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Australien: Verschleppt und im Zirkus vorgeführt

Sussy Dakaros Nachfahren: Destiny Devow, Walter Palm Island, Daphne Morganson und Dion Devow in Townsville, Australien.

Auf den Spuren der gestohlenen Frau

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Sussy Dakaro wurde 1883 aus Australien verschleppt und danach in US-amerikanischen Zirkusshows und deutschen Zoos als »exotische Wilde« dargestellt und vorgeführt. Sie starb 1885 in Wuppertal. Ihre Nachfahren wollen über die mögliche Rückführung ihrer Gebeine mitbestimmen. Von Elias Dehnen (Text) und Cameron Laird (Fotos)

Ende des 19. Jahrhunderts erhielt der Menschenhändler Robert A. Cunningham einen Auftrag: Er sollte sogenannte »lebende Kuriositäten« für die entmenschlichenden Shows des berühmten Zirkuspioniers Phineas Taylor Barnum beschaffen. Auf der australischen Inselgruppe Palm Island und dem benachbarten Hinchinbrook Island wurde er fündig. 1883 verschleppte Cunningham neun Menschen, die mehrheitlich der indigenen Gemeinschaft der Manbarra angehörten. Fortan wurden sie als vermeintlich »exotische Wilde« inszeniert und sollten so westliche Kolonialfantasien verkörpern.

Unter ihnen war auch eine 14-Jährige, die »Sussy Dakaro« genannt wurde. Ihr wahrer Name ist bis heute unbekannt. Cunningham beschrieb Sussy Dakaro als lebensfroh. Sie sei in ihrer Gruppe sehr beliebt gewesen. In den USA traten die Manbarra bei Barnums rassistischer Zirkustournee »Ethnological Congress of Strange Tribes« auf. Die Zuschauer*innen gierten nach den indigenen Australier*innen und gaben sich nur allzu gern der Illusion hin, es handele sich um die »letzten Kannibalen«. Die den Manbarra aufgezwungenen Tanzeinlagen folgten vor allem einer Devise: Je bizarrer, desto besser. Die zur Schau gestellten Männer trugen daher Knochen anstatt ihres Nasenschmucks.

Die Tournee führte Sussy Dakaro und die anderen Verschleppten durch 130 Städte in den USA und Kanada, bis ihr Partner Kukamunburra 1884 erkrankte und starb. Cunningham verkaufte die einbalsamierte Leiche des jungen Mannes an ein Kuriositätenkabinett. 1993 wurde Kukamunburras mumifizierter Körper im Keller eines Bestattungsinstituts in Cleveland (Ohio) entdeckt. Seine Nachfahren brachten den Leichnam mit Unterstützung der australischen Regierung zurück nach Palm Island, wo er nach den Riten der Manbarra beigesetzt wurde.

Sussy Dakaro und den Rest der Gruppe führte der Leidensweg weiter nach Europa. Auf sogenannten »Völkerschauen« mussten die Indigenen inszenierte Tänze zeigen und in Zoos und auf Jahrmärkten Bumerangs werfen. Dafür erhielten sie eine geringe Entlohnung. Wissenschaftler

Foto: Carl Günther

Sussy Dakaro, 1884 in Berlin.

vermaßen ihre Körper im Sinne der damaligen Rassenideologie, um ihr konstruiertes »Anderssein« für die Nachwelt festzuhalten. Erst im Jahr 2021 wurde bekannt, dass im Archiv des Museums für Völkerkunde in Dresden lebensgroße Gipsbüsten von Sussy Dakaro und weiteren verschleppten indigenen Australier*innen lagern. Birgit Scheps-Bretschneider, die die Sammlung betreut, regt nun die Rückgabe der Büsten an. »In jedem Abbild steckt auch ein bisschen Seele«, sagt die Ethnologin.

Sussy Dakaro starb am 23. Juni 1885 vor einem geplanten Auftritt in einem Zoo in Wuppertal an Tuberkulose und wurde am Tag darauf beigesetzt. Die australische Anthropologin Roslyn Poignant hat die Schicksale der Verschleppten seit den 1970er Jahren erforscht. Mithilfe der Wuppertaler Evangelischen Kirchengemeinde Sonnborn konnte Poignant im Jahr 2000 Sussy Dakaros Sterbeurkunde und ihre Begräbnisstelle ausfindig machen. Seit 2017 macht dort ein Gedenkstein auf Dakaros Schicksal aufmerksam, der auf privates Engagement zurückgeht. Die Wuppertaler Initiative »Power of Color« organisierte seither mehrere Gedenkveranstaltungen für die ausgebeutete Frau.

Anfang 2021 erfuhren Dakaros Nachfahren, dass Gebeine ihrer Vorfahrin nach Einschätzung von Expert*innen wahrscheinlich erhalten sind. Die Friedhofsverwaltung möchte Bodenuntersuchungen ermöglichen, allerdings erfolgte an Dakaros Grabstelle 1920 eine weitere Sargbestattung. Im Oktober 2021 sprach der Wuppertaler Bundestagsabgeordnete Helge Lindh eine Einladung an die Nachfahren Dakaros aus. Die indigene Delegation solle sich vor Ort ein Bild machen können, ob sie offiziell eine Rückführung anfragen möchte – und was mit den Büsten geschehen soll. Der Delegationsbesuch wäre ein Präzedenzfall, der die Nachfahren aktiv in die Provenienzforschung und den möglichen Rückführungsprozess einbinden würde. Einen ers ten Antrag hat das Auswärtige Amt mit dem Hinweis beantwortet, dass ein Delegationsbesuch nur finanziert werden könne, wenn Dakaros Gebeine gefunden werden. Wer die dafür nötigen Voruntersuchungen bezahlen soll, bleibt indes unklar.

Der Autor wuchs im Pfarrhaus neben dem Wuppertaler Friedhof auf, auf dem Sussy Dakaro begraben liegt. Für eine Recherche über Dakaros Geschichte nahm er 2021 Kontakt mit ihren Nachfahren auf.

Die Rekonstruktion von Sussy Dakaros Lebensgeschichte basiert auf Roslyn Poignants Publikation »Professional Savages: Captive Lives and Western Spectacle«, Yale University Press, 2004, 320 Seiten, 46,25 Euro.

»Unsere Vorfahren wurden als ›Zirkusfreaks‹ erniedrigt«

Dion Devow, Sprecher des Ältestenrats der Manbarra

Es geht um mehr, als darum, Sussy nach Hause zu bringen. Wir müssen über die Verbrechen aufklären, die an uns Mitgliedern der First Nations begangen wurden. Ein großer Teil dieser Geschichte ist bis heute verborgen, doch Sussys Schicksal macht das Vergangene greifbarer. Wenn wir Geschichten dieser Art nicht ans Licht bringen, können die Menschen in Australien immer noch behaupten, sie hätten damit nichts zu tun. Doch das ist falsch: Es ist Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Erst wenn wir das anerkennen, können wir vorwärts gehen – nicht vergessen –, um einen Heilungsprozess einzuleiten. Wir machen das heutige Australien dafür nicht verantwortlich, aber wir wollen Respekt im Sinne von Anerkennung.

Bis 1967 hatten wir keine Rechte, keine Staatsbürgerschaft, wir wurden nicht einmal als Menschen anerkannt. So konnten unsere Vorfahren weggebracht und als »Zirkusfreaks« erniedrigt werden. Unsere Kinder wurden weggenommen und in Reservate gesteckt, um »zivilisiert« zu werden. Es kommt immer noch vor, dass australische Behörden Aborigine-Familien ihre Kinder wegnehmen und in Heime stecken. Es heißt dann, ihre Erziehung sei nicht angemessen.

Meine Kinder haben den Rassismus nicht so massiv erlebt, wie meine Schwester und ich ihn erlebt haben, und wir haben ihn nicht so erlebt, wie unsere Eltern ihn erlebt haben. Wir wollen nicht, dass die zukünftigen Generationen unsere vergangenen Kämpfe vergessen. Sie müssen verstehen, dass die Zugehörigkeit zum ältesten lebenden Volk in der gesamten Menschheitsgeschichte etwas ist, wo rauf alle Menschen in Australien stolz sein können.

Sussys Büste wurde uns in einem Videocall gezeigt. Sie war realistischer gefertigt als erwartet. Auch wenn man bedenkt, unter welchen schrecklichen Umständen sie gemacht wurde, hat die Büste unserer Ahnin eine Präsenz und einen Körper gegeben. Es war fast so, als hätte man Sussy selbst angeblickt. Wir versuchen, sie nach Hause zu bringen, damit sie mit ihrem Land wiedervereint ist und wir mit ihr wiedervereint sind. Es ist eine tragische, barbarische Geschichte, aber wir könnten ihr eine positive Wendung geben. Deshalb ist es für mich ein großes Privileg, an diesem Rückführungsprozess teilzunehmen.

»Australien hat sich mit seiner kolonialen Vergangenheit nicht auseinandergesetzt«

Daphne Morganson, Älteste der Manbarra

Sich an Sussys Geschichte zu erinnern, stärkt unseren Familienzusammenhalt. Sie war sicherlich eine wunderbare Frau. Es ist wichtig, dass wir uns an unsere Vorfahrin erinnern und daran, wo wir herkommen. Wir müssen wissen, was sie durchgemacht hat, als sie weggebracht wurde. Ich glaube, durch die Entführung ist ein Familienbund verloren gegangen.

Alle Menschen haben eine Identität, egal, woher sie kommen, wer sie sind oder welche Hautfarbe sie haben. Als Sussy weggebracht wurde, hat sie diese Identität verloren. Sie muss so viel Heimweh nach ihrem Land gehabt haben. Sie war die Tochter von jemandem, die Tante von jemandem, und es muss furchtbar gewesen sein, von seinen Lieben weggerissen zu werden. Sie wurde gezwungen, Kostüme zu tragen und im Zirkus aufzutreten.

Australien hat sich mit seiner kolonialen Vergangenheit nicht auseinandergesetzt; sie wurde unter den Teppich gekehrt. Unsere Familien wurden in Reservate vertrieben, etwa nach Palm Island. Wir mussten getrennt leben von den Weißen. Das war schrecklich. Wir hatten nicht die Freiheit, dorthin zu gehen, wohin wir wollten, oder das zu tun, was wir tun wollten. Wenn mein Vater in Townsville arbeiten wollte, musste er sich bei der Polizei einen Passierschein besorgen. Gott sei Dank musste ich das nicht miterleben. Aber mein Volk ist stark und hat überlebt, genauso wie Sussy lange überlebt hat.

Ich habe das Foto von ihrem Grab in Wuppertal gesehen, und es ist so schön und friedlich. Ich möchte mich bei den Menschen, die das ermöglicht haben, für ihre Herzensgüte bedanken.

Auch wenn ich Sussy nie getroffen habe, fühle ich die Liebe zu ihr, denn sie ist mein Blut, meine Familie. Sie soll wissen, dass wir sie immer noch lieben, egal wie weit weg sie ist, und dass wir uns um sie kümmern. Ich denke, dass wir ihr mit einem Besuch in Wuppertal spirituell näher sein können.

»Sussy muss einfach zu Hause sein, in ihrem Land, zurück bei ihrem Volk«

Destiny Devow, Sprecherin des Ältestenrats der Manbarra

Sussys Geschichte muss erzählt werden. Ihre Büste zu sehen – so traurig und emotional es auch war – hat uns die Bedeutung des Projekts vor Augen geführt; dieses Gefühl, dass sie einfach zu Hause sein muss, in ihrem Land, zurück bei ihrem Volk.

Die Gräueltaten, die Sussy und unserem Volk angetan wurden, dürfen nie wieder geschehen. Noch immer gibt es das Missverständnis: »Aborigines arbeiten nicht, Aborigines sind ungebildet.« Wenn man aber von seiner Mutter weggenommen wurde, wenn man nicht die familiäre Unterstützung und nicht die gleichen Chancen wie andere hatte, dann hat das Auswirkungen – über Generationen hinweg, bis heute.

Wir kommen langsam voran. Wir sehen mehr Aborigines, die an Entscheidungsprozessen im Parlament teilnehmen, und mehr Schwarze im Fernsehen. Wir fühlen uns mehr und mehr anerlen mussten, die im Zuge der Landenteignungen dorthin geschickt wurden.

Es gibt immer noch eine gewisse Arroganz vieler Menschen in Australien, die das Leid, das unser Volk durchgemacht hat, einfach nicht verstehen. Rassistische Vorurteile uns gegenüber sind auch heute noch sehr präsent. Wir haben einen Begriff dafür: »Boong Bashing«. Viele Politikerinnen und Politiker hier gewinnen die Wahlen durch »Boong Bashing«. Sie sagen: »Die Aborigines verschwenden Regierungsgelder.«

In der Nähe von Townsville gibt es ein Museum, das eine Ausstellung über die verschleppte Aborigine-Gruppe zeigt. Wenn wir die Büsten rückführen, werden wir darum bitten, sie dort zu lagern, bis wir einen Aufbewahrungsort auf Palm Island eingerichtet haben.

Ob Sussy rückgeführt wird oder nicht, muss die Entscheidung der Frauen unseres Volkes sein. Wichtig ist, vor Ort in Deutschland die indigenen Sprachen zu sprechen, die Sussy damals gesprochen hat. Diese ähneln den Sprachen, die mein Vater mir beigebracht hat – Mulgu, das weithin gesprochen wird, und Buluguyban.

Sussy ist die Partnerin von Kukamunburra. Sein mumifizierter Körper wurde in den USA gefunden, also reiste ich im Jahr 1994 dorthin, um ihn rückzuführen. Wir fanden einen Native American, einen Medizinmann, der eine Rauchzeremonie abhielt. Er gehörte zum Volk der Seneca. Das Gebiet, in dem Kukamunburra starb, gehörte zu ihrem Stammesgebiet, und es war wichtig, den Geist meines Vorfahren aus ihrem Land zu befreien, damit wir den Geist und seinen Körper nach Hause holen konnten. Ich habe eine Liedzeile gesungen und in meiner Sprache zu Kukamunburra gesprochen, dass wir gekommen sind, um ihn abzuholen. Er ist sehr stolz auf uns. Es war eine Versöhnung; eine Verbindung zu dem, was uns als Manbarra-Volk ausmacht. ◆

kannt, aber es ist noch ein langer Weg. Ich kann kaum beschreiben, wie stolz ich als Angehörige der First Nations, aber auch als Australierin war, als ich am 13. Februar 2008 all diese Menschen sah, die von weither auf den Rasen des Parlamentsgebäudes gekommen waren, um die nationale Entschuldigung von Premierminister Kevin Rudd an die gestohlene indigene Generation zu hören. Das war ein Aufbruch für unser Land, ein emotionaler Tag. Australien wurde erwachsen und übernahm endlich Verantwortung für die Auswirkungen der Vergangenheit.

Die Beziehung zwischen Wuppertal und dem Volk der Manbarra, die wir gerade aufbauen, ist sehr wichtig. Mit Unterstützung der australischen und deutschen Regierung arbeiten wir darauf hin, Sussy nach Hause zu bringen, falls das möglich ist. Sie muss in Frieden ruhen, das ist unsere Priorität. Es wäre gut, wenn unsere Ältesten nach Deutschland reisen könnten, um zu sehen, wie Sussy begraben liegt. Dafür müssen noch viele Verhandlungen geführt werden. Teil unserer Kultur ist es, dass unsere Ältesten diejenigen sind, die wichtige Entscheidungen treffen. Sie sind die Wächter der Geschichten, sie haben das Wissen über unser Land, über unsere Kultur und unsere Ahnen. Wir wollen alle Schritte respektvoll machen und orientieren uns an den Wünschen unseres Ältestenrats.

»Ob Sussy rückgeführt wird oder nicht, muss die Entscheidung der Frauen unseres Volkes sein«

Walter Palm Island, Ältester der Manbarra

Wir sind die traditionellen Ältesten unseres Volkes; meine Vorfahren gehen bis weit vor die Zeit zurück, als James Cook 1770 Palm Island besuchte. Sussy ist das Bindeglied zu unserer Familie. Als wir kleine Kinder waren, erzählte mir mein Vater, dass damals Familienmitglieder von Palm Island weggebracht wurden.

Wir wurden systematisch von unseren Stammesländern vertrieben. Die damaligen Gesetze ähnelten dem südafrikanischen Apartheidsystem. So entstand 1918 das Aborigine-Reservat auf Palm Island, das sich viele verschiedene Stämme tei-

»Es muss furchtbar gewesen sein, von seinen Lieben weggerissen zu werden.«

Daphne Morganson

Siehe auch: »Rückgaben dürfen schmerzhaft sein«, Seite 64

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