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»Eine antirassistische Suchmaschine«

Ende des Jahres 2023 soll das Archiv Ver/Sammeln online gehen. Es dokumentiert den Widerstand gegen Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus in Deutschland seit der Nachkriegszeit. Kurator Vincent Bababoutilabo erklärt, warum diese Geschichtserzählung notwendig ist.

Interview: Hannah El-Hitami

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Das Archiv Ver/Sammeln wendet sich gegen ein historisches »Masternarrativ« in Deutschland. Um was genau geht es dabei?

Gemeint ist die Erzählung von Deutschland als einer statischen Nation mit einem festen Territorium und einem homogenen Volk, das es schon immer gab. Das ist eine rassistische Erzählung, der wir uns entgegenstellen. Wir sind der Überzeugung, dass der Widerstand gegen Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus ein fester Bestandteil der Geschichte dieses Landes ist. Die, die diese Kämpfe geführt haben, Betroffene und Solidarische, haben die deutsche Gesellschaft maßgeblich positiv geprägt.

Widerstand und Kampf sind zentrale

Begriffe des Projekts. Warum?

Wir wollen aus der Perspektive der Kämpfe gegen Rassismus die Geschichte dieses Landes erzählen. Momentan ist die Erzählung von Diversität ganz klar im Trend. Es wird sehr viel davon gesprochen, wie divers und bunt wir sind. Was dabei aber verschwindet, sind die Antagonismen: die Tatsache, dass Menschen das durchgekämpft haben, dass Migrant*innen Forderungen gestellt, demonstriert und Widerstand geleistet haben. Genau das steht im Fokus unseres Projekts.

Welche Kämpfe meinen Sie?

Dieses Jahr hat sich die Anerkennung des Völkermords an den Sinti*ze und Rom*nja in Deutschland zum 40. Mal gejährt. Eine reine Diversitätserzählung deckt nicht ab, was für Kämpfe nötig waren, bis diese Verbrechen 1982 überhaupt erst als Völkermord anerkannt wurden. Die Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung der Sinti*ze und Rom*nja haben unsere Gesellschaft äußerst positiv geprägt. Ich arbeite zur Geschichte Schwarzer Menschen in Deutschland. Wenn man sich anschaut, was diese Menschen schon vor 100 Jahren gefordert haben – den Achtstundentag, Entlastungen für Arbeitslose, Zugang zu Staatsbürgerschaft, Bezahlung unabhängig von »Rasse« – dann wird klar, dass diese Kämpfe bis heute relevant sind.

Was decken Sie alles ab?

Wir versuchen, zeit- und raumübergreifend zu arbeiten. Wir blicken also in die Vergangenheit, zeigen aber auch aktuelle Kämpfe. Außerdem arbeiten wir communityübergreifend: Kämpfe finden nicht in hermetisch abgeriegelten Communities statt, sondern werden von vielen verschiedenen Personen geführt, die solidarisch zusammenarbeiten. Und schließlich wollen wir territoriale Grenzen sprengen, denn Kämpfe wurden schon immer transnational geführt. Zum Beispiel wird in Berlin schon seit mehreren Jahren für die Umbenennung kolonialrassistischer Straßennamen gekämpft. Dahinter steckt eine lange Geschichte der antikolonialen Bewegung in Deutschland. Viele Menschen versammeln sich um dieses Thema, es ist also auch communityübergreifend. Gleichzeitig findet der Kampf gegen rassistische Statuen und Denkmäler an verschiedenen Orten auf der Welt statt. In Kamerun gibt es zum Beispiel einen Aktivisten, der in dieser ehemaligen deutschen Kolonie gegen kolonialrassistische Straßennamen und Denkmäler kämpft. Das zeigt sehr schön, wie viele Menschen in diesem Kampf verbunden sind. Aber wir sehen uns auch aufgegebene Konflikte an, Linien, entlang derer Bewegungen zerbrochen sind. Ich war erstaunt darüber, wie heftig innerhalb der antirassistischen Bewegung gestritten wird.

Woher stammen die Inhalte des Archivs?

Wir haben zunächst einen Zeitstrahl mit den Kämpfen entworfen, die seit der Nachkriegszeit bis heute stattgefunden haben. Ausschlaggebend war, dass wir alle bereits zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten in antirassistischen Bewegungen aktiv waren und daher Kontakt zu Leuten haben, die eine Geschichte zu erzählen haben. Im

»Es gibt einen großen Bedarf, die eigene Geschichte zu erzählen.«

Vincent Bababoutilabo

Noch in Kästen: Ausstellung zum Archivprojekt Ver/Sammeln im Berliner Museum FHXB.

Foto: Eric Tschernow

ersten Jahr war unsere Hauptaufgabe, in die Communities zu gehen und zu fragen, wie ein antirassistisches Archiv aussehen könnte. Dabei haben wir festgestellt: Es gibt schon ganz viele Archive. Es gibt einen großen Bedarf, die eigene Geschichte zu erzählen, und an vielen Orten wird das bereits gemacht. Teile der Bürgerrechtsbewegung der Sinti*ze und Rom*nja haben zum Beispiel ein Archiv gegründet. Auch gibt es viele Archive, wo zwar nicht Antirassismus draufsteht, aber Antirassismus drin ist.

Welche Rolle spielt Ver/Sammeln in dieser Archivlandschaft?

Viele sammeln, aber wenige sind bisher vernetzt. Wir haben deshalb beschlossen, eine eher vernetzende Rolle zu übernehmen. Wir haben mit den Menschen angefangen, mit denen wir sowieso schon Kontakt hatten, und sind von dort aus in weitere Communities ausgeschwärmt. So haben wir ein Netzwerk von Gruppen aufgebaut, die Geschichten sammeln, ebenso wie von Einzelpersonen, die Privatarchive haben. Es gibt zum Beispiel Personen, die von jeder Demonstration, auf der sie waren, die Flyer aufbewahrt haben. Das brachte uns auf die Idee, eine Website zu erstellen, auf der man nach Jahreszahlen wichtig. Allerdings haben wir nicht Dutzende Übersetzer*innen, sondern nutzen ein Webtool für automatische Übersetzung. Die Übersetzungen sind gut, wenn auch nicht immer perfekt. ◆

und Begriffen suchen und so Archive finden kann, die bestimmte Kämpfe dokumentiert haben – quasi eine antirassistische Suchmaschine. Außerdem veröffentlichen wir Einblicke in Form von Interviews oder Buch-, Radio- und Videoformaten.

Was macht Ihr Team anders als bisherige Archivar*innen?

Uns ist klar, dass Archive auch Machtinstrumente sein können. Wir fragen uns ständig, was wir anders machen müssen als bestehende Archive. Unser Fokus ist, dass wir marginalisierte, bisher in Staatsarchiven nicht vorhandene Perspektiven sammeln. Wir versuchen auch immer mitzudenken, wie wir das gesammelte Wissen über antirassistische Bewegungen wieder an die momentan aktiven Bewegungen zurückgeben können. Deshalb organisieren wir unter anderem Work shops, um ältere und jüngere Aktivist*innen zusammenzubringen.

Die Website von Ver/Sammeln gibt es auf mehr als hundert Sprachen, von

Afsoomaali über Hmong bis Zulu. Warum?

Eine dominante Sprache kann auch zu Diskriminierung und Ausgrenzung führen, darum ist uns Mehrsprachigkeit sehr

versammeln-antirassismus.org

In dem Berliner Museum FHXB ist eine Aus stellung zu dem Archivprojekt Ver/Sammeln zu sehen. Weitere Informationen:

www.fhxb-museum.de

Vincent Bababoutilabo ist Musiker, Autor und Aktivist an der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik. Er lebt in Berlin und ist in zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen wie dem NSU-Tribunal oder der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD-Bund e.V.) aktiv, für die er auch als politischer Referent tätig war.

Foto: Benjamin Jenak

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