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Zivilgesellschaft in der Türkei: Ein großes Gefängnis
Ein großes Gefängnis
Der türkische Staat schränkt die Freiheiten seiner Bürger*innen zunehmend ein. An zentralen Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft werden Exempel statuiert. Von Sabine Küper-Büsch, Istanbul
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Auf dem Istanbuler TaksimPlatz ist die Polizei seit dem Bombenanschlag am 13. November noch präsenter als ohnehin schon. An jenem Tag wurden auf der nahe gelegenen Flaniermeile İstiklal Caddesi sechs Menschen getötet und mehr als 80 Passan t*in nen verletzt. Nun patrouillieren dort Polizeikräfte in Zivil, zu erkennen an ihren Walkie-Talkies. Seitdem im Sommer 2013 Millionen Istanbuler*innen im benachbarten Gezi-Park gegen den Bau einer Kaserne im osmanischen Stil protestierten, die Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan dort errichten lassen wollte, ist der Taksim-Platz das am besten bewachte Gebiet der türkischen Metropole.
Die damaligen Tage des zivilen Ungehorsams erschienen heute unwirklich, würden nicht chronisch ungehorsame Istanbuler*innen immer wieder mit Graffiti an den sogenannten Gezi-Gerichtsprozess erinnern: »Freiheit für Osman Kavala« steht an einer Hauswand. Der Geschäftsmann und Kulturmäzen wurde am 25. April 2022 wegen »versuchten gewaltsamen Umsturzes der türkischen Regierung« zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt. Nach Ansicht des Gerichts hatte er die GeziProteste organisiert. Neben Kavala wurden sieben weitere prominente Mitglieder der Zivilgesellschaft zu jeweils 18 Jahren Haft verurteilt, darunter Wissenschaftler*innen, Architekt*innen, Filmemacher*innen. »Der Prozess war eine Farce«, sagt Tarık Beyhan, Direktor für Menschenrechtskampagnen von Amnesty International in Istanbul. Bereits 2019 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die sofortige Freilassung Kavalas gefordert, weil die Anschuldigungen nicht ausreichend bewiesen seien. »Die Türkei ist mittlerweile ein großes Gefängnis«, stellt Beyhan fest. Die Kriminalisierung der Zivilgesellschaft sei an der Tagesordnung, das Rechtssystem werde systematisch instrumentalisiert. Im Oktober 2022 weitete die türkische Regierung die Einschränkungen der Medienfreiheit auf die Online-Netzwerke aus. Mit der Verabschiedung des »Desinformationsgesetzes« drohen Journalist*innen und Nutzer*innen von Online-Netzwerken Haftstrafen bis zu drei Jahren, wenn sie Informationen verbreiten, die die Regierung als falsch bezeichnet.
Seit der Niederschlagung eines Putschversuches im Jahr 2016, für den die türkische Regierung die sogenannte Gülen-Bewegung verantwortlich macht, werden Oppositionelle wahlweise beschuldigt, der kurdischen PKK oder der GülenBewegung anzugehören. Nach dem Putschversuch hatte die Türkei den Ausnahmezustand verhängt und die Europäische Menschenrechtskonvention ausgesetzt. Es kam zu Massenverhaftungen und Massenentlassungen in Armee, Polizei, Justiz und im Bildungswesen. Die Behörden nutzten den Ausnahmezustand, um Demonstrationen zu verbieten und exzessive Polizeigewalt gegen Demonstrierende zu rechtfertigen.
Über tausend Nichtregierungsorga nisationen wurden verboten. Betroffen waren vor allem Organisationen in den überwiegend kurdisch besiedelten Gebieten im Südosten der Türkei. Diese Repression gegen die Zivilgesellschaft dauert weiter an. So läuft aktuell ein Verbots verfahren gegen eine der wichtigsten Frauen organisationen, die die weit verbreitete Gewalt gegen Frauen sowie Femizide dokumentiert.
Seit der Einführung des Präsidialsystems 2018, das Präsident Erdoğan umfassende politische Macht verleiht, habe sich die Willkür noch verschärft, sagt Amnesty-Direktor Beyhan. Gesetze zur sogenannten Bekämpfung von Terrorismus und von Aktivitäten, die der Staat als Bedrohung einschätzt, werden als Mittel der Repression eingesetzt. »Einzelne Persönlichkeiten werden exemplarisch festge-
Anwältin Eren Keskin
Der Taksim-Platz im Juni 2013: Millionen Istanbuler*innen protestierten gegen ein Bauvorhaben der Regierung.
Foto: Ed Ou/The New York Times/Redux/laif
nommen und angeklagt«, sagt Beyhan. Auf der Roten Liste des Innenministeriums, die Terrorverdächtige verzeichnet, finden sich auf den ersten fünf Seiten ganze fünf Mitglieder der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die sich zu den meisten Anschlägen in der Türkei bekennt. Vor allem aber werden Menschenrechtsaktivist*innen bezichtigt, Terror organisationen anzugehören oder diese zu unterstützen.
Haft für kritische Online-Posts
So wurden 2017 der Rechtsanwalt und Ehrenpräsident der türkischen Sektion von Amnesty International, Taner Kılıç, und kurz darauf zehn weitere Menschenrechtsaktivist*innen festgenommen, die an einer Schulung in Istanbul teilgenommen hatten. Kılıç saß 14 Monate in Untersuchungshaft und wurde am 3. Juli 2020 in Istanbul zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, weil er angeblich Mitglied einer Terrororganisation sei. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte am 31. Mai 2022 fest, dass Kılıç rechtswidrig und willkürlich inhaftiert war und das Verfahren gegen ihn mit seiner Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger zusammenhänge. Das oberste Berufungsgericht der Türkei hob das Urteil unter anderem gegen Kılıç Ende November zwar auf, verwies es jedoch zurück an die erste Instanz (siehe Seite 8). Damit ist die willkürliche Verfolgung immer noch nicht zu Ende, kritisiert Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty Deutschland.
Die Anwältin Eren Keskin, Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins der Türkei (IHD), hält einen traurigen Rekord: Wegen angeblicher Verbindungen zu Terrororganisationen wurden 243 Verfahren gegen sie eingeleitet. »Alle Anklagen beziehen sich auf die Zeit, als ich Herausgeberin der pro-kurdischen, mittlerweile verbotenen Tageszeitung Özgür Gündem war«, sagt die Juristin. Auf dem Boden ihres Büros liegt ein Bericht über Manipulationen in der Gerichtsmedizin und gezielte sexuelle Gewalt gegen Frauen in Haft. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Akten. Es sind vor allem Fälle von Oppositionellen, denen wegen ihrer politischen Tätigkeit Terrorismus vorgeworfen wird. Keskin selbst wurde im Lauf der Zeit zu insgesamt 26 Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. »Bislang musste ich die Haftstrafen nicht antreten, ich könnte aber jederzeit festgenommen werden«, sagt sie. Seit sechs Jahren darf sie nicht mehr ausreisen. Außerdem wurden Geldstrafen von insgesamt fast 40.000 Euro gegen sie verhängt. Begleicht sie diese nicht, muss Keskin die Haftstrafen antreten. Die Summen übersteigen die finanziellen Möglichkeiten der Menschenrechtsanwältin bei Weitem. »Meine Anwälte haben Ratenzahlungen vereinbaren können, die wir teilweise mit Unterstützung von internationalen Menschenrechtsorganisationen abstottern.«
Während Oppositionelle wie Keskin festgenommen und kriminalisiert werden, übt die türkische Regierung große Toleranz gegenüber Gewalt und Aggression ihrer eigenen Anhänger*innen. »Alle Mitglieder unserer Büros erhalten Morddrohungen«, sagt die Juristin. »Wir zeigen die gar nicht mehr an, weil ohnehin nichts passiert.« Keskin wirkt gefasst und kein bisschen eingeschüchtert. Anders könnte sie die momentane Situation vermutlich auch gar nicht aushalten. ◆
VOM RECHT, NICHT ZU TÖTEN
Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht, doch die Teilmobilisierung in Russland zwingt viele Männer an die Waffe. Alexander Belik hat schon vor vielen Jahren seinen Wehrdienst verweigert und hilft seitdem allen, die es ihm gleichtun wollen. Von Hannah El-Hitami
Alexander Belik hat noch nie verstanden, warum er Militärdienst leisten sollte. »Ich habe das als einen Job gesehen, für den Leute bezahlt werden, die ihn machen wollen«, sagt der 25-jährige im Video-Interview. »Und ich möchte ihn eben nicht machen.« Zudem habe er homofeindliche Übergriffe gefürchtet. »Die russische Armee ist kein sicherer Ort für LGBTI+.«
Belik, schlank, mit kinnlangem Haar, das er locker hochgesteckt trägt, koordiniert die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer in Russland. Zwei Jahre könnte er noch zum Wehrdienst eingezogen werden, dann ist er 27 und davon befreit. Doch momentan ist er für das russische Militär nicht erreichbar, denn seit einigen Monaten lebt Belik in Estlands Hauptstadt Tallinn.
Eigentlich ist es in Russland nicht so schwierig, den Wehrdienst zu verweigern, denn als Alternative gibt es einen Zivildienst. Bis vor Kurzem habe man sich ohnehin keine großen Gedanken um die Einberufung machen müssen, sagt Belik: »Meistens vergessen sie dich, und du kannst sie auch vergessen, bis du 27 bist und dir die Befreiung holst.« Belik entschied sich aber für den Weg der Konfrontation – er wollte offiziell verweigern: »Ich machte ihnen klar, dass ich ein Unruhestifter bin«, erzählt er.
Seit seiner Musterung im Alter von 18 Jahren erschien er bei der Musterungsbehörde stets mit Kamera und filmte alles. Er schreibe Beschwerden, melde Fehlverhalten der Behörde an das Verteidigungsministerium. »Sie haben Angst vor mir«, sagt er mit einem Lächeln. »Denn ich kenne jedes Gesetz, dem sie unterliegen.« Vier Jahre lang hat Belik in St. Petersburg Jura studiert. Doch das Wissen, das er als Kriegsdienstverweigerer und Aktivist benötige, lerne man nicht im Studium, sagt er. Das habe er sich dank seiner Menschenrechtsarbeit selbst angeeignet.
Diese führt er nun aus dem Ausland fort: Er unterstützt andere Russen dabei, sich dem Militärdienst zu entziehen. Belik gibt Tipps und verteilt Anleitungen. »Man muss viele Stellungnahmen schreiben, und wir zeigen, wie die aussehen müssen«, sagt Belik. Auf ihrer Website haben er und seine Mitstreiter*innen Materialien und Vordrucke gesammelt. Regelmäßig machen sie Live-Beratungen auf YouTube, klären Menschen über ihre Möglichkeiten auf. »Das sind nicht alles Pazifisten«, sagt Belik. »Viele verweigern, weil sie gegen das Putin-Regime sind und es nicht unterstützen wollen.«
Unmittelbar nach der Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 habe sich die Anzahl der Personen verdoppelt, die den Kriegsdienst verweigern und dafür Beliks Hilfe in Anspruch nehmen wollten. »Plötzlich erinnerten sich viele, dass ihnen noch der Wehrdienst bevorsteht«, sagt Belik. Doch nach anfänglicher Panik habe sich die Lage wieder beruhigt. »Die Leute verstanden, dass sie nichts zu befürchten hatten. Man kann immer noch problemlos verweigern.«
Mit der Teilmobilmachung dürfte die Sorge unter Männern im wehrfähigen Alter jedoch wieder gewachsen sein. Im September verkündete der russische Präsident Wladimir Putin, nach und nach 300.000 Reservisten für den Krieg in der Ukraine zu mobilisieren. Davon betroffen sind Männer, die bereits ihren Wehrdienst geleistet haben. Hunderttausende Russen verließen daraufhin das Land. Es gibt zwar Frauen im russischen Militär, aber die werden nicht einberufen, sie sind Berufssoldatinnen. Die EU-Mitgliedsstaaten sind sich indes noch uneins darüber, ob russische Deserteure und Kriegsdienstverweigerer in der EU Asyl bekommen sollen.
Für Verweigerer wie Belik war von Anfang an klar, dass er Russland verlassen musste. »Ich lehne Krieg kategorisch ab«, schrieb er kurz vor seiner Ausreise im April. »Am 24. Februar 2022 habe ich beschlossen, dass ich in den nächsten Jahren alles dafür tun werde, dass möglichst viele Menschen den Dienst in der russischen Armee verweigern.« ◆
ÜBERWIEGEND ENTTÄUSCHENDE WELTKLIMAKONFERENZ
Nach drei Tagen Verlängerung endete am 20. November die Weltklimakonferenz (COP27). Sie fand 14 Tage lang im ägyptischen Sharm El-Sheikh statt. Schon vor Beginn wurden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen bekannt, insbesondere Repressionen gegen die ägyptische Zivilgesellschaft und willkürliche Inhaftierungen von Aktivist*innen. Während der Konferenz waren Demonstrationen nur in einem kleinen, streng überwachten Bereich erlaubt.
Als Haupterrungenschaft der COP27 gilt ein Ausgleichsfonds für Klimaschäden (»loss and damage finance facility«), den insbesondere Länder des globalen Südens gefordert hatten. Er soll die Hauptverursacher*innen der Klimakrise in die Verantwortung nehmen, um die Folgen der Erderhitzung in den am stärksten betroffenen Ländern zu mildern. Die konkrete Ausgestaltung des Fonds wurde allerdings auf die nächste Weltklimakonferenz vertagt, die 2023 in Dubai (Vereinigte Arabische Emirate) stattfinden soll. Deutschland investiert zudem in einen globalen Schutzschirm gegen Klimarisiken, der die betroffenen Länder ebenfalls unterstützen soll. Konkrete Maßnahmen, um die Zunahme der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen und aus fossilen Energien auszusteigen, wurden auf der Klimakonferenz hingegen nicht beschlossen.
Auch wenn der Ausgleichsfonds für Klimaschäden einen Erfolg darstellt, hängt nun viel von der konkreten Ausgestaltung ab. Deutschland und andere Staaten müssen ihrer historischen Verantwortung gerecht werden und sich für einen fairen Ausgleichsmechanismus einsetzen. Dass kein Ausstieg aus Öl und Gas vereinbart wurde, ist angesichts der fortschreitenden Klimakrise enttäuschend und bedroht die Menschenrechte zukünftiger Generationen.
(»Klimagerechtigkeit jetzt!«, Amnesty Journal 06/22)
WM MIT EINGESCHRÄNKTEN MENSCHENRECHTEN
Am 20. November begann die FußballWM der Männer in Katar. Wenig überraschend lieferte sie sogleich viele Schlagzeilen rund um die Achtung und vor allem die Missachtung von Menschenrechten.
Amnesty International und andere Organisationen hatten den Weltfußballverband FIFA und die katarische RegieEntschädigungen jedoch ab und bezeichnete die Forderung als »PR-Gag«. Die FIFA wollte die Idee immerhin prüfen, ein Ergebnis dieser Prüfung lag bis Mitte Dezember allerdings nicht vor.
Auch bei anderen Menschenrechts fragen fielen die FIFA und die katarischen Behörden durchweg negativ auf. So wollten einige europäische Mannschaften als Zeichen der Unterstützung von LGBTI+ ihren jeweiligen Teamkapitän mit einer »One-Love«-Binde spielen lassen. Doch die FIFA stellte dies unter Strafe. Iranische Fußballfans, die sich im und vor dem Stadion mit den Protesten im Iran soli darisch zeigten, wurden von Ordnern schikaniert, des Stadions verwiesen und sogar zeitweise festgesetzt – all das widerspricht dem grundlegenden Recht auf Meinungsfreiheit. Laut den Regularien der FIFA für ihre Großveranstaltungen sind Provokationen und politische Meinungsäußerungen verboten. Doch ist der Einsatz für die Menschenrechte weder das Eine noch das Andere. Es wird höchs te Zeit, dass die FIFA das versteht.
rung im Mai 2022 aufgefordert, Arbeitsmigrant*innen angemessen zu entschädigen, die in den vergangenen zehn Jahren Fußballstadien, Hotels und andere Bauten errichtet haben. Sie wurden dabei vielfach ausgebeutet, trugen gesundheitliche Schäden davon oder kamen sogar zu Tode. Kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft lehnte die katarische Regierung
Nicht erwischen lassen, sonst droht Stadionverbot! Iranische Fans im November in Al Rayyan, Katar.
Foto: Dylan Martinez/Reuters
(»Weltmeister im Wegducken«, Amnesty Journal 05/22)