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Vom Krieg erzählen – über den Krieg sprechen
Kinder- und Jugendliteratur beschäftigt sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema: vom erklärenden Sachbuch bis zum emotional packenden Jugendroman. Eine Auswahl empfehlenswerter Neuerscheinungen. Von Marlene Zöhrer
Zusammenrücken: 1940 suchten Menschen in der Londoner U-Bahn Schutz vor deutschen Luftangriffen.
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Foto: AP/pa
Nachrichten und Medienberichte über kriegerische Auseinandersetzungen gehören zum Alltag, von Erwachsenen ebenso wie von Kindern und Jugendlichen. Wegschauen oder Verdrängen ist – nicht zuletzt wegen der räumlichen Nähe des Kriegsgeschehens in der Ukraine – so gut wie unmöglich. Immer wieder stellen sich Eltern, Großeltern, Lehrer*innen die Frage, wie man über das, was Krieg für die Menschen in den Kampfgebieten bedeutet, mit Kindern ins Gespräch kommen kann. Wie Aufklärung, Auseinandersetzung und Einfühlen angeregt werden können –ohne zu überfordern oder zu verstören.
Die Kinder- und Jugendliteratur bietet vielfältige Zugänge zum Thema. Neben Klassikern wie »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« (Judith Kerr) oder »Der erste Frühling« (Klaus Kordon) gibt es viele aktuelle Kinder- und Jugendbücher, die erklären, wie sich Kriege auswirken, und die zum Nachdenken anregen, wie eine bessere, friedlichere und gerechte Welt gelingen kann. Eindrucksvoll und ergreifend erzählen realistische Kinder- und Jugend romane individuelle Schicksale vom Erund Überleben.
Texte für Jugendliche sind häufig in der Zeit des Zweiten Weltkriegs oder in der unmittelbaren Nachkriegszeit ver ortet. So auch Kirsten Boies »Heul doch nicht, du lebst ja noch«, das aus der Perspektive von drei Jugendlichen eine Woche im Juni 1945 schildert: Hermann, Jakob und Traute sind drei Vierzehnjährige mit unterschiedlichen Biografien, deren Wege sich zufällig in den Trümmern Hamburgs kreuzen und deren Schicksale Einblicke in die Nöte und die vom Krieg versehrten Seelen geben. In »Nächte im Tunnel« von Anna Woltz begegnen sich ebenfalls Kinder und Jugendliche, die sich in Friedenszeiten nie kennengelernt hätten. Während des sogenannten »Blitz«, den deutschen Luftangriffen auf Großbritannien von September 1940 bis Mai 1941, suchen sie Zuflucht in den Tunneln der Londoner U-Bahn, verbunden durch ein gemeinsames Ziel: überleben.
Einen weniger emotionalen Zugang zum Thema bietet das Sachbilderbuch »Was ist Krieg?«, das mit plakativen Grafiken und Bildern sowie klaren Aussagen und verständlich formulierten Texten über Ursachen, Folgen und Wege aus dem Krieg informiert. Die deutschsprachige Ausgabe wurde um zwei Dossiers über die Kriege in Syrien und der Ukraine erweitert.
Für Kinder im Vor- und Grundschul alter gibt es Bilderbücher, die sich dem Thema meist weniger konkret, sondern eher behutsam und hoffnungsvoll nähern. Tobias Krejtschi zeigt in »Manchmal ist da einer … der will keinen Frieden« anhand von geometrischen Formen (Quadrat und Kreis), was passiert, wenn ein Unruhestifter das friedliche Zusammenleben aus dem Gleichgewicht bringt: »Am Ende sind alle nur Verlierer.« Wobei es hier – wie auch in dem herausragenden Bilderbuch »Als der Krieg nach Rondo kam« (Amnesty Journal 04/22) –eine Aussicht auf ein friedliches und harmonisches Miteinander gibt. ◆
Eduard Altarriba: Was ist Krieg? Aus dem Katalanischen von Ursula Bachhausen. Beltz & Gelberg, Weinheim 2022, 48 Seiten, 15 Euro, ab 8 Jahren Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch. Oetinger, Hamburg 2022, 176 Seiten, 14 Euro, ab 14 Jahren Tobias Krejtschi: Manchmal ist da einer… der will keinen Frieden. ArsEdition, München 2022, 40 Seiten, 15 Euro, ab 5 Jahren
Romana Romanyschyn, Andrij
Lessiw: Als der Krieg nach Rondo kam. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Gerstenberg, Hildesheim 2022, 40 Seiten, 16 Euro, ab 5 Jahren Anna Woltz: Nächte im Tunnel. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. Carlsen, Hamburg 2022, 224 Seiten, 16 Euro, ab 14 Jahren
BÜCHER
Von Anatolien nach Almanya
Dinçer Güçyeter wurde in diesem Jahr mit dem Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik ausgezeichnet. Die Jury lobte seine »expressionistische Sprachwucht und feinsinnige Ambivalenz familiärer, sozialer und kultureller Verortungen«. In gleicher Weise beherrscht Güçyeter die Romanform. Sein Debüt »Unser Deutschlandmärchen« ist (s)eine Familiengeschichte, vielstimmig erzählt – auch aus der Perspektive der anatolischen Frauen, die ihn großgezogen haben.
Auf dem Protagonisten, geboren in Almanya, ruhen alle Hoffnungen. Als Migrantenkind hat er es nicht leicht. »Deutsch, eine nagelneue Sprache« steht über dem Kapitel zu seinem schweigsamen Start im Kindergarten 1984. Doch schnell wird der Knirps von seiner Familie »fast zu einem staatlich geprüften Dolmetscher erklärt. Egal wer beim Arzt, beim Rechtsanwalt, bei der Bank einen Termin hat, ich werde wie eine Aldi-Tüte mitgeschleppt.« Und er erlebt hautnah, wie seine Oma, die schon eine Pilgerreise nach Mekka unternommen hat, beim Arzt am Niederrhein alle Hüllen fallen lässt.
Mit feinem Humor führt Dinçer Güçyeter vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis fast in die Gegenwart. Das »Gastarbeiter«Kind wird Werkzeugmechaniker, liest in der Pause aber im Blaumann Nâzım Hikmet und Else Lasker-Schüler. In den großen Ferien geht es in die Türkei, den Koffer voll mit »Nussknacker«-Schokolade für die Verwandtschaft. Klischees bereichert der Autor mit poetischem Blick, spart aber Themen wie Vergewaltigung, Militärputsch oder die Mordanschläge von Mölln und Solingen nicht aus. Über die Anteilnahme deutscher Politiker*innen sagt Mutter Fatma: »Ohne Kameras betreten sie niemals deine Wohnung, ohne diese Möglichkeit der Selbstdarstellung trinken sie kein Glas Tee mit dir. Aber über dich reden, über deine Lage bestimmen, Urteile treffen, das können sie.« Zum Lachen und zum Weinen ist dieser Roman, zum Schämen, zum Hoffen – und zum Empfehlen.
Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen. Mikrotext, Berlin 2022, 216 Seiten. 25 Euro
Gegen das Vergessen
Colombo im Jahr 2015. Der Bürgerkrieg ist seit sechs Jahren zu Ende – die »Tamil Tigers«, die für einen eigenen Staat im Norden Sri Lankas kämpften, sind besiegt. Doch im Bewusstsein der tamilischen Bevölkerung haben die unzähligen Toten traumatische Spuren hinterlassen. So bei Rana, die zwei Söhne verloren hat, von Albträumen heimgesucht wird und nach einem (absichtlichen?) Sturz in einen Brunnen stirbt. Für Krishan, den Protagonisten des Romans »Nach Norden«, ist der Tod der Haushälterin der Ausgangspunkt für eine Reise, die ihn nicht nur über die Insel führt, sondern auch »vom Süden des Bewusstseins in dessen nördlichste Ausläufer«.
In einem über gut 300 Seiten mäandernden Bewusstseinsstrom – von Hannes Meyer sehr fließend übersetzt – lotet der tamilische Schriftsteller Anuk Arudpragasam die Gedankenwelt des jungen Mannes aus. Seine Auseinandersetzung mit dem Krieg, sein unerfülltes Leben und seine Beziehungen zu den Frauen figuren des Romans: Neben Rana sind dies seine Großmutter und eine ehemalige Geliebte. Die altmeisterliche Erzählweise, die auf Handlung, Dialoge oder Perspektivwechsel verzichtet und die Zeit unendlich zerdehnt, hat etwas Quälendes. Doch spiegeln sich darin der obsessive Charakter von Traumata und die Hypersensibilität der Betroffenen wider. Der Autor rückt nicht die Gewalt des Krieges in den Vordergrund, sondern ihre vielschichtigen Folgen, die selbst in späteren Generationen nachwirken – als Schuldgefühl und als Unfähigkeit, sich angemessen mit der umgebenden Welt in Beziehung zu setzen. Arudpragasam schreibt nicht zuletzt gegen das Vergessen an und ähnelt darin seinem Protagonisten. Krishan wolle die Umstände verstehen, unter denen so viele Menschen ausgelöscht wurden, heißt es an einer Stelle, »so als wollte er durch diesen Vorstellungsakt eine Art Schrein zum Gedenken all dieser anonymen Leben erschaffen«.
Anuk Arudpragasam: Nach Norden. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Berlin, Berlin 2022, 320 Seiten, 25 Euro
Ästhetischer Widerstand
»Was ist das für ein Frühling, / in dem es keine Blumen gibt / und ein ekelhafter Geruch die Luft erfüllt?« Der Dreizeiler von Shaikh Abdurraheem Muslim Dost ist Teil einer Anthologie, die Gedichte von 17 Gefangenen aus Guantánamo vorstellt. Das lyrische Thema Frühling kontrastiert der Autor mit der harten Realität, dem Gestank im Lager. Auch von Fesseln, Ketten, Käfig, Handschellen, Stahl und Eisen ist in den Gedichten oft die Rede. Dem stehen Zeilen gegenüber, die innere Unabhängigkeit (»Mein Geist schwebt frei in den Lüften«), Stolz (»Wir sind die Helden dieser Zeit«) oder Glaube (»Das Buch Gottes schenkt mir Trost«) zum Ausdruck bringen. Sehnsüchtige Töne (»Ich segle in meinen Träumen, träume von zu Hause«) wechseln sich ab mit Verzweiflung (»In dieser Farce ist man allein auf der Welt«) und Appellen (»Wo ist die Welt, um uns zu retten vor der Folter?«).
Für Herausgeber Sebastian Köthe sind die 22 Gedichte keine »autonomen Kunstwerke«, sondern ein »Überlebendenzeugnis«. In seinem Nachwort schildert er den Kontext der Haft und Folter in Guantánamo und bezeichnet die Lyrik als Teil des »ästhetischen Widerstands«, der die Häftlinge als »dialogsuchende, vernunftbegabte, politische, schönheitsliebende Menschen« zeige. Das Dichten diene der »Wiederaneignung einer Welt, die mehr ist als die sinneszersetzende Folter«. Der eingangs zitierte Dreizeiler ist ein »Bechergedicht« – so genannt, weil die Gefangenen ihre Verse mit Apfelstielen in Styroporbecher ritzten.
Die Entstehung der 2007 auf Englisch publizierten Anthologie ist erschütternd: Nur wenige Gedichte passierten die Zensur. Sie wurden von FBI-Leuten (schlecht) ins Englische übersetzt. Die deutschsprachige Ausgabe enthält zudem zwei Gedichte, von denen das arabische Original erhalten ist und die direkt ins Deutsche übersetzt wurden.
Sebastian Köthe (Hg.): Gedichte aus Guantánamo. Aus dem Englischen und Arabischen von Sandra Hetzl und Kerstin Wilsch. Matthes & Seitz, Berlin 2022, 131 Seiten, 16 Euro