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Russischer Filmkritiker im Exil: Radio Dolin sendet noch

Radio Dolin sendet noch

Sein ganzes Berufsleben hat er dem Film gewidmet. Nun ist Anton Dolin selbst in einem Film – allerdings in einem surrealen. Der russische Kritiker musste seine Heimatstadt Moskau verlassen und lebt jetzt in einem lettischen Kurort. Von Tigran Petrosyan

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An seine Haustür in Moskau malten Unbekannte den Buchstaben Z, das Symbol des Krieges von Wladimir Putin. Die meterhohe Botschaft war unmissverständlich. Am nächs ten Tag stand der Filmkritiker Anton Dolin mit seiner Frau, den beiden Söhnen und dem Hund am Flughafen. Sie wollten zu seiner Mutter nach Frankreich ins Ferienhaus, gab Dolin bei der Grenzkontrolle an. Doch das eigentliche Ziel der Reise war das Städtchen Jūrmala in Lettland, wo bereits Freunde auf die Familie warteten.

Der größte Kurort des Baltikums, der sich über mehr als 30 Kilometer entlang der Küste erstreckt, ist vor allem bei Rus s*innen beliebt. Im Lauf mehrerer Generationen etablierte sich eine Community in der Stadt, in der zu Sowjetzeiten russische Kulturfestivals stattfanden. Zwischen modernen Privathäusern und Villen stehen noch alte, heruntergekommene ein- oder zweistöckige Holzhäuser, an deren Fassaden kaum noch lesbare Schilder hängen: »Zu verkaufen«. Nach der Annexion der Krim 2014 verfügte Lettland immer wieder Einreiseverbote für russische Künstler*innen, die dort ein Sommerhaus haben. Dolin sei jedoch immer willkommen, ließ man ihn wissen.

Der grauhaarige 46-Jährige geht mit seinem Hund fast jeden Tag am Strand von Jūrmala spazieren. Seine Panik attacken hat er inzwischen überwunden. Doch ein Gefühl der Unsicherheit begleitet ihn weiterhin. Dolin spricht mit unbewegter Miene und lächelt nie während des Gesprächs, selbst dann nicht, wenn er mit seinem Hund spricht. »In einem einzigen Augenblick wurde mir der Boden unter den Füßen weggezogen«, sagt er über seine Gefühlslage. Er fühle sich ruiniert: »Mein Beruf stellt sich als nicht sehr nützlich heraus. Mein Haus habe ich zurückgelassen, auch von meinen Gewohnheiten und meinem Alltag ist nichts übrig geblieben.« Im Gegenzug habe er jedoch das Recht auf Meinungsfreiheit gewonnen: »Ich fühle mich privilegiert, dass meine Stimme aus dem Exil gehört wird.«

Anton Dolin, der vor seinem Exil als einer der wichtigsten Filmkritiker in Russland galt, schreibt weiterhin für das unabhängige russische Medienportal Meduza, das seit 2014 seinen Sitz in Lettland hat. 247.000 Abonnent*innen hat der YouTube-Kanal Radio Dolin, auf dem er über Filme, Bücher und Theaterstücke spricht, von denen viele in Russland der Zensur unterliegen. Viele Gäste seiner Sendung stehen – wie er selbst – auf der Liste »ausländischer Agenten« des russischen Justizministeriums.

Bereits in Russland hat Dolin die Opposition immer offen unterstützt. Nach seinem Universitätsabschluss in Philologie 1997 arbeitete er für den op positionellen Radiosender Echo Moskwy. Dieser sei nie machthörig gewesen, erinnert sich Dolin, doch sei damals die

»Putin war mir als Wähler immer unsympathisch.«

Anton Dolin

Der Kritiker bei einer Aktion für die Freilassung des ukrainischen Regisseurs Oleg Senzow, Moskau, Mai 2019.

Foto: Gavriil Grigorov/TASS/pa

staatliche Repression gegenüber Medien noch nicht so stark gewesen wie heute.

Eine Apokalypse des Verschwindens

Seit seiner ersten Teilnahme an einer Wahl in den 1990er Jahren habe er für die Opposition gestimmt, »in der Regel für die Liberalen«. Nie habe er Putin gewählt oder unterstützt: »Er war mir als Wähler immer unsympathisch.« Gleichwohl habe er sich beruflich für Kulturjournalismus und gegen Politikjournalismus entschieden. Dies habe ihm ermöglicht, für staatliche Medien zu arbeiten und doch Oppositioneller zu bleiben. Zuletzt sei dieser Spagat aber nicht mehr möglich gewesen.

Um seine aktuelle Situation zu beschreiben, greift Dolin auf ein Beispiel aus seinem Metier zurück: den Spielfilm »Das Turiner Pferd« des ungarischen Regisseurs Béla Tarr. Dies sei eines der ungewöhnlichsten Werke der Kinogeschichte, das der Apokalypse gewidmet sei, erklärt er. Der Film schildert das Leben eines alten Bauern und seiner Tochter auf einem kleinen Gehöft Ende des 19. Jahrhunderts. Die Apokalypse vollzieht sich, indem das Wasser des Bachs aufhört zu fließen, das Feuer aufhört zu brennen, das Licht erlischt. Die Welt verschwindet nach und nach, bis nichts mehr bleibt. Dolin zieht einen direkten Vergleich zwischen der Filmhandlung und der gegenwärtigen Situation in Russland. »Mir scheint, dass Russland genau diesen Weg geht. Alles verschwindet nach und nach. Das gilt für Werte wie Meinungsfreiheit oder selbstbestimmtes Handeln. Es gilt für die Bereiche Kultur, Wirtschaft, Arbeit. Und schließlich auch für die Menschen, die einfach davonlaufen.«

Immer wieder werde er gefragt, was aus dem russischen Kino werden solle, berichtet Dolin, doch habe er darauf keine Antwort. »Sagen Sie mir, was mit Russland passieren wird, und ich werde Ihnen sagen, was mit dem russischen Kino passieren wird.« Auch seine eigene Zukunft ist ungewiss. »Meine Frau und ich sind Patrioten, wir wollten nie auswandern. Wir sind gezwungenermaßen gegangen und würden gerne zurückkehren. Aber wann?«

Wie lange der derzeitige politische und kulturelle Niedergang Russlands noch andauern werde, sei unklar. Auch an die Macht des Kinos will der Filmkritiker nicht mehr so recht glauben. »Im globalen Sinne kann weder der Film noch irgendeine andere Kunst etwas ändern. Das konnten sie noch nie.« Dennoch arbeitet er weiter, zumindest von der Literatur scheint er sich in der aktuellen Situation eine gewisse Wirksamkeit zu versprechen: »Ich schreibe Bücher, weil es mir ein inneres Bedürfnis ist«, sagt er. Ein Buch könne Menschen, die auf der Flucht seien und oft kein Zuhause mehr hätten, ablenken und trösten – ihnen vielleicht sogar helfen, Zusammenhänge zu verstehen.

Er habe vor Kurzem in der armenischen Hauptstadt Eriwan einen jungen Mann getroffen, der Russland verlassen habe und jetzt dort lebe, erzählt Dolin: »Er kam auf mich zu, bat mich, ein Buch von mir zu signieren, und sagte, dies sei das einzige Buch, das er mitgenommen habe. Ein größeres Kompliment kann man einem Autor wohl kaum machen.« ◆

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