Von Elias Dehnen (Text) und Cameron Laird (Fotos)

Sussy Dakaro, 1884 in Berlin.

vermaßen ihre Körper im Sinne der damaligen Rassenideologie, um ihr konstruiertes »Anderssein« für die Nachwelt festzuhalten. Erst im Jahr 2021 wurde bekannt, dass im Archiv des Museums für Völkerkunde in Dresden lebensgroße Gipsbüsten von Sussy Dakaro und weiteren verschleppten indigenen Australier*innen lagern. Birgit Scheps-Bretschneider, die die Sammlung betreut, regt nun die Rückgabe der Büsten an. »In jedem Abbild steckt auch ein bisschen Seele«, sagt die Ethnologin.

Sussy Dakaro starb am 23. Juni 1885 vor einem geplanten Auftritt in einem Zoo in Wuppertal an Tuberkulose und wurde am Tag darauf beigesetzt. Die australische Anthropologin Roslyn Poignant hat die Schicksale der Verschleppten seit den 1970er Jahren erforscht. Mithilfe der Wuppertaler Evangelischen Kirchengemeinde Sonnborn konnte Poignant im Jahr 2000 Sussy Dakaros Sterbeurkunde und ihre Begräbnisstelle ausfindig machen. Seit 2017 macht dort ein Gedenkstein auf Dakaros Schicksal aufmerksam, der auf privates Engagement zurückgeht. Die Wuppertaler Initiative »Power of Color« organisierte seither mehrere Gedenkveranstaltungen für die ausgebeutete Frau.

Anfang 2021 erfuhren Dakaros Nachfahren, dass Gebeine ihrer Vorfahrin nach Einschätzung von Expert*innen wahrscheinlich erhalten sind. Die Friedhofsverwaltung möchte Bodenuntersuchungen ermöglichen, allerdings erfolgte an Dakaros Grabstelle 1920 eine weitere Sargbestattung. Im Oktober 2021 sprach der Wuppertaler Bundestagsabgeordnete Helge Lindh eine Einladung an die Nachfahren Dakaros aus. Die indigene Delegation solle sich vor Ort ein Bild machen können, ob sie offiziell eine Rückführung anfragen möchte – und was mit den Büs-

ten geschehen soll. Der Delegationsbesuch wäre ein Präzedenzfall, der die Nachfahren aktiv in die Provenienzforschung und den möglichen Rückführungsprozess einbinden würde. Einen ersten Antrag hat das Auswärtige Amt mit dem Hinweis beantwortet, dass ein Delegationsbesuch nur finanziert werden könne, wenn Dakaros Gebeine gefunden werden. Wer die dafür nötigen Voruntersuchungen bezahlen soll, bleibt indes unklar.

Der Autor wuchs im Pfarrhaus neben dem Wuppertaler Friedhof auf, auf dem Sussy Dakaro begraben liegt. Für eine Recherche über Dakaros Geschichte nahm er 2021 Kontakt mit ihren Nachfahren auf.

Die Rekonstruktion von Sussy Dakaros Lebensgeschichte basiert auf Roslyn Poignants Publikation »Professional Savages: Captive Lives and Western Spectacle«, Yale University Press, 2004, 320 Seiten, 46,25 Euro.

me stecken. Es heißt dann, ihre Erziehung sei nicht angemessen.

Meine Kinder haben den Rassismus nicht so massiv erlebt, wie meine Schwester und ich ihn erlebt haben, und wir haben ihn nicht so erlebt, wie unsere Eltern ihn erlebt haben. Wir wollen nicht, dass die zukünftigen Generationen unsere vergangenen Kämpfe vergessen. Sie müssen verstehen, dass die Zugehörigkeit zum ältesten lebenden Volk in der gesamten Menschheitsgeschichte etwas ist, worauf alle Menschen in Australien stolz sein können.

Dion Devow, Sprecher des Ältestenrats der Manbarra

Es geht um mehr, als darum, Sussy nach Hause zu bringen. Wir müssen über die Verbrechen aufklären, die an uns Mitgliedern der First Nations begangen wurden. Ein großer Teil dieser Geschichte ist bis heute verborgen, doch Sussys Schicksal macht das Vergangene greifbarer. Wenn wir Geschichten dieser Art nicht ans Licht bringen, können die Menschen in Australien immer noch behaupten, sie hätten damit nichts zu tun. Doch das ist falsch: Es ist Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Erst wenn wir das anerkennen, können wir vorwärts gehen – nicht vergessen –, um einen Heilungsprozess einzuleiten. Wir machen das heutige Australien dafür nicht verantwortlich, aber wir wollen Respekt im Sinne von Anerkennung.

Bis 1967 hatten wir keine Rechte, keine Staatsbürgerschaft, wir wurden nicht einmal als Menschen anerkannt. So konnten unsere Vorfahren weggebracht und als »Zirkusfreaks« erniedrigt werden. Unsere Kinder wurden weggenommen und in Reservate gesteckt, um »zivilisiert« zu werden. Es kommt immer noch vor, dass australische Behörden Aborigine-Familien ihre Kinder wegnehmen und in Hei-

Sussys Büste wurde uns in einem Videocall gezeigt. Sie war realistischer gefertigt als erwartet. Auch wenn man bedenkt, unter welchen schrecklichen Umständen sie gemacht wurde, hat die Büste unserer Ahnin eine Präsenz und einen Körper gegeben. Es war fast so, als hätte man Sussy selbst angeblickt. Wir versuchen, sie nach Hause zu bringen, damit sie mit ihrem Land wiedervereint ist und wir mit ihr wiedervereint sind. Es ist eine tragische, barbarische Geschichte, aber wir könnten ihr eine positive Wendung geben. Deshalb ist es für mich ein großes Privileg, an diesem Rückführungsprozess teilzunehmen.

Sich an Sussys Geschichte zu erinnern, stärkt unseren Familienzusammenhalt. Sie war sicherlich eine wunderbare Frau. Es ist wichtig, dass wir uns an unsere Vorfahrin erinnern und daran, wo wir herkommen. Wir müssen wissen, was sie durchgemacht hat, als sie weggebracht wurde. Ich glaube, durch die Entführung ist ein Familienbund verloren gegangen.

Alle Menschen haben eine Identität, egal, woher sie kommen, wer sie sind oder welche Hautfarbe sie haben. Als Sussy weggebracht wurde, hat sie diese Identität verloren. Sie muss so viel Heimweh nach ihrem Land gehabt haben. Sie war die Tochter von jemandem, die Tante von jemandem, und es muss furchtbar gewesen sein, von seinen Lieben weggerissen zu werden. Sie wurde gezwungen, Kostüme zu tragen und im Zirkus aufzutreten.

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»Australien hat sich mit seiner kolonialen Vergangenheit nicht auseinandergesetzt«
Daphne Morganson, Älteste der Manbarra
»Unsere Vorfahren wurden als ›Zirkusfreaks‹ erniedrigt«
Foto: Carl Günther

Australien hat sich mit seiner kolonialen Vergangenheit nicht auseinandergesetzt; sie wurde unter den Teppich gekehrt. Unsere Familien wurden in Reservate vertrieben, etwa nach Palm Island. Wir mussten getrennt leben von den Weißen. Das war schrecklich. Wir hatten nicht die Freiheit, dorthin zu gehen, wohin wir wollten, oder das zu tun, was wir tun wollten. Wenn mein Vater in Townsville arbeiten wollte, musste er sich bei der Polizei einen Passierschein besorgen. Gott sei Dank musste ich das nicht miterleben. Aber mein Volk ist stark und hat überlebt, genauso wie Sussy lange überlebt hat.

Ich habe das Foto von ihrem Grab in Wuppertal gesehen, und es ist so schön und friedlich. Ich möchte mich bei den Menschen, die das ermöglicht haben, für ihre Herzensgüte bedanken.

Auch wenn ich Sussy nie getroffen habe, fühle ich die Liebe zu ihr, denn sie ist mein Blut, meine Familie. Sie soll wissen, dass wir sie immer noch lieben, egal wie weit weg sie ist, und dass wir uns um sie kümmern. Ich denke, dass wir ihr mit einem Besuch in Wuppertal spirituell näher sein können.

kannt, aber es ist noch ein langer Weg. Ich kann kaum beschreiben, wie stolz ich als Angehörige der First Nations, aber auch als Australierin war, als ich am 13. Februar 2008 all diese Menschen sah, die von weither auf den Rasen des Parlamentsgebäudes gekommen waren, um die nationale Entschuldigung von Premierminister Kevin Rudd an die gestohlene indigene Generation zu hören. Das war ein Aufbruch für unser Land, ein emotionaler Tag. Australien wurde erwachsen und übernahm endlich Verantwortung für die Auswirkungen der Vergangenheit.

Die Beziehung zwischen Wuppertal und dem Volk der Manbarra, die wir gerade aufbauen, ist sehr wichtig. Mit Unterstützung der australischen und deutschen Regierung arbeiten wir darauf hin, Sussy nach Hause zu bringen, falls das möglich ist. Sie muss in Frieden ruhen, das ist unsere Priorität. Es wäre gut, wenn unsere Ältesten nach Deutschland reisen könnten, um zu sehen, wie Sussy begraben liegt. Dafür müssen noch viele Verhandlungen geführt werden. Teil unserer Kultur ist es, dass unsere Ältesten diejenigen sind, die wichtige Entscheidungen treffen. Sie sind die Wächter der Geschichten, sie haben das Wissen über unser Land, über unsere Kultur und unsere Ahnen. Wir wollen alle Schritte respektvoll machen und orientieren uns an den Wünschen unseres Ältestenrats.

len mussten, die im Zuge der Landenteignungen dorthin geschickt wurden.

Es gibt immer noch eine gewisse Arroganz vieler Menschen in Australien, die das Leid, das unser Volk durchgemacht hat, einfach nicht verstehen. Rassistische Vorurteile uns gegenüber sind auch heute noch sehr präsent. Wir haben einen Begriff dafür: »Boong Bashing«. Viele Politikerinnen und Politiker hier gewinnen die Wahlen durch »Boong Bashing«. Sie sagen: »Die Aborigines verschwenden Regierungsgelder.«

In der Nähe von Townsville gibt es ein Museum, das eine Ausstellung über die verschleppte Aborigine-Gruppe zeigt. Wenn wir die Büsten rückführen, werden wir darum bitten, sie dort zu lagern, bis wir einen Aufbewahrungsort auf Palm Island eingerichtet haben.

Ob Sussy rückgeführt wird oder nicht, muss die Entscheidung der Frauen unseres Volkes sein. Wichtig ist, vor Ort in Deutschland die indigenen Sprachen zu sprechen, die Sussy damals gesprochen hat. Diese ähneln den Sprachen, die mein Vater mir beigebracht hat – Mulgu, das weithin gesprochen wird, und Buluguyban.

Sussys Geschichte muss erzählt werden. Ihre Büste zu sehen – so traurig und emotional es auch war – hat uns die Bedeutung des Projekts vor Augen geführt; dieses Gefühl, dass sie einfach zu Hause sein muss, in ihrem Land, zurück bei ihrem Volk.

Die Gräueltaten, die Sussy und unserem Volk angetan wurden, dürfen nie wieder geschehen. Noch immer gibt es das Missverständnis: »Aborigines arbeiten nicht, Aborigines sind ungebildet.« Wenn man aber von seiner Mutter weggenommen wurde, wenn man nicht die familiäre Unterstützung und nicht die gleichen Chancen wie andere hatte, dann hat das Auswirkungen – über Generationen hinweg, bis heute.

Wir kommen langsam voran. Wir sehen mehr Aborigines, die an Entscheidungsprozessen im Parlament teilnehmen, und mehr Schwarze im Fernsehen. Wir fühlen uns mehr und mehr aner-

Wir sind die traditionellen Ältesten unseres Volkes; meine Vorfahren gehen bis weit vor die Zeit zurück, als James Cook 1770 Palm Island besuchte. Sussy ist das Bindeglied zu unserer Familie. Als wir kleine Kinder waren, erzählte mir mein Vater, dass damals Familienmitglieder von Palm Island weggebracht wurden.

Wir wurden systematisch von unseren Stammesländern vertrieben. Die damaligen Gesetze ähnelten dem südafrikanischen Apartheidsystem. So entstand 1918 das Aborigine-Reservat auf Palm Island, das sich viele verschiedene Stämme tei-

Sussy ist die Partnerin von Kukamunburra. Sein mumifizierter Körper wurde in den USA gefunden, also reiste ich im Jahr 1994 dorthin, um ihn rückzuführen. Wir fanden einen Native American, einen Medizinmann, der eine Rauchzeremonie abhielt. Er gehörte zum Volk der Seneca. Das Gebiet, in dem Kukamunburra starb, gehörte zu ihrem Stammesgebiet, und es war wichtig, den Geist meines Vorfahren aus ihrem Land zu befreien, damit wir den Geist und seinen Körper nach Hause holen konnten. Ich habe eine Liedzeile gesungen und in meiner Sprache zu Kukamunburra gesprochen, dass wir gekommen sind, um ihn abzuholen. Er ist sehr stolz auf uns. Es war eine Versöhnung; eine Verbindung zu dem, was uns als Manbarra-Volk ausmacht. ◆

Siehe auch: »Rückgaben dürfen schmerzhaft sein«, Seite 64

AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 27
»Sussy muss einfach zu Hause sein, in ihrem Land, zurück bei ihrem Volk«
Destiny Devow, Sprecherin des Ältestenrats der Manbarra
»Ob Sussy rückgeführt wird oder nicht, muss die Entscheidung der Frauen unseres Volkes sein«
Walter Palm Island, Ältester der Manbarra
»Es muss furchtbar gewesen sein, von seinen Lieben weggerissen zu werden.« Daphne Morganson

Safaritourismus statt Weidewirtschaft

Im Norden Tansanias sind mehr als 70.000 Massai von Vertreibung bedroht. Die Regierung spricht von Umsiedlung auf freiwilliger Basis, das Land sei überlastet.

Begehrtes Gebiet: Ein Massai treibt seine Rinder zum Weiden in der Region Loliondo, Juli 2022.

Foto: Rasha Al Jundi

28 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023
INDIGENENRECHTE TANSANIA
Von Bettina Rühl, Nairobi

Auf den verwackelten Handyaufnahmen sind Schüsse zu hören, weißer Rauch steigt auf. Männer aus der indigenen Gemeinschaft der Massai, erkennbar an ihren traditionellen Gewändern, laufen aus dem Bild heraus, um sich in Sicherheit zu bringen. Abgefeuert werden die Schüsse von tansanischen Armeeangehörigen, die damit protestierende Massai auseinandertreiben wollen.

Der von Katar finanzierte Sender Al Jazeera zeigte die Amateuraufnahmen im Juni dieses Jahres, dem Monat, in dem ein lange schwelender Konflikt zwischen der tansanischen Regierung und der Gemeinschaft der Massai in der Stadt Loliondo im Norden des Landes eskalierte. In dem Konflikt geht es um ein etwa 1.500 Quadratkilometer großes Gebiet, das zum angestammten Weideland der Massai gehört, die von Viehzucht leben. Das Areal liegt in der Nähe des Ngorongoro-Kraters und grenzt an das Serengeti-Mara-Ökosystem.

Bei der Auseinandersetzung im Juni wurde laut der Regierung ein Polizist durch einen Speer tödlich verletzt. Die staatlichen Sicherheitskräfte hätten ihrerseits mehr als 30 Männer verwundet, sagte Yannik Ndoinyo, ein Ältester der Massai, im Interview mit Al Jazeera. Die Opfer hätten unter anderem Schussverletzungen und Knochenbrüche davongetragen, außerdem seien Polizei und Armee mit Tränengas gegen die Protestierenden vorgegangen. Die Sicherheitskräfte hätten sogar auf Frauen und alte Menschen geschossen, erzählte eine Geflüchtete, die anonym bleiben wollte, dem Deutschlandfunk. 25 Menschen wurden festgenommen und später wegen Verschwörung zum Mord an dem Polizisten angeklagt. Unabhängige Rechtsexpert*innen der UNO verurteilten den gewaltsamen Einsatz der tansanischen Sicherheitskräfte.

Mehr als 70.000 Massai laufen Gefahr, von ihrem angestammten Weideland vertrieben zu werden. Indigene Aktivist*innen und internationale Menschenrechtsorganisation wie Amnesty International sind davon überzeugt, dass die Massai einem Reservat für Safaritourismus und Trophäenjagd Platz machen sollen. Die tansanische Regierung argumentiert hingegen mit dem Ersuchen der

Unesco, das Gebiet zu entlasten: Die Massai müssten weichen, weil der wachsende Bevölkerungsdruck den Nationalpark gefährde. Nicht nur die Zahl der Menschen habe zugenommen, sondern auch die Größe ihrer Herden und der beackerten Flächen. Außerdem vertreibe sie die Massai nicht, argumentiert die Regierung, sondern biete eine freiwillige Umsiedlung auf alternative Flächen an. Diese werden jedoch von den Massai nicht akzeptiert, weil sie außerhalb des Lands ihrer Vorfahren liegen. Die Afrikanische Menschenrechtskommission hat das Vorgehen der tansanischen Regierung bereits 2018 verurteilt.

Häuser niedergebrannt

Um das Gebiet gibt es seit Langem Streit. 1992 verpachtete die Regierung das gesamte Areal von Loliondo als Jagdgebiet an ein Unternehmen namens Otterlo Business Corporation aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Berichten zufolge war das Abkommen gedacht als Gegenleistung für Millionen Dollar, die an die tansanischen Streitkräfte flossen. Dieses Abkommen hat Tansania im November zwar 2017 beendet, doch blieb das Unternehmen dennoch im Land und wurde von verschiedenen führenden Politiker*innen unterstützt. Zwischen 2009 und 2022 versuchten Sicherheitskräfte viermal, die indigene Massai-Bevölkerung von ihrem Weideland in Loliondo zu vertreiben. Im Jahr 2009 wurden bei einer Reihe von Vertreibungen mehr als 200 Häuser der Massai niedergebrannt. Der damalige UN-Sonderberichterstatter für indigene Völker, James Anaya, berichtete, dass die Massai-Dorfbewohner*innen »obdachlos und ohne Nahrung, Kleidung, Land, Wasser, medizinische und andere soziale Grundversorgung« zurückgelassen wurden.

Auch im August 2017 kam es zu Vertreibungen. Häuser der Massai wurden niedergebrannt, ihr Vieh beschlagnahmt. Kurz darauf veröffentlichte die Internationale Arbeitsgruppe für indigene Angelegenheiten (IWGIA) einen kurzen Bericht über die Vertreibungen. Sie drängte darauf, die Vertreibungen zu stoppen, und empfahl, die Vertriebenen zu entschädigen. In der Folge gab es mehrere politische Entscheidungen zugunsten der Massai. So stoppte der damals neue Minister für natürliche Ressourcen, Hamisi Kigwangalla, Ende Oktober 2017 die Räumungsaktionen und ordnete an, dass alle Rinder, die während der Vertreibung beschlagnahmt worden waren, an ihre Besitzer*innen zurückgegeben werden sollten. Medien zitierten Kigwangalla mit

den Worten: »Dieser Streit wird nicht mit Waffengewalt gelöst, und er wird auch nicht durch einen Krieg der Worte beendet werden, sondern nur durch einen Dialog. Ich weise daher alle Behörden an, die Vertreibung sofort zu stoppen.«

Mittlerweile verfolgt die Regierung jedoch einen anderen Kurs. Statt von Vertreibung sprach sie zuletzt zunehmend von »Umsiedlung auf freiwilliger Basis«. Im Gespräch mit dem südafrikanischen Sender SABC wies der Menschenrechtsanwalt Joseph Moses Oleshangay diese Darstellung entschieden zurück. Oleshangay arbeitet für das Legal Human Rights Center (LHRC) und ist selbst Massai aus dem Distrikt Ngorongoro. In der umstrittenen Region gebe es für die 93.000 dort lebenden Menschen weder ein funktionierendes Wasser- noch ein Gesundheitssystem. Nun habe die Regierung auch noch angeordnet, sechs Gesundheitszentren und neun staatliche Sekundarschulen zu zerstören – offensichtlich, um den angeblichen »Wunsch« der Massai nach Umsiedlung zu befördern. »Sie zerstören sogar staatliche Infrastruktur, um ihr Ziel zu erreichen«, sagt er. »Das Ergebnis einer solchen Maßnahme hat nichts mit einer freiwilligen Entscheidung zu tun.«

Warum die Massai sich so hartnäckig weigern, die Region zu verlassen, erklärt der Älteste Ndoinyo: »Die Community braucht dieses Land. Die Betroffenen haben zugunsten des Naturschutzes 1959 bereits auf die Serengeti verzichtet. Dieses Land brauchen sie jetzt zum Überleben.« Amnesty fordert von den tansanischen Behörden, den Einsatz in Loliondo sofort zu beenden, die Festgenommenen unverzüglich freizulassen und alle Beschlagnahmungspläne aufzugeben. ◆

MENSCHENRECHTE VERSUS NATURSCHUTZ?

Das Ngorongoro-Schutzgebiet im Norden Tansanias wurde von der Unesco 1959 als Mehrfachlandnutzungsgebiet deklariert. Damit leben Wildtiere und halbnomadische Massai-Hirten in Koexistenz. 1979 wurde das Schutzgebiet als Unesco-Weltnaturerbe ausgezeichnet, 2010 kam der Titel Weltkulturerbe dazu. Seitdem nutzt die tansanische Regierung Menschenrechtsaktivist*innen zufolge den Welterbestatus für Verbote und Vertreibung, um eigene Interessen zu verfolgen. Bis in die 1970er Jahre durfte die lokale Bevölkerung in dem artenreichen Gebiet Land- und Weidewirtschaft betreiben. Seit 2016 dürfen Viehherden in bestimmten Bereichen nicht mehr weiden.

AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 29
»Wir brauchen dieses Land zum Überleben.«
Yannik Ndoinyo, Massai-Ältester

König*innen des Waldes

Die Raute sind die letzten Nomad*innen Nepals, doch sie kämpfen um ihr Überleben.

Müssen die Indigenen sesshaft werden, um eine Zukunft zu haben? Von Martin Zinggl

Ein 86-Jähriger stützt die Arme auf den Waldboden, hebt sein in Leinentücher gewickeltes Gesäß und schiebt seinen ausgezehrten Körper im Sitzen vorwärts. Obwohl er nicht mehr gehen kann, zeigt Karna Bahadur keine Spur von Selbstmitleid oder Schwäche. Im Gegenteil. Den weißhaarigen Kopf nach vorn geneigt, seinen Rücken durchgestreckt, blickt er auf das, was vor ihm liegt: ein Zeltlager mitten im Wald, in dem 144 Bewohner*innen ihrem Alltag nachgehen. Kinder jagen Ziegen und Hühner durch das Camp, Männer schnitzen Schalen aus Holz, Frauen holen Wasser vom nahegelegenen Fluss.

Seit mehr als 900 Jahren streifen die Raute, eine der letzten Jäger- und Sammlergesellschaften Südasiens, durch die Wälder Westnepals, jagen Makaken, sammeln Früchte und Wurzeln. Einige Wochen bleiben die Nomad*innen an einem Ort, bevor sie weiterziehen. Doch die König*innen des Waldes, wie sie sich selbst nennen, kämpfen um ihr Überleben.

Seit die nepalesische Regierung vor rund 15 Jahren begann, ihnen Lebensmittel, Geld und Dinge des täglichen Bedarfs auszuhändigen, entwickelte sich eine Abhängigkeit, die den Raute zusetzt. Vermehrt suchen sie den Austausch mit Dörfern, doch birgt dieser Gefahren: In den Straßengräben liegen alkoholisierte Männer, Kinderzähne sind von Zucker und Kautabak zerfressen. Die Mobilität der Nomad*innen hat sich verringert, ihre Privatsphäre ist bedroht. Neugierige aus umliegenden Dörfern besuchen das Lager, machen Fotos, drehen Handyvideos und posten in Online-Netzwerken Selfies mit den letzten Waldnomad*innen.

Dass die Zukunft der Raute ungewiss ist, weiß auch der alte Bahadur. Einerseits halten die König*innen des Waldes stolz an ihrem Lebensstil fest, doch gleichzeitig wirkt die Außenwelt auf sie ein und trägt zu ihrer Entwurzelung bei. »Als ich jung

war, haben wir Beeren gegessen, Guaven und andere Früchte«, erzählt Bahadur. »Heute fragen unsere Kinder nach Nudeln, Chips und Keksen.« Vor 15 Jahren griff kein Raute zu Geld, Medikamente waren tabu, und kam ein Fremder ins Lager, versteckten sich die Kinder aus Angst. »Mittlerweile betteln wir, schlucken Tabletten, und unsere Kinder laufen auf Außenstehende zu, die unser Lager betreten«, sagt er.

Von der Regierung festgelegte Sonderrechte für die Nomad*innen sorgen regelmäßig für Zündstoff zwischen den Raute und der sesshaften Bevölkerung. Die König*innen des Waldes erleben häufig Diskriminierung, erhalten aber auch materielle und finanzielle Unterstützung vom Staat. Außerdem dürfen sie zur Eigennutzung jeden Baum fällen, selbst die ältesten und wertvollsten. Manchmal schlagen sie ihre Zelte auf, wo sie wollen – auch ungefragt auf Privatgrund. Ziehen die Raute weiter, hinterlassen sie gelegentlich gerodetes Land. Das verärgert Menschen, die ebenfalls im ärmsten Teil Nepals leben

und keinerlei staatliche Hilfe erhalten.

Der Druck auf die Raute, sesshaft zu werden, wächst. Kinder sollen Schulen besuchen, Frauen in Krankenhäusern gebären, Männer als Bauern arbeiten. Im Jahr 2022 gründete die Regierung eine Arbeitsgruppe, die einen geordneten Übergang unterstützen soll. »Positives Einschreiten« nennt das die Leiterin der Arbeitsgruppe, Anita Gyawali. »Ohne Unterstützung von außen sind die Raute nicht mehr überlebensfähig«, sagt sie. »Spätestens in zehn Jahren werden sie von sich aus darum bitten, ihnen bei der Ansiedlung zu helfen.«

Doch machen die Raute weder einen großen Schritt in diese Richtung, noch kehren sie zurück in ihr altes Leben. »Die Jungen hören nicht mehr auf mich«, stellt Bahadur fest. Er fürchtet um den Fortbestand der nomadischen Lebensweise. Bestimmte Aspekte von Bildung sowie Medikamente und Sesshaftigkeit nennt er Todsünden, die man nicht akzeptieren dürfe. »Sonst würden wir endgültig unser kulturelles Erbe aufgeben.« ◆

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INDIGENENRECHTE NEPAL
Will das kulturelle Erbe der Raute bewahren: Karna Bahadur, Oktober 2022. Foto: Martin Zinggl

»Unser Land ist unsere Zukunft«

Die Sámi leben im Norden Skandinaviens und Russlands. Der Klimawandel, Windfarmen und die Ausbeutung von Bodenschätzen bedrohen ihre Lebensweise. Ein Gespräch mit Henrik Blind, der sich für die Rechte der Sámi in Schweden einsetzt.

Vor welchen Herausforderungen stehen die Sámi in Schweden? Jeder neue Industriezweig, der zu uns vordringt, bedroht unsere Kultur und unser Siedlungsgebiet, das wir Sápmi nennen, Land der Samen. Vor allem der Holzeinschlag, der Abbau von Bodenschätzen und das Aufstellen von Windkraftanlagen beeinflusst unsere Lebensweise. Dabei ist Sápmi alles, was wir haben – wir können nirgendwo anders hingehen, unser Land ist unsere Zukunft.

Wie wirkt sich die Klimakrise aus? Sie ist die größte Herausforderung unserer Zeit. Für die ganze Menschheit, aber auch konkret für uns. Wir spüren das bereits. Der Klimawandel ist ein riesiges Problem für die Rentierwirtschaft, die seit jeher mit unserer Lebensweise verbunden ist. Die Jahreszeiten sind nicht mehr wie früher, das beeinflusst die Wanderrouten der Rentiere. So sind zum Beispiel die Winter regenreicher, aber auch andere Faktoren wirken sich negativ auf die Lebensbedingungen der Rentiere aus. Nach dem Willen der Regierung soll im nordschwedischen Kallak ein riesiges Eisenerzvorkommen erschlossen werden. UN-Menschenrechtsexpert*innen warnen, die Mine könne Luft und Wasser verschmutzen. Es ist bewiesen, dass sich der Erzabbau deutlich auf die samische Kultur und die Rentierzucht auswirken wird. Dennoch hat die Regierung diese Entscheidung getroffen. Ich fürchte, dass ihr die Forderungen eines britischen Bergbauunternehmens wichtiger sind als der Schutz unse-

rer Kultur. Das macht mich traurig und wütend. Wir waren schon hier, bevor es Schweden überhaupt gab. Paradoxerweise stellen auch Umweltinitiativen wie Windfarmen eine Bedrohung dar. Sehen Sie hier Kompromissmöglichkeiten?

Wir sind in den vergangenen 100 bis 150 Jahren bereits unzählige Kompromisse eingegangen. Mittlerweile kommen wir an einen Punkt, an dem keine weiteren Kompromisse mehr möglich sind, weil sonst alles weg ist, was uns ausmacht. Was unternehmen die Sámi gegen die Bedrohungen?

Wir haben nicht die Mittel, um gegen große Unternehmen vor Gericht zu ziehen oder wirkmächtige Lobbyisten im Parlament zu installieren. Wir erheben unsere Stimme und versuchen, bei umstrittenen Industrieprojekten für öffentliche Aufmerksamkeit zu sorgen. Diesen Kampf führen wir für unsere Kinder, aber auch für unsere Vorfahren, die in unserer Kultur und Tradition fortleben. Die Regierung muss dringend weitere Gesetze erlassen, die die indigene Lebensweise schützen. Wenn sie nur auf die Industrie hört, werden wir immer die Verlierer sein, und dann wird eines Tages nichts mehr übrig sein, für das wir kämpfen können. Was müsste sich ändern, damit die Sámi eine Zukunft haben?

Die samische Gemeinschaft wird zu spät angehört. Wenn über Bergbauaktivitäten gesprochen wird, müssen wir früher mit am Tisch sitzen – auf Augenhöhe und mit Handlungsmöglichkeiten. Unsere Vorfahren hatten ein tiefes Verständnis dafür, wie wir auf diesem Planeten im Einklang mit der Natur leben können. Wir müssen uns wieder als Teil der Natur begreifen – und nicht die Natur als etwas, was uns gehört. Die Ansichten der Sámi und anderer Indigener über die Natur sollten in die Klimadebatte einfließen. Und wir müssen Gesetze und Maßnahmen mitbestimmen können, die zur Bewältigung der Klimakrise erforderlich sind. Wir haben als Menschen im Schnitt nur 80 Jahre auf dieser Erde. In dieser kurzen Spanne müssen wir daran arbeiten, zukünftigen Generationen etwas zu hinterlassen, auf dessen Grundlage sie ihre Träume verwirklichen können. ◆

Henrik Blind arbeitet im Nationalrat der Sámi-Schulen und engagiert sich als Lokalpolitiker. Der 44-Jährige lebt in Jokkmokk (lulesamisch: Jåhkåmåhkke, nordsamisch: Dálvvadis) in der nordschwedischen Provinz Norrbottens län am nördlichen Polarkreis. Sein Dorf gilt als Zentrum der samischen Kultur in Schweden.

Foto: privat

AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 31 INDIGENENRECHTE SCHWEDEN
»Wir waren schon hier, bevor es Schweden überhaupt gab.«

Seit dem gewaltvollen Tod von Jina Mahsa Amini am 16. September gehen in allen Teilen des Irans täglich tausende Menschen auf die Straße. „Frau, Leben, Freiheit“ – das ist der zentrale Slogan der Protestbewegung. Die „Sicherheitsbehörden“ gehen mit brutaler Gewalt gegen die Demonstrierenden vor. Hunderte wurden getötet. Tausende sind inhaftiert worden – allein weil sie ihr Menschenrecht auf friedlichen Protest ausgeübt haben. Für mindestens 28 Protestierende haben die Anklagebehörden bereits die Todesstrafe gefordert.

Setz dich zusammen mit uns für die mutigen Menschen im Iran ein. Fordere ein Ende der Gewalt, das Fallenlassen aller Anklagen gegen friedlich Demonstrierende und die Aufhebung der Todesurteile. Die iranischen Behörden müssen endlich grundlegende Menschenrechte achten! Jetzt handeln:

amnesty.de/jina

Die Wüste als Waffe

Seit fast 25 Jahren kommen im Grenzgebiet zwischen Arizona und Mexiko Menschen auf der Flucht um. Die Gerichtsmedizin, Anthropolog*innen und Freiwillige suchen nach Toten, sichern Spuren und tragen zur Identifizierung bei. Von Arndt Peltner, Arizona (Text und Fotos)

POLITIK & GESELLSCHAFT MIGRATION IN DIE USA
34 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023

James Holeman tritt auf die Bremse.

»Kannst Du es riechen?«, fragt er.

»Hier ist es.« Wir sind etwa 20 Meilen in seinem alten Pick-up auf einer unbefestigten Straße Richtung Westen gefahren. Holeman hatte am Morgen telefonisch Informationen zu einem Fundort bekommen. »Er ist noch immer hier.« Holeman dreht sich weg und zieht den Kragen seines Hemdes über die Nase. Der stechende Geruch eines verwesenden Leichnams liegt in der Luft. In einem Wasserrohr unterhalb der Straße liegt ein menschlicher Körper, nur ein paar Meter von der Mauer entfernt, die Donald Trump errichten ließ. Die rechte Hand ist starr nach oben gerichtet. Der Kopf des Mannes liegt auf dem Oberarm.

James Holeman markiert die Stelle mit einem rosafarbenen Band, notiert sich die genauen Koordinaten und gibt diese an das Büro des Sheriffs weiter. Am nächsten Tag erfährt er, dass der Leichnam des 25-jährigen Cristian H. aus Mexiko gefunden und gesichert wurde. Der Tote hat nun einen Namen, mithilfe des mexikanischen Konsulats können nun die Angehörigen ermittelt werden. Es ist genau das passiert, was Holeman gehofft hat und weshalb er überhaupt in der Wüste unterwegs ist.

Der 57-jährige Golfkriegsveteran gründete vor ein paar Jahren seine eigene gemeinnützige Organisation: Battalion Search & Rescue. Seitdem hat er ein paar Mitstreiter*innen um sich geschart und fährt regelmäßig in die Wüste südlich und südwestlich von Tucson in Arizona, um nach den »Verlorenen, aber nicht Vergessenen« zu suchen. Die Sonora-Wüste ist eine schöne und faszinierende Landschaft voller Kakteen, Mesquite-Bäumen und seltenen Vögeln. Faszinierend für Besucher*innen, oftmals tödlich für Migrant*innen, die dort auf ihrem Weg in ein besseres Leben stranden.

Mitten durch das Kakteenfeld

Am nächsten Morgen treffen wir uns um sechs Uhr auf einem Parkplatz in Three Points. Außer einer Tankstelle und einem Dorfladen gibt es nicht viel. Von hier sind es noch knapp 45 Meilen bis nach Sasabe, einer kleinen Gemeinde, die direkt an Trumps Mauer liegt. Dazwischen: nur Wüste. James Holeman ist schon da. Sein grüner Wagen, den er von der Waldbehörde günstig erstanden hat, ist weithin sichtbar. Holeman ist hochgewachsen und wirkt trotz eines leichten Bauchansatzes drahtig und durchtrainiert. Sein

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Der Weg zu einem besseren Leben führt dort entlang. Wüste in Arizona.

Kopf ist rasiert, die Haut von der Sonne gezeichnet.

An diesem Morgen sind aus seinem Team auch Pete Lucero, Brad Hellman und Alisa Reznick dabei. Alle drei erklären, dass sie einfach nicht wegschauen wollen, wenn hier Menschen verdursten und sich niemand darum schert. Zu fünft steigen wir in den Wagen und fahren 30 Meilen Richtung Süden. Holeman schaut auf sein GPS-Gerät und biegt schließlich rechts auf eine Schotterpiste ab.

Langsam geht es auf eine Bergkette zu, die zum Reservat der Tohono O’odham Nation gehört. Das Reservat reicht bis an die mexikanische Grenze. Die Tohono O’odham Nation verweigerte vor Jahren die Zustimmung zum Mauerbau auf ihrem Grund und Boden. Das mexikanische Kartell, das die Routen nach Norden kontrolliert, lässt deswegen immer mehr Migrant*innen genau dort in Richtung

Dazu die vielen Stacheln und Spitzen, denen man kaum ausweichen kann. Wie schafft man es, hier nachts entlang zu laufen?

Nach zwei Stunden erreichen wir ein kleines Plateau, das wohl auch von Migrant*innen als Rastplatz genutzt wird. Dosen, Flaschen, Verpackungen, ein paar zerrissene Kleidungsstücke liegen verstreut herum. Von hier oben hat man einen guten Blick in alle Richtungen.

»Wir sind gerade mal eineinhalb Meilen weit gekommen«, meint Holeman und schaut auf seinen GPS-Tracker. Die Landschaft ist zerklüftet und brutal, man kann die Grenze sehen und das weite, offene Land des Reservats. Alle sind durchgeschwitzt. Pete, der Pensionär, sitzt im Schatten eines Mesquite-Baums, ist sichtlich mitgenommen, trinkt Schluck für Schluck aus einer Flasche. »James, was treibt Dich eigentlich immer wieder hier raus?« Holeman lacht: »Ich spiele kein Golf.« Er überlegt, schaut in die Ferne. »Ich liebe das Wandern und kann es mir finanziell leisten, oft hier draußen zu sein. Dafür bin ich dankbar.« Mit dem, was er beim Militär gelernt und erfahren hat, will er helfen, »dass hier keiner zurückgelassen wird, dass die Familien trauern und einen Abschluss finden können«.

kampfversprechen, eine Mauer zu bauen, zumindest in Teilen umsetzte. Schon Mitte der 1990er Jahre, als der Demokrat Bill Clinton Präsident war, setzte die Grenzpolitik auf Militarisierung, um Migrant*innen abzuschrecken. In Grenzstädten wie Tijuana, Nogales oder Ciuadad Juarez wurden Zäune aus Stacheldraht errichtet. Doch war bereits damals klar, dass sich diejenigen, die aus Mittelamerika und Mexiko flohen, um Armut, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Elend zu entkommen, nicht aufhalten lassen würden. Weder Bewegungsmelder, Kameras und Drohnen noch ein Grenzzaun oder eine Mauer halten die Menschen von der Flucht ab. Die lange Reise in Richtung USA wurde nur umso gefährlicher und tödlicher, je weiter Migrant*innen in die Wüste abgedrängt wurden.

Norden ziehen. Es ist eine entlegene und schwierige, vor allem aber tödliche Route.

Der Wagen hält unweit des Stacheldrahts, der das Reservat begrenzt. Wir machen uns bereit für einen langen und schwierigen Marsch. Holeman reicht Wanderstöcke, einen grellen, orangefarbenen Hut und erklärt, wie die WalkieTalkies funktionieren, mit denen wir in Verbindung bleiben sollen.

Es ist schon jetzt über 30 Grad Celsius heiß, das Thermometer steigt später bis auf fast 40 Grad. Wir marschieren los, in einer Reihe nebeneinander, querfeldein, decken auf diese Weise etwa 120 Meter Wüste ab. Von den anderen sieht man zwischen den stachligen Sträuchern, den spitzen Mesquite-Bäumen und den verschiedenen Kakteen nur noch die grellen Hüte. Es ist ein beschwerlicher Weg, auf und ab über Geröll und unwegsamen Boden. Man kommt leicht ins Rutschen.

Manchmal stoßen er und seine Mitstreiter*innen auch auf jemand, der Hilfe braucht, dem sie Wasser und Nahrung geben, dessen Wunden sie versorgen können. »Dann fragen wir, ob er weiterlaufen will, oder ob wir die Grenzpolizei benachrichtigen sollen?« Es ist diese direkte Hilfe, die Holeman antreibt und ihn immer wieder in die Wüste fahren lässt. Er sei keine »morbide Person auf der Suche nach Knochen und Leichen«. Im Gegenteil: Er liebe das Leben, jeden Atemzug. Aber hier könne er sich einbringen. Ganz einfach und ganz direkt, jedes Leben zähle. Seine Mitstreiter*innen stimmen ihm zu.

Weiter Schikanen an der Grenze

Allein in diesem 260 Meilen langen Sektor der Grenze hat die Grenzpolizei im Jahr 2021 rund 195.000 Menschen aufgegriffen. Die meisten direkt an der Grenze, die mal Mauer und dann wieder Zaun ist. Viele auch in der Wüste – ausgelaugt, entmutigt, verletzt, dem Tode nahe. 2022 wird die Zahl der Aufgegriffenen voraussichtlich noch deutlich höher liegen, heißt es. Und damit auch die Zahl derjenigen, die auf dem langen und beschwerlichen Weg nach Norden gestorben sind.

Im Kampf gegen Migrant*innen wird die Wüste als Waffe eingesetzt. Und das nicht erst, seit Donald Trump sein Wahl-

Unter Präsident Joe Biden wurde die Grenze nicht geöffnet, auch wenn das konservative, Trump-freundliche US-Medien so vermitteln. Biden stoppte lediglich den weiteren Ausbau der Mauer und ermöglichte es Asylbewerber*innen wieder, während ihres Asylverfahrens in den USA zu sein.

Doch gibt es weiterhin die Verordnung »Title 42«, die von Trump während der Corona-Pandemie in Anspruch genommen wurde, um nahezu alle Migrant*innen an der Grenze abzuweisen. Biden wollte »Title 42« auslaufen lassen, doch Ende Mai stoppte ein Richter diese Pläne. Amnesty International in den USA zeigte sich enttäuscht, die US-Sektion hatte sich für ein Ende der Restriktionen eingesetzt. Amy Fischer, Amnesty-Expertin für den amerikanischen Kontinent, fordert, dass »die Regierung Biden Lösungen finden muss, um Asylsuchenden die Unterstützung und die Möglichkeiten zu bieten, die sie brauchen«.

Es passiert selten, dass die Menschen in den Blick genommen werden, wenn es um die Grenze geht. Das weiß auch die Migrationsforscherin Robin Reineke vom Southwest Center der University of Arizona: »Das Narrativ der Angst und der Bedrohung ist in den USA so erfolgreich, dass die Idee der Mauer sich bestens verkauft. Ein Ende ist nicht in Sicht, es ist einfach nie genug. Die Mauer ist zu einer Form des Nationalismus geworden. Patriotisch sein bedeutet heute, man muss

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»Reisewarnung: Man kann in diesem Gebiet auf Schmuggel und illegale Immigration treffen.«
»Die Familien der Toten sollen einen Abschluss finden können.«
James Holeman

für die Mauer sein.« Reineke betont auch, dass Unternehmen mit der Mauer viel Geld verdienen könnten.

Suche nach Angehörigen

Die scharfe Grenzsicherung hat jedenfalls dazu geführt, dass seit fast 25 Jahren immer mehr Menschen in der Wüste starben oder als vermisst gemeldet wurden. Die genauen Zahlen kennt Greg Hess. Er ist Gerichtsmediziner im Bezirk Pima County, in dem die Großstadt Tucson liegt. Seit dem Jahr 2000 stieg die Zahl der Toten, die in der Wüste gefunden wurden, rapide an. Seither wurden mehr als 3.600 menschliche Überreste gefunden und in die Gerichtsmedizin von Pima County gebracht. Die Leichname in den verschiedenen Stadien der Verwesung werden in Kühlräumen aufbewahrt – in der Hoffnung, irgendwann deren Angehörige zu finden.

Neben dem Flachbau, in dem die Gerichtsmedizin untergebracht ist, steht ein etwa 20 Meter langer LKW-Anhänger. Allein darin befinden sich mehr als 250 längliche Kartons, in denen Knochen und Schädel von Menschen gelagert werden, die noch nicht identifiziert werden konnten. Sie wurden in kleine Tüten gepackt und mit einem Aktenzeichen und dem Fundjahr beschriftet.

In dem Anhänger ist es heiß, für die Lagerung von Knochen ist keine Kühlung notwendig, meint Greg Hess. »Wir haben hier Überreste von etwa 900 Personen. Wir äschern sie nicht mehr ein, sondern lagern sie hier, wie in einem Museum.« So könne man im Fall einer Identifizierung zumindest die Knochen an die Familien zurückgeben, die diese dann in den Heimatländern beerdigten. Das helfe vielen dabei, eine tragische Geschichte würdevoll zu beenden.

Umso wichtiger ist es, dass James Holeman und seine Leute vom Battalion Search & Rescue alle Informationen zu den Toten in den Blick nehmen und sie von den Beamten des Sheriffs am Tatort sichern lassen. Anthropolog*innen des gerichtsmedizinischen Instituts werten die Informationen dann vorläufig aus. Wie groß war die Person? Hatte sie Tätowierungen, Verletzungen? Sind Operationsnarben oder Zahnlücken zu sehen? Auch DNA wird entnommen. Manchmal liegen am Fundort noch Kleidungsstücke, Ausweise, Fotos, Schmuck. Jedes noch so kleine Detail wird aufgelistet und aufbewahrt. Dabei geht es nicht um die Todesursache, denn die ist meist klar: Wer in der Wüste tot aufgefunden wurde, war Migrant*in und ist verdurstet oder an Entkräftung gestorben.

Die gesammelten Daten nutzt wiederum die gemeinnützige Organisation Colibri, um die Namen der Toten herauszufinden und womöglich auch die Frage zu beantworten, woher sie einst kamen. Mirza Monterroso ist Direktorin von Colibri und kam selbst als Immigrantin aus Guatemala in die USA. Sie erklärt, wie ihre Organisation Meldungen über Vermisste mit Informationen abgleicht, die am Fundort einer Leiche entdeckt und in der Gerichtsmedizin analysiert und erweitert wurden. Manchmal dauere es Jahre, bis eine Identifizierung gelinge und den Familien die traurige Gewissheit bringe, sagt Monterroso. »Einmal rief ich eine

Frau in Honduras an, ihre Mutter war vor Jahren als vermisst gemeldet worden. Sie meinte zu mir, heute sei ihr Geburtstag. Ich entschuldigte mich, doch sie bedankte sich und meinte, das sei das schönste Geburtstagsgeschenk, denn sie habe immer gewusst, dass etwas passiert sein müsse, denn ihre Mutter hätte sie nicht einfach im Stich gelassen.« ◆

Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

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Immer auf der Suche: James Holeman im Grenzgebiet zwischen Arizona und Mexiko. Foto: privat Mehr als 250 Kartons voller Gebeine. Gerichtsmedizin in Pima County, Arizona.

»Mullah muss weg«

Nach dem Tod von Jina Mahsa Amini kommt der Iran nicht zur Ruhe. Jeden Tag flammen Proteste auf, die oft gewaltsam unterdrückt werden. Diese gab es auch schon in früheren Jahren, doch ist die Situation jetzt anders. Eine Analyse von Dieter Karg

Die Bilder sind furchtbar, und es sind die gleichen wie immer. Handyvideos zeigen Revolutionsgarden und ihre paramilitärischen Hilfstruppen (Bassiji), die Protestierende durch die Straßen jagen, auf sie einprügeln, mit Fußtritten bearbeiten und auf sie schießen. Dabei kommt auch verbotene Munition zum Einsatz, wie zum Beispiel Schrotkugeln, die kleine, aber unzählige Wunden verursachen und gleichzeitig mehrere Menschen verletzen können.

Der Einsatz exzessiver Gewalt ist geplant. Amnesty International hat Kopien geleakter Dokumente erhalten, in denen die Kommandierenden der Streitkräfte

angewiesen werden, mit aller Härte gegen »Unruhestifter und Revolutionsgegner« vorzugehen und sogar den Tod von Protestierenden in Kauf zu nehmen. Außerdem wird die Gewalt wahllos eingesetzt. Selbst zufällige Passant*innen, Jugendliche und Kinder bleiben nicht verschont. Amnesty International ermittelte allein für den Zeitraum vom Beginn der Proteste am 16. September nach dem Tod von Jina Mahsa Amini (siehe auch Amnesty Journal 06/2022) bis zum 3. Oktober 144 Getötete, darunter 23 Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren. Mitte November wurde die Anzahl der Getöteten bereits auf mehr als 400 geschätzt. Die tatsächliche Zahl dürfte weitaus höher liegen. Amnesty prüft jedoch alle Fälle sorgfältig (siehe Infobox »Amnesty und Iran«).

Die Brutalität des Vorgehens ist schockierend. Die Sicherheitskräfte schießen auch auf lebenswichtige Organe und in den Kopf, teilweise sogar von hinten. Die Zahl der Verletzten kann nur geschätzt werden. Viele wagen es nicht, Krankenhäuser aufzusuchen, weil ihnen dort eine Festnahme durch Polizeikräfte droht. Die Zahl der Festnahmen dürfte in die Tausende gehen. Es gibt Berichte, wonach Gefängnisse Gefangenentransporte wegen Überbelegung abwiesen und andere Gebäude als Haftzentren genutzt werden mussten.

Inhaftierte berichten über lange Verhöre, Schläge, Schlafentzug und Drohungen, auch Familienangehörige festzunehmen. Verletzungen werden nicht versorgt, medizinische Behandlung wird verweigert oder nur unzureichend gewährt. An-

38 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 PROTESTE IM IRAN

wält*innen oder Familienangehörige erhalten keine Auskunft, was mit den Festgenommenen geschehen ist. »Geständnisse« oder »Reuebekenntnisse« werden unter Folter erpresst, auf Video aufgenommen und in staatlichen Medien ausgestrahlt. Sie können in späteren Prozessen als Beweismittel verwendet werden, selbst wenn die Angeklagten sie mit dem Hinweis auf Folter widerrufen.

Die Justizmaschinerie rollt schon mit voller Wucht an: Es sollen bereits mehr

als 1.000 Gerichtsverfahren eingeleitet worden sein. Die Anzahl der Verurteilungen steigt beinahe täglich. Auch Hinrichtungen gab es schon. Anklagen wegen »Feindschaft gegen Gott« oder »Verderbenstiften auf Erden«, auf die die Todesstrafe steht, wurden schon wegen angezündeter Mülltonnen oder Schüssen in die Luft erhoben.

Nicht nur die direkt Betroffenen erfahren Repression. Auch Augenzeug*innen und Familienangehörige werden drangsaliert. Man droht ihnen, sie ebenfalls zu inhaftieren, wenn sie mit ausländischen Medien und Organisationen über die Vorfälle reden. Sie müssen Erklärungen abgeben, in denen es zum Beispiel heißt, der Tod ihrer Angehörigen sei nicht auf Polizeigewalt zurückzuführen, sondern auf Vorerkrankungen. Darüber hinaus werden offizielle Mitteilungen verbreitet, in denen behauptet wird, eine Person habe Suizid begangen oder sei von anderen »Randalierern« verletzt oder getötet worden.

»Ausländische Agenten« aus dem Westen

Die Reaktion der politisch Verantwortlichen und der Behörden ist dieselbe wie bei früheren Protesten: Man beschuldigt »ausländische Agenten« aus dem Westen, sie organisiert zu haben, um einen Umsturz vorzubereiten. Man verlangsamt oder blockiert das Internet, um zu verhindern, dass Nachrichten und Videos über Gräueltaten ans Licht der Öffentlichkeit kommen – die Iraner*innen sind aber sehr erfinderisch darin, solche Beschränkungen zu umgehen. Man behindert die ausländische Berichterstattung und sanktioniert Medien wie die BBC oder die Deutsche Welle wegen Unterstützung von »Terrorismus«. Man bestraft nicht die Polizeikräfte, die für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, sondern diejenigen, die sie publik machen. Dieses Klima der Straflosigkeit wirkt wie eine Ermunterung zu weiteren Verbrechen. Um die Moral der Sicherheitskräfte zu erhöhen, wurde ihnen eine Gehaltserhöhung um 20 Prozent versprochen. Man setzt also weiter auf Repression.

Also alles wie immer im Iran? Nein, etwas ist anders. Zwar gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Proteste – ausgelöst durch die Wirtschaftskrise, Armut, Inflation, Benzinpreiserhöhungen, Wasserknappheit, Korruption oder nicht gezahlte Löhne. Auch damals ertönten bereits Rufe wie »Tod dem Diktator«. Doch versuchten die Menschen auch, durch die Wahl »gemäßigter« Präsidentschaftskan-

didaten eine Veränderung herbeizuführen. Inzwischen ist bei den Protestierenden die Überzeugung gereift, dass das System der Islamischen Republik nicht reformierbar ist. Eine der Parolen lautet nun: »Mullah muss weg.«

Ein weiterer Unterschied ist, dass der Protest sich dieses Mal auch gegen einen Kern der islamistischen Ideologie richtet, auf dem das System fußt: die rigiden Moralvorschriften. Dabei ist der Verschleierungszwang nur ein kleiner Teil der systematischen Diskriminierung, die Frauen erleben. Das kommt in dem weit verbreiteten Slogan: »Frau, Leben, Freiheit« zum Ausdruck (siehe Seite 40). Neu ist auch, dass sich nahezu alle Teile der Bevölkerung an den Protesten beteiligen.

Amnesty International ist der Überzeugung, dass die derzeitige iranische Staatsführung nicht bereit und in der Lage ist, gegen die gravierenden Menschenrechtsverletzungen vorzugehen. Die Organisation fordert deshalb die internationale Staatengemeinschaft auf, ein Gremium einzurichten, das alle Vorwürfe unabhängig untersucht und dem UNO-Menschenrechtsrat Bericht erstattet, um den Iran zur Rechenschaft zu ziehen. Für diese Forderung wurden international schon mehr als eine Million Unterschriften gesammelt. ◆

Dieter Karg ist Sprecher der Länderkoordinationsgruppe Iran von Amnesty International in Deutschland.

AMNESTY UND IRAN

Im Internationalen Sekretariat von Amnesty International in London arbeiten derzeit Raha Bahreini und Nassim Papayianni zum Iran. Bahreini leitet für Amnesty die Recherchen, Papayianni ist Kampagnenleiterin. Beide beobachteten bereits vor Beginn der neuen Protestbewegung die Menschenrechtssituation im Iran. Sie dokumentierten 2022 zahlreiche schwere Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Milizen des Regimes, darunter rechtswidrige Tötungen und gezielte Einschüchterungen. Bahreini und Papayianni riefen Familien und Freundeskreise von Betroffenen auf, Amnesty Menschenrechtsverletzungen zu melden. Die Anonymität von Augenzeug*innen wird streng gewahrt, um sie nicht zu gefährden. Zur Arbeit der beiden Expertinnen gehört auch, Zeugenaussagen und Todesbescheinigungen zu prüfen, mit Angehörigen von Opfern oder Verschwundenen zu sprechen sowie Foto- und Videodokumentationen von Menschenrechtsverletzungen mit Berichten von Augenzeug*innen abzugleichen.

AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 39
»Reuebekenntnisse«
»Geständnisse« oder
werden unter Folter erpresst.
Blumen auf den Weg gelegt. Protest in Mahabad, November 2022. Foto: Middle East Images / laif

Frau, Leben, Freiheit

Viele Menschen protestierten in den vergangenen Wochen im Iran gegen Repression und für Freiheit. Vorneweg gehen dabei die Frauen. Ein Essay von Gilda Sahebi

Sie spielen im Basketball-Nationalteam. Sie sind Schauspielerinnen. Sie sind Transfrauen. Sie sind Mütter. Sie sind Bogenschützinnen. Sie sind Kletterinnen. Sie sind Sängerinnen. Sie sind Ärztinnen. Sie sind Studentinnen. Sie sind überall in der iranischen Gesellschaft: Frauen, die ihr Kopftuch öffentlich ablegen, um für ihre Freiheit und für die Freiheit aller im Iran zu demonstrieren. Sie tun dies in dem Wissen, dass sie dafür inhaftiert, vergewaltigt, misshandelt und getötet werden können. Und sie tun es dennoch.

Seit Mitte September erreichen uns jeden Tag Videos, Fotos und Berichte aus dem Iran, die den üblichen Blick infrage stellen, den viele im Westen auf den sogenannten Nahen Osten haben. Beeinflusst von der medialen Berichterstattung, von Einlassungen aus der Politik, von Klischees und Vorurteilen, sah man die Frauen in Ländern wie Iran, Afghanistan oder Irak lange als schwach an, als Menschen, die sich in einem Zustand der Unterwerfung eingerichtet haben.

Wer aber Verbindungen in die Region hatte, sah etwas anderes und kannte die Netzwerke der Frauen, ihre Stärke und ihre Kämpfe im Alltag, die viele schon seit Jahren oft im Verborgenen führten. Im Iran sind diese Kämpfe nun nicht mehr versteckt: Die Frauen wehren sich offen und mutig gegen die Gewalttätigkeit und Repression des Regimes. Sie kämpfen dabei nicht allein. Viele stehen

an ihrer Seite, zahlreiche Männer, die LGBTI-Community, die Kurd*innen, die Belutsch*innen, die Sunnit*innen, die Afghan*innen und andere Minderheiten, die in der Islamischen Republik seit Jahrzehnten unterdrückt werden. Eine Frau aus Teheran, die sich seit Beginn an den Protesten beteiligt, schildert ihre Beobachtungen: »Alle sind auf den Straßen. Und die Frauen sind ganz vorne mit dabei. Alle schauen auf die Frauen, denn sie sind die Anführerinnen. Das ist großartig.«

Um die Wucht des Widerstands und des Kampfs zu verstehen, muss man die Wucht der Unterdrückung kennen. Es wurde bereits viel darüber geschrieben, dass Frauen in Iran rechtlich nur die Hälfte eines Mannes wert sind. Vor Gericht müssen zwei Frauen aussagen, um der Aussage eines Mannes gleichzukommen; bei einem Autounfall erhält die Familie einer Frau nur die Hälfte der Entschädigung, die die Familie eines Mannes bekommt. Frauen können sich nicht einfach scheiden lassen, den Männern steht das Sorgerecht für die Kinder zu. Bekannt ist auch, dass Frauen weder öffentlich singen noch tanzen dürfen, dass sie sich verschleiern und den Kleidervorschriften beugen müssen.

Frauenhass als Staatsdoktrin Doch was heißt das für den moralischen und gesellschaftlichen Stellenwert eines Frauenlebens? Der Geistliche Sadeq Shirazi drückte es so aus: Gott habe drei Arten von Tieren geschaffen. Zum einen Tiere, die dafür geschaffen wurden, die Menschen zu transportieren, wie Pferde und

Kamele. Dann Tiere, die erschaffen wurden, um Menschen zu ernähren, wie Ziegen, Schafe und Kühe. Die dritte Art von Tieren seien die Frauen. Wie Ziegen, Schafe und Kühe seien sie geschaffen worden, damit Männer sie benutzen könnten. Gott habe diesen Tieren das Aussehen von Frauen gegeben, damit Männer keine Angst vor ihnen haben müssten.

Shirazi ist im Iran ein bekannter und einflussreicher Kleriker. Sein Blick auf Frauen ist repräsentativ für den Blick der theologischen Fundamentalisten. Dieser menschenverachtende Blick auf Frauen ist Staatsdoktrin. Er führt dazu, dass Frauen als Objekte gelten und systematischer sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind –ausgeführt von Männern, die trainiert werden, Frauen zu vergewaltigen und zu ermorden. Im November veröffentlichte der US-Nachrichtensender CNN einen Bericht von der iranisch-irakischen Grenze, in dem eine Frau zu Wort kam, die sexualisierte Gewalt in einem iranischen Gefängnis erlebt hatte, bevor sie fliehen konnte. CNN erhielt zudem geleakte Berichte von medizinischem Personal aus Kliniken, in denen Vergewaltigungsopfer behandelt wurden. Die Täter waren staatliche Milizionäre und Beamte.

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»Danke, dass du die Stadt mit deinen Haaren schöner machst.« Ein Iraner über Frauen ohne Kopftuch

Der CNN-Bericht schilderte nur einen Bruchteil dessen, was die meisten Menschen im Iran schon seit Beginn der Islamischen Revolution im Jahr 1979 wissen: Frauen werden vom Staat sexualisiert und zu Objekten degradiert. Wenn sie fundamentale Rechte einfordern, gelten sie als »promisk« und »Prostituierte«. Ähnlich ist die offizielle Argumentation gegen jegliche Opposition im Gottesstaat: Das Gerede von Freiheitsrechten und universellen Werten sei aus dem Westen importiert und Ausdruck einer verkommenen Sexualmoral. Dies müsse bestraft werden. Frauen, die sich wehren, das Kopftuch abnehmen und »Frau, Leben, Freiheit« rufen, sind aus Sicht der Regierung eben nur »Prostituierte«, die vergewaltigt werden müssen. Gottes Gesetz sehe es so vor.

Es ist auch diese perverse Logik der Machthabenden, der sich die Menschen mit der Forderung »Frau, Leben, Freiheit«

widersetzen. Denn sie wissen genau, dass der Grad der Freiheit der Frau den Grad der Freiheit aller bestimmt. Deshalb kämpfen auch Männer, die eigentlich Nutznießer dieses Systems sind, mit den Frauen und für sie. So zeigt ein Video, das sich rasch in den Online-Netzwerken verbreitete, einen Mann, der mit einem Strauß Blumen durch die Straßen geht und jeder Frau, die kein Kopftuch trägt, eine Blume schenkt mit den Worten: »Danke, dass du die Stadt mit deinen Haaren schöner machst.« Viele Männer haben verstanden: Frauenrechte sind Menschenrechte.

Die iranische Führung und alle Angehörigen des Führungs- und Machtzirkels konnten ihren Frauenhass jahrzehntelang vor den Augen der Welt verstecken. Sie galten als anerkannte Gesprächspartner, als normaler Teil der internationalen Gemeinschaft. Diese Zeiten sind vorbei. Nun kann jede*r die Gewalttaten und die

Frauenverachtung des Regimes sehen, auf unzähligen Videos, in zahlreichen Berichten. Genauso sichtbar sind aber auch die Frauen, die erhobenen Hauptes »Jin, Jiyan, Azadî« rufen – Frau, Leben, Freiheit. ◆

NAHID TAGHAVI

WIEDER IN HAFT

Die zu einer langen Haftstrafe verurteilte deutsch-iranische Menschenrechtsaktivistin Nahid Taghavi wurde im November in das berüchtigte Evin-Gefängnis zurückgebracht. Im Juli 2022 war sie aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend entlassen worden. Ihre Tochter Mariam Claren teilte mit, die iranischen Behörden hätten Nahid Taghavi erneut inhaftiert, obwohl ihre medizinische Behandlung noch nicht abgeschlossen war (Amnesty Journal 06/2022).

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Frauen und Männer gemeinsam für Frauenrechte. Teheran, Oktober 2022. Foto: Morteza Nikoubazl / NurPhoto / Getty Images

» OHNE AUSNAHME VERBIETEN!«

Zusammen mit Amnesty International hat die US-Organisation STOP (Surveillance Technology Oversight Project) die New Yorker Polizei auf Akteneinsicht zur Gesichtserkennung verklagt. Albert Fox Cahn, Gründer und Geschäftsführer von STOP, über digitale Überwachung und Gesichtserkennungstechnologie.

Was genau macht STOP?

Die Organisation wurde 2019 in New York gegründet und engagiert sich gegen Überwachung. In den USA wurde jahrzehntelang vor allem über die Überwachungsbefugnisse des Föderalstaats diskutiert, dagegen fanden die zunehmenden Überwachungsmöglichkeiten Tausender bundesstaatlicher und lokaler Polizeibehörden eher wenig Beachtung. Diese wurden aber immer mehr zu »Mini-Geheimdiensten«. Wir setzen uns mit Vernetzung, Öffentlichkeitsarbeit und strategischen Klagen gegen die zunehmende Überwachung durch diese Behörden ein.

Welche Rolle spielt Gesichtserkennung in diesen »Mini-Geheimdiensten«?

Diese Technologie ist eine der am schnellsten wachsenden Gefahren weltweit. Zugleich bietet sie die Chance, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Denn, wie mein Gesicht erkannt wird, ist einfacher und anschaulicher zu verstehen als Algorithmen und Analysen von Verhaltensmustern. Die Auseinandersetzung mit Gesichtserkennung kann ein Einstieg sein, um sich mit digitaler Überwachung zu beschäftigen.

Warum hat STOP die Polizei in New York verklagt?

Weil sie über die Jahre immer mehr Ressourcen und Befugnisse bekommen hat, zugleich aber so gut wie keine Rechenschaft ablegen muss. Wir haben gemeinsam mit Amnesty geklagt, um Ein-

sicht in Akten zu bekommen, die ohnehin öffentlich sein müssten. Wir wollten wissen, wie die New Yorker Polizei Gesichtserkennung einsetzt, insbesondere, wie diese Technologie 2020 im Zuge der »Black Lives Matter«-Proteste angewandt wurde.

Wie ist das Verfahren ausgegangen?

Der zuständige Richter hat unserer Klage stattgegeben und entschieden, dass die Polizei in New York 2.700 Dokumente und E-Mails mit Amnesty teilen muss. Die Polizeibehörde hat Rechtsmittel dagegen eingelegt, und nun warten wir auf die nächste Gerichtsentscheidung.

Wie wird Gesichtserkennung in den USA eingesetzt?

Die Technologie wird in der Regel nicht als Beweismittel eingesetzt – denn dann könnten die Angeklagten deren Einsatz rechtlich anfechten und Transparenz einfordern. Stattdessen verwendet man sie bei Ermittlungen, indem man zum Beispiel Zeug*innen einen vermeintlichen »Treffer«, also ein »erkanntes« Gesicht, zeigt. Vor Gericht erklärt die Polizei dann, dass die Person von einer Augenzeug*in identifiziert worden sei – eine sehr suggestive Identifizierung, die zu Fehlentscheidungen führt. So wird Gesichtserkennung in das Gerichtsverfahren eingeschleust, ohne dass sich Angeklagte dagegen wehren können.

Inwiefern bedroht Gesichtserkennung die Menschenrechte? Gesichtserkennung gefährdet die Demokratie und eine offene Gesellschaft. Sie bedroht das Recht auf Meinungsfreiheit, das Recht auf Protest und sogar die Religionsfreiheit. Ich kenne zum Beispiel viele muslimische Personen, die befürchten, sie könnten sich oder ihre Familien in Ge-

fahr bringen, wenn sie zum Freitagsgebet gehen oder an Demonstrationen teilnehmen. Als privilegierte Person hat man diese Angst vielleicht nicht, doch Millionen Menschen haben sie.

Was fordert STOP in Bezug auf Gesichtserkennung?

Dass sie verboten wird – ohne Ausnahmen, ohne Vorbehalte. Aus meiner Sicht birgt Gesichtserkennung ein großes Missbrauchspotenzial. Sie ist sehr fehleranfällig, gefährlich und das perfekte Instrument für Kontrolle und Repression. Es gibt keinen Weg, diese Technologie angemessen zu regulieren. Abhilfe schaffen kann nur ein vollumfängliches Verbot. ◆

42 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 SPOTLIGHT: GESICHTSERKENNUNG
Foto: Bret Hartman / TED

MASSENÜBERWACHUNG BEENDEN

Die Europäische Union verhandelt derzeit in Brüssel über ein Gesetz zur Regulierung Künstlicher Intelligenz (KI), das klare Regeln für die Entwicklung und Benutzung von KI festlegt. Das Gesetz wird frühestens im Jahr 2023 erwartet. Künstliche Intelligenz kann in der medizinischen Diagnostik zur Anwendung kommen, aber auch in Waffensystemen.

Gesichtserkennungstechnologie gehört ebenfalls zur KI und ermöglicht eine Massenüberwachung im öffentlichen Raum. Amnesty International sieht darin eine große Bedrohung für eine Vielzahl von Menschenrechten: Gesichtserkennung verletzt etwa das Recht auf Privatsphäre und das Recht auf Nichtdiskrimi-

Gesichtserkennung

nierung, und sie beeinträchtigt die Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Die Technologie wird verstärkt für die Überwachung bereits marginalisierter Gruppen eingesetzt und verschärft so bestehende Ungerechtigkeiten sowie rassistische, sexistische und klassistische Diskriminierungen. Weil viele Menschen fürchten, ständig überwacht zu werden, scheuen sie sich, für ihre Menschenrechte einzustehen und zum Beispiel an Demonstrationen teilzunehmen. Das gilt vor allem für Personen, die ohnehin von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffen sind. Datenschutzbehörden und Expert*innen aus ganz Europa warnen schon lange, dass der derzeitige Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie rechtlich zweifelhaft ist. Dennoch wird sie nach und nach eingeführt. Nur eine gesetzliche Grundlage und ein ausdrückliches Verbot könnten das ändern.

Die deutsche Sektion von Amnesty setzt sich mit der Kampagne #UnscanMy-

Face für ein Verbot der Herstellung, des Einsatzes und Exports von Gesichtserkennungstechnologie in Deutschland, der EU und weltweit ein. Ein solches Verbot ist für die Achtung der Menschenrechte unverzichtbar. Mit der Kampagne will die Organisation das Problembewusstsein in der Öffentlichkeit stärken und Lösungen anbieten.

Dabei arbeitet Amnesty International mit weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen und wendet sich auch direkt an die politisch Verantwortlichen. Diese werden in einer E-Mail-Aktion aufgefordert, sich für ein umfassendes Verbot von Gesichtserkennungstechnologie einzusetzen. ◆

Weitere Informationen rund um die Kampagne: amnesty.de/my-face

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#UNSCANMYFACE –
beeinträchtigt die Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Alles im Blick? Zum Glück nicht. Deaktivierte Kameras auf der Domplatte in Köln. Foto: Christoph Hardt / Geisler-Fotopres / pa

Welcher Datensch

Viele Menschen sind damit überfordert, ihre digitale Privatsphäre zu schützen. Der Privat-o-Mat, ein Projekt des Instituts für digitale Ethik, soll hierbei helfen. Per Online-Fragebogen ermittelt das Tool, zu welchem Datenschutztyp man neigt und gibt passende Tipps für ein sichereres Surfverhalten. Der Privat-o-Mat identifiziert verschiedene Typen – zu welchem tendieren Sie? Von Tobias Oellig

»Datenschutz ist mir sehr wichtig! Dafür bin ich gerne bereit, auf bestimmte Dinge zu verzichten.«

Ich kenne mich mit Datenschutz ganz gut aus und weiß, dass es von meinem Verhalten abhängt, wie viele Daten ich preisgebe. Kaufe ich ein neues Smartphone, achte ich darauf, dass ich die Privatsphäre-Einstellungen auf dem Gerät detailliert anpassen kann. Öffentliche WLAN-Netze nutze ich nie, und wenn ich etwas suche, dann nicht mit Google, sondern mit datensparsamen Alternativen, zum Beispiel DuckDuckGo oder Startpage. Mein Browser hat einen Tracking-Blocker und lässt möglichst keine Cookies zu. Meine privaten Termine notiere ich in einem Papierkalender, digital würde ich das nur machen, wenn meine Daten lokal auf dem Gerät gespeichert werden – und ich diese auch sicher wieder löschen kann. Wenn Apps übermäßig auf meine Daten zugreifen möchten, wehre ich mich dagegen. Ortungsdienste schalte ich grundsätzlich ab. Einen Fitnesstracker würde ich nicht benutzen – nur, wenn ich dabei die ausschließliche Kontrolle über meine Daten hätte. Sprachassistenzen wie Alexa und Konsorten benutze ich nie, denn ich möchte die Aufzeichnung meiner Daten auf jeden Fall vermeiden. Meistens zahle ich mit Bargeld. Online-Shopping mag ich gar nicht, denn da kann alles nachverfolgt werden.

TEILZEIT-DATENSCHÜTZER*INNEN

»Ich versuche, meine Daten zu schützen, aber auf manche Dienste möchte ich einfach nicht verzichten.«

Meistens benutze ich nicht WhatsApp, sondern Signal. Immer geht das aber nicht, weil viele Freund*innen nur bei WhatsApp sind. Öffentliches WLAN benutze ich bei vertrauenswürdigen Anbieter*innen schon. Zum Suchen nehme ich alternative Anbieter wie Ecosia. Aber Google liefert oft doch bessere Ergebnisse, leider. Cookies akzeptiere ich nur soweit nötig. Ich versuche mir immer neue Usernamen und Passwörter auszudenken, aber oft benutze ich die gleichen, weil ich die sonst so schnell vergesse. Einen Fitnesstracker habe ich nicht, würde ich aber kaufen, wenn ich die Hersteller*in in puncto Datenverarbeitung und -weitergabe für vertrauenswürdig halte. Manche Apps brauchen die Standortdaten, dann genehmige ich den Zugriff. Es stört mich, dass meine Kaufinformationen gesammelt werden, trotzdem greife ich auf ein elektronisches Bezahlsystem zurück, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Dating-Plattformen würde ich schon benutzen, aber mit möglichst wenigen Informationen und nur für kurze Zeit.

UNBEDARFTE SURFER*INNEN

»Ich habe mich mit Datenschutz bislang noch nicht beschäftigt.«

Ich bin recht bequem und möchte die Möglichkeiten des Internets uneingeschränkt nutzen. Ich habe schon einmal gehört, dass Datenschutz ein wichtiges Thema sein soll – um was es da so genau geht, weiß ich aber nicht. Ich vertraue einfach dem Messenger, den alle benutzen, und beim Handykauf achte ich nur auf das Preis-Leistungs-Verhältnis. Öffentliche WLANs sind genial, vor allem für mein Datenvolumen! Ich suche immer mit Google, das ist einfach am besten. Was Cookies sind, ist mir nicht ganz klar – schlimm klingt das jetzt nicht. Ich habe ein Passwort für alles, ansonsten kann ich mir das nicht merken. Datenschutz beim Kalender finde ich übertrieben, was sollen meine Termine denn über mich verraten? Ab und zu benutze ich mein Smartphone, um zu wissen, wie viele Schritte ich am Tag gelaufen bin. Sprachassistent*innen finde ich super! Ach, da fällt mir ein: Alexa, kauf mal bitte schwarze Socken in Größe 39 bei Amazon!

44 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 Foto: Zoonar / pa
DIGITALE RECHTE

hutztyp sind Sie?

EGALOS

DIGITAL-ENTHUSIAST*INNEN

WEITERE TIPPS

ZUM DIGITALEN SCHUTZ

Wenn eine Anwendung mir meinen Alltag erleichtert oder Spaß macht, nutze ich sie auch. Ich habe zwar mitbekommen, dass Digitalkonzerne Daten sammeln und damit Geld verdienen, aber das ist mir egal. Ich nutze den Messenger, der mir die meisten Vorteile bietet. Datenschutz ist dabei nicht entscheidend. Aus Bequemlichkeit benutze ich die vorinstallierte Suchmaschine. Von Datenschutzfragen möchte ich mich nicht ausbremsen lassen. Cookies nerven mich total, deshalb akzeptiere ich sofort alle, damit das Pop-Up-Fenster bloß schnell verschwindet. Meine Standortdaten sind für mich keine persönlichen Informationen, daher ist es mir egal, wer darauf Zugriff hat. Eine Sprachassistenz nutze ich bislang nicht. Aber ich fände die Technik schon praktisch, wenn sie beispielsweise in meinem neuen Auto verbaut wäre.

Ich bin gegenüber technischer Innovation total aufgeschlossen und probiere gerne Neues aus. Um neue Geräte und Anwendungen vollumfänglich nutzen zu können, bin ich auch bereit, meine persönlichen Daten als »Währung« zu verwenden. Ich nutze verschiedene MessengerDienste und will immer auf dem aktuellen technischen Stand sein. Ich kaufe mir die neuesten Smartphones, für mich ist wichtig, dass ich die beste Datenübertragungsrate habe, alles andere ist zweitrangig. Oft probiere ich verschiedene Anbieter*innen aus, weil ich immer up-to-date sein möchte. Cookies finde ich sinnvoll und sehe darin sogar Vorteile für mich, deshalb stimme ich gerne zu. Ich bin im Grunde ständig online. Digitale Kalender sind klasse: Ich verwende grundsätzlich alle Möglichkeiten, die mir die Digitalisierung bietet und die meinen Alltag erleichtern. Solange eine App gut ist, bekommt sie auch alle Zugriffsrechte. Auch Standortdaten teile ich, weil ich mir davon bessere Dienstleistungen erhoffe. Bargeld finde ich unpraktisch und altmodisch, ich kaufe nur noch über das Internet. Wenn ich auf Partner*innensuche wäre, würde ich die bekanntesten Dienste nutzen und alle meine Informationen preisgeben, um die besten Matches für mich finden zu können. ◆

Der Privat-o-Mat ist ein Kooperationsprojekt des Instituts für Digitale Ethik an der Hochschule der Medien Stuttgart und des Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit Baden-Württemberg. Medienpartner ist der Südwestrundfunk. Der Privat-o-Mat ist barrierefrei und lässt sich ohne Maus unter Nutzung der Tastatur bedienen. Die eingegebenen Daten werden ausschließlich für die Auswertung genutzt und nicht gespeichert, es werden auch keine weiteren Nutzer*innendaten gesammelt. www.privat-o-mat.de

Alltagstipps für den Schutz der digitalen Privatsphäre: www.datadetoxkit.org

Interview über Datenschutz und Privatsphäre mit Petra Grimm, Leiterin des Instituts für Digitale Ethik

»Um Datenschutz mache ich mir keine Sorgen, ich habe ja nichts zu verbergen.«
»Ich probiere alle neuen digitalen Produkte und Dienste aus! Datenschutz kommt erst an zweiter Stelle.«
AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 45

»Eine antirassistische Suchmaschine«

Ende des Jahres 2023 soll das Archiv Ver/Sammeln online gehen. Es dokumentiert den Widerstand gegen Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus in Deutschland seit der Nachkriegszeit. Kurator Vincent Bababoutilabo erklärt, warum diese Geschichtserzählung notwendig ist.

Das Archiv Ver/Sammeln wendet sich gegen ein historisches »Masternarrativ« in Deutschland. Um was genau geht es dabei?

Gemeint ist die Erzählung von Deutschland als einer statischen Nation mit einem festen Territorium und einem homogenen Volk, das es schon immer gab. Das ist eine rassistische Erzählung, der wir uns entgegenstellen. Wir sind der Überzeugung, dass der Widerstand gegen Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus ein fester Bestandteil der Geschichte dieses Landes ist. Die, die diese Kämpfe geführt haben, Betroffene und Solidarische, haben die deutsche Gesellschaft maßgeblich positiv geprägt. Widerstand und Kampf sind zentrale Begriffe des Projekts. Warum?

Wir wollen aus der Perspektive der Kämpfe gegen Rassismus die Geschichte dieses Landes erzählen. Momentan ist die Erzählung von Diversität ganz klar im Trend. Es wird sehr viel davon gesprochen, wie divers und bunt wir sind. Was dabei aber verschwindet, sind die Antagonismen: die Tatsache, dass Menschen das durchgekämpft haben, dass Migrant*innen Forderungen gestellt, demonstriert und Widerstand geleistet haben. Genau das steht im Fokus unseres Projekts.

Welche Kämpfe meinen Sie?

Dieses Jahr hat sich die Anerkennung des Völkermords an den Sinti*ze und Rom*nja in Deutschland zum 40. Mal gejährt. Eine reine Diversitätserzählung deckt nicht ab, was für Kämpfe nötig waren, bis diese Verbrechen 1982 überhaupt erst als Völkermord anerkannt wurden. Die Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung der Sinti*ze und Rom*nja haben unsere Gesellschaft äußerst positiv geprägt. Ich arbeite zur Geschichte Schwarzer Menschen in Deutschland. Wenn man sich anschaut, was diese Menschen schon vor 100 Jahren gefordert haben – den Achtstundentag, Entlastungen für Arbeitslose, Zugang zu Staatsbürgerschaft, Bezahlung unabhängig von »Rasse« – dann wird klar, dass diese Kämpfe bis heute relevant sind. Was decken Sie alles ab?

Wir versuchen, zeit- und raumübergreifend zu arbeiten. Wir blicken also in die Vergangenheit, zeigen aber auch aktuelle Kämpfe. Außerdem arbeiten wir communityübergreifend: Kämpfe finden nicht in hermetisch abgeriegelten Communities statt, sondern werden von vielen verschiedenen Personen geführt, die solidarisch zusammenarbeiten. Und schließlich wollen wir territoriale Grenzen sprengen, denn Kämpfe wurden schon immer transnational geführt. Zum Beispiel wird in Berlin schon seit mehreren Jahren für die Umbenennung kolonialrassistischer Straßennamen gekämpft. Dahinter steckt eine lange Geschichte der antikolonialen

Bewegung in Deutschland. Viele Menschen versammeln sich um dieses Thema, es ist also auch communityübergreifend. Gleichzeitig findet der Kampf gegen rassistische Statuen und Denkmäler an verschiedenen Orten auf der Welt statt. In Kamerun gibt es zum Beispiel einen Aktivisten, der in dieser ehemaligen deutschen Kolonie gegen kolonialrassistische Straßennamen und Denkmäler kämpft. Das zeigt sehr schön, wie viele Menschen in diesem Kampf verbunden sind. Aber wir sehen uns auch aufgegebene Konflikte an, Linien, entlang derer Bewegungen zerbrochen sind. Ich war erstaunt darüber, wie heftig innerhalb der antirassistischen Bewegung gestritten wird.

Woher stammen die Inhalte des Archivs?

Wir haben zunächst einen Zeitstrahl mit den Kämpfen entworfen, die seit der Nachkriegszeit bis heute stattgefunden haben. Ausschlaggebend war, dass wir alle bereits zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten in antirassistischen Bewegungen aktiv waren und daher Kontakt zu Leuten haben, die eine Geschichte zu erzählen haben. Im

46 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 ARCHIV SOZIALER KÄMPFE
Vincent
»Es gibt einen großen Bedarf, die eigene Geschichte zu erzählen.«
Bababoutilabo

ersten Jahr war unsere Hauptaufgabe, in die Communities zu gehen und zu fragen, wie ein antirassistisches Archiv aussehen könnte. Dabei haben wir festgestellt: Es gibt schon ganz viele Archive. Es gibt einen großen Bedarf, die eigene Geschichte zu erzählen, und an vielen Orten wird das bereits gemacht. Teile der Bürgerrechtsbewegung der Sinti*ze und Rom*nja haben zum Beispiel ein Archiv gegründet. Auch gibt es viele Archive, wo zwar nicht Antirassismus draufsteht, aber Antirassismus drin ist.

Welche Rolle spielt Ver/Sammeln in dieser Archivlandschaft?

Viele sammeln, aber wenige sind bisher vernetzt. Wir haben deshalb beschlossen, eine eher vernetzende Rolle zu übernehmen. Wir haben mit den Menschen angefangen, mit denen wir sowieso schon Kontakt hatten, und sind von dort aus in weitere Communities ausgeschwärmt. So haben wir ein Netzwerk von Gruppen aufgebaut, die Geschichten sammeln, ebenso wie von Einzelpersonen, die Privatarchive haben. Es gibt zum Beispiel Personen, die von jeder Demonstration, auf der sie waren, die Flyer aufbewahrt haben. Das brachte uns auf die Idee, eine Website zu erstellen, auf der man nach Jahreszahlen

und Begriffen suchen und so Archive finden kann, die bestimmte Kämpfe dokumentiert haben – quasi eine antirassistische Suchmaschine. Außerdem veröffentlichen wir Einblicke in Form von Interviews oder Buch-, Radio- und Videoformaten.

Was macht Ihr Team anders als bisherige Archivar*innen?

Uns ist klar, dass Archive auch Machtinstrumente sein können. Wir fragen uns ständig, was wir anders machen müssen als bestehende Archive. Unser Fokus ist, dass wir marginalisierte, bisher in Staatsarchiven nicht vorhandene Perspektiven sammeln. Wir versuchen auch immer mitzudenken, wie wir das gesammelte Wissen über antirassistische Bewegungen wieder an die momentan aktiven Bewegungen zurückgeben können. Deshalb organisieren wir unter anderem Workshops, um ältere und jüngere Aktivist*innen zusammenzubringen.

Die Website von Ver/Sammeln gibt es auf mehr als hundert Sprachen, von Afsoomaali über Hmong bis Zulu. Warum?

Eine dominante Sprache kann auch zu Diskriminierung und Ausgrenzung führen, darum ist uns Mehrsprachigkeit sehr

Noch in Kästen: Ausstellung zum Archivprojekt Ver/Sammeln im Berliner Museum FHXB. Foto: Eric Tschernow

wichtig. Allerdings haben wir nicht Dutzende Übersetzer*innen, sondern nutzen ein Webtool für automatische Übersetzung. Die Übersetzungen sind gut, wenn auch nicht immer perfekt. ◆

versammeln-antirassismus.org

In dem Berliner Museum FHXB ist eine Ausstellung zu dem Archivprojekt Ver/Sammeln zu sehen. Weitere Informationen: www.fhxb-museum.de

Vincent Bababoutilabo ist Musiker, Autor und Aktivist an der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik. Er lebt in Berlin und ist in zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen wie dem NSU-Tribunal oder der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD-Bund e. V.) aktiv, für die er auch als politischer Referent tätig war.

Foto: Benjamin Jenak

AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 47

Facebook verbreitete Hass

GRAPHIC REPORT: MYANMAR 48 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023
AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 49

Vom Objekt zur Konkurrentin

Frauen werden in Südkorea benachteiligt und bedroht. Sie befinden sich trotz guter Bildung in prekären Arbeitsverhältnissen, sind durch Stalking und Femizide gefährdet. Nun will die Regierung auch noch das Gleichstellungsministerium abschaffen.

Der Eingang zur Toilette einer Bahnstation in Seoul wurde Ende September zu einer Klagemauer. »Ich will nach meinem Arbeitstag noch am Leben sein«, war auf einem der kleinen, bunten Zettel zu lesen, die an die Wand geklebt worden waren. »Ist es zu viel verlangt, jemandem einen Korb geben zu können, den ich nicht mag?«, stand auf einem anderen. Kurz zuvor war in jener Toilette eine 28-Jährige, die in der U-Bahnstation gearbeitet hatte, von einem Stalker erstochen worden. Am Tag nach dem Tod der jungen Frau sollte der Tatverdächtige für seine jahrelange Belästigung verurteilt werden. Nun geht es um Mord.

Dieser Fall hat Südkorea wochenlang umgetrieben, obwohl es in den vergangenen Jahren bereits ähnliche Verbrechen gab. Denn erst im Oktober 2021 hatte Südkoreas Parlament ein Anti-Stalking-Gesetz beschlossen. Das erweist sich jedoch als stumpfes Schwert, weil in nur fünf Prozent der dokumentierten StalkingFälle die Anzeige zur Festnahme der Verdächtigen führt. Kritiker*innen fordern eine Überarbeitung des Gesetzes.

Regelmäßig brechen in der südkoreanischen Gesellschaft Konflikte auf, die von den Medien als »Geschlechterkrieg« bezeichnet werden. Tatsächlich handelt es sich um vielfältige Diskriminierungen von Frauen – bis hin zur Verletzung ihres Rechts auf Leben. Die Tageszeitung Hankyoreh veröffentlichte Ende 2021 einen Bericht, für den sie 500 Morde an Frauen in den Jahren 2016 bis 2021 verglichen

hatte. Demnach waren in 347 der Fälle der Freund oder Ehemann für den Mord verantwortlich. Ein gutes Drittel dieser Täter hatte dem Opfer zuvor Gewalt angetan. Knapp 300 der Morde ereigneten sich in den eigenen vier Wänden.

Femizide, Morde an Mädchen oder Frauen aufgrund ihres Geschlechts, sind ein großes Problem in Südkorea. Doch auch auf dem Arbeitsmarkt und in der Politik spüren Frauen die tägliche Ungleichbehandlung. Sie erhalten geringere Löhne und sind seltener in leitenden Positionen von Unternehmen oder in politischen Ämtern vertreten.

Nach Ansicht von Lee Na-young, Professorin für Genderstudien an der ChungAng Universität in Seoul und eine der profiliertesten Feministinnen des Landes, gibt es zwar Fortschritte, doch hinke Südkorea anderen Ländern hinterher: »Das hat historische Gründe«, sagt Lee. »Als Frauen anderswo auf der Welt gleiche Rechte einforderten, war Korea von Japan kolonisiert.« Das japanische Kaiserreich, das von 1910 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs über die koreanische Halbinsel herrschte, setzte Hunderttausende Frauen als Zwangsprostituierte für japanische Soldaten ein.

»Das Thema der sogenannten ›Trostfrauen‹ wurde erst ab den 1990er Jahren öffentlich breit diskutiert, als die ersten

Opfer es zum Thema machten«, sagt Lee, die auch Vorsitzende des »Korea-Rats« ist, einer Organisation, die sich für die Rechte der Überlebenden von Sexsklaverei durch das japanische Militär einsetzt. Es gebe Parallelen zwischen der Aufarbeitung der damaligen Zwangsprostitution und heutigen Debatten: »Die Forderungen nach Geschlechtergleichheit finden heute nur Gehör, weil sich junge Frauen Gehör verschaffen.« Ohne den Aktivismus Betroffener tue sich wenig. »Denn in den Machtpositionen sitzen vor allem Männer, die noch ein konservatives Bild gesellschaftlicher Ordnung haben.« Doch lassen sich alternative Vorstellungen kaum noch ignorieren. Wiederholt hat es in Seoul in den vergangenen Jahren lautstarke feministische Demonstrationen gegeben.

Der harte Kampf um Jobs

Allerdings protestieren nicht nur Frauen. Angesichts eines prekären Arbeitsmarkts sehen sich junge Männer häufig diskriminiert, weil sie zusätzlich zur beruflichen Ausbildung noch rund 20 Monate Militärdienst leisten müssen. Der Konkurrenzkampf um sichere Jobs ist hart. Nur rund 60 Prozent der abhängig Beschäftigten haben eine feste Anstellung. Männer fühlen sich besonders unter Druck, weil sie ohne einen sicheren Job schlechtere Heiratschancen erwarten. Frauen wiederum wollen sich zunehmend seltener auf einen männlichen Versorger verlassen. Die ökonomische Konkurrenz sorgt zusätzlich für Spannungen.

Um für Balance zu sorgen, schuf die Regierung im Jahr 2001 das Ministerium für Geschlechtergleichstellung und Familie. Doch seit Mai 2022 ist Yoon Suk-yeol

50 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 SÜDKOREA
»Ist es zu viel verlangt, jemandem einen Korb geben zu können?« Anonym
Aus Seoul Felix Lill

Präsident Südkoreas. Der konservative Politiker legte bereits ein halbes Jahr nach seiner Wahl dem Parlament einen Plan zur Abschaffung des Ministeriums vor, weil dies seiner Ansicht nach Männer als »potenzielle Sexverbrecher« behandle. »Yoon behauptete auch, dass es in Südkorea keine systematische Geschlechterdiskriminierung gebe«, erklärt Boram Jang, Ostasien-Experte von Amnesty International. »Die Statistiken sagen jedoch etwas anderes: Der südkoreanische Gleichstellungsindex liegt im Vergleich zu den anderen Industrieländern am unteren Ende.« Yoon stößt sich vor allem an einem Gesetz der liberalen Vorgängerregierung zur Vorbeugung sexuellen Missbrauchs von Frauen. Mit seinen Plänen zur Abschaffung des Ministeriums konnte er sich besonders bei jungen männlichen Wählern beliebt machen.

Im Gleichstellungsministerium hielt man trotz des Regierungswechsels zunächst an einer frauenfreundlichen Politik fest. Lee Jung-hyun, Sprecherin des Ministeriums, ließ noch im Sommer wissen: »Das Ministerium für Geschlechtergleichstellung und Familie hat in verschiedenen politischen Bereichen wie Geschlech-

tergleichstellung, Familie sowie Rechte und Interessen von Frauen unabhängige Erfolge erzielt.« Dazu gehöre die Reform des Zivilrechts im Jahr 2005, die das traditionelle Hojuje-System abgeschafft hatte, wonach in der Regel der Mann das Familienoberhaupt war. 2008 folgte ein Gesetz zur Förderung von Frauen, die für die Kindererziehung ihre Erwerbstätigkeit unterbrochen hatten. 2018 wurde eine Laufbahn für weibliche höhere Beamte eingeführt. Auch die Unterstützung Alleinerziehender wurde unter dem Einfluss des Ministeriums zumindest etwas verbessert. Hinzu kam 2018 das von Präsident Yoon angefeindete Gesetz zur Vorbeugung sexueller Gewalt an Frauen. Yoon beteuert, dass er sich für das Wohl von Frauen und Familien einsetzen und viele Aufgaben vom Gleichstellungsministerium auf das Gesundheitsministerium übertragen werde. Auch bei der Verbesserung der angespannten Beziehungen zum Nachbarland Japan spielen Frauenrechte eine Rolle. Die sogenannten »Trostfrauen« warten immer noch auf eine angemessene Entschuldigung durch den japanischen Staat. »Es besteht die Befürchtung, dass der Präsident einen

schnellen Deal sucht, ohne die Opfer einzubeziehen«, sagt Genderforscherin Lee Na-young. Das würde zur neuen Gleichstellungspolitik passen: das Ministerium abzuschaffen und gleichzeitig zu behaupten, man setze sich intensiv für Gleichberechtigung ein. ◆

FRAUENDISKRIMINIERUNG IN SÜDKOREA

International fällt Südkorea durch die starke Diskriminierung von Frauen auf. Der jährliche Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums vergleicht die Geschlechtergleichstellung in den Bereichen Arbeitsmarkt, Politik, Bildung und Gesundheit. Dabei landet Südkorea regelmäßig weit hinten. 2022 belegte das Land Rang 99 von 146 und damit eine der niedrigsten Platzierungen unter den Industriestaaten. Vor allem auf dem Arbeitsmarkt besteht deutliche Ungleichheit. Frauen sind zwar kaum schlechter ausgebildet als Männer, finden sich aber wesentlich häufiger in prekären Arbeitsverhältnissen wieder. Der Gender-Pay-Gap von mehr als 30 Prozent ist der höchste unter den Industriestaaten.

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Eine Bahnhofstoilette als Gedenkstätte: Dort wurde im September 2022 eine junge Frau ermordet. Foto: Anthony Wallace / AFP / Getty Images

An politischer Werbung kommt niemand vorbei: Wahkampf in Sarajevo, September 2022.

52 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 BOSNIEN-HERZEGOWINA

Ethno-Proporz verhindert Gleichberechtigung

Bosnien-Herzegowina hat das ungerechteste Wahlrecht Europas. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits mehrfach Änderungen gefordert. Doch noch immer müssen Menschen für ihre politische Gleichstellung kämpfen.

Von Sead Husic, Sarajevo (Text und Fotos)

Die Reifen quietschen, als das bald 35 Jahre alte Auto eine weitere Serpentine nimmt. Hinter dem Steuer sitzt Nermin Avdičević. Der 33-Jährige ist Nachrichtenredakteur bei der Radiostation Glas Drine (Die Stimme der Drina). Um seinen Arbeitsplatz in Sapna zu erreichen, fährt er über die schmale Straße, die von seinem Dorf Sniježnica im Norden Bosniens über eine dicht bewaldete Bergkette führt.

»Wir sind nur ein kleiner Regionalsender, und unser Programm besteht vor allem aus Musik«, erzählt er. »Bosnische Schlager, die bei Serben, Kroaten und Bosniaken gleichermaßen beliebt sind. Deshalb haben wir auch eine sehr gemischte Hörerschaft. Im Alltag leben und arbeiten die verschiedenen Bevölkerungsgruppen ganz normal miteinander. Anders geht es auch nicht.« Avdičević parkt vor dem Sender, steigt aus dem Auto und betritt das Gebäude. Ein schmaler Flur führt zu seinem Büro. Auf dem Tisch stapeln sich verschiedene Zeitungen. »Wenn man die Presse liest, dann entsteht der Eindruck, man könne nicht einmal mehr vor die Tür treten, weil jeden Moment ein Krieg drohe«, sagt er und lächelt. Auf den Titelseiten vom 3. Oktober 2022 steht: »Schmidt ändert Wahlrecht kurz nach Ende der Abstimmung.«

Avdičević setzt sich und verharrt für einige Sekunden nachdenklich. »In keinem anderen Land der Welt ändert man

am Wahltag die Abstimmungsrechte, das ist absurd. Aber vielleicht ist dieses Land auch nur ein Spielfeld für ganz andere Dinge, die hier vor sich gehen«, sagt er über die Entscheidung von Christian Schmidt, den Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft für Bosnien-Herzegowina, der mit immensen Machtbefugnissen ausgestattet ist.

Was in Sapna für ungläubiges Staunen sorgte, löste in der 150 Kilometer entfernten Hauptstadt Sarajevo ein wahres Beben aus. Schon seit vielen Jahren sorgt das Wahlrecht immer wieder für politische Krisen und ständige Auseinandersetzungen zwischen ethno-nationalistischen und bürgerlichen Parteien, die völlig unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft Bosnien-Herzegowinas haben, das sich 1991 von Jugoslawien lossagte und derzeit 3,5 Millionen Einwohner*innen hat.

Kein Platz für Minderheiten

Zu den Vertretern der bürgerlichen Parteien zählt Jakob Finci. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Sarajevo schrieb gemeinsam mit seinem Freund, dem Roma Dervo Sejdić, im Jahr 2009 Rechtsgeschichte, als er seinen Staat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen Diskriminierung von Minderheiten verklagte und gewann. Das Gericht urteilte, dass die Staatsverfassung Bestimmungen enthalte, die Jüdinnen und Juden, Rom*nja und

andere Minderheiten diskriminierten. Jüdinnen und Juden sowie Rom*nja könnten beispielsweise nicht für das Staatspräsident*innenamt kandidieren, weil das Dreiergremium laut Verfassung aus einer*m Bosniak*in, einer*m Serb*in und einer*m Kroat*in bestehen muss.

Diese Bestimmungen sind das Ergebnis des Krieges von 1992 bis 1995. Damals hatte der Nachbarstaat Serbien unter Führung von Slobodan Milošević Bosnien angegriffen, um rein serbische Gebiete zu schaffen, diese an Serbien anzuschließen und damit ein »Großserbien« zu schaffen. Auch der Nachbar Kroatien unter Franjo Tudjman verfolgte eine Großmachtpolitik. Bosnien sollte zwischen Serbien und Kroatien aufgeteilt werden, die muslimischen Bosniak*innen sollten verschwinden. Der Krieg führte zu 100.000 Toten, der Belagerung Sarajevos und dem Völkermord von Srebrenica (siehe Seiten 56/57). Er endete mit einem Abkommen, das unter Vermittlung der USA in Dayton geschlossen wurde. Seit 27 Jah-

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»Die Nationalisten haben wieder gewonnen.«

ren herrscht in Bosnien-Herzegowina nun ein fragiler Frieden, der auf einem ausgeklügelten politischen System beruht, in dem sich die drei größten Bevölkerungsgruppen die Macht teilen. Für Jüdinnen und Juden, Rom*nja und andere Minderheiten ist da kaum Platz.

Finci sitzt in seinem Büro in der jüdischen Synagoge Sarajevos. Der gepflegte, weltgewandte Mann macht trotz seiner 79 Jahre einen vitalen Eindruck. »Die Wahlen sind vorbei, und viel hat sich nicht verändert. Denn die Nationalisten haben im Großen und Ganzen wieder gewonnen«, sagt er nüchtern über die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die gerade abgehalten wurden. Übersteigerter Nationalismus ist Fincis Lebensthema. Schon seine Geburt stand unter dem Zeichen der Verfolgung: Er wurde in einem italienischen Konzentrationslager auf der Insel Rab geboren, die heute zu Kroatien gehört. »Es war nur glücklichen Umständen zuzuschreiben, dass wir mit dem Leben davonkamen. Als der Zweite Weltkrieg vorbei war, entschied meine Mutter, dass wir nach Sarajevo zurückkehren«, sagt Finci.

Nach dem Krieg entstand der sozialistische Staat Jugoslawien, zu dem auch Bosnien-Herzegowina gehörte. Jakob Finci studierte Jura mit Schwerpunkt internationales Handelsrecht und arbeitete für den jugoslawischen Staat unter anderem in Äthiopien und Kenia. Als 1984 die Olympischen Winterspiele in Sarajevo

stattfanden, gehörte er zu den Mitorganisator*innen. »Es waren die guten Jahre«, sagt Finci.

Als die serbischen Truppen Sarajevo belagerten, beschloss er, in der Stadt zu bleiben, unterstützte die jüdische Hilfsorganisation La Benovelencija und verhalf vielen Menschen zur Flucht vor dem täglichen Beschuss. Den Dayton-Vertrag, der die politische Macht zwischen den verfeindeten Bevölkerungsgruppen aufteilte, sieht er kritisch: »Ich hatte die Gelegenheit, mit dem Friedensvermittler Richard Holbrooke zu sprechen, und sagte zu ihm: ›Wie kannst du mich von einer Kandidatur für das Präsidentenamt ausschließen?‹ Er antwortete, dass sich dies natürlich nicht gegen mich richte, doch müsse zunächst Frieden zwischen den drei großen Gruppen geschaffen werden, und das gehe eben nicht anders.«

Auch 27 Jahre später haben es die Parteien der verschiedenen Bevölkerungsgruppen immer noch nicht geschafft, einen Kompromiss zu finden, der dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gerecht wird. »Alle führenden Politiker sagen, dass sie unser

Land in die Europäische Union führen wollen. Aber mit dieser diskriminierenden Verfassung ist das nicht möglich«, meint Finci.

Enttäuschte Hoffnungen

Dieser Ansicht ist auch Azra Zornić. Die 65-Jährige zog vor acht Jahren vor den EGMR, weil sie sich weder als Serbin, Bosniakin noch Kroatin versteht, sondern einfach Bosnierin sein will. Als solche darf sie jedoch – wie Finci – weder für das Staatspräsident*innenamt kandidieren noch für das Haus der Völker, eine der beiden Parlamentskammern der Föderation Bosnien-Herzegowina. Auch Zornić

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»Zehntausende wollen nicht in eine ethnische Schublade.«
Azra Zornić
Wütend: Nermin Avdičević.

gewann ihre Klage. Laut EGMR muss die bosnische Verfassung geändert werden, damit Menschen, die eine ethnische Zuordnung verweigern, endlich den drei dominierenden Bevölkerungsgruppen gleichgestellt werden.

Mit Zornić ist nur ein Telefongespräch möglich, ihre Stimme klingt ziemlich kampfeslustig: »Wir leben in einem Land, das von den ethno-nationalistischen Parteien bestimmt wird. Es gibt aber Zehntausende Bosnier und Bosnierinnen, die sich nicht in eine dieser ethnischen Schubladen stecken lassen wollen. Und deswegen bleibt ihnen nicht nur das passive Wahlrecht versagt, sondern sie erhalten auch keine Chance auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungswesen. Denn das gesamte System wird von den drei Ethnien beherrscht. Zudem mischen sich unsere Nachbarstaaten Serbien und Kroatien ständig ein und heizen den Nationalismus der Volksgruppen, auf die sie Anspruch erheben, immer wieder an.«

Die Hoffnung auf die internationalen Vermittler der EU oder der USA, die in den vergangenen Jahren immer wieder eine Lösung finden wollten, sei enttäuscht worden, meint Zornić. Meist versuchten diese, eine Einigung mit den ethno-nationalen Führer*innen zu erzielen, die das Land nicht voranbrächten.

Auch die Wahlrechtsänderung durch den Hohen Repräsentanten in der Wahlnacht des 2. Oktober bewerten viele Verfassungsrechtler*innen und Politolog*innen skeptisch. Die weltweit einzigartige Institution wurde nach dem Krieg 1995 von der internationalen Staatengemeinschaft geschaffen, um den Friedensvertrag zwischen Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina zu überwachen. Der Hohe Repräsentant verfügt über umfangreiche Vollmachten, kann Gesetze erlas-

sen und Politiker*innen aus Ämtern entfernen. Er ist die letzte Instanz bei Konflikten, zum Beispiel wenn es um die Frage geht, ob sich alle Seiten an den Vertrag von Dayton halten. Seit 2021 bekleidet der CSU-Politiker Christian Schmidt dieses Amt. Schmidt änderte nun in einem Landesteil, der Föderation BosnienHerzegowina, unter anderem die Zusammensetzung des Hauses der Völker und erhöhte die Zahl der Delegierten aus jeder der drei Bevölkerungsgruppen von je 17 auf 23.

Alle singen dieselben Lieder

Der Hohe Repräsentant habe damit die Stellung der ethno-nationalen Parteien weiter gestärkt, meint Nedim Ademović, ein bekannter Verfassungsrechtler. Der 50-Jährige sitzt in seinem repräsentativen Büro, das gegenüber der bosnischen Zentralbank liegt. Von seinem Fenster im vierten Stock blickt man auf die breite »Straße des Marschall Tito«, in der immer noch Wahlplakate an den Laternen hängen.

»Der Zeitpunkt der Wahlrechtsänderung ist von Herrn Schmidt denkbar schlecht gewählt worden und sendet ein fatales Signal an die Menschen im Land. Vor allem aber ist die Entscheidung rechtlich problematisch. Eigentlich sollte sich die Politik mit den Entscheidungen des EGMR befassen, um endlich gleiche Rechte für alle Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Es muss sichergestellt werden, dass alle Bürgerinnen und Bürger bei der Bewerbung um öffentliche Stellen fair und gleich behandelt werden, dass sie individuellen Schutz genießen und dass es dabei transparent zugeht. Das wären konkrete Schritte, um die Verhältnisse zu verbessern. Stattdessen befasst man sich nach wie vor mit ethnischen Proporzsys-

temen, die das Land weiter lähmen«, sagt Ademović. Das liege vor allem an der schon immer falschen Einschätzung, es gebe in Bosnien nur Nationalist*innen und keine ausreichende Mehrheit für einen Bürgerstaat nach europäischem Vorbild.

In den Buchläden Sarajevos ist derzeit die Biografie von Zdravko Grebo ein Bestseller. Der bosnische Juraprofessor und Intellektuelle (1947–2019) setzte sich bereits in Jugoslawien für einen demokratischen Bürgerstaat ein und wurde deshalb von der Kommunistischen Partei geächtet. Während des Krieges kämpfte er in Sarajevo für den Erhalt einer multikulturellen Gesellschaft und gegen Nationalismus. »Zur Buchpremiere vor wenigen Tagen kamen bekannte Intellektuelle und Gleichgesinnte aus Kroatien, Serbien und Montenegro, um diesen Mann und seine Idee zu ehren«, berichtet eine Buchhändlerin, die namentlich nicht genannt werden möchte. »Das zeigt, dass die Idee von Bosnien als Land, in dem alle Menschen friedlich zusammenleben können, gleich welcher Religion oder Kultur sie angehören, immer noch existiert«, sagt sie.

Der Radioredakteur Nermin Avdičević sieht das ähnlich: »Ich weiß, dass es auf allen Seiten Menschen gibt, die in einem normalen Land leben wollen, in einem Land, in dem keiner ständig erklären muss, wer oder was er ist, in einem Land, in dem es nur darum geht, was du kannst.« Und er weist auf einen neuen Song hin, der just in dem Moment im Programm läuft: »Diese Liebesschnulze mag jeder, ganz gleich, ob Bosniake, Serbe oder Kroate. Wahrscheinlich singen gerade alle mit.« ◆

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Kämpferisch: Jakob Finci. Kritisch: Nedim Ademović.

Srebrenica überlebt

Wie ein Schleier legt sich der Schmerz über den Verlust von Verwandten und Freunden auf seine Erinnerungen. Und doch kann Hasan Hasanović über den Völkermord von 1995 in Bosnien-Herzegowina eindrucksvoll erzählen. Von Till Schmidt

Er dokumentiert Erinnerungen. Hasan Hasanović in Potočari.
ERINNERUNG AN VÖLKERMORD
Foto: Ignacio Maria Coccia / contrasto / laif
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Die weißen Stelen vermehren sich langsam auf dem Friedhof. Etwa 7.000 sind es derzeit, und immer wieder kommen neue hinzu. Der Ort, an dem sie stehen, heißt Potočari, nur wenige Kilometer entfernt von Srebrenica, im Osten von Bosnien-Herzegowina – ein blutgetränkter Landstrich. 1995 ermordeten dort die serbischbosnische Armee und serbische Milizionäre binnen weniger Tage 8.000 bosniakische Jungen und Männer – vor den Augen der UN-Blauhelme, die in und um Srebrenica »Schutzzonen« eingerichtet hatten, das Massaker jedoch nicht verhinderten und ahnten, was geschah. Der Genozid gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Hasan Hasanović stammt aus einem nahegelegenen Dorf und überlebte den Völkermord als 19-Jähriger. Er war Teil einer Kolonne, die nach der Eroberung Srebrenicas aufbrach, um zu entkommen. Sechs Tage lang war er unterwegs und legte 120 Kilometer durch serbisch kontrolliertes Gebiet zurück. Die meisten der etwa 15.000 Flüchtenden wurden auf diesem »Todesmarsch von Srebrenica« ermordet.

Seine Geschichte erzählt Hasan Hasanović in »Srebrenica überleben«, einem Buch, das 2016 auf Englisch erschien und nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Der Bericht ist in einem knappen, mitunter fast protokollarischen Stil verfasst und vermeidet jedes Pathos – »Srebrenica überleben« ist ein bescheidenes Buch.

Zwar steht das eigene Erleben des Autors im Zentrum der chronologischen Schilderung, doch ist zu spüren, wie er damit ringt, anderen Überlebenden und den Ermordeten ebenfalls Raum zu geben.

Der Schmerz über den Verlust von Verwandten, Freunden und ihm unbekannten Menschen liegt wie ein Schleier auf den Erinnerungen. Gerade als Abwesende sind sie immer wieder anwesend.

Hasan Hasanović wuchs in dem Dorf Sulice in einfachen Verhältnissen auf, bevor seine Familie nach Bratunac zog und dort ein Haus baute. Damals bemerkte er, dass die Polarisierung zwischen Bosniak*innen und Serb*innen zunahm – im politischen, aber auch im alltäglichen Leben. So besuchte man zum Beispiel getrennte Bars und Cafés. Es war »nur noch

eine Frage der Zeit, bis der Krieg ausbrechen würde«, schreibt Hasanović im Rückblick.

Kurz nach Beginn des Kriegs flüchtete Hasanovićs Familie aus Bratunac. Teils gemeinsam, teils getrennt, schlugen sie sich durch die Wälder der Region, während in der Ferne die Geräusche des Krieges zu hören waren. Immer wieder erhielten sie Informationen über ermordete Verwandte und Freunde sowie über die Zerstörung von Dörfern, die sie kannten. Von 1992 bis 1995 lebten die Hasanovićs in Srebrenica, wohin immer mehr Bosniak*innen geflüchtet waren.

Regelmäßig bombardierte das serbische Militär die Stadt, in der Nahrungsmittel und Hygieneartikel immer knapper wurden. »Jeder versuchte einfach nur, den Krieg irgendwie zu überleben«, erinnert sich Hasanović. Trotz gelegentlicher Lebensmittellieferungen »sprach man nur über den Hunger. Wir alle waren abgemagert und bleich.«

Überall Erinnerungen

Auch nach Beginn der »UN-Schutzmaßnahmen« war das Alltagsleben voller Entbehrungen. Abwechslung boten die Fußballweltmeisterschaft, Musik, aber auch Angebote religiöser Gemeinschaften. So besuchte Hasanović einen Arabisch-Kurs, um den Koran in der Originalsprache lesen zu können. Eine solidarische Leidensgemeinschaft seien die Eingeschlossenen allerdings nicht gewesen. Im improvisierten Kino musste der Eintritt mit Zigaretten bezahlt werden, und die waren rar. Auch die Hasanovićs sahen sich gezwungen, andere Hungernde an ihrer Haustür abzuweisen.

Nach dem widerstandslosen Fall Srebrenicas im Juli 1995 suchten die Mutter und der jüngere Bruder des Autors Schutz bei einem niederländischen UN-Bataillon in Potočari, während er selbst, sein Zwillingsbruder Husein, sein Vater Aziz und sein Onkel Hasan sich einer Kolonne anschlossen, um aus der Stadt zu gelangen. Den Fußmarsch beschreibt Hasanović als einen surrealen, tranceartigen Zustand: »Jeden Tag frage ich mich aufs Neue, woher ich damals die Kraft nahm«, erinnert er sich.

Irgendwann bemerkte der 19-Jährige, dass er den Kontakt zu seinen drei Familienangehörigen verloren hatte: »Ich wollte warten und nach ihnen suchen, aber ich

wusste, dass ich getötet würde, wenn ich stehen bleibe – und so rannte ich einfach weiter.« Er schlug sich allein durch, versteckte sich unter dem dröhnenden Lärm der Artillerie in Wäldern und in einem Fluss.

»Bis heute weiß ich nicht, was genau mit meinem Vater, meinem Zwillingsbruder und meinem Onkel passiert ist – wie und wo sie ermordet wurden«, berichtet Hasanović. Dieser Gedanke quäle ihn seither und hole ihn immer wieder ein, wenn er durch Srebrenica spaziere. Viele Gebäude, Straßen, ja selbst Bäume lösten Erinnerungen aus.

Hasanović beschreibt auch, wie schwer es ihm jahrelang fiel, über das Geschehene und seine Gedanken zu sprechen. »Die meisten Überlebenden sind sehr arm und haben nie psychologische Unterstützung erhalten«, erzählt er. Auch gebe es keine Selbsthilfeorganisationen. Sein Buch zu schreiben, fiel ihm nicht leicht: »Ich erinnere mich lebhaft, wie ich nach wenigen Seiten immer wieder pausieren musste.«

Seit 2009 arbeitet Hasanović im Srebrenica Genocide Memorial in Potočari. Zusammen mit einem Kollegen führt er Video-Interviews mit Überlebenden, um diese mithilfe der Shoah Foundation zu archivieren. In gewisser Hinsicht ist auch sein eigenes Buch ein Beitrag dazu. ◆

HASAN HASANOVIĆ

Hasan Hasanović, geboren 1975, ist Überlebender des Völkermords von Srebrenica, bei dem er seinen Vater, seinen Bruder und seinen Onkel verlor. Nach dem Krieg absolvierte er ein Studium der Kriminalwissenschaften in Sarajevo. Eine Promotion zum Thema internationale Strafgerichtsbarkeit soll ab 2023 folgen. Heute ist Hasanović Kurator der Völkermord-Gedenkstätte Potočari und leitet dort ein Oral-HistoryProjekt (https://srebrenicamemorial.org/en). Er lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Srebrenica.

Hasan Hasanović: Srebrenica überleben. Mit einem Vorwort von Keno Verseck. Aus dem Englischen übersetzt von Filip Radunović. Wallstein, Göttingen 2022, 104 Seiten, 16 Euro

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»Ich wusste, dass ich getötet würde, wenn ich stehen bleibe.«
Hasan Hasanović

WAS SAGT AMNESTY EIGENTLICH ZU PFLICHTVERTEIDIGUNG IN DER ABSCHIEBEHAFT?

Amnesty fordert gemeinsam mit rund 50 anderen Menschenrechtsorganisationen Pflichtverteidiger*innen für Asylsuchende während der Abschiebungshaft in Deutschland. Damit soll das Recht der Betroffenen auf ein faires Verfahren gewährleistet werden.

In der Abschiebungshaft wird einer Person die Freiheit entzogen, ohne dass sie eine Straftat begangen hat. Die Haft sichert lediglich die Abschiebung, also den Vollzug eines Verwaltungsaktes. Mit diesem Freiheitsentzug wird massiv in die Grundrechte der betroffenen Person eingegriffen. Deshalb werden an einen Haft-

beschluss hohe formale und inhaltliche Anforderungen gestellt.

»Diesen Anforderungen wird die Praxis in der Abschiebungshaft häufig nicht gerecht«, kritisieren die Menschenrechtsorganisationen. Verlässliche Schätzungen gehen von rund 50 Prozent fehlerhaften Inhaftierungen aus. »Bei einer derart hohen Fehlerquote drohen rechtsstaatliche Grundsätze ihre generelle Gültigkeit zu verlieren«, mahnen die Organisationen.

Eine Ursache für die fehlerhaften Inhaftierungen liege darin, dass die Betroffenen oftmals mittellos seien und es ih-

nen an Kenntnissen des Rechtssystems sowie der Sprache fehle. Damit könnten sie sich keinen professionellen Beistand organisieren, um vor Gericht die Chance zu haben, ihre Grundrechte zu verteidigen. Um hier Fairness herzustellen, brauche es eine Pflichtbeiordnung von Anwält*innen, fordern Amnesty und die anderen Organisationen.

Die Pflichtverteidigung gibt es unter bestimmten Umständen bereits in strafprozessrechtlichen Verfahren. Etwa wenn die Straftaten rechtlich kompliziert zu bewerten oder hohe Strafen zu erwarten sind.

DAS STECKT DRIN: ORANGENSAFT

Der beliebteste Saft in Deutschland Orangensaft. Durchschnittlich 6,9 Liter trinkt jede*r Deutsche pro Jahr. Mehr als 90 Prozent des Orangensafts die Europäische Union eingeführt wird, stammt aus Brasilien Land baut weltweit die meisten Orangen an, im Jahr 2020 wa ren es mehr als 16,7 Millionen Tonnen.

NGOs beklagen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen auf den Orangenplantagen der marktbeherrschenden Unternehmen in Brasilien. Die Beschäftigten erhalten demnach zu geringe Löhne, die teils sogar un ter dem brasilianischen Min destlohn liegen. Gesundheits schutz und Arbeitssicherheit sind unzureichend. Mancherorts gibt es keinen Zugang zu sanitären Anlagen. Noch im Jahr 2020 wurden Fäl

le dokumentiert, in denen Beschäftigte unter sklavereiähnlichen Bedingungen arbeiten mussten. Sie waren durch Schuldknechtschaft an die Plantagen gebunden und erhielten keinen regulären Lohn.

Hinzu kommen Umweltbelastungen durch den starken Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf den Plantagen. Die Pestizide gefährden die Artenvielfalt und die Trinkwasserversorgung der Menschen in den Anbaugebieten.

Was tun? Zertifizierten Orangensaft aus fairem Handel kaufen. Dessen Erzeuger- und Handelsunternehmen haben sich verpflichtet, die Menschenrechte entlang der Lieferkette einzuhalten.

WAS TUN?
Quellen: U.S. Department of Agriculture’s Foreign Agricultural Service, Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO), Verband der deutschen Fruchtsaft-Industrie, Christliche Initiative Romero, Repórter Brasil shutterstock
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MALEN NACH ZAHLEN: FREIHEIT IM INTERNET

Die Organisation Freedom House hat 2022 die Freiheit des Internets in weltweit 70 Staaten untersucht und daraus den Freedom on the Net Index erstellt. Danach ist der Zugang zum Internet in den 21 hervorgehobenen Ländern am stärksten beeinträchtigt. Am schlechtesten schneidet China mit nur zehn von 100 möglichen Punkten ab. Besonders stark verschlechtert hat sich die Lage in Russland mit einem Minus von sieben Punkten im Vergleich zum Vorjahr. Mittel staatlicher Repression sind zum Beispiel das zeitweise Abschalten des Internets, die Blockade ausländischer Websites, blockierte Online-Netzwerke, Beschränkungen für Umgehungstechnologien und neue Gesetze zur Beschränkung ausländischer Websites und Inhalte.

BESSER MACHEN: BILDUNG

Die UNO warnt vor einer weltweiten Bildungskrise. Im Jahr 2021 konnten 244 Millionen Kinder weltweit nicht zur Schule gehen. Derzeit sind es geschätzt mehr als 78 Millionen. Extrem gefährdet ist die Bildung von Kindern in Afghanistan, Sudan, Somalia und Mali. Zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht der Organisation Save the Children, der die Bildungssituation in 182 Ländern untersucht hat. Im Vergleich zum Vorjahr sei zwar die Zahl der extremen Risikoländer von acht auf vier gesunken, doch sei das Recht der Kin-

der auf Bildung in vielen Ländern stark gefährdet. Sieben der zehn am stärksten betroffenen Länder liegen auf dem afrikanischen Kontinent. Die Autor*innen der Studie sehen die Ursachen der Bildungskrise neben der Covid-19-Pandemie in der globalen Hungerkrise infolge von bewaffneten Konflikten, gestiegenen Lebensmittelpreisen sowie Wetterextremen. Die Konsequenzen für Kinder, die nicht zur Schule gehen, sind dramatisch. Sie leiden häufiger unter Hunger, Gewalt und Missbrauch und werden zu Kinderarbeit und

Frühverheiratung gezwungen. Besonders betroffen sind Mädchen und Kinder, die in Ländern mit niedrigem Einkommen, in Geflüchtetenlagern und Kriegsgebieten leben. Die UNO ruft die internationale Gemeinschaft dazu auf, mindestens 1,5 Milliarden US-Dollar für den globalen Bildungsfonds in Notsituationen und Langzeitkrisen (»Education cannot wait«, ECW) bereitzustellen. Mit dem Geld soll der Fonds bis 2026 finanziert werden. Im Februar 2023 findet eine entsprechende Geberkonferenz statt.

IRAN: SCHLUSS MIT DER GEWALT GEGEN DEMONSTRIERENDE

Seit dem Tod Jina Mahsa Aminis im September 2022 demonstrieren täglich Tausende Menschen im Iran für Menschenrechte. Die Behörden reagieren mit teils tödlicher Gewalt, Festnahmen und der Todesstrafe. Werde aktiv, fordere ein Ende der Menschenrechtsverletzungen im Iran!

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Quelle: Freedom House 2022

Ein großes Gefängnis

Der türkische Staat schränkt die Freiheiten seiner Bürger*innen zunehmend ein. An zentralen Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft werden Exempel statuiert.

Von Sabine Küper-Büsch, Istanbul

Auf dem Istanbuler TaksimPlatz ist die Polizei seit dem Bombenanschlag am 13. November noch präsenter als ohnehin schon. An jenem Tag wurden auf der nahe gelegenen Flaniermeile İstiklal Caddesi sechs Menschen getötet und mehr als 80 Passant*innen verletzt. Nun patrouillieren dort Polizeikräfte in Zivil, zu erkennen an ihren Walkie-Talkies. Seitdem im Sommer 2013 Millionen Istanbuler*innen im benachbarten Gezi-Park gegen den Bau einer Kaserne im osmanischen Stil protestierten, die Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan dort errichten lassen wollte, ist der Taksim-Platz das am besten bewachte Gebiet der türkischen Metropole.

Die damaligen Tage des zivilen Ungehorsams erschienen heute unwirklich, würden nicht chronisch ungehorsame Istanbuler*innen immer wieder mit Graffiti an den sogenannten Gezi-Gerichtsprozess erinnern: »Freiheit für Osman Kavala« steht an einer Hauswand. Der Geschäftsmann und Kulturmäzen wurde am 25. April 2022 wegen »versuchten gewaltsamen Umsturzes der türkischen Regierung« zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt. Nach Ansicht des Gerichts hatte er die GeziProteste organisiert. Neben Kavala wurden sieben weitere prominente Mitglie-

der der Zivilgesellschaft zu jeweils 18 Jahren Haft verurteilt, darunter Wissenschaftler*innen, Architekt*innen, Filmemacher*innen. »Der Prozess war eine Farce«, sagt Tarık Beyhan, Direktor für Menschenrechtskampagnen von Amnesty International in Istanbul. Bereits 2019 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die sofortige Freilassung Kavalas gefordert, weil die Anschuldigungen nicht ausreichend bewiesen seien.

»Die Türkei ist mittlerweile ein großes Gefängnis«, stellt Beyhan fest. Die Kriminalisierung der Zivilgesellschaft sei an der Tagesordnung, das Rechtssystem werde systematisch instrumentalisiert. Im Oktober 2022 weitete die türkische Regierung die Einschränkungen der Medienfreiheit auf die Online-Netzwerke aus. Mit der Verabschiedung des »Desinformationsgesetzes« drohen Journalist*innen und Nutzer*innen von Online-Netzwerken Haftstrafen bis zu drei Jahren, wenn sie Informationen verbreiten, die die Regierung als falsch bezeichnet.

Seit der Niederschlagung eines Putschversuches im Jahr 2016, für den die

türkische Regierung die sogenannte Gülen-Bewegung verantwortlich macht, werden Oppositionelle wahlweise beschuldigt, der kurdischen PKK oder der GülenBewegung anzugehören. Nach dem Putschversuch hatte die Türkei den Ausnahmezustand verhängt und die Europäische Menschenrechtskonvention ausgesetzt. Es kam zu Massenverhaftungen und Massenentlassungen in Armee, Polizei, Justiz und im Bildungswesen. Die Behörden nutzten den Ausnahmezustand, um Demonstrationen zu verbieten und exzessive Polizeigewalt gegen Demonstrierende zu rechtfertigen.

Über tausend Nichtregierungsorganisationen wurden verboten. Betroffen waren vor allem Organisationen in den überwiegend kurdisch besiedelten Gebieten im Südosten der Türkei. Diese Repression gegen die Zivilgesellschaft dauert weiter an. So läuft aktuell ein Verbotsverfahren gegen eine der wichtigsten Frauenorganisationen, die die weit verbreitete Gewalt gegen Frauen sowie Femizide dokumentiert.

Seit der Einführung des Präsidialsystems 2018, das Präsident Erdoğan umfassende politische Macht verleiht, habe sich die Willkür noch verschärft, sagt Amnesty-Direktor Beyhan. Gesetze zur sogenannten Bekämpfung von Terrorismus und von Aktivitäten, die der Staat als Bedrohung einschätzt, werden als Mittel der Repression eingesetzt. »Einzelne Persönlichkeiten werden exemplarisch festge-

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»Alle Mitglieder
unserer
Büros erhalten Morddrohungen.« Anwältin Eren Keskin

nommen und angeklagt«, sagt Beyhan. Auf der Roten Liste des Innenministeriums, die Terrorverdächtige verzeichnet, finden sich auf den ersten fünf Seiten ganze fünf Mitglieder der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die sich zu den meisten Anschlägen in der Türkei bekennt. Vor allem aber werden Menschenrechtsaktivist*innen bezichtigt, Terrororganisationen anzugehören oder diese zu unterstützen.

Haft für kritische Online-Posts

So wurden 2017 der Rechtsanwalt und Ehrenpräsident der türkischen Sektion von Amnesty International, Taner Kılıç, und kurz darauf zehn weitere Menschenrechtsaktivist*innen festgenommen, die an einer Schulung in Istanbul teilgenommen hatten. Kılıç saß 14 Monate in Untersuchungshaft und wurde am 3. Juli 2020 in Istanbul zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, weil er angeblich Mitglied einer Terrororganisation sei. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte am 31. Mai 2022 fest, dass Kılıç rechtswidrig und willkürlich inhaftiert war und das Verfahren gegen ihn mit seiner Tätigkeit als Menschenrechtsverteidi-

ger zusammenhänge. Das oberste Berufungsgericht der Türkei hob das Urteil unter anderem gegen Kılıç Ende November zwar auf, verwies es jedoch zurück an die erste Instanz (siehe Seite 8). Damit ist die willkürliche Verfolgung immer noch nicht zu Ende, kritisiert Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty Deutschland.

Die Anwältin Eren Keskin, Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins der Türkei (IHD), hält einen traurigen Rekord: Wegen angeblicher Verbindungen zu Terrororganisationen wurden 243 Verfahren gegen sie eingeleitet. »Alle Anklagen beziehen sich auf die Zeit, als ich Herausgeberin der pro-kurdischen, mittlerweile verbotenen Tageszeitung Özgür Gündem war«, sagt die Juristin. Auf dem Boden ihres Büros liegt ein Bericht über Manipulationen in der Gerichtsmedizin und gezielte sexuelle Gewalt gegen Frauen in Haft. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Akten. Es sind vor allem Fälle von Oppositionellen, denen wegen ihrer politischen Tätigkeit Terrorismus vorgeworfen wird. Keskin selbst wurde im Lauf der Zeit zu insgesamt 26 Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. »Bislang musste ich die

Haftstrafen nicht antreten, ich könnte aber jederzeit festgenommen werden«, sagt sie. Seit sechs Jahren darf sie nicht mehr ausreisen. Außerdem wurden Geldstrafen von insgesamt fast 40.000 Euro gegen sie verhängt. Begleicht sie diese nicht, muss Keskin die Haftstrafen antreten. Die Summen übersteigen die finanziellen Möglichkeiten der Menschenrechtsanwältin bei Weitem. »Meine Anwälte haben Ratenzahlungen vereinbaren können, die wir teilweise mit Unterstützung von internationalen Menschenrechtsorganisationen abstottern.«

Während Oppositionelle wie Keskin festgenommen und kriminalisiert werden, übt die türkische Regierung große Toleranz gegenüber Gewalt und Aggression ihrer eigenen Anhänger*innen. »Alle Mitglieder unserer Büros erhalten Morddrohungen«, sagt die Juristin. »Wir zeigen die gar nicht mehr an, weil ohnehin nichts passiert.« Keskin wirkt gefasst und kein bisschen eingeschüchtert. Anders könnte sie die momentane Situation vermutlich auch gar nicht aushalten. ◆

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Der Taksim-Platz im Juni 2013: Millionen Istanbuler*innen protestierten gegen ein Bauvorhaben der Regierung. Foto: Ed Ou / The New York Times / Redux / laif

VOM RECHT, NICHT ZU TÖTEN

Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht, doch die Teilmobilisierung in Russland zwingt viele Männer an die Waffe. Alexander Belik hat schon vor vielen Jahren seinen Wehrdienst verweigert und hilft seitdem allen, die es ihm gleichtun wollen.

Alexander Belik hat noch nie verstanden, warum er Militärdienst leisten sollte. »Ich habe das als einen Job gesehen, für den Leute bezahlt werden, die ihn machen wollen«, sagt der 25-jährige im Video-Interview. »Und ich möchte ihn eben nicht machen.« Zudem habe er homofeindliche Übergriffe gefürchtet. »Die russische Armee ist kein sicherer Ort für LGBTI+.«

Belik, schlank, mit kinnlangem Haar, das er locker hochgesteckt trägt, koordiniert die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer in Russland. Zwei Jahre könnte er noch zum Wehrdienst eingezogen werden, dann ist er 27 und davon befreit. Doch momentan ist er für das russische Militär nicht erreichbar, denn seit einigen Monaten lebt Belik in Estlands Hauptstadt Tallinn.

Eigentlich ist es in Russland nicht so schwierig, den Wehrdienst zu verweigern, denn als Alternative gibt es einen Zivildienst. Bis vor Kurzem habe man sich ohnehin keine großen Gedanken um die Einberufung machen müssen, sagt Belik: »Meistens vergessen sie dich, und du kannst sie auch vergessen, bis du 27 bist und dir die Befreiung holst.« Belik entschied sich aber für den Weg der Konfrontation – er wollte offiziell verweigern: »Ich machte ihnen klar, dass ich ein Unruhestifter bin«, erzählt er.

Seit seiner Musterung im Alter von 18 Jahren erschien er bei der Musterungsbehörde stets mit Kamera und filmte alles. Er schreibe Beschwerden, melde Fehlverhalten der Behörde an das Verteidigungsministerium. »Sie haben Angst vor mir«, sagt er mit einem Lächeln. »Denn ich kenne jedes Gesetz, dem sie unterliegen.« Vier Jahre lang hat Belik in St. Petersburg Jura studiert. Doch das Wissen, das er als Kriegsdienstverweigerer und Aktivist benötige, lerne man nicht im Studium, sagt er. Das habe er sich dank seiner Menschenrechtsarbeit selbst angeeignet.

Diese führt er nun aus dem Ausland fort: Er unterstützt andere Russen dabei, sich dem Militärdienst zu entziehen. Belik gibt Tipps und verteilt Anleitungen. »Man muss viele Stellungnahmen schreiben, und wir zeigen, wie die aussehen müssen«,

sagt Belik. Auf ihrer Website haben er und seine Mitstreiter*innen Materialien und Vordrucke gesammelt. Regelmäßig machen sie Live-Beratungen auf YouTube, klären Menschen über ihre Möglichkeiten auf. »Das sind nicht alles Pazifisten«, sagt Belik. »Viele verweigern, weil sie gegen das Putin-Regime sind und es nicht unterstützen wollen.«

Unmittelbar nach der Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 habe sich die Anzahl der Personen verdoppelt, die den Kriegsdienst verweigern und dafür Beliks Hilfe in Anspruch nehmen wollten. »Plötzlich erinnerten sich viele, dass ihnen noch der Wehrdienst bevorsteht«, sagt Belik. Doch nach anfänglicher Panik habe sich die Lage wieder beruhigt. »Die Leute verstanden, dass sie nichts zu befürchten hatten. Man kann immer noch problemlos verweigern.«

Mit der Teilmobilmachung dürfte die Sorge unter Männern im wehrfähigen Alter jedoch wieder gewachsen sein. Im September verkündete der russische Präsident Wladimir Putin, nach und nach 300.000 Reservisten für den Krieg in der Ukraine zu mobilisieren. Davon betroffen sind Männer, die bereits ihren Wehrdienst geleistet haben. Hunderttausende Russen verließen daraufhin das Land. Es gibt zwar Frauen im russischen Militär, aber die werden nicht einberufen, sie sind Berufssoldatinnen. Die EU-Mitgliedsstaaten sind sich indes noch uneins darüber, ob russische Deserteure und Kriegsdienstverweigerer in der EU Asyl bekommen sollen.

Für Verweigerer wie Belik war von Anfang an klar, dass er Russland verlassen musste. »Ich lehne Krieg kategorisch ab«, schrieb er kurz vor seiner Ausreise im April. »Am 24. Februar 2022 habe ich beschlossen, dass ich in den nächsten Jahren alles dafür tun werde, dass möglichst viele Menschen den Dienst in der russischen Armee verweigern.«

62 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 PORTRÄT
◆ Foto: privat

ÜBERWIEGEND ENTTÄUSCHENDE WELTKLIMAKONFERENZ

Nach drei Tagen Verlängerung endete am 20. November die Weltklimakonferenz (COP27). Sie fand 14 Tage lang im ägyptischen Sharm El-Sheikh statt. Schon vor Beginn wurden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen bekannt, insbesondere Repressionen gegen die ägyptische Zivilgesellschaft und willkürliche Inhaftierungen von Aktivist*innen. Während der Konferenz waren Demonstrationen nur in einem kleinen, streng überwachten Bereich erlaubt.

Als Haupterrungenschaft der COP27 gilt ein Ausgleichsfonds für Klimaschäden (»loss and damage finance facility«), den insbesondere Länder des globalen Sü-

dens gefordert hatten. Er soll die Hauptverursacher*innen der Klimakrise in die Verantwortung nehmen, um die Folgen der Erderhitzung in den am stärksten betroffenen Ländern zu mildern. Die konkrete Ausgestaltung des Fonds wurde allerdings auf die nächste Weltklimakonferenz vertagt, die 2023 in Dubai (Vereinigte Arabische Emirate) stattfinden soll. Deutschland investiert zudem in einen globalen Schutzschirm gegen Klimarisiken, der die betroffenen Länder ebenfalls unterstützen soll. Konkrete Maßnahmen, um die Zunahme der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen und aus fossilen Energien auszusteigen, wurden

WM MIT EINGESCHRÄNKTEN MENSCHENRECHTEN

Am 20. November begann die FußballWM der Männer in Katar. Wenig überraschend lieferte sie sogleich viele Schlagzeilen rund um die Achtung und vor allem die Missachtung von Menschenrechten.

Amnesty International und andere Organisationen hatten den Weltfußballverband FIFA und die katarische Regie-

rung im Mai 2022 aufgefordert, Arbeitsmigrant*innen angemessen zu entschädigen, die in den vergangenen zehn Jahren Fußballstadien, Hotels und andere Bauten errichtet haben. Sie wurden dabei vielfach ausgebeutet, trugen gesundheitliche Schäden davon oder kamen sogar zu Tode. Kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft lehnte die katarische Regierung

auf der Klimakonferenz hingegen nicht beschlossen.

Auch wenn der Ausgleichsfonds für Klimaschäden einen Erfolg darstellt, hängt nun viel von der konkreten Ausgestaltung ab. Deutschland und andere Staaten müssen ihrer historischen Verantwortung gerecht werden und sich für einen fairen Ausgleichsmechanismus einsetzen. Dass kein Ausstieg aus Öl und Gas vereinbart wurde, ist angesichts der fortschreitenden Klimakrise enttäuschend und bedroht die Menschenrechte zukünftiger Generationen. (»Klimagerechtigkeit jetzt!«, Amnesty Journal 06/22)

Entschädigungen jedoch ab und bezeichnete die Forderung als »PR-Gag«. Die FIFA wollte die Idee immerhin prüfen, ein Ergebnis dieser Prüfung lag bis Mitte Dezember allerdings nicht vor.

Auch bei anderen Menschenrechtsfragen fielen die FIFA und die katarischen Behörden durchweg negativ auf. So wollten einige europäische Mannschaften als Zeichen der Unterstützung von LGBTI+ ihren jeweiligen Teamkapitän mit einer »One-Love«-Binde spielen lassen. Doch die FIFA stellte dies unter Strafe. Iranische Fußballfans, die sich im und vor dem Stadion mit den Protesten im Iran solidarisch zeigten, wurden von Ordnern schikaniert, des Stadions verwiesen und sogar zeitweise festgesetzt – all das widerspricht dem grundlegenden Recht auf Meinungsfreiheit. Laut den Regularien der FIFA für ihre Großveranstaltungen sind Provokationen und politische Meinungsäußerungen verboten. Doch ist der Einsatz für die Menschenrechte weder das Eine noch das Andere. Es wird höchste Zeit, dass die FIFA das versteht. (»Weltmeister im Wegducken«, Amnesty Journal 05/22)

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DRANBLEIBEN
Nicht erwischen lassen, sonst droht Stadionverbot! Iranische Fans im November in Al Rayyan, Katar. Foto: Dylan Martinez / Reuters
KULTUR KOLONIALISMUSDEBATTE IM MUSEUM 64 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023
der Schwelle«: Installation des nigerianischen Künstlers Emeka Ogboh.
Tom Dachs / GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig
»An
Foto:

»Rückgaben dürfen schmerzhaft sein«

Abseits der großen Diskussionen hat sich das Grassi-Museum für Völkerkunde in Leipzig zu einem Vorbild für deutsche Museen in Sachen Rückgabe und Aufarbeitung des kolonialen Erbes entwickelt. Von Susanne Messmer

Mitte Oktober war eine Delegation von Sámi zu Besuch, Vertreter*innen des indigenen Volkes im Norden Skandinaviens, Museumsleute vor allem. Sie waren in Leipzig, um sich sechs Trommeln von großem spirituellem und historischem Wert anzusehen, die sich im dortigen Grassi-Museum für Völkerkunde befinden.

Sie waren nicht nur von den Trommeln begeistert, berichtet Friedrich von Bose, der die Abteilung Forschung und Ausstellungen leitet. Als sie in die beiden Ausstellungsräume kamen, die das Museum dem jungen Künstler*innenkollektiv Para zur Verfügung gestellt hat, waren sie sofort im Thema. »Die haben sich innerhalb von drei Minuten acht ›Skrupel‹ aus dem Automaten gezogen«, freut sich von Bose.

»Skrupel« sind kleine Steine, die man im Museum für 20 Euro erwerben kann: Es sind Nachbildungen des Gipfelsteins, den der Leipziger Geograf Hans Meyer 1889 von seiner Besteigung des Kilimandscharo mitbrachte. Einen (inzwischen verschollenen) Teil schenkte er Kaiser Wilhelm II., der andere Teil wird derzeit im Antiquitätenhandel angeboten. Das Künstler*innenkollektiv hat mitten im Museum eine Fertigungsstraße aufgebaut, bei der Steine aus der Bausubstanz des Grassi abgebrochen werden, um daraus die Repliken herzustellen. Mit dem Erlös der »Skrupel« will Para den erhalte-

nen Teil des Gipfelsteins kaufen und an Tansania zurückgeben. Knapp die Hälfte der für den Kauf benötigten 40.000 Euro hat das Künstler*innenkollektiv schon zusammen.

Die Steinaktion bringt etwas Leichtigkeit in die mitunter grimmigen Diskussionen um die Rückgabe von Kulturgütern aus der Kolonialzeit und zeigt zugleich, welchen Umbruch die ethnologischen Museen in Deutschland erleben. Unter dem Titel »Reinventing Grassi« hat sich das Leipziger Museum nach einem halben Jahr der Schließung einem radikalen Wandel unterzogen. Seine Direktorin Léontine Meijer-van Mensch, die zuvor Programmdirektorin am Jüdischen Museum Berlin war, geht Veränderungen politischer an als viele ihrer Kolleg*innen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen Nanette Snoep vom Kölner Rautenstrauch-JoestMuseum oder Inés de Castro vom Stuttgarter Linden-Museum.

Diesen Häusern geht es nicht mehr nur um die Frage nach Objekten, die aus kolonialen Unrechtskontexten stammen. Sie untersuchen auch, wie es in ganz Europa zu einer Verdrängung des Kolonialismus kommen konnte, die den Ursprung des heutigen Alltagsrassismus bildet. »Ich glaube, dass Museen eine gesellschaftliche Bedeutung haben. Hier liegt das Erbe der Menschheit, vielleicht auch der Schlüssel für die Zukunft der Menschheit«, sagt Léontine Meijer-van Mensch. Diese Fragen wurden bereits in den 1960er Jahren gestellt – doch nahm die Diskussion in

Deutschland erst unter dem wachsenden Druck der afrodiasporischen Zivilgesellschaft Fahrt auf. Befördert wurde sie auch durch den Streit um das Berliner Humboldt-Forum. In dem für mehr als 600 Millionen Euro rekonstruierten Schloss an zentraler Stelle werden seit 2021 Objekte aus dem Ethnologischen Museum gezeigt, die zuvor im entlegenen Stadtteil Dahlem ausgestellt waren.

Stur in Fragen der Dekolonialisierung

Der wichtigste Akteur im Humboldt-Forum, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, reagierte lange Zeit stur auf Fragen der Dekolonialisierung. Legendär ist eine Äußerung ihres Direktors Hermann Parzinger, der 2011 erklärte, das Ethnologische Museum in Berlin sei »auf legale Weise« entstanden und daher »rechtmäßiger Besitzer seiner Bestände«. Auch die Rückgabe der berühmten Benin-Bronzen lehnte man dort bis vor Kurzem noch ab. Dabei ist erwiesen, dass mehrere Tausend dieser wertvollen Bronzen 1897 von britischen Soldaten geraubt und nach Europa verschleppt wurden, nachdem sie die Stadt Benin im heutigen Nigeria in Schutt und Asche gelegt hatten. Nigeria fordert die Bronzen seit Anfang der 1970er Jahre offiziell zurück, manche davon seit 1935. Als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2017 Rückgaben im großen Stil ankündigte, stieg der Druck. 2021 zog die da-

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malige Kulturstaatsministerin Monika Grütters nach. Auf eine Absichtserklärung der Bundesregierung folgte im Sommer 2022 ein Vertrag zwischen Deutschland und Nigeria über eine Rückgabe der Benin-Bronzen.

Auch das Humboldt-Forum hat sich inzwischen bewegt. Noch Ende 2020 sollte rund die Hälfte der mehr als 500 »Berliner« Benin-Objekte ausgestellt werden, nun sind es noch rund 30. Allerdings ist in den Texten zu den verbleibenden Bronzen immer noch von »gesammelten« Objekten und der »Einnahme der Stadt Benin« die Rede. Geplündert und verbrannt wäre die korrekte Wortwahl. Das Grassi-Museum in Leipzig ist da deutlich weiter. Anstatt seine 262 Benin-Bronzen zu zeigen, wird die Geschichte ihres Raubs dargestellt. Der nigerianische Künstler Emeka Ogboh widmet ihnen seine Installation »An der Schwelle«: In einem abgedunkelten Raum begegnen die Besucher*innen Fotos der BeninBronzen.

Haben westliche Besucher*innen das Recht, diese Objekte zu genießen?, fragt das Grassi-Museum. Und was bewirkt ihr Fehlen im heutigen Nigeria? »Rückgaben dürfen schmerzhaft sein«, sagt Friedrich

Friedrich von Bose, Museumskurator

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»Wir operieren am offenen Herzen.«
Grassi-Direktorin Léontine Meijervan Mensch hat das Leipziger Museum einem radikalen Wandel unterzogen. Der »Raum der Erinnerung« dient feierlichen Rückgabezeremonien. Fotos: Tom Dachs / GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig

von Bose. »Aber wir sind davon überzeugt, dass wir das Richtige tun – und daraus erwachsen so viele Prozesse und Kooperationen. Die Angst vor einem leeren Museum ist mir völlig unverständlich.«

Das Grassi stelle längst nicht mehr nur »schöne, bunte Objekte« in den Mittelpunkt, auch wenn diese nie ganz aus der Ausstellung verschwinden würden, erklärt von Bose. Stattdessen reflektiere das Museum sich selbst: »Es operiert am offenen Herzen.«

Museen als Ort des Streits

Die Entstehung der Ethnologie war mit kolonialen Strukturen verwoben. Die Völkerkundemuseen haben ihren Teil dazu beigetragen, dass rassistische Ressentiments populär wurden. Im Grassi-Museum entstehen die Ausstellungen nun in Zusammenarbeit mit Expert*innen aus den Herkunftsländern. Und vieles, was sonst hinter den Kulissen passiert – wie das Restaurieren der Objekte – findet nun hinter Glas für alle sichtbar statt. »Wir haben erfolgreich die Generation Z ins Museum geholt«, sagt von Bose. Diese Generation will, dass im Museum gestritten wird. Und gestritten wird im Grassi gern. Hier ist man sich dessen bewusst, dass die

Objekte in Europa keineswegs gerettet, sondern ihrer früheren Funktion beraubt wurden. Auch sind sie keiner breiten internationalen Öffentlichkeit zugänglich, wie etwa das British Museum behauptet, das bislang nichts zurückgeben will. Denn junge Leute aus Afrika oder Ozeanien, die in ihren Museen kaum Zeugnisse ihrer eigenen Geschichte finden, können sich keine Flüge nach Europa leisten. All das erzählt das Leipziger Museum auch.

Außerdem wird nicht mehr alles gezeigt, was man hat. In einem Raum mit historischen Vitrinen hängen nur 120 der 120.000 Objekte, über die das Museum verfügt. Und alles, was man darüber weiß, wird ebenso offengelegt wie das, was man nicht weiß. Die Leipziger Museumsverantwortlichen überlegen, nicht nur Objekte zurückzugeben, die eindeutig geraubt wurden, sondern auch solche, die an ihrem Herkunftsort einfach sinnvoller aufgehoben sind, so von Bose.

Im »Raum der Erinnerung« können Delegationen aus aller Welt im Rahmen von Ritualen »Human Remains«, also menschliche Überreste ihrer Vorfahren, oder andere Objekte in Empfang nehmen. Es ist der einzige Raum dieser Art in

einem deutschen Museum. Ausgestellt sind hier derzeit ein Rindenschäler, ein Fischernetz, ein Speer und eine Keule, die einst First Australians gehörten. Diese Exponate kamen schon ein knappes halbes Jahrhundert vor dem Beginn der deutschen Kolonialgeschichte nach Sachsen –durch vier Missionare, die von den Kaurna, einer Bevölkerungsgruppe der australischen Ureinwohner*innen, herzlich aufgenommen wurden und eine Grammatik des Kaurna schrieben, die bis heute zur Wiederbelebung der Sprache genutzt wird. 2023 werden die Gegenstände nach Australien zurückgehen. »Wie genau diese Objekte angeeignet oder übergeben wurden, können wir viel zu oft nicht sagen«, berichtet Friedrich von Bose. »Und dennoch muss die Frage der Rückgabe immer im Raum stehen, wenn wir das Museum neu denken möchten.« ◆

Siehe auch: »Auf den Spuren der gestohlenen Frau«, Seite 24

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Gipfelsteine für Tansania: »Skrupel-Automat« des Künstlerkollektivs Para.

Radio Dolin sendet noch

Sein ganzes Berufsleben hat er dem Film gewidmet. Nun ist Anton Dolin selbst in einem Film – allerdings in einem surrealen. Der russische Kritiker musste seine Heimatstadt Moskau verlassen und lebt jetzt in einem lettischen Kurort. Von Tigran Petrosyan

An seine Haustür in Moskau malten Unbekannte den Buchstaben Z, das Symbol des Krieges von Wladimir Putin. Die meterhohe Botschaft war unmissverständlich. Am nächsten Tag stand der Filmkritiker Anton Dolin mit seiner Frau, den beiden Söhnen und dem Hund am Flughafen. Sie wollten zu seiner Mutter nach Frankreich ins Ferienhaus, gab Dolin bei der Grenzkontrolle an. Doch das eigentliche Ziel der Reise war das Städtchen Jūrmala in Lettland, wo bereits Freunde auf die Familie warteten.

Der größte Kurort des Baltikums, der sich über mehr als 30 Kilometer entlang der Küste erstreckt, ist vor allem bei Russ*innen beliebt. Im Lauf mehrerer Generationen etablierte sich eine Community in der Stadt, in der zu Sowjetzeiten russische Kulturfestivals stattfanden. Zwischen modernen Privathäusern und Villen stehen noch alte, heruntergekommene ein- oder zweistöckige Holzhäuser, an

deren Fassaden kaum noch lesbare Schilder hängen: »Zu verkaufen«. Nach der Annexion der Krim 2014 verfügte Lettland immer wieder Einreiseverbote für russische Künstler*innen, die dort ein Sommerhaus haben. Dolin sei jedoch immer willkommen, ließ man ihn wissen.

Der grauhaarige 46-Jährige geht mit seinem Hund fast jeden Tag am Strand von Jūrmala spazieren. Seine Panikattacken hat er inzwischen überwunden. Doch ein Gefühl der Unsicherheit begleitet ihn weiterhin. Dolin spricht mit unbewegter Miene und lächelt nie während des Gesprächs, selbst dann nicht, wenn er mit seinem Hund spricht. »In einem einzigen Augenblick wurde mir der Boden unter den Füßen weggezogen«, sagt er über seine Gefühlslage. Er fühle sich ruiniert: »Mein Beruf stellt sich als nicht sehr nützlich heraus. Mein Haus habe ich zurückgelassen, auch von meinen Gewohnheiten und meinem Alltag ist nichts übrig geblieben.« Im Gegenzug habe er jedoch das Recht auf Meinungsfreiheit gewonnen: »Ich fühle mich privilegiert, dass meine Stimme aus dem Exil gehört wird.«

Anton Dolin, der vor seinem Exil als einer der wichtigsten Filmkritiker in Russland galt, schreibt weiterhin für das unabhängige russische Medienportal Meduza, das seit 2014 seinen Sitz in Lettland hat. 247.000 Abonnent*innen hat der YouTube-Kanal Radio Dolin, auf dem er über Filme, Bücher und Theaterstücke spricht, von denen viele in Russland der Zensur unterliegen. Viele Gäste seiner Sendung stehen – wie er selbst – auf der Liste »ausländischer Agenten« des russischen Justizministeriums.

Bereits in Russland hat Dolin die Opposition immer offen unterstützt. Nach seinem Universitätsabschluss in Philologie 1997 arbeitete er für den oppositionellen Radiosender Echo Moskwy. Dieser sei nie machthörig gewesen, erinnert sich Dolin, doch sei damals die

68 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 RUSSISCHER FILMKRITIKER IM EXIL
Anton
»Putin war mir als Wähler immer unsympathisch.«
Dolin

Der Kritiker bei einer Aktion für die Freilassung des ukrainischen Regisseurs Oleg Senzow, Moskau, Mai 2019.

Foto: Gavriil Grigorov / TASS / pa

staatliche Repression gegenüber Medien noch nicht so stark gewesen wie heute.

Eine Apokalypse des Verschwindens

Seit seiner ersten Teilnahme an einer Wahl in den 1990er Jahren habe er für die Opposition gestimmt, »in der Regel für die Liberalen«. Nie habe er Putin gewählt oder unterstützt: »Er war mir als Wähler immer unsympathisch.« Gleichwohl habe er sich beruflich für Kulturjournalismus und gegen Politikjournalismus entschieden. Dies habe ihm ermöglicht, für staatliche Medien zu arbeiten und doch Oppositioneller zu bleiben. Zuletzt sei dieser Spagat aber nicht mehr möglich gewesen.

Um seine aktuelle Situation zu beschreiben, greift Dolin auf ein Beispiel aus seinem Metier zurück: den Spielfilm »Das Turiner Pferd« des ungarischen Regisseurs Béla Tarr. Dies sei eines der ungewöhnlichsten Werke der Kinogeschichte, das der Apokalypse gewidmet sei, erklärt er. Der Film schildert das Leben eines alten Bauern und seiner Tochter auf einem kleinen Gehöft Ende des 19. Jahrhunderts. Die Apokalypse vollzieht sich,

indem das Wasser des Bachs aufhört zu fließen, das Feuer aufhört zu brennen, das Licht erlischt. Die Welt verschwindet nach und nach, bis nichts mehr bleibt. Dolin zieht einen direkten Vergleich zwischen der Filmhandlung und der gegenwärtigen Situation in Russland. »Mir scheint, dass Russland genau diesen Weg geht. Alles verschwindet nach und nach. Das gilt für Werte wie Meinungsfreiheit oder selbstbestimmtes Handeln. Es gilt für die Bereiche Kultur, Wirtschaft, Arbeit. Und schließlich auch für die Menschen, die einfach davonlaufen.«

Immer wieder werde er gefragt, was aus dem russischen Kino werden solle, berichtet Dolin, doch habe er darauf keine Antwort. »Sagen Sie mir, was mit Russland passieren wird, und ich werde Ihnen sagen, was mit dem russischen Kino passieren wird.« Auch seine eigene Zukunft ist ungewiss. »Meine Frau und ich sind Patrioten, wir wollten nie auswandern. Wir sind gezwungenermaßen gegangen und würden gerne zurückkehren. Aber wann?«

Wie lange der derzeitige politische und kulturelle Niedergang Russlands

noch andauern werde, sei unklar. Auch an die Macht des Kinos will der Filmkritiker nicht mehr so recht glauben. »Im globalen Sinne kann weder der Film noch irgendeine andere Kunst etwas ändern. Das konnten sie noch nie.« Dennoch arbeitet er weiter, zumindest von der Literatur scheint er sich in der aktuellen Situation eine gewisse Wirksamkeit zu versprechen: »Ich schreibe Bücher, weil es mir ein inneres Bedürfnis ist«, sagt er. Ein Buch könne Menschen, die auf der Flucht seien und oft kein Zuhause mehr hätten, ablenken und trösten – ihnen vielleicht sogar helfen, Zusammenhänge zu verstehen.

Er habe vor Kurzem in der armenischen Hauptstadt Eriwan einen jungen Mann getroffen, der Russland verlassen habe und jetzt dort lebe, erzählt Dolin: »Er kam auf mich zu, bat mich, ein Buch von mir zu signieren, und sagte, dies sei das einzige Buch, das er mitgenommen habe. Ein größeres Kompliment kann man einem Autor wohl kaum machen.« ◆

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»Wer du auch seist, ich will dich retten«: Leonore sieht in Florestan alle zu Unrecht Inhaftierten dieser Welt. Foto: Lena Obst

Befreiung unterm goldenen Lüster

Das Hessische Staatstheater Wiesbaden legt mit den Opernproduktionen »Fidelio« und »Aus einem Totenhaus« einen Schwerpunkt auf das Thema Gefangenschaft und arbeitet dabei mit Amnesty International zusammen. Von Constantin Mende, Dramaturg am Hessischen Staatstheater Wiesbaden

70 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023
MENSCHENRECHTE IN DER OPER

Bereits vor 200 Jahren stellte die Oper die Frage nach universellen Werten.

Kann Oper politisch sein? Wenn man vor dem Eingang eines Opernhauses steht, dann kommen einem daran Zweifel. Die Architektur strahlt Macht aus: Die großen Opernhäuser des 19. Jahrhunderts zeichnen sich durch kaiserlichen Pomp aus, die des 20. Jahrhunderts scheinen für bürgerliche Selbstvergewisserung zu stehen.

Betritt man etwa das Hessische Staatstheater Wiesbaden, so durchquert man zunächst den Säulengang der Kolonnaden, schlendert durch das Prunkfoyer, das bis unter die Decke mit Stuck und kaiserlichen Insignien geschmückt ist, und betritt dann den Zuschauerraum, in dem einem der denkbar größte Kontrast entgegenschlägt: Der Zuschauerraum ist prunkvoll – Deckengemälde, vergoldeter Stuck, Kaiserloge, Ehrenloge, goldener Lüster –, doch auf der Bühne sind Gefängnisgitter zu sehen. Erstaunlich oft spielen Opern im Gefängnis, so auch die beiden aktuellen Wiesbadener Opernproduktionen: Ludwig van Beethovens »Fidelio« und Leoš Janáčeks »Aus einem Totenhaus«. Passt das zusammen? Kann sich eine Oper ernsthaft dem Gefangensein widmen? Müsste sie dazu nicht eben den Staat kritisieren, der sie finanziert und zu dessen Repräsentation sie einst erfunden wurde?

Schauen wir uns zunächst die Handlung der beiden Opern näher an. Worum geht es in »Fidelio«? Um ihren Ehemann Florestan zu retten, der aus politischen Gründen im Kerker gefangen gehalten wird, verkleidet sich Leonore als Mann und schleicht sich unter dem Namen Fidelio beim Kerkermeister Rocco ein. Als der Minister eine Untersuchung des Gefängnisses ankündigt, sieht sich der Gouverneur Don Pizarro gezwungen, Florestan schnell verschwinden zu lassen. Rocco und sein Gehilfe sollen ein Grab schaufeln, Pizarro wird den Mord selbst ausführen. Leonore sieht im Dunkeln den schlafenden Gefangenen, der von Hunger und Durst ausgezehrt ist. Und dann fällt der Satz, der aus der Oper mehr macht als eine Geschichte über einen Inhaftierten und seine aufopferungsbereite Gattin: »Wer du auch seist, ich will dich retten, bei Gott!, du sollst kein Opfer sein!« Hier geht es nicht mehr um das private Unglück der Ehefrau. Unabhängig davon, wer der Gefangene ist, will Leonore ihn

retten. In diesem Moment steht Florestan für alle zu Unrecht Inhaftierten der Welt.

Leoš Janáčeks Oper »Aus einem Totenhaus« basiert auf Fjodor Dostojewskis Bericht »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« und schildert das Leben in der russischen Verbannung, Katorga genannt. Janáčeks Spätwerk folgt Dostojewski in seiner nüchternen Beschreibung der Grausamkeiten, aber auch der Hoffnungen der Gefangenen. Die Musik ist existenziell-menschlich, voll Grausamkeit und Schönheit.

Beethoven und Janáček konnten nicht ahnen, dass Florestan und die russischen Verbannten nicht nur für alle politischen Gefangenen ihrer Zeit stehen, sondern dass mehr als 200 Jahre später noch immer, selbst nach der Erfahrung des Grauens des 20. Jahrhunderts, Menschen aus politischen Gründen inhaftiert sind oder Opfer des Verschwindenlassens werden. Leider sind diese Opern keine antiquierten Liebhaberstücke, sondern in jeder Inszenierung und Aufführung immer noch aktuell.

Verbindung zum realen Unrecht

In »Fidelio« herrscht vor dem Hintergrund des Gefängnisses ein beschauliches Familienleben unter dem patriarchalen Vater und Kerkermeister Rocco –man hat sich mit dem Unrecht irgendwie abgefunden. In gleicher Weise hat sich auch das Publikum, das aus der heilen Welt des prunkvollen Zuschauerraums heraus das Unrecht auf der Bühne betrachtet, mit dem realen Unrecht arrangiert. Das Ernüchternde am Theater ist ja, dass Menschen mit einem Einzelschicksal auf der Bühne mitfiebern, aber in ihre gewohnten Strukturen zurückfallen, sobald sie das Haus verlassen haben. Es stellt sich also die Frage: Wie stellt man zwischen dem Bühnengeschehen und der Wirklichkeit eine Verbindung her?

In Wiesbaden versuchen wir, in enger Zusammenarbeit mit Amnesty International den Blick auf die politische Dimension von Opern zu lenken. In jeder Vorstellung von »Fidelio« und »Aus einem Totenhaus« wird das Publikum auf dem Weg zum Pausensekt zur Aktion gebeten. Mit Premierenmatineen, Einführungen und Sonderveranstaltungen, die wir gemeinsam mit Amnesty-Mitgliedern veranstalten, verbinden wir das, was wir auf der Bühne sehen, mit dem, was in der re-

alen Welt vor sich geht. Denn Verschwindenlassen, menschenverachtende Haftbedingungen, Verfolgung und Inhaftierung von Dissident*innen als Form staatlichen Terrors sind heute noch so aktuell wie vor 200 Jahren.

Oper gilt als Kunstform, die sich emotional allgemeinverständlich an alle richtet. Sie hat damit dem Unrecht etwas sehr Wertvolles entgegenzusetzen. Beethovens »Fidelio« endet mit einem großen Oratorium, in dem alle Gefangenen befreit werden: eine Utopie. In seiner Musik ist die Hoffnung artikuliert, dass ein Staat auf Grundlage universaler Menschlichkeit möglich ist, selbst wenn es die Oper braucht, um von der Verwirklichung dieser Utopie zu träumen.

Obwohl zur Zeit Beethovens und Janáčeks die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte noch nicht existierte, stellten die Komponisten und Textdichter bereits die Frage nach universalen Werten. Um etwas für alle Gültiges zu erreichen, müsse man von der einzelnen Person abstrahieren und jede Person allgemein als Mensch betrachten, so ihre Botschaft. Auch Bertolt Brecht sah im Theater die Möglichkeit, vom einzelnen Schicksal zu abstrahieren und die Mechanik der Welt von außen zu sehen: »Das epische Theater ist hauptsächlich interessiert an dem Verhalten der Menschen zueinander […]. Der Zuschauer erhält die Gelegenheit zur Kritik menschlichen Verhaltens vom gesellschaftlichen Standpunkt aus, und die Szene wird als historische Szene gespielt.«

Das Theater bietet also die Möglichkeit, das Verhalten von Menschen abstrahierend zu betrachten. Es ist damit universal und nicht bloß subjektiv. Es zwingt das Publikum zu einer Entscheidung: Wie verhalte ich mich zu dem, was ich auf der Bühne sehe? Woran leiden die Menschen auf der Bühne? Und wie könnten sie befreit werden? Vielleicht bringt es sogar einige dazu, der Erkenntnis, die sie durch das Theater erfahren haben, ein Engagement in der realen Welt folgen zu lassen. ◆

»Fidelio« wird noch bis zum 8. Januar 2023 am Staatstheater Wiesbaden gezeigt. »Aus einem Totenhaus« hat am 30. April 2023 Premiere. Alle Termine unter: www.staatstheater-wiesbaden.de

AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 71

»Wir stecken in der Falle«

Auf seinem Debutalbum »Wolivo« verschmilzt der Sänger, Gitarrist und Songschreiber Ali Saffudin die Folklore seiner Heimat Kaschmir mit Rock – und Kritik an der politischen Situation. Ein Gespräch über Bollywood-Propaganda und Grunge.

Wie ist die derzeitige Situation in Kaschmir?

Statisch. Nichts geht voran. Man fühlt sich wie ein Teller mit Essen, der auf dem Tisch vergessen wurde und langsam verrottet.

In Ihrem Album »Wolivo« thematisieren Sie die politische Situation in Kaschmir. Sehen Sie sich als Musiker oder als Aktivist?

Ich habe mich nie gescheut, politische Themen anzusprechen. Das haben auch die Musiker und Künstler getan, die meine Vorbilder sind. Ich bin nicht einverstanden mit der Situation in Kaschmir. Es herrscht Ungerechtigkeit. Ein versprochenes Plebiszit hat nie stattgefunden, es gibt Aufstände, Gewalt. Ein hinduistisch geprägtes Indien unterdrückt eine muslimische Mehrheit in Kaschmir. Die lokalen Politiker und Parteien sind nur an ihrem eigenen Vorteil interessiert und verraten ihr Volk. Das alles macht wütend. Aber ich kann Songs schreiben, ich kann singen – die Musik ist eine Katharsis für mich.

In dem Dokumentarfilm »In The Shade of Fallen Chinar« über Künstler*innen im Umfeld der Universität von Srinagar sagen Sie: »In den 1990er Jahren hätte ich eine Waffe in die Hand genommen, ich habe mir die Gitarre genommen.«

Dieses Statement ist heftig, das gebe ich zu. Nachdem der Film erfolgreich war, wurde ich gefragt: Warum nicht jetzt die Waffe nehmen? Meine Antwort ist simpel: Angesichts der Militärpräsenz des indischen Zentralstaats in Kaschmir wäre das naiv. Kann Gewalt jemals die Lösung sein? Seit den 1990er Jahren hat der KaschmirKonflikt Zehntausende Menschen das Leben gekostet, unzählige wurden vertrieben und haben ihre Heimat verloren. Es gibt eine reale Wut darüber, die nicht verschwindet. In der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA gab es den Weg von Martin Luther King und den Weg von Malcolm X. Beider Ziel war richtig. Unser Problem in Kaschmir ist, dass wir weder einen Martin Luther King noch einen Malcolm X haben.

Glauben Sie, dass sich Ihre politischen Ziele besser mit Musik erreichen lassen?

Ich habe keine politischen Ziele, die ich mit der Musik erreichen will. Die Musik

ist ein Ventil für meinen Frust und meine Wut. Meine Musik hat politische Botschaften, sie soll aber vor allem die Gefühle der Menschen und ihr Leben zum Ausdruck bringen. Und in Kaschmir – der am stärksten militarisierten Region weltweit, eingeklemmt zwischen zwei tödlich verfeindeten Atommächten – ist dieses Leben zwangsläufig politisch. Songs, in denen es um freie Meinungsäußerung und freie Gedanken geht, oder ein Slogan wie »Free Your Mind!« mag anderswo an selige Hippie-Zeiten erinnern – hier wird das automatisch politisch gelesen. Auch die Tatsache, dass ich meine Texte in Kaschmiri schreibe und singe. Die Herabsetzung der Sprache der Kolonisierten ist ein Werkzeug des Kolonialismus. Wer in den 1990er Jahren Kaschmiri sprach, auf den wurde herabgesehen.

Spüren Sie wegen Ihrer Herkunft konkrete Einschränkungen ? Alle großen Konzerte in Kaschmir werden

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»Die Musik ist ein Ventil für meinen Frust und meine Wut.«
ROCKMUSIK AUS KASCHMIR

vom indischen Zentralstaat finanziert. Die würden mich nie einladen. Und ich würde nicht hingehen: Einen Künstler macht nicht nur aus, was er tut, sondern auch, was er nicht tut. Ich spiele in kleinen Cafés oder an der Universität, bin aber auch schon vor 2.000 Menschen aufgetreten. Die Freiräume werden jedoch immer kleiner. Man muss sich das so vorstellen: Wir leben in einem Aquarium, in dem es auch einen Hai gibt. Man hat fortwährend Angst, zensiert sich selbst. Jeder Widerspruch, jeder Protest kann als Umsturzversuch oder Angriff auf den indischen Staat interpretiert werden. Es gibt kaum jemanden, der sich offen gegen den indischen Staat ausspricht – stattdessen viel Schweigen. Schweigen ist der deutlichste Ausdruck der Resilienz der Kaschmiris.

Sie haben einmal gesagt: »Im Konflikt gedeiht Kunst besonders gut.« Ja, ich glaube, dass ein existentieller Konflikt wie der in Kaschmir – so tragisch er ist – ein perfekter Ort für Kunst ist. Ich glaube zwar nicht, dass Kunst, die aus einem Konflikt kommt, automatisch gut ist. Aber ich glaube, dass gute Kunst etwas zu sagen haben muss. Du musst dein Handwerk als Künstler beherrschen, wenn deine Botschaften eine Wirkung haben sol-

len. Für mich sind System Of A Down ein Vorbild: eine amerikanische Band, die ihre armenischen Wurzeln nie verleugnet, die eine Öffentlichkeit geschaffen hat für den Genozid in Armenien, aber auch die US-Intervention im Nahen Osten kritisiert hat – und die richtig rockt.

Ihre Musik rockt auch richtig Ich bin mit Grunge aufgewachsen, ich war ein riesiger Fan von Pearl Jam, Soundgarden, Nirvana, Alice in Chains. In dieser Musik fand ich Wut, aber auch eine große Schwermut. Deshalb war Grunge für mich immer eine Musik, die zwar in Seattle, aber für Kaschmir gemacht wurde.

Im Westen ist Rockmusik als Ausdruck des Protests eigentlich tot. Es mag aktuell keine gesellschaftlich relevanten Rockbands geben, aber ich glaube weiter an die Kraft dieser Kunstform. Die Grunge- und Punkbands, die ich liebe, haben ihre Wut auf die Umstände in der Musik kanalisiert. Wenn man die Umstände, aus denen diese Musiker kamen, mit denen in Kaschmir vergleicht, dann muss meine Musik wohl zehnmal so kraftvoll klingen wie Punk. (lacht)

Hat Ihre Musik eine politische Wirkmacht?

Politisch relevante Musik erreicht nicht die Massen in Kaschmir – auch meine

Musik nicht. Die allermeisten hören dieselben Bollywood-Songs, die man im Rest von Indien hört. In Bollywood-Filmen und -songs wird Kaschmir als romantische Region mit idyllischer Natur dargestellt – das ist ein Teil der Propagandamaschinerie.

Sehen Sie eine Lösung für den Konflikt?

Eins meiner Lieder ist eine Tirade, in der ich alle Beteiligten, also nicht nur den indischen Zentralstaat, sondern auch die lokale Politik und die Menschen in Kaschmir beschimpfe. Als ich das Lied schrieb, hatte es noch eine Zeile, in der ich die Hoffnung zum Ausdruck brachte, dass alles gut wird. Als wir den Song aufnahmen, habe ich die Zeile weggelassen – ich konnte sie einfach nicht singen. Ich habe keine Hoffnung. Solange in Indien eine rechte Hindu-Partei das Sagen hat und Pakistan eine politische Katastrophe ist, wird sich in Kaschmir nichts ändern. Wir stecken in der Falle. ◆

AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 73
Mit der Gitarre spielt Saffudin gegen schwindende Freiräume und Propaganda an. Foto: Azadi Records

Die Unerbittlichkeit des Urteils

Unsere Tochter Reyhaneh wurde exekutiert. Wir durften sie noch ein letztes Mal besuchen. Ich sage euch: Die Schmerzen über den Verlust enden nie.« Sichtlich bewegt hörte das Publikum im Berliner Zeiss-Planetarium Shole Pakravan zu. Die seit 2017 in Deutschland lebende Schauspielerin sprach im Anschluss an die Aufführung von Mohamed Rasoulofs Spielfilm »Doch das Böse gibt es nicht« (2020).

Der Film des iranischen Regisseurs

wurde im Oktober beim Human Rights Filmfestival gezeigt – als Teil einer Reihe, die Amnesty International gemeinsam mit dem Verein Ensemble Contre la Peine du Mort (ECPM) organisierte, um den Weltkongress gegen die Todesstrafe in Berlin inhaltlich vorzubereiten.

Mohamed Rasoulof selbst sitzt derzeit – wie sein berühmter Kollege Jafar Panahi – im Teheraner Evin-Gefängnis, einer Folterstätte, in der Willkür und Gewalt herrschen. Auch Pakravans Tochter Reyhaneh war dort mehrere Jahre inhaftiert. Die Anklage warf ihr Mord vor, doch waren die Umstände des Falls mehr als fragwürdig. Die Aktenlage sei so lückenhaft gewe-

sen, dass selbst die Familie des Getöteten über die Ermittlungen erstaunt gewesen sei, berichtete Pakravan. 2009 wurde Reyhaneh zum Tode verurteilt und 2014 hingerichtet, obwohl ihre Mutter internationalen Protest organisiert hatte.

Pakravan ist eine der prominentesten Kritiker*innen der Todesstrafe im Iran. Wie aktuell ihr Kampf ist, zeigen die derzeitigen Proteste: Die iranischen Sicherheitskräfte gehen mit äußerster Brutalität gegen die regierungskritischen Demonstrationen vor. Es gab bereits Hunderte Tote, einigen Teilnehmer*innen droht die Todesstrafe.

Außer Pakravan berichteten auch die

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Für drei Tage Sonderurlaub wird der Soldat Javad zum Täter. Szene aus dem iranischen Spielfilm »Doch das Böse gibt es nicht«.
FILME GEGEN DIE TODESSTRAFE
Foto: Human Rights Filmfestival
Amnesty International und der Verein Ensemble Contre la Peine du Mort präsentierten in Berlin eine Filmreihe zum Thema Todesstrafe.
Von Jürgen Kiontke

Iranexpertin von Amnesty International Raha Bahraini sowie die Filmproduzenten Kaveh Farnam und Farzad Pak über die Situation im Iran, Raphaël Chenuil-Hazan, der Präsident von ECPM, informierte über den Kongress gegen die Todesstrafe in Berlin.

Rasoulofs Film erzählt vier Geschichten rund um die Todesstrafe und macht den Zynismus des Justizapparats deutlich – etwa, wenn ein junger Soldat für eine Exekution drei Tage Sonderurlaub erhält, um seiner Verlobten einen Heiratsantrag zu machen, oder ein Henker sich während der Exekution das Frühstück zubereitet.

Nicht weniger drastisch war der zweite Film des Programms, »Die Schwalben von Kabul« nach dem gleichnamigen Roman von Yasmina Khadra. Der Animationsfilm von Eléa Gobbe-Mévellec und Zabou Breitman spielt im Sommer 1998 in der afghanischen Hauptstadt, nach der ersten Machtergreifung der Taliban. Zunaira, die zuvor als Künstlerin gearbeitet hat, und der Lehrer Mohsen sind ein Paar. Sie wünschen sich ein Leben in Freiheit, doch der Alltag ist von Willkür und Terror der islamistischen Brigaden bestimmt. Als Mohsen bei einem Unfall stirbt, wird Zunaira des Mordes beschuldigt und inhaftiert. Nach kurzem Prozess wird die junge Frau zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung soll eine Schauveranstaltung werden: Sie findet in einem Sportstadion statt, das Fußballtor dient als Galgen. Der Gefängniswächter Atiq hat Mitleid mit der jungen Frau und entwickelt einen Plan, wie sie vielleicht zu retten ist.

Schon ein Lachen kann zur Katastrophe führen

Der Film zeigt das Leben unter der Taliban-Herrschaft mit all seinen absurden Zügen. Schon eine Kleinigkeit wie ein zu lautes Lachen kann zur Katastrophe führen. Die Aufführung des Films im Berliner Kino Colosseum war speziell für

Schüler*innen gedacht, zwei Klassen nahmen daran teil. Über das Leben unter einer Willkürherrschaft gepaart mit der Endgültigkeit eines Todesurteils diskutierten Laure Boukabza und Sarah Hajjar von ECPM mit den jungen Leuten.

Als dritter Beitrag der Reihe lief der Experimentalfilm »Execution«, den Steven Scaffidi 2006 in den USA drehte. Er ist als Film-im Film-Geschichte angelegt: Zwei junge Regisseure wollen einen Film über einen verurteilten Mörder drehen, der in sieben Tagen hingerichtet werden soll. Die beiden Männer bekommen Zugang zum Todestrakt, verstecken Kameras und filmen die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl. Indem der Film die Hinrichtung möglichst realistisch nachstellt, will er zum Nachdenken über den Wahrheitsgehalt von Bildern anregen. »Jeder, der den Film sieht, soll sich fragen, ob das Filmmaterial echt oder falsch ist«, sagte Steven Scaffidi, der nach Berlin gekommen war, um seine Arbeitsweise zu erläutern.

In den USA ließ der Regisseur für Aufführungen des Films Kinosäle in Gefängniszellen umbauen und installierte an der Wand ein Stimmungsbarometer, das die Meinung der Zuschauer*innen wiedergab. Erstaunlich waren vor allem Vorführungen in Bundesstaaten, in denen die Mehrheit der Menschen die Todesstrafe befürwortet: »Vor der Filmvorführung waren 80 Prozent der Zuschauer*innen für und 20 Prozent gegen die Todesstrafe. Danach votierten 70 Prozent gegen und nur noch 30 Prozent für Hinrichtungen.«

Die Wirkung des Films ist nicht zuletzt seinem Hauptdarsteller William Neal Moore zu verdanken. Er verbrachte tatsächlich 16 Jahre im Todestrakt wegen Mordes. Dass er schließlich freikam, geht maßgeblich auf die Familie seines Opfers zurück: Nachdem sich Moore dem Christentum zugewandt hatte, setzten sich die

Der Alltag in Afghanistan ist von Willkür und Terror bestimmt.

ebenfalls sehr religiösen Hinterbliebenen für ihn ein. Sieben Stunden vor dem Exekutionstermin wurde seine Strafe zunächst in lebenslänglich umgewandelt.

Moores Fall ist eine absolute Ausnahme, denn Todesurteile werden nur selten revidiert. Die Unerbittlichkeit der Todesstrafe behandelten die Beiträge des Kurzfilmprogramms, etwa »Last Day of Freedom« (USA 2015), der den Fall des Vietnam-Veteranen Manuel Babbitt aus der Sicht seines Bruders Bill schildert. Manuel, der an einem Stresssyndrom mit Bewusstseinsstörungen litt, wurde wegen Mordes mit der Giftspritze hingerichtet. Im Prozess war es zu Vorfällen gekommen, die eine Verurteilung eigentlich unmöglich hätten machen müssen. So gab sein Anwalt später zu, an jedem Verhandlungstag volltrunken gewesen zu sein. Der Kurzfilm »Will my Parents Come to See Me?« von Mo Harawe aus Somalia (2022) rückte das absurde Warten auf den Tod ins Zentrum, »Clean Up« (Deutschland, 2008) beleuchtete das staatliche Töten in den USA aus Sicht einer Reinigungskraft.

Das Human Rights Filmfestival präsentierte außerdem gut 30 Filme, die sich mit anderen Menschenrechtsverletzungen beschäftigen. Den Wettbewerb gewann der Dokumentarfilm »Outside« über die Situation von Rom*nja in der Ukraine. Ein Ehrenpreis ging an die iranische Menschenrechtsanwältin und Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi. Sie erhielt die Auszeichnung »stellvertretend für die zahllosen mutigen Frauen, die im Iran für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen«, wie es in der Laudatio hieß.

Spektakulär war der Eröffnungsfilm »Ithaka« (GB 2021) von Ben Lawrence über den Kampf der Familie des Wikileaks-Gründers Julian Assange um seine Freilassung. Der Film macht deutlich, welch brutale Realität hinter Assanges Einzelhaft in Großbritannien steckt. Stella Assange, Anwältin und Ehefrau von Julian, sowie sein Vater und sein Halbbruder waren zur Premiere nach Deutschland gekommen. ◆

www.humanrightsfilmfestivalberlin.de

AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 75
Foto: Arte
»Die Schwalben von Kabul«.
France

Vom Krieg erzählen –über den Krieg sprechen

Kinder- und Jugendliteratur beschäftigt sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema: vom erklärenden Sachbuch bis zum emotional packenden Jugendroman. Eine Auswahl empfehlenswerter Neuerscheinungen. Von Marlene Zöhrer

Hamburgs kreuzen und deren Schicksale Einblicke in die Nöte und die vom Krieg versehrten Seelen geben. In »Nächte im Tunnel« von Anna Woltz begegnen sich ebenfalls Kinder und Jugendliche, die sich in Friedenszeiten nie kennengelernt hätten. Während des sogenannten »Blitz«, den deutschen Luftangriffen auf Großbritannien von September 1940 bis Mai 1941, suchen sie Zuflucht in den Tunneln der Londoner U-Bahn, verbunden durch ein gemeinsames Ziel: überleben.

Einen weniger emotionalen Zugang zum Thema bietet das Sachbilderbuch »Was ist Krieg?«, das mit plakativen Grafiken und Bildern sowie klaren Aussagen und verständlich formulierten Texten über Ursachen, Folgen und Wege aus dem Krieg informiert. Die deutschsprachige Ausgabe wurde um zwei Dossiers über die Kriege in Syrien und der Ukraine erweitert.

Für Kinder im Vor- und Grundschulalter gibt es Bilderbücher, die sich dem Thema meist weniger konkret, sondern eher behutsam und hoffnungsvoll nähern. Tobias Krejtschi zeigt in »Manchmal ist da einer … der will keinen Frieden« anhand von geometrischen Formen (Quadrat und Kreis), was passiert, wenn ein Unruhestifter das friedliche Zusammenleben aus dem Gleichgewicht bringt: »Am Ende sind alle nur Verlierer.« Wobei es hier – wie auch in dem herausragenden Bilderbuch »Als der Krieg nach Rondo kam« (Amnesty Journal 04/22) –eine Aussicht auf ein friedliches und harmonisches Miteinander gibt. ◆

Nachrichten und Medienberichte über kriegerische Auseinandersetzungen gehören zum Alltag, von Erwachsenen ebenso wie von Kindern und Jugendlichen. Wegschauen oder Verdrängen ist – nicht zuletzt wegen der räumlichen Nähe des Kriegsgeschehens in der Ukraine – so gut wie unmöglich. Immer wieder stellen sich Eltern, Großeltern, Lehrer*innen die Frage, wie man über das, was Krieg für die Menschen in den Kampfgebieten bedeutet, mit Kindern ins Gespräch kommen kann. Wie Aufklärung, Auseinandersetzung und Einfühlen angeregt werden können –ohne zu überfordern oder zu verstören.

Die Kinder- und Jugendliteratur bietet vielfältige Zugänge zum Thema. Neben

Klassikern wie »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« (Judith Kerr) oder »Der erste Frühling« (Klaus Kordon) gibt es viele aktuelle Kinder- und Jugendbücher, die erklären, wie sich Kriege auswirken, und die zum Nachdenken anregen, wie eine bessere, friedlichere und gerechte Welt gelingen kann. Eindrucksvoll und ergreifend erzählen realistische Kinder- und Jugendromane individuelle Schicksale vom Erund Überleben.

Texte für Jugendliche sind häufig in der Zeit des Zweiten Weltkriegs oder in der unmittelbaren Nachkriegszeit verortet. So auch Kirsten Boies »Heul doch nicht, du lebst ja noch«, das aus der Perspektive von drei Jugendlichen eine Woche im Juni 1945 schildert: Hermann, Jakob und Traute sind drei Vierzehnjährige mit unterschiedlichen Biografien, deren Wege sich zufällig in den Trümmern

Eduard Altarriba: Was ist Krieg? Aus dem Katalanischen von Ursula Bachhausen. Beltz & Gelberg, Weinheim 2022, 48 Seiten, 15 Euro, ab 8 Jahren

Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch. Oetinger, Hamburg 2022, 176 Seiten, 14 Euro, ab 14 Jahren

Tobias Krejtschi: Manchmal ist da einer … der will keinen Frieden. ArsEdition, München 2022, 40 Seiten, 15 Euro, ab 5 Jahren Romana Romanyschyn, Andrij Lessiw: Als der Krieg nach Rondo kam. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Gerstenberg, Hildesheim 2022, 40 Seiten, 16 Euro, ab 5 Jahren

Anna Woltz: Nächte im Tunnel. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. Carlsen, Hamburg 2022, 224 Seiten, 16 Euro, ab 14 Jahren

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Zusammenrücken: 1940 suchten Menschen in der Londoner U-Bahn Schutz vor deutschen Luftangriffen.
Foto:
AP / pa

BÜCHER

Von Anatolien nach Almanya

Dinçer Güçyeter wurde in diesem Jahr mit dem Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik ausgezeichnet. Die Jury lobte seine »expressionistische Sprachwucht und feinsinnige Ambivalenz familiärer, sozialer und kultureller Verortungen«. In gleicher Weise beherrscht Güçyeter die Romanform. Sein Debüt »Unser Deutschlandmärchen« ist (s)eine Familiengeschichte, vielstimmig erzählt – auch aus der Perspektive der anatolischen Frauen, die ihn großgezogen haben.

Auf dem Protagonisten, geboren in Almanya, ruhen alle Hoffnungen. Als Migrantenkind hat er es nicht leicht. »Deutsch, eine nagelneue Sprache« steht über dem Kapitel zu seinem schweigsamen Start im Kindergarten 1984. Doch schnell wird der Knirps von seiner Familie »fast zu einem staatlich geprüften Dolmetscher erklärt. Egal wer beim Arzt, beim Rechtsanwalt, bei der Bank einen Termin hat, ich werde wie eine Aldi-Tüte mitgeschleppt.« Und er erlebt hautnah, wie seine Oma, die schon eine Pilgerreise nach Mekka unternommen hat, beim Arzt am Niederrhein alle Hüllen fallen lässt.

Mit feinem Humor führt Dinçer Güçyeter vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis fast in die Gegenwart. Das »Gastarbeiter«Kind wird Werkzeugmechaniker, liest in der Pause aber im Blaumann Nâzım Hikmet und Else Lasker-Schüler. In den großen Ferien geht es in die Türkei, den Koffer voll mit »Nussknacker«-Schokolade für die Verwandtschaft. Klischees bereichert der Autor mit poetischem Blick, spart aber Themen wie Vergewaltigung, Militärputsch oder die Mordanschläge von Mölln und Solingen nicht aus. Über die Anteilnahme deutscher Politiker*innen sagt Mutter Fatma: »Ohne Kameras betreten sie niemals deine Wohnung, ohne diese Möglichkeit der Selbstdarstellung trinken sie kein Glas Tee mit dir. Aber über dich reden, über deine Lage bestimmen, Urteile treffen, das können sie.« Zum Lachen und zum Weinen ist dieser Roman, zum Schämen, zum Hoffen – und zum Empfehlen.

Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen. Mikrotext, Berlin 2022, 216 Seiten. 25 Euro

Gegen das Vergessen Colombo im Jahr 2015. Der Bürgerkrieg ist seit sechs Jahren zu Ende – die »Tamil Tigers«, die für einen eigenen Staat im Norden Sri Lankas kämpften, sind besiegt. Doch im Bewusstsein der tamilischen Bevölkerung haben die unzähligen Toten traumatische Spuren hinterlassen. So bei Rana, die zwei Söhne verloren hat, von Albträumen heimgesucht wird und nach einem (absichtlichen?) Sturz in einen Brunnen stirbt. Für Krishan, den Protagonisten des Romans »Nach Norden«, ist der Tod der Haushälterin der Ausgangspunkt für eine Reise, die ihn nicht nur über die Insel führt, sondern auch »vom Süden des Bewusstseins in dessen nördlichste Ausläufer«.

In einem über gut 300 Seiten mäandernden Bewusstseinsstrom – von Hannes Meyer sehr fließend übersetzt – lotet der tamilische Schriftsteller Anuk Arudpragasam die Gedankenwelt des jungen Mannes aus. Seine Auseinandersetzung mit dem Krieg, sein unerfülltes Leben und seine Beziehungen zu den Frauenfiguren des Romans: Neben Rana sind dies seine Großmutter und eine ehemalige Geliebte. Die altmeisterliche Erzählweise, die auf Handlung, Dialoge oder Perspektivwechsel verzichtet und die Zeit unendlich zerdehnt, hat etwas Quälendes. Doch spiegeln sich darin der obsessive Charakter von Traumata und die Hypersensibilität der Betroffenen wider. Der Autor rückt nicht die Gewalt des Krieges in den Vordergrund, sondern ihre vielschichtigen Folgen, die selbst in späteren Generationen nachwirken – als Schuldgefühl und als Unfähigkeit, sich angemessen mit der umgebenden Welt in Beziehung zu setzen. Arudpragasam schreibt nicht zuletzt gegen das Vergessen an und ähnelt darin seinem Protagonisten. Krishan wolle die Umstände verstehen, unter denen so viele Menschen ausgelöscht wurden, heißt es an einer Stelle, »so als wollte er durch diesen Vorstellungsakt eine Art Schrein zum Gedenken all dieser anonymen Leben erschaffen«.

Anuk Arudpragasam: Nach Norden. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Berlin, Berlin 2022, 320 Seiten, 25 Euro

Ästhetischer Widerstand

»Was ist das für ein Frühling, / in dem es keine Blumen gibt / und ein ekelhafter Geruch die Luft erfüllt?« Der Dreizeiler von Shaikh Abdurraheem Muslim Dost ist Teil einer Anthologie, die Gedichte von 17 Gefangenen aus Guantánamo vorstellt. Das lyrische Thema Frühling kontrastiert der Autor mit der harten Realität, dem Gestank im Lager. Auch von Fesseln, Ketten, Käfig, Handschellen, Stahl und Eisen ist in den Gedichten oft die Rede. Dem stehen Zeilen gegenüber, die innere Unabhängigkeit (»Mein Geist schwebt frei in den Lüften«), Stolz (»Wir sind die Helden dieser Zeit«) oder Glaube (»Das Buch Gottes schenkt mir Trost«) zum Ausdruck bringen. Sehnsüchtige Töne (»Ich segle in meinen Träumen, träume von zu Hause«) wechseln sich ab mit Verzweiflung (»In dieser Farce ist man allein auf der Welt«) und Appellen (»Wo ist die Welt, um uns zu retten vor der Folter?«).

Für Herausgeber Sebastian Köthe sind die 22 Gedichte keine »autonomen Kunstwerke«, sondern ein »Überlebendenzeugnis«. In seinem Nachwort schildert er den Kontext der Haft und Folter in Guantánamo und bezeichnet die Lyrik als Teil des »ästhetischen Widerstands«, der die Häftlinge als »dialogsuchende, vernunftbegabte, politische, schönheitsliebende Menschen« zeige. Das Dichten diene der »Wiederaneignung einer Welt, die mehr ist als die sinneszersetzende Folter«. Der eingangs zitierte Dreizeiler ist ein »Bechergedicht« – so genannt, weil die Gefangenen ihre Verse mit Apfelstielen in Styroporbecher ritzten.

Die Entstehung der 2007 auf Englisch publizierten Anthologie ist erschütternd: Nur wenige Gedichte passierten die Zensur. Sie wurden von FBI-Leuten (schlecht) ins Englische übersetzt. Die deutschsprachige Ausgabe enthält zudem zwei Gedichte, von denen das arabische Original erhalten ist und die direkt ins Deutsche übersetzt wurden.

Sebastian Köthe (Hg.): Gedichte aus Guantánamo. Aus dem Englischen und Arabischen von Sandra Hetzl und Kerstin Wilsch. Matthes & Seitz, Berlin 2022, 131 Seiten, 16 Euro

AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 77
Bücher: Cornelia Wegerhoff und Wera Reusch

Hinsehen ist Pflicht

Die Journalistin Leyla (Kristin Suckow) arbeitet in einer Nachrichtenagentur und soll ihre erste investigative TV-Story drehen. Ein Thema findet sich schnell: Ihr Lebenspartner Khalil (Hadi Khanjanpour) ist Kurde. Und gerade ist die türkische Armee nach einem Anschlag ins kurdische Gebiet um die Stadt Cizre eingerückt. Der Mittelsmann Hamid (Aziz Çapkurt) spielt Khalil Videomaterial zu, das angeblich von Khalils Schwester stammt, die für die kurdischen Truppen kämpft.

Angeblich. Denn nach Khalils Wissen wurde die Schwester zusammen mit seinen Eltern in früheren Kämpfen getötet. Nun aber zeigt sich: Das Verschwinden seiner Angehörigen könnte auch zur Tarnung vorgetäuscht gewesen sein.

Leylas Nachrichtenagentur ist zunächst nicht überzeugt von der Geschichte (»Kurden? Selena Gomez hat Vorrang!«). Im Jahr 2016, in dem der Film spielt, ist Cizre kein großes Medienthema. Es gibt kaum Berichte darüber, dass die türkische Armee zivile Siedlungen bombardiert und Menschen ohne Grund inhaftiert. Khalil empfindet das als Skandal und peppt das unspektakuläre Filmmate-

rial gemeinsam mit Leyla per Tonspur auf. Tags drauf läuft es tatsächlich in der »Tagesschau«. Aber Leyla und Khalil empfinden sich nun als Kriegsteilnehmer*innen.

Florian Hoffmanns Spielfilm »Stille Post« handelt zunächst davon, wie Sensationen produziert werden. Auf einer tieferen Ebene geht es aber auch darum, ob man sich aus Kriegshandlungen überhaupt heraushalten kann. Der Lehrer Khalil, der seit vielen Jahren in Deutschland lebt und arbeitet, hatte mit seiner kurdischen Vergangenheit abgeschlossen, bis eine Exilgruppe seine private Verbindung in die Medienwelt entdeckte. »Alle Kurden sind im Krieg, manche wissen es bloß nicht«, sagt Hamid. Khalils Koordinatensystem gerät ins Rutschen, und auch Leyla erlebt eine Belastungsprobe, was die Einstellung zu ihrem Beruf betrifft.

Der komplex konstruierte Film beruht auf wahren Begebenheiten. Regisseur Hoffmann reiste 2016 selbst nach Cizre, sprach mit traumatisierten Einwohner*innen und brachte heimlich aufgenommene Handyvideos außer Landes, die Angriffe und Menschenrechtsverletzungen während der Ausgangssperre belegten. Mit Unterstützung von Amnesty International leitete er das Material an

die Vereinten Nationen weiter. Amnesty hatte zu Beginn des Krieges Ende 2015 die Verantwortlichen der türkischen Armee aufgefordert, die Grundversorgung der Bevölkerung sicherzustellen, Gesetze und Menschenrechtsstandards einzuhalten sowie unabhängige Beobachter zuzulassen. Weil dies nicht geschah, wurde die dokumentarische Arbeit privater Kameraleute umso wichtiger.

In deutschen Medien wurde kaum über die Stadt Cizre berichtet, die 79 Tage lang besetzt war. Er habe sich gefragt, warum über manche Kriege berichtet werde und über andere nicht, erklärte Hoffmann. Sein Film sei Videoaktivist*innen gewidmet, die Kriege dokumentierten, die in den regulären Medien nicht auftauchten. »Stille Post« solle »Köpfe öffnen«, sagte der Regisseur, der mit diesem Beitrag sein Studium an der Filmakademie abschloss. Der Film gewann bereits bei verschiedenen Festivals Auszeichnungen für Drehbuch und Schauspielerleistung. Hier startet ein politisch bewusster Filmkünstler mit sehenswertem Kino durch.

»Stille Post«. D 2021. Regie: Florian Hoffmann, Darsteller: Hadi Khanjanpour, Kristin Suckow. Kinostart: 15. Dezember 2022

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»Alle Kurden sind im Krieg, manche wissen es bloß nicht«. Szene aus »Stille Post«. Foto: Chromosom Film Regisseur Florian Hoffmann widmet seinen Spielfilm »Stille Post« den Dokumentarist*innen von Menschenrechtsverletzungen. Von Jürgen Kiontke

FILM & MUSIK

Jesus aus dem Lager

Der 19-jährige Edward aus Ghana lebt in einem Flüchtlingslager nahe des italienischen Dorfs Siculiana. Anfang Mai wird dort bei einer Prozession eine schwarze Jesusfigur umhergetragen. Die jahrhundertealte Tradition spricht Edward an. Wer sollte den Brauch besser verkörpern als er – ein junger schwarzer Mann?

»Black Jesus« heißt der Film, in dem Regisseur Luc Lucchesi, der selbst aus dem sizilianischen Ort stammt, diese Geschichte erzählt (siehe auch Amnesty Journal 03/2021). Die Bevölkerung von Siculiana muss sich bei den Dreharbeiten ihren eigenen Vorurteilen stellen: Nicht alle kommen damit klar, dass nun ein »realer Jesus« vor ihnen steht. Aber bald ist er ihnen lieber als die Holzfigur.

»Black Jesus« stellt gekonnt politische und kulturelle Grenzen infrage. Er überzeugte auch die Langfilm-Jury des Deutschen Menschenrechts-Filmpreises um die Kritiker*innen Anke Leweke und Simon Hauck und gewann in diesem Jahr den ersten Preis. Vier Gremien sichteten 385 Produktionen und bewerteten 39 nominierte Arbeiten unter anderem nach ihrer thematischen Relevanz. In der Sparte Kurzfilm gewann »Der lange Weg der Sinti und Roma« von Adrian Oeser, in der Kategorie Magazin der TVBeitrag »Europas Schattenarmee: Pushbacks an der kroatisch-bosnischen Grenze«.

Amnesty International und weitere zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für die Achtung und Wahrung der Menschenrechte einsetzen, veranstalteten den Wettbewerb alle zwei Jahre. Er belege, »dass der Schutz der Menschenrechte und das Eintreten für sie im wahrsten Sinn des Wortes lebenswichtig ist«, sagte Klaus Ploth vom Veranstalterkreis. Die Filmemacher*innen zeigten Mut und Beharrlichkeit in ihren Recherchen und den unbedingten Willen, Zeitzeugen des Weltgeschehens zu sein. Wie jedes Mal gehen die Filme auf Tour. Sie sind in mehreren Städten bei einer »Langen Nacht des Menschenrechtsfilms« zu sehen.

Mehr unter: www.menschenrechts-filmpreis.de

Wallende Flötenklänge Techno-Clubs wie das Berliner Berghain werden gern als Kathedralen bezeichnet, die DJs als Priester und eine durchtanzte Nacht als Gottesdienst. Tatsächlich weist das moderne Nachtleben allerhand Parallelen zu manch religiöser Praxis auf. Daher ist das, was Sine Buyuka auf ihrem neuen Album »Dua« versucht, gar nicht so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Unter dem Projektnamen Sinemis verschmilzt die Produzentin Techno mit islamischer Sufi-Musik. Dem Klangexperiment ging eine existenzielle persönliche Krise voraus. Die in Istanbul aufgewachsene und seit 2012 in London lebende Musikerin, Journalistin und Radiomoderatorin kam bei einem Besuch in der türkischen Heimat in die Notaufnahme und musste operiert werden. Während der langwierigen Rekonvaleszenz und als Reaktion darauf, dem Tod ins Auge geblickt zu haben, beschäftigte sie sich intensiv mit der Glaubensrichtung des Sufismus und der dazugehörigen Musik, die entgegen dem Klischee nicht nur im Kreis wirbelnde Derwische begleitet, sondern auch in sehr viel ruhigerer Ausprägung der Soundtrack zur Meditation ist.

Buyuka legt nicht einfach ein paar exotische Klänge über pumpende Beats aus dem Computer, sondern versucht, den spirituellen Geist der Sufi-Musik mit elektronischen Mitteln einzufangen. Dabei beschränkt sie sich nicht auf das Sampeln von Sufi-Klängen. Für »Dua« arbeitete sie mit dem bekannten türkischen Musiker Omar Faruk Tekbilek zusammen. Einige Tracks wie »The Bazaar« haben einen durchgehenden Rhythmus und sind durchaus tanzbar. Aber weitaus mehr Stücke fassen das Schwebende, Kontemplative und Innerliche der Sufi-Musik in moderne Klänge. Manchmal steht nur der Ton der Nay-Flöte majestätisch im Raum, bevor er sich unmerklich in ein elektronisches Wallen verwandelt und die Musik langsam hochsteigt in himmlische Sphären. »Dua« ist ein Album, das in jeder Kathedrale funktioniert.

Sinemis: »Dua« (Injazero Records)

Atemlos Richtung Kosmos

»Unity« beginnt mit einem großen Knall, einem Rhythmusschlag, der direkt in den Magen fährt, dann setzt die Stimme ein –und: Ist das ein Mann? Nein, es ist Nina Hagen, die schon zu Beginn ihres neuen Albums das ganze Spektrum ihrer stimmakrobatischen Möglichkeiten auffährt und in kaum einer Zeile klingt wie in der zuvor. Das 17. Album der 1955 in Ostberlin geborenen Weltallbürgerin – und ihr erstes seit elf Jahren – ist ein atemloser Ritt, der ihre gesamte Karriere vom frühen Punkrock über die Dance-Phase bis zur allgemeinen musikalischen Durchgeknalltheit samt esoterischer Botschaften widerspiegelt.

Im Titelsong verbietet Hagen zu einem schunkelnden Reggae-Rhythmus jedes negative Denken und fordert Einigkeit und gute Vibrationen, dann predigt sie den »United Women Of The World«, sie sollten die Streitigkeiten zwischen den feministischen Glaubensrichtungen endlich beilegen. Es gibt aber auch eine lustige Version des alten Bergarbeiter-Songs »16 Tons«, gefolgt von einer »Atomwaffensperrvertrag« genannten Collage aus Hagen-Redebeiträgen bei allerlei Demonstrationen (sie engagierte sich unter anderem für Heroin-Patient*innen und Psychiatrie-Opfer sowie zeitweise für die Grünen) und dem Anti-Liebeslied »Gib mir deine Liebe«, das mit der Erkenntnis aufwartet: »Beziehungskisten gehen immer zu Bruch.«

Manchmal übertreibt sie es aber auch, etwa bei »Die Antwort weiß ganz allein der Wind«, die Marlene-Dietrich-Eindeutschung des Bob-Dylan-Klassikers »Blowin’ In The Wind«. Hagen hat es in ein Kinderlied verwandelt, durch das irre futuristische Sounds zischen wie Blasen durch einen Bubble-Tea. Oder beim durch Johnny Cash unsterblich gewordenen »Redemption Day«: Wenn Nina Hagen singt, sie säße in dem Zug, der direkt zum Himmelstor fahre, dann hört man in ihrer Stimme überdeutlich, dass sie sich am liebsten viel, viel weiter in den Kosmos aufmachen würde.

Nina Hagen: »Unity« (Grönland/Rough Trade)

AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 79
Film: Jürgen Kiontke, Musik: Thomas Winkler

SCHREIBEN SIE EINEN BRIEF

Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Herkunft oder aus rassistischen Gründen inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht an dieser Stelle regelmäßig Geschichten von Betroffenen, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.

• EIRB F E GEGE N DAS VE R NESSEG

Bitte schreiben Sie bis 31. Januar 2023 höflich formulierte Briefe an den vietnamesischen Staatspräsidenten und fordern Sie ihn auf, Tran Huỳnh Duy Thuc gemäß vietnamesischem Recht unter Anwendung des Amnestiemechanismus für besondere Fälle umgehend freizulassen. Bitten Sie den Staatspräsidenten auch, dafür zu sorgen, dass Tran Huỳnh Duy Thucs Haftbedingungen bis zu seiner Freilassung den internationalen Standards für die Behandlung von Gefangenen entsprechen, dass er weder Folter noch anderen Misshandlungen ausgesetzt wird und adäquate medizinische Versorgung erhält. Tran Huỳnh Duy Thuc muss in ein Gefängnis verlegt werden, das näher an dem Wohnort seiner Familie liegt. Außerdem muss ihm Kontakt zu seiner Familie und seinen Rechtsbeiständen gewährt werden.

VIETNAM

TRAN HUỲNH

DUY THUC

Tran Huỳnh Duy Thuc verbüßt bis 2031 eine 16-jährige Haftstrafe mit anschließendem fünfjährigem Hausarrest. Er war am 20. Januar 2010 nach Paragraf 79 des vietnamesischen Strafgesetzes wegen »Aktivitäten zum Sturz der Regierung« schuldig gesprochen worden, weil er in einem Blog politische und wirtschaftliche Probleme Vietnams thematisiert hatte. Während seines Prozesses gab er an, unter Folter zu einem Geständnis gezwungen worden zu sein. Nach vietnamesischem Recht könnte in sei-

nem Fall ein Amnestiemechanismus für besondere Fälle zur Anwendung kommen, der zu seiner Freilassung führen könnte. Tran Huỳnh Duy Thuc hat im Juli 2018 und im August 2020 einen Antrag auf Erlassung der restlichen Haftzeit beim Höchsten Volksgericht gestellt. Seine Familie leitete diese Anträge auch an den Premierminister und die Nationalversammlung weiter. Der gewaltlose politische Gefangene sitzt aber weiter in Haft. Er war bereits mehrmals im Hungerstreik, was sich negativ auf seinen Gesundheitszustand ausgewirkt hat.

Schreiben Sie in gutem Vietnamesisch, Englisch oder auf Deutsch an: Staatspräsident

Nguyen Xuân Phúc

So 2 Hùng Vuong

Ngoc Ho, Ba Đình 11100 Hà Noi, VIETNAM

Fax: 00 84 - 37 33 52 56

E-Mail: webmaster@president.gov.vn (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Sozialistischen Republik Vietnam S. E. Herrn Vu Quang Minh Elsenstraße 4, 12345 Berlin

Fax: 030 - 53 63 02 00

E-Mail: sqvnberlin@t-online.de (Standardbrief: 0,85 €)

80 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023
Foto: privat

SAUDI-ARABIEN SULAIMON OLUFEMI

Dem nigerianischen Staatsbürger Sulaimon Olufemi droht in Saudi-Arabien die Hinrichtung. Er gehörte zu Hunderten Staatsangehörigen Somalias, Ghanas und Nigerias, die im September 2002 im Zuge von Massenfestnahmen nach einem Streit, der den Tod eines saudi-arabischen Polizisten zur Folge hatte, inhaftiert wurden. Im Mai 2005 wurde der damals 39-Jährige in einem unfairen und nicht öffentlichen Verfahren zum Tode verurteilt. Er gab an, während der Verhöre gefoltert worden zu sein. Während elf seiner Mitangeklagten im April 2017 aus der Haft entlassen wurden, nachdem sie ihre 15jährigen Haftstrafen verbüßt hatten, droht Sulaimon Olufemi die Vollstreckung seines Todesurteils. Die saudische Menschenrechtskommission gab 2007 bekannt, dass das gegen Sulaimon Olufemi verhängte Todesurteil sowohl vom Kassationsgericht als

KATAR HAZZA BIN ALI ABU SHURAYDA AL-MARRI UND RASHED BIN ALI ABU SHURAYDA AL-MARRI

Am 10. Mai 2022 verurteilte das Strafgericht in Doha die Brüder und Anwälte Hazza und Rashed bin Ali Abu Shurayda al-Marri in erster Instanz zu lebenslanger Haft. Hazza al-Marri hatte sich Anfang August 2021 an Protesten gegen ein Gesetz über die Wahlen zum Schura-Rat beteiligt, das Angehörige des al-Murra-Stamms diskriminiert. Der Schura-Rat berät den Emir von Katar. Am 8. August 2021 hatte er auf Twitter eine an den Emir gerichtete Videobotschaft verbreitet, in der er das neue Gesetz kritisierte. Die Brüder wurden vom Zeitpunkt ihrer Inhaftierung im August 2021 bis mindestens Ende März 2022 in Isolationshaft gehalten, was Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gleichkommt. Ihnen wird unter

Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de

auch vom Obersten Justizrat bestätigt worden sei. Somit hat Sulaimon Olufemi keine weiteren Möglichkeiten, Rechtsmittel einzulegen. Er ist nach wie vor im Gefängnis von Dhaban inhaftiert und beteuert seine Unschuld. Angesichts der Massenhinrichtungen 2022 in Saudi-Arabien ist der Einsatz für Sulaimon Olufemi dringlicher denn je.

Bitte schreiben Sie bis 31. Januar 2023 höflich formulierte Briefe an den saudischen König, in denen Sie ihn bitten, Sulaimon Olufemi nach mehr als 20 Jahren Haft zu begnadigen. Bitten Sie ihn außerdem, eine unabhängige Untersuchung der Folter- und

Misshandlungsvorwürfe einzuleiten und dafür zu sorgen, dass Sulaimon Olufemi der regelmäßige Kontakt zu einem Rechtsbeistand seiner Wahl gewährt wird.

Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an:

His Majesty King Salman bin Abdul Aziz Al Saud

The Custodian of the two Holy Mosques Office of His Majesty the King, Royal Court Riyadh, SAUDI-ARABIEN

Fax: 009 66 - 114 03 31 25

Twitter: @KingSalman (Anrede: Your Majesty / Majestät) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des Königreichs Saudi-Arabien

S. E. Herrn Essam Ibrahim H. Baitalmal Tiergartenstraße 33–34, 10785 Berlin Fax: 030 - 889 25 17

E-Mail: deemb@mofa.gov.sa (Standardbrief: 0,85 €)

anderem »Kritik und Ablehnung der vom Emir ratifizierten Gesetze und Entscheidungen«, »Unerlaubtes Einberufen und Organisieren einer öffentlichen Versammlung« sowie »Verletzung gesellschaftlicher Werte und Prinzipien« durch Online-Aktivitäten und die Nutzung Sozialer Medien zur Last gelegt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Straftaten. Die beiden Anwälte haben lediglich ihre Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahrgenommen.

Bitte schreiben Sie bis 31. Januar 2023 höflich formulierte Briefe an den katarischen Justizminister und bitten Sie ihn, die Schuldsprüche und Haftstrafen von Hazza und Rashed Bin Ali Abu Shurayda al-Marri aufzuheben und die Freilassung der beiden Brüder anzuordnen. Bitten Sie ihn auch, dafür zu sorgen, dass sie bis zu ihrer Freilassung weiterhin Kontakt zu ihren Rechtsbeiständen und Familien haben dürfen. Fordern Sie den Justizminister außerdem auf, sicherzustellen, dass die beiden Männer bis zu ihrer Freilassung ausreichend medizinisch versorgt werden.

AMNESTY INTERNATIONAL

Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de

Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: Justizminister von Katar H. E. Masoud bin Mohamed al-Ameri Ministry of Justice P.O. Box: 917 Doha, KATAR Fax: 009 74 - 40 21 53 72

E-Mail: info@moj.gov.qa (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des Staates Katar

S. E. Herrn Abdulla Mohammed S. A. Al-Thani Hagenstraße 56, 14193 Berlin

Fax: 030 - 86 20 61 50

E-Mail: berlin@mofa.gov.qa (Standardbrief: 0,85 €)

AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 81
Foto: Amnesty

In Granit gemeißelt

Die Amnesty-Gruppe in Passau ist seit mehr als 50 Jahren aktiv. Im Stadtbild hat sie die Menschenrechte sogar mit einer Stele sichtbar gemacht. Von Nina Apin

der volle Text der Präambel und aller 30 Artikel herunterladen, »eine Einladung, in Zeiten von Krieg und gesellschaftlicher Spaltung über die Bedeutung der Menschenrechte nachzudenken«, sagt Susanne Synek.

Die derzeitige Kerngruppe besteht vor allem aus eingesessenen Passauer*innen: Gottfried Rohrbach, pensionierter Psychologe, ist schon seit Ende der 1980er Jahre für Amnesty aktiv. Regina Schaffner stieß 2021 durch eine Zeitungsanzeige dazu. »Endlich habe ich es geschafft, selbst aktiv zu werden«, freut sie sich. Synek und Bettina Olschar kennen sich von ihrer Arbeit als Pharmazeutisch-Technische Assistentinnen, Olschar stellte 2009 eine Ausstellung zu den Menschenrechtsartikeln in der St. Anna-Kapelle auf die Beine. Der Domprobst persönlich half bei der Vernetzung der Aussteller*innen, von denen jede*r einen Artikel visuell umsetzte. »Das kleinstädtische Jeder-kennt-Jeden kann auch ein Vorteil sein«, findet Bettina Olschar, und Susanne Synek ergänzt: »Amnesty ist neutral, aber hier in Niederbayern ist die Kirche nun mal ein bedeutender Faktor.«

Zwischen den Barockfassaden der Passauer Altstadt zwitschern Spatzen, im Café Duftleben duftet es nach Kuchen. Die Runde, die hier zusammensitzt, gehört ebenso zum Inventar wie die kleine Tochter des Kellners, die mit gezücktem Block zwischen den Gästen umherläuft. »Sag, dass der Kirschkuchen super ist«, ruft ihr Susanne Synek hinterher. Sissy, wie sie von allen genannt wird, ist die Sprecherin der Passauer Amnesty-Gruppe, die seit 1971 besteht. Die Mitglieder treffen sich jeden ersten Freitag im Monat, um Aktionen zu besprechen und Neue willkommen zu heißen. »In letzter Zeit stockt es ein bissl«, sagt Synek und seufzt. »Ohne Anni ist es halt schwierig.«

2020 starb Anni Loderbauer, Gründerin, jahrzehntelange Bezirksvorsitzende und spirituelles Zentrum der niederbaye-

rischen Menschenrechtsszene. Aus ihrer Passauer Wohnung heraus steuerte Loderbauer Brief- und Sammelaktionen und setzte sich besonders für Menschenrechtsbildung ein. Unter anderem erwirkte sie, dass die Menschenrechte im bayerischen Lehrplan verankert wurden.

Die Gruppe hält den Gründerinnengeist mit einer aktiven Vernetzungsarbeit hoch. Zum 50-jährigen Jubiläum im November 2022 reiste der deutsche Generalsekretär Markus N. Beeko aus Berlin zum Festakt im Rathaus an und würdigte die Passauer Gruppe in seiner Rede als »leuchtenden Stern im Süden«. Amnesty ist im Stadtbild der kleinen Universitätsstadt präsent – mit Mahnwachen, Theateraufführungen, Protestaktionen und einer imposanten Granitstele mit der Inschrift »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte UNO 1948. Am 8. Juni 2022 wurde der Obelisk, der aus einem Ideenwettbewerb hervorging, im Klostergarten eingeweiht. Mittels QR-Codes lässt sich

Das nächste Projekt, ein von Künstler*innen gestalteter »Weg der Menschenrechte« auf der Landesgartenschau in Freyung 2023, geht auf die Idee eines Pfarrers zurück – für Synek, die schon ein Banner »Lass Menschenrechte erblühen« organisiert hat, ist das ganz normal. Für die Amnesty-Hochschulgruppe, die es in der Stadt zudem noch gibt, ist die Zusammenarbeit mit Kirchenkreisen aber immer wieder ein Reibungspunkt. Abdel, der sich in der Passauer Amnesty-Gruppe engagiert und seinen Nachnamen zum Schutz seiner Familie in Nordafrika nicht veröffentlichen möchte, findet den Dissens jedoch belebend. Er ist erst vor Kurzem zugezogen, zuvor war er bereits in München bei Amnesty aktiv. »Ich mag es, wie verschieden die Leute hier in Passau sind«, sagt er bei einem Spaziergang im Klostergarten und legt seine Hand auf den bayerischen Granit der Stele. »Demokratie ist immer Diskussion.« ◆

Mehr unter: amnesty-passau.de

AKTIV FÜR AMNESTY
Gesichter von Amnesty in Passau: Abdel, dessen Nachname zum Schutz seiner Familie nicht genannt wird, Gottfried Rohrbach, Bettina Olschar, Susanne Synek und Regina Schaffner (von links). Foto: Nina Apin
82 AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023

2023 – NICHTS ZU LACHEN?

Silvesterfan oder Silvestermuffel? Die einen stoßen auf die Zukunft an und »rutschen« feiernd ins neue Jahr. Sie fassen Vorsätze, machen Pläne und verbinden das neue Jahr mit Hoffnung. Andere können dem Trubel wenig abgewinnen und empfinden zum Jahreswechsel vor allem Unsicherheit; für wieder andere hat er wenig Bedeutung. Die Zahl der Silvestermuffel ist wohl größer geworden. Denn in diesem Jahr gab es nicht viel zu lachen.

Nach zwei Jahren Pandemie war Ende des Jahres 2021 die Hoffnung auf bessere Zeiten groß. Es folgten der russische Angriff auf die Ukraine, Inflation und Energieunsicherheit. Berichte über Kriegsverbrechen, über Bombenterror auf die Zivilbevölkerung, über Tod, Leid und Zerstörung gehören nun zu den Nachrichten.

Der Weltklimarat (IPCC) veröffentlichte zwei Berichte, die vor der Klimakatastrophe warnen; aber wieder hat die Weltklimakonferenz keine Kehrtwende der Politik gebracht und keine Entwarnung. Selbst von der Fußball-WM konnten sich viele nicht begeistern lassen, ist sie doch eng mit Ausbeutung und Diskriminierung verknüpft – und mit Opfern, die immer noch auf eine Entschädigung der FIFA und der katarischen Regierung warten.

Viele Menschen schauen sorgenvoll auf das kommende Jahr: Nach einem kürzlich vom Forschungsinstitut Forsa erhobenen Stimmungsbild fürchten sich 59

IMPRESSUM

Amnesty International Deutschland e.V.

Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin

Tel.: 030 - 42 02 48 - 0

E-Mail: info@amnesty.de

Internet: www.amnesty.de

Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin

E-Mail: journal@amnesty.de

Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de

Redaktion: Maik Söhler (V.i.S.d.P.), Nina Apin, Anton Landgraf, Tobias Oellig, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk, Lena Wiggers

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Markus N. Beeko, Marcel Bodewig, Laís Clemente, Elias Dehnen, Hannah El-Hitami, Oliver Grajewski, Kristina

Prozent der Menschen in Deutschland vor Naturkatastrophen im Zuge der Klimakrise, 53 Prozent vor einer Ausweitung des Kriegs in der Ukraine und 52 Prozent vor hohen Energiekosten. Und nach einer Studie vom April sorgen sich besonders junge Menschen: Sie haben Angst vor Inflation (71 Prozent), mehr Krieg in Europa (64 Prozent), Klimawandel (55 Prozent), Energieknappheit (49 Prozent) und Altersarmut (43 Prozent).

Bei so viel Zukunftsangst bekommt ein japanisches Sprichwort neue Bedeutung: »Sobald man davon spricht, was im nächsten Jahr geschehen wird, lacht der Teufel.« Sollten wir also besser kein weiteres Wort über den Jahreswechsel verlieren?

Ich bin Neujahrsfan! Nicht wegen der Silvesterparty. Mir bringt ein Jahreswechsel Zeit und Muße, um innezuhalten, Luft zu holen und zurückzuschauen. Um Dinge hinter sich zu lassen und Neues in den Blick zu nehmen. Auch ich schaue pessimistisch auf die Weltlage, aber als »hoffnungsloser Romantiker« gilt mein Blick dem Möglichen und Handlungsspielräumen – darin liegt die Hoffnung..

Getreu Hermann Hesses bekanntem Satz »jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« sammle ich Kraft und nehme mir vor, das Beste aus den Dingen zu machen, egal was kommt. Wo wenig Zuversicht ist, braucht es zumindest Zutrauen. Der Blick zurück hilft dabei, auch in diesem Jahr. So besorgniserregend viele Entwicklungen waren, so zeigen sie auch, was es im kom-

menden Jahr braucht: Klarheit und mutige Entscheidungen.

Aus Russlands Aggression sollten wir auch etwas für den künftigen Umgang mit China oder Indien lernen. Die Protestierenden im Iran brauchen von Deutschland und der internationalen Gemeinschaft konkrete und unmissverständliche Solidarität, nicht zaghafte Lippenbekenntnisse wie noch bei den Demonstrationen 2019. Aus der Fußball-WM in Katar kann folgen, dass Menschenrechte zukünftig bei der Ausrichtung von Sportgroßereignissen Beachtung finden.

Möglich, dass der Teufel bei diesen Gedanken zum Lachen ansetzt. Ich halte es mit der Kölner Band Bläck Fööss, die 1984 Umweltzerstörung, Lebensmittelknappheit und Wettrüsten besangen, aber trotzig erklärten: »Mer klävve wie d’r Düvel am Lääve, uns Kölsche nimmp keiner – ejal wat och weed – dä Spaß für ze laache, dä Bock jet ze maache.« (»Wir kleben wie der Teufel am Leben, uns nimmt keiner – egal was auch wird – den Spaß am Lachen, den Bock, was zu machen.«) ◆

Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

Hatas, Knut Henkel, Barbara Hermanns, Sead Husic, Dieter Karg, Marianne Kersten, Jürgen Kiontke, Lisa Kuner, Sabine Küper-Büsch, Felix Lill, Carl Melchers, Constantin Mende, Susanne Messmer, Katja MüllerFahlbusch, Arndt Peltner, Tigran Petrosyan, Wera Reusch, Bettina Rühl, Gilda Sahebi, Till Schmidt, Franziska Ulm-Düsterhöft, Cornelia Wegerhoff, Natalie Wenger, Thomas Winkler, Martin Zinggl, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Zeitfracht GmbH, Nürnberg Spendenkonto: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft

IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) ISSN: 2199-4587

Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

KOLUMNE: EINE SACHE NOCH
AMNESTY JOURNAL | 01/ 2023 83
Foto: Bernd Hartung / Amnesty
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