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Erinnerung an Völkermord: Srebrenica überlebt
Srebrenica überlebt
Wie ein Schleier legt sich der Schmerz über den Verlust von Verwandten und Freunden auf seine Erinnerungen. Und doch kann Hasan Hasanović über den Völkermord von 1995 in Bosnien-Herzegowina eindrucksvoll erzählen. Von Till Schmidt
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Hasan Hasanović
Die weißen Stelen vermehren sich langsam auf dem Friedhof. Etwa 7.000 sind es derzeit, und immer wieder kommen neue hinzu. Der Ort, an dem sie stehen, heißt Potočari, nur wenige Kilometer entfernt von Srebrenica, im Osten von Bosnien-Herzegowina – ein blutgetränkter Landstrich. 1995 ermordeten dort die serbischbosnische Armee und serbische Milizionäre binnen weniger Tage 8.000 bosniakische Jungen und Männer – vor den Augen der UN-Blauhelme, die in und um Srebrenica »Schutzzonen« eingerichtet hatten, das Massaker jedoch nicht ver hinderten und ahnten, was geschah. Der Genozid gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
Hasan Hasanović stammt aus einem nahegelegenen Dorf und überlebte den Völkermord als 19-Jähriger. Er war Teil einer Kolonne, die nach der Eroberung Srebrenicas aufbrach, um zu entkommen. Sechs Tage lang war er unterwegs und legte 120 Kilometer durch serbisch kontrolliertes Gebiet zurück. Die meisten der etwa 15.000 Flüchtenden wurden auf diesem »Todesmarsch von Srebrenica« ermordet.
Seine Geschichte erzählt Hasan Hasa nović in »Srebrenica überleben«, einem Buch, das 2016 auf Englisch erschien und nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Der Bericht ist in einem knappen, mitunter fast protokollarischen Stil verfasst und vermeidet jedes Pathos – »Srebrenica überleben« ist ein bescheidenes Buch.
Zwar steht das eigene Erleben des Autors im Zentrum der chronologischen Schilderung, doch ist zu spüren, wie er damit ringt, anderen Überlebenden und den Ermordeten ebenfalls Raum zu geben.
Der Schmerz über den Verlust von Verwandten, Freunden und ihm unbekannten Menschen liegt wie ein Schleier auf den Erinnerungen. Gerade als Abwesende sind sie immer wieder anwesend.
Hasan Hasanović wuchs in dem Dorf Sulice in einfachen Verhältnissen auf, bevor seine Familie nach Bratunac zog und dort ein Haus baute. Damals bemerkte er, dass die Polarisierung zwischen Bos ni ak*in nen und Serb*innen zunahm – im politischen, aber auch im alltäglichen Leben. So besuchte man zum Beispiel getrennte Bars und Cafés. Es war »nur noch eine Frage der Zeit, bis der Krieg ausbrechen würde«, schreibt Hasanović im Rückblick.
Kurz nach Beginn des Kriegs flüchtete Hasanovićs Familie aus Bratunac. Teils gemeinsam, teils getrennt, schlugen sie sich durch die Wälder der Region, während in der Ferne die Geräusche des Krieges zu hören waren. Immer wieder erhielten sie Informationen über ermordete Verwandte und Freunde sowie über die Zerstörung von Dörfern, die sie kannten. Von 1992 bis 1995 lebten die Hasanovićs in Srebrenica, wohin immer mehr Bosniak*innen geflüchtet waren.
Regelmäßig bombardierte das serbische Militär die Stadt, in der Nahrungsmittel und Hygieneartikel immer knapper wurden. »Jeder versuchte einfach nur, den Krieg irgendwie zu überleben«, erinnert sich Hasanović. Trotz gelegentlicher Lebensmittellieferungen »sprach man nur über den Hunger. Wir alle waren abgemagert und bleich.« Überall Erinnerungen
Auch nach Beginn der »UN-Schutzmaßnahmen« war das Alltagsleben voller Entbehrungen. Abwechslung boten die Fußballweltmeisterschaft, Musik, aber auch Angebote religiöser Gemeinschaften. So besuchte Hasanović einen Arabisch-Kurs, um den Koran in der Originalsprache lesen zu können. Eine solidarische Leidensgemeinschaft seien die Eingeschlossenen allerdings nicht gewesen. Im improvisierten Kino musste der Eintritt mit Zigaretten bezahlt werden, und die waren rar. Auch die Hasanovićs sahen sich gezwungen, andere Hungernde an ihrer Haustür abzuweisen.
Nach dem widerstandslosen Fall Srebrenicas im Juli 1995 suchten die Mutter und der jüngere Bruder des Autors Schutz bei einem niederländischen UN-Bataillon in Potočari, während er selbst, sein Zwillingsbruder Husein, sein Vater Aziz und sein Onkel Hasan sich einer Kolonne anschlossen, um aus der Stadt zu gelangen. Den Fußmarsch beschreibt Hasanović als einen surrealen, tranceartigen Zustand: »Jeden Tag frage ich mich aufs Neue, woher ich damals die Kraft nahm«, erinnert er sich.
Irgendwann bemerkte der 19-Jährige, dass er den Kontakt zu seinen drei Familienangehörigen verloren hatte: »Ich wollte warten und nach ihnen suchen, aber ich wusste, dass ich getötet würde, wenn ich stehen bleibe – und so rannte ich einfach weiter.« Er schlug sich allein durch, versteckte sich unter dem dröhnenden Lärm der Artillerie in Wäldern und in einem Fluss. »Bis heute weiß ich nicht, was genau mit meinem Vater, meinem Zwillingsbruder und meinem Onkel passiert ist – wie und wo sie ermordet wurden«, berichtet Hasanović. Dieser Gedanke quäle ihn seither und hole ihn immer wieder ein, wenn er durch Srebrenica spaziere. Viele Gebäude, Straßen, ja selbst Bäume lösten Erinnerungen aus.
Hasanović beschreibt auch, wie schwer es ihm jahrelang fiel, über das Geschehene und seine Gedanken zu sprechen. »Die meisten Überlebenden sind sehr arm und haben nie psychologische Unterstützung erhalten«, erzählt er. Auch gebe es keine Selbsthilfeorganisationen. Sein Buch zu schreiben, fiel ihm nicht leicht: »Ich erinnere mich lebhaft, wie ich nach wenigen Seiten immer wieder pausieren musste.«
Seit 2009 arbeitet Hasanović im Srebrenica Genocide Memorial in Potočari. Zusammen mit einem Kollegen führt er Video-Interviews mit Überlebenden, um diese mithilfe der Shoah Foundation zu archivieren. In gewisser Hinsicht ist auch sein eigenes Buch ein Beitrag dazu. ◆
HASAN HASANOVIĆ
Hasan Hasanović, geboren 1975, ist Überlebender des Völkermords von Srebrenica, bei dem er seinen Vater, seinen Bruder und seinen Onkel verlor. Nach dem Krieg absolvierte er ein Studium der Kriminalwissenschaften in Sarajevo. Eine Promotion zum Thema internationale Strafgerichtsbarkeit soll ab 2023 folgen. Heute ist Hasanović Kurator der Völkermord-Gedenkstätte Potočari und leitet dort ein Oral-HistoryProjekt (https://srebrenicamemorial.org/en). Er lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Srebrenica.
Hasan Hasanović: Srebrenica überleben. Mit einem Vorwort von Keno Verseck. Aus dem Englischen übersetzt von Filip Radunović. Wallstein, Göttingen 2022, 104 Seiten, 16 Euro
WAS SAGT AMNESTY EIGENTLICH ZU PFLICHTVERTEIDIGUNG IN DER ABSCHIEBEHAFT?
Amnesty fordert gemeinsam mit rund 50 anderen Menschenrechtsorganisationen Pflichtverteidiger*innen für Asylsuchende während der Abschiebungshaft in Deutschland. Damit soll das Recht der Betroffenen auf ein faires Verfahren gewährleistet werden.
In der Abschiebungshaft wird einer Person die Freiheit entzogen, ohne dass sie eine Straftat begangen hat. Die Haft sichert lediglich die Abschiebung, also den Vollzug eines Verwaltungsaktes. Mit diesem Freiheitsentzug wird massiv in die Grundrechte der betroffenen Person eingegriffen. Deshalb werden an einen Haftbeschluss hohe formale und inhaltliche Anforderungen gestellt. »Diesen Anforderungen wird die Praxis in der Abschiebungshaft häufig nicht gerecht«, kritisieren die Menschenrechtsorganisationen. Verlässliche Schätzungen gehen von rund 50 Prozent fehlerhaften Inhaftierungen aus. »Bei einer derart hohen Fehlerquote drohen rechtsstaatliche Grundsätze ihre generelle Gültigkeit zu verlieren«, mahnen die Organisationen.
Eine Ursache für die fehlerhaften Inhaftierungen liege darin, dass die Betroffenen oftmals mittellos seien und es ihnen an Kenntnissen des Rechtssystems sowie der Sprache fehle. Damit könnten sie sich keinen professionellen Beistand organisieren, um vor Gericht die Chance zu haben, ihre Grundrechte zu verteidigen. Um hier Fairness herzustellen, brauche es eine Pflichtbeiordnung von Anwält*innen, fordern Amnesty und die anderen Organisationen.
Die Pflichtverteidigung gibt es unter bestimmten Umständen bereits in strafprozessrechtlichen Verfahren. Etwa wenn die Straftaten rechtlich kompliziert zu bewerten oder hohe Strafen zu erwarten sind.
DAS STECKT DRIN: ORANGENSAFT
Der beliebteste Saft in Deutschland ist Orangensaft. Durchschnittlich 6,9 Liter trinkt jede*r Deutsche pro Jahr. Mehr als 90 Prozent des Orangensafts, der in die Europäische Union eingeführt wird, stammt aus Brasilien. Das Land baut weltweit die meisten Orangen an, im Jahr 2020 waren es mehr als 16,7 Millionen Tonnen.
NGOs beklagen zahlreiche
Menschenrechtsverletzun-
gen auf den Orangenplantagen der marktbeherrschenden Unternehmen in Brasilien. Die Beschäftigten erhalten demnach zu geringe Löhne, die teils sogar unter dem brasilianischen Mindestlohn liegen. Gesundheits-
schutz und Arbeitssicherheit
sind unzureichend. Mancherorts gibt es keinen Zugang zu sanitären Anlagen. Noch im Jahr 2020 wurden Fälle dokumentiert, in denen Beschäftigte unter sklavereiähnlichen Bedingungen arbeiten mussten. Sie waren durch Schuldknechtschaft an die Plantagen gebunden und erhielten keinen regulären Lohn.
Hinzu kommen Umweltbelastungen durch den starken Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf den Plantagen. Die
Pestizide gefährden die Ar-
tenvielfalt und die Trink-
wasserversorgung der Menschen in den Anbaugebieten.
Was tun? Zertifizierten Orangensaft aus fairem
Handel kaufen. Dessen Erzeuger- und Handelsunternehmen haben sich verpflichtet, die Menschenrechte entlang der Lieferkette einzuhalten.
Quellen: U.S. Department of Agriculture’s Foreign
Agricultural Service, Ernährungs- und Landwirtschafts organisation der UNO (FAO), Verband der deutschen Fruchtsaft-Industrie, Christliche Initiative Romero, Repórter Brasil Foto: grey_and/shutterstock
Die Organisation Freedom House hat 2022 die Freiheit des Internets in weltweit 70 Staaten untersucht und daraus den Freedom on the Net Index erstellt. Danach ist der Zugang zum Internet in den 21 hervorgehobenen Ländern am stärksten beeinträchtigt. Am schlechtesten schneidet China mit nur zehn von 100 möglichen Punkten ab. Besonders stark verschlechtert hat sich die Lage in Russland mit einem Minus von sieben Punkten im Vergleich zum Vorjahr. Mittel staatlicher Repression sind zum Beispiel das zeitweise Abschalten des Internets, die Blockade ausländischer Websites, blockierte Online-Netzwerke, Beschränkungen für Umgehungstechnologien und neue Gesetze zur Beschränkung ausländischer Websites und Inhalte.
Quelle: Freedom House 2022
BESSER MACHEN: BILDUNG
Die UNO warnt vor einer weltweiten Bildungskrise. Im Jahr 2021 konnten 244 Millionen Kinder weltweit nicht zur Schule gehen. Derzeit sind es geschätzt mehr als 78 Millionen. Extrem gefährdet ist die Bildung von Kindern in Afghanistan, Sudan, Somalia und Mali. Zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht der Organisation Save the Children, der die Bildungssituation in 182 Ländern untersucht hat. Im Vergleich zum Vorjahr sei zwar die Zahl der extremen Risikoländer von acht auf vier gesunken, doch sei das Recht der Kinder auf Bildung in vielen Ländern stark gefährdet. Sieben der zehn am stärksten betroffenen Länder liegen auf dem afrikanischen Kontinent. Die Autor*innen der Studie sehen die Ursachen der Bildungskrise neben der Covid-19-Pandemie in der globalen Hungerkrise infolge von bewaffneten Konflikten, gestiegenen Lebensmittelpreisen sowie Wetterextremen. Die Konsequenzen für Kinder, die nicht zur Schule gehen, sind dramatisch. Sie leiden häufiger unter Hunger, Gewalt und Missbrauch und werden zu Kinderarbeit und Frühverheiratung gezwungen. Besonders betroffen sind Mädchen und Kinder, die in Ländern mit niedrigem Einkommen, in Geflüchtetenlagern und Kriegsgebieten leben. Die UNO ruft die internationale Gemeinschaft dazu auf, mindestens 1,5 Milliarden US-Dollar für den globalen Bildungsfonds in Notsituationen und Langzeitkrisen (»Education cannot wait«, ECW) bereitzustellen. Mit dem Geld soll der Fonds bis 2026 finanziert werden. Im Februar 2023 findet eine entsprechende Geberkonferenz statt.
IRAN: SCHLUSS MIT DER GEWALT GEGEN DEMONSTRIERENDE
Seit dem Tod Jina Mahsa Aminis im September 2022 demons trieren täglich Tausende Menschen im Iran für Menschenrechte. Die Behörden reagieren mit teils tödlicher Gewalt, Festnahmen und der Todesstrafe. Werde aktiv, fordere ein Ende der Menschenrechtsverletzungen im Iran!