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Protest im Iran II: Frauen gehen voran

Frau, Leben, Freiheit

Viele Menschen protestierten in den vergangenen Wochen im Iran gegen Repression und für Freiheit. Vorneweg gehen dabei die Frauen. Ein Essay von Gilda Sahebi

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Sie spielen im Basketball-Nationalteam. Sie sind Schauspielerinnen. Sie sind Transfrauen. Sie sind Mütter. Sie sind Bogenschützinnen. Sie sind Kletterinnen. Sie sind Sängerinnen. Sie sind Ärztinnen. Sie sind Studentinnen. Sie sind überall in der iranischen Gesellschaft: Frauen, die ihr Kopftuch öffentlich ablegen, um für ihre Freiheit und für die Freiheit aller im Iran zu demonstrieren. Sie tun dies in dem Wissen, dass sie dafür inhaftiert, vergewaltigt, misshandelt und getötet werden können. Und sie tun es dennoch.

Seit Mitte September erreichen uns jeden Tag Videos, Fotos und Berichte aus dem Iran, die den üblichen Blick infrage stellen, den viele im Westen auf den sogenannten Nahen Osten haben. Beeinflusst von der medialen Berichterstattung, von Einlassungen aus der Politik, von Klischees und Vorurteilen, sah man die Frauen in Ländern wie Iran, Afghanistan oder Irak lange als schwach an, als Menschen, die sich in einem Zustand der Unterwerfung eingerichtet haben.

Wer aber Verbindungen in die Region hatte, sah etwas anderes und kannte die Netzwerke der Frauen, ihre Stärke und ihre Kämpfe im Alltag, die viele schon seit Jahren oft im Verborgenen führten. Im Iran sind diese Kämpfe nun nicht mehr versteckt: Die Frauen wehren sich offen und mutig gegen die Gewalttätigkeit und Repression des Regimes. Sie kämpfen dabei nicht allein. Viele stehen an ihrer Seite, zahlreiche Männer, die LGBTI-Community, die Kurd*innen, die Belutsch*innen, die Sunnit*innen, die Afghan*innen und andere Minderheiten, die in der Islamischen Republik seit Jahrzehnten unterdrückt werden. Eine Frau aus Teheran, die sich seit Beginn an den Protesten beteiligt, schildert ihre Beobachtungen: »Alle sind auf den Straßen. Und die Frauen sind ganz vorne mit dabei. Alle schauen auf die Frauen, denn sie sind die Anführerinnen. Das ist großartig.«

Um die Wucht des Widerstands und des Kampfs zu verstehen, muss man die Wucht der Unterdrückung kennen. Es wurde bereits viel darüber geschrieben, dass Frauen in Iran rechtlich nur die Hälfte eines Mannes wert sind. Vor Gericht müssen zwei Frauen aussagen, um der Aussage eines Mannes gleichzukommen; bei einem Autounfall erhält die Familie einer Frau nur die Hälfte der Entschädigung, die die Familie eines Mannes bekommt. Frauen können sich nicht einfach scheiden lassen, den Männern steht das Sorgerecht für die Kinder zu. Bekannt ist auch, dass Frauen weder öffentlich singen noch tanzen dürfen, dass sie sich verschleiern und den Kleidervorschriften beugen müssen.

Frauenhass als Staatsdoktrin

Doch was heißt das für den moralischen und gesellschaftlichen Stellenwert eines Frauenlebens? Der Geistliche Sadeq Shirazi drückte es so aus: Gott habe drei Arten von Tieren geschaffen. Zum einen Tiere, die dafür geschaffen wurden, die Menschen zu transportieren, wie Pferde und Kamele. Dann Tiere, die erschaffen wurden, um Menschen zu ernähren, wie Ziegen, Schafe und Kühe. Die dritte Art von Tieren seien die Frauen. Wie Ziegen, Schafe und Kühe seien sie geschaffen worden, damit Männer sie benutzen könnten. Gott habe diesen Tieren das Aussehen von Frauen gegeben, damit Männer keine Angst vor ihnen haben müssten.

Shirazi ist im Iran ein bekannter und einflussreicher Kleriker. Sein Blick auf Frauen ist repräsentativ für den Blick der theologischen Fundamen talisten. Dieser menschenverachtende Blick auf Frauen ist Staatsdoktrin. Er führt dazu, dass Frauen als Objekte gelten und systematischer sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind –ausgeführt von Männern, die trainiert werden, Frauen zu vergewaltigen und zu ermorden. Im November veröffentlichte der US-Nachrichtensender CNN einen Bericht von der iranisch-irakischen Grenze, in dem eine Frau zu Wort kam, die sexualisierte Gewalt in einem iranischen Gefängnis erlebt hatte, bevor sie fliehen konnte. CNN erhielt zudem geleakte Berichte von medizinischem Personal aus Kliniken, in denen Vergewaltigungsopfer behandelt wurden. Die Täter waren staatliche Milizionäre und Beamte.

»Danke, dass du die Stadt mit deinen Haaren schöner machst.«

Ein Iraner über Frauen ohne Kopftuch

Frauen und Männer gemeinsam für Frauenrechte. Teheran, Oktober 2022.

Foto: Morteza Nikoubazl/NurPhoto/Getty Images

Der CNN-Bericht schilderte nur einen Bruchteil dessen, was die meisten Menschen im Iran schon seit Beginn der Islamischen Revolution im Jahr 1979 wissen: Frauen werden vom Staat sexualisiert und zu Objekten degradiert. Wenn sie fundamentale Rechte einfordern, gelten sie als »promisk« und »Prostituierte«. Ähnlich ist die offizielle Argumentation gegen jegliche Opposition im Gottesstaat: Das Gerede von Freiheitsrechten und universellen Werten sei aus dem Westen importiert und Ausdruck einer verkommenen Sexualmoral. Dies müsse bestraft werden. Frauen, die sich wehren, das Kopftuch abnehmen und »Frau, Leben, Freiheit« rufen, sind aus Sicht der Regierung eben nur »Prostituierte«, die vergewaltigt werden müssen. Gottes Gesetz sehe es so vor.

Es ist auch diese perverse Logik der Machthabenden, der sich die Menschen mit der Forderung »Frau, Leben, Freiheit« widersetzen. Denn sie wissen genau, dass der Grad der Freiheit der Frau den Grad der Freiheit aller bestimmt. Deshalb kämpfen auch Männer, die eigentlich Nutznießer dieses Systems sind, mit den Frauen und für sie. So zeigt ein Video, das sich rasch in den Online-Netzwerken verbreitete, einen Mann, der mit einem Strauß Blumen durch die Straßen geht und jeder Frau, die kein Kopftuch trägt, eine Blume schenkt mit den Worten: »Danke, dass du die Stadt mit deinen Haaren schöner machst.« Viele Männer haben verstanden: Frauenrechte sind Menschenrechte.

Die iranische Führung und alle Angehörigen des Führungs- und Machtzirkels konnten ihren Frauenhass jahrzehntelang vor den Augen der Welt verstecken. Sie galten als anerkannte Gesprächspartner, als normaler Teil der internationalen Gemeinschaft. Diese Zeiten sind vorbei. Nun kann jede*r die Gewalttaten und die Frauenverachtung des Regimes sehen, auf unzähligen Videos, in zahlreichen Berichten. Genauso sichtbar sind aber auch die Frauen, die erhobenen Hauptes »Jin, Jiyan, Azadî« rufen – Frau, Leben, Freiheit. ◆

NAHID TAGHAVI WIEDER IN HAFT

Die zu einer langen Haftstrafe verurteilte deutsch-iranische Menschenrechtsaktivistin Nahid Taghavi wurde im November in das berüchtigte Evin-Gefängnis zurückgebracht. Im Juli 2022 war sie aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend entlassen worden. Ihre Tochter Mariam Claren teilte mit, die iranischen Behörden hätten Nahid Taghavi erneut inhaftiert, obwohl ihre medizinische Behandlung noch nicht abgeschlossen war (Amnesty Journal 06/2022).

»OHNE AUSNAHME VERBIETEN!«

Zusammen mit Amnesty International hat die US-Organisation STOP (Surveillance Technology Oversight Project) die New Yorker Polizei auf Akteneinsicht zur Gesichtserkennung verklagt. Albert Fox Cahn, Gründer und Geschäftsführer von STOP, über digitale Überwachung und Gesichtserkennungstechnologie.

Interview: Kristina Hatas

Was genau macht STOP?

Die Organisation wurde 2019 in New York gegründet und engagiert sich gegen Überwachung. In den USA wurde jahrzehntelang vor allem über die Überwachungsbefugnisse des Föderalstaats diskutiert, dagegen fanden die zunehmenden Überwachungsmöglichkeiten Tausender bundesstaatlicher und lokaler Polizeibehörden eher wenig Beachtung. Diese wurden aber immer mehr zu »Mini-Geheimdiensten«. Wir setzen uns mit Vernetzung, Öffentlichkeitsarbeit und strategischen Klagen gegen die zunehmende Überwachung durch diese Behörden ein.

Welche Rolle spielt Gesichtserkennung in diesen »Mini-Geheimdiens ten«?

Diese Technologie ist eine der am schnellsten wachsenden Gefahren weltweit. Zugleich bietet sie die Chance, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Denn, wie mein Gesicht erkannt wird, ist einfacher und anschaulicher zu verstehen als Algorithmen und Analysen von Verhaltensmustern. Die Auseinandersetzung mit Gesichtserkennung kann ein Einstieg sein, um sich mit digitaler Überwachung zu beschäftigen.

Warum hat STOP die Polizei in New

York verklagt?

Weil sie über die Jahre immer mehr Ressourcen und Befugnisse bekommen hat, zugleich aber so gut wie keine Rechenschaft ablegen muss. Wir haben gemeinsam mit Amnesty geklagt, um Einsicht in Akten zu bekommen, die ohnehin öffentlich sein müssten. Wir wollten wissen, wie die New Yorker Polizei Gesichtserkennung einsetzt, insbesondere, wie diese Technologie 2020 im Zuge der »Black Lives Matter«-Proteste angewandt wurde.

Wie ist das Verfahren ausgegangen?

Der zuständige Richter hat unserer Klage stattgegeben und entschieden, dass die Polizei in New York 2.700 Dokumente und E-Mails mit Amnesty teilen muss. Die Polizeibehörde hat Rechtsmittel dagegen eingelegt, und nun warten wir auf die nächste Gerichtsentscheidung.

Wie wird Gesichtserkennung in den

USA eingesetzt?

Die Technologie wird in der Regel nicht als Beweismittel eingesetzt – denn dann könnten die Angeklagten deren Einsatz rechtlich anfechten und Transparenz einfordern. Stattdessen verwendet man sie bei Ermittlungen, indem man zum Beispiel Zeug*innen einen vermeintlichen »Treffer«, also ein »erkanntes« Gesicht, zeigt. Vor Gericht erklärt die Polizei dann, dass die Person von einer Augenzeug*in identifiziert worden sei – eine sehr suggestive Identifizierung, die zu Fehlentscheidungen führt. So wird Gesichtserkennung in das Gerichtsverfahren eingeschleust, ohne dass sich Angeklagte dagegen wehren können.

Inwiefern bedroht Gesichtserkennung die Menschenrechte?

Gesichtserkennung gefährdet die Demokratie und eine offene Gesellschaft. Sie bedroht das Recht auf Meinungsfreiheit, das Recht auf Protest und sogar die Religionsfreiheit. Ich kenne zum Beispiel viele muslimische Personen, die befürchten, sie könnten sich oder ihre Familien in Gefahr bringen, wenn sie zum Freitagsgebet gehen oder an Demonstrationen teilnehmen. Als privilegierte Person hat man diese Angst vielleicht nicht, doch Millionen Menschen haben sie.

Was fordert STOP in Bezug auf Gesichtserkennung?

Dass sie verboten wird – ohne Ausnahmen, ohne Vorbehalte. Aus meiner Sicht birgt Gesichtserkennung ein großes Missbrauchspotenzial. Sie ist sehr fehleranfällig, gefährlich und das perfekte Instrument für Kontrolle und Repression. Es gibt keinen Weg, diese Technologie angemessen zu regulieren. Abhilfe schaffen kann nur ein vollumfängliches Verbot. ◆

Alles im Blick? Zum Glück nicht. Deaktivierte Kameras auf der Domplatte in Köln. Foto: Christoph Hardt/Geisler-Fotopres/pa

#UNSCANMYFACE –MASSENÜBERWACHUNG BEENDEN

Die Europäische Union verhandelt derzeit in Brüssel über ein Gesetz zur Regulierung Künstlicher Intelligenz (KI), das klare Regeln für die Entwicklung und Benutzung von KI festlegt. Das Gesetz wird frühestens im Jahr 2023 erwartet. Künstliche Intelligenz kann in der medizinischen Diagnostik zur Anwendung kommen, aber auch in Waffensystemen.

Gesichtserkennungstechnologie gehört ebenfalls zur KI und ermöglicht eine Massenüberwachung im öffentlichen Raum. Amnesty International sieht darin eine große Bedrohung für eine Vielzahl von Menschenrechten: Gesichtserkennung verletzt etwa das Recht auf Privatsphäre und das Recht auf Nichtdiskriminierung, und sie beeinträchtigt die Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Die Technologie wird verstärkt für die Überwachung bereits marginalisierter Gruppen eingesetzt und verschärft so bestehende Ungerechtigkeiten sowie rassistische, sexistische und klassistische Diskriminierungen. Weil viele Menschen fürchten, ständig überwacht zu werden, scheuen sie sich, für ihre Menschenrechte einzustehen und zum Beispiel an Demonstrationen teilzunehmen. Das gilt vor allem für Personen, die ohnehin von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffen sind. Datenschutzbehörden und Exper t*in nen aus ganz Europa warnen schon lange, dass der derzeitige Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie rechtlich zweifelhaft ist. Dennoch wird sie nach und nach eingeführt. Nur eine gesetzliche Grundlage und ein ausdrückliches Verbot könnten das ändern.

Die deutsche Sektion von Amnesty setzt sich mit der Kampagne #UnscanMyFace für ein Verbot der Herstellung, des Einsatzes und Exports von Gesichtserkennungstechnologie in Deutschland, der EU und weltweit ein. Ein solches Verbot ist für die Achtung der Menschenrechte unverzichtbar. Mit der Kampagne will die Organisation das Problembewusstsein in der Öffentlichkeit stärken und Lösungen anbieten.

Dabei arbeitet Amnesty International mit weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen und wendet sich auch direkt an die politisch Verantwortlichen. Diese werden in einer E-Mail-Aktion aufgefordert, sich für ein umfassendes Verbot von Gesichtserkennungstechnologie einzusetzen. ◆

Gesichtserkennung beeinträchtigt die Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Weitere Informationen rund um die Kampagne:

amnesty.de/my-face

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