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Raute in Nepal: König*innen des Waldes

König*innen des Waldes

Die Raute sind die letzten Nomad*innen Nepals, doch sie kämpfen um ihr Überleben. Müssen die Indigenen sesshaft werden, um eine Zukunft zu haben? Von Martin Zinggl

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Ein 86-Jähriger stützt die Arme auf den Waldboden, hebt sein in Lei nen tücher gewickeltes Gesäß und schiebt seinen ausgezehrten Körper im Sitzen vorwärts. Obwohl er nicht mehr gehen kann, zeigt Karna Bahadur keine Spur von Selbstmitleid oder Schwäche. Im Gegenteil. Den weißhaarigen Kopf nach vorn geneigt, seinen Rücken durchgestreckt, blickt er auf das, was vor ihm liegt: ein Zeltlager mitten im Wald, in dem 144 Bewohner*innen ihrem Alltag nachgehen. Kinder jagen Ziegen und Hühner durch das Camp, Männer schnitzen Schalen aus Holz, Frauen holen Wasser vom nahegelegenen Fluss.

Seit mehr als 900 Jahren streifen die Raute, eine der letzten Jäger- und Sammlergesellschaften Südasiens, durch die Wälder Westnepals, jagen Makaken, sammeln Früchte und Wurzeln. Einige Wochen bleiben die Nomad*innen an einem Ort, bevor sie weiterziehen. Doch die König*innen des Waldes, wie sie sich selbst nennen, kämpfen um ihr Überleben.

Seit die nepalesische Regierung vor rund 15 Jahren begann, ihnen Lebensmittel, Geld und Dinge des täglichen Bedarfs auszuhändigen, entwickelte sich eine Abhängigkeit, die den Raute zusetzt. Vermehrt suchen sie den Austausch mit Dörfern, doch birgt dieser Gefahren: In den Straßengräben liegen alkoholisierte Männer, Kinderzähne sind von Zucker und Kautabak zerfressen. Die Mobilität der Noma d*in nen hat sich verringert, ihre Privatsphäre ist bedroht. Neugierige aus umliegenden Dörfern besuchen das Lager, machen Fotos, drehen Handyvideos und posten in Online-Netzwerken Selfies mit den letzten Waldnomad*innen.

Dass die Zukunft der Raute ungewiss ist, weiß auch der alte Bahadur. Einerseits halten die König*innen des Waldes stolz an ihrem Lebensstil fest, doch gleichzeitig wirkt die Außenwelt auf sie ein und trägt zu ihrer Entwurzelung bei. »Als ich jung war, haben wir Beeren gegessen, Guaven und andere Früchte«, erzählt Bahadur. »Heute fragen unsere Kinder nach Nudeln, Chips und Keksen.« Vor 15 Jahren griff kein Raute zu Geld, Medikamente waren tabu, und kam ein Fremder ins Lager, versteckten sich die Kinder aus Angst. »Mittlerweile betteln wir, schlucken Tabletten, und unsere Kinder laufen auf Außenstehende zu, die unser Lager betreten«, sagt er.

Von der Regierung festgelegte Sonderrechte für die Nomad*innen sorgen regelmäßig für Zündstoff zwischen den Raute und der sesshaften Bevölkerung. Die König*innen des Waldes erleben häufig Diskriminierung, erhalten aber auch materielle und finanzielle Unterstützung vom Staat. Außerdem dürfen sie zur Eigennutzung jeden Baum fällen, selbst die ältesten und wertvollsten. Manchmal schlagen sie ihre Zelte auf, wo sie wollen – auch ungefragt auf Privatgrund. Ziehen die Raute weiter, hinterlassen sie gelegentlich gerodetes Land. Das verärgert Menschen, die ebenfalls im ärmsten Teil Nepals leben und keinerlei staatliche Hilfe erhalten.

Der Druck auf die Raute, sesshaft zu werden, wächst. Kinder sollen Schulen besuchen, Frauen in Krankenhäusern gebären, Männer als Bauern arbeiten. Im Jahr 2022 gründete die Regierung eine Arbeitsgruppe, die einen geordneten Übergang unterstützen soll. »Positives Einschreiten« nennt das die Leiterin der Arbeitsgruppe, Anita Gyawali. »Ohne Unterstützung von außen sind die Raute nicht mehr überlebensfähig«, sagt sie. »Spätestens in zehn Jahren werden sie von sich aus darum bitten, ihnen bei der Ansiedlung zu helfen.«

Doch machen die Raute weder einen großen Schritt in diese Richtung, noch kehren sie zurück in ihr altes Leben. »Die Jungen hören nicht mehr auf mich«, stellt Bahadur fest. Er fürchtet um den Fortbestand der nomadischen Lebensweise. Bestimmte Aspekte von Bildung sowie Medikamente und Sesshaftigkeit nennt er Todsünden, die man nicht akzeptieren dürfe. »Sonst würden wir endgültig unser kulturelles Erbe aufgeben.« ◆

Will das kulturelle Erbe der Raute bewahren: Karna Bahadur, Oktober 2022.

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