MAGAZIN FÜR MENSCHENRECHTE 03/22 MAI / JUNI
AMNESTY
JOURNAL WWW.AMNESTY.DE/JOURNAL
NE H NSC TE E M EC H R : R FAH S E IN G SLAND UF RUS RI FF A N E I ANG UKRA DIE
Laut werden Meinungsfreiheit in Ostafrika
Isolierte Region
Amnesty-Filmpreis
Abgeschaltetes Internet und verfolgte Journalist_innen in Jammu und Kaschmir
Dokumentarfilm »Myanmar Diaries« auf der Berlinale ausgezeichnet
INHALT
12 TITEL: MEINUNGSFREIHEIT IN OSTAFRIKA Menschenrechtspreis: Der Äthiopische Menschenrechtsrat
12
Äthiopien: Die Hoffnung auf Freiheit bleibt
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Graphic Report: Gräueltaten in Äthiopien
18
Sudan: Proteste gegen die mitregierenden Militärs
20
Uganda: Eingeschränkte Pressefreiheit
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Eritrea: Land ohne Meinungsfreiheit
23
Burundi: Germain Rukuki endlich in Sicherheit
24
Landkarte der Meinungsfreiheit: Sechs Länder, viele Probleme
26
24
Sie machen einen Job, den niemand machen will, und sie machen ihn gut. Der Äthiopische Menschenrechtsrat EHRCO wird mit dem Menschenrechtspreis von Amnesty International ausgezeichnet. Der EHRCO wurde 1991 nach Jahrzehnten der Diktatur und Repression gegründet. Seit 2020 in Äthiopien ein weiterer Krieg begann, ist seine Arbeit gefährlicher denn je.
Mit Familie im Exil. Weil Germain Rukuki in Burundi für eine Menschenrechtsorganisation arbeitete, wurde er wegen »Rebellion« und »Terrorismus« angeklagt und zu 32 Jahren Haft verurteilt. 2021 kam er frei, nun lebt er in Brüssel.
POLITIK & GESELLSCHAFT Krieg in der Ukraine: Wer Putin gewaltig stört
30
Russische Militäreinsätze: Der Leiter der Weißhelme aus Syrien berichtet
34
Flucht aus der Ukraine: Schulausflug in den Frieden
36
Flucht aus der Ukraine: Flüchtende zweiter Klasse
38
Amnesty-Report: Globale Politik für unser aller Rechte
42
Jammu und Kaschmir: »Niemand spricht mehr frei«
44
Kuba: Zivilgesellschaft vor Gericht
48
38
Klima im Nahen Osten: Bei wie viel Grad schmilzt Misstrauen? 50
Selbst auf der Flucht noch diskriminiert. An der Grenze zu Ungarn wurden aus der Ukraine flüchtende Rom_nja beschimpft und systematisch benachteiligt.
KULTUR Literatur und Krieg: Ukrainische Kulturschaffende und ihre Überlebensstrategien
56
Sprache und Aggression: Der ukrainische PEN-Präsident Andrej Kurkow über den russischen Angriff
60
Putin-Kritiker im Exil: Beim russischen Musikkritiker Artemy Troitsky in Estland zu Besuch
62
Zensur in der DR Kongo: Behörde vs. Pop
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Kunst aus Marokko: Die Künstlerin Myriam El Haïk
66
Bücher: Lilian Thuram über Rassismus in Frankreich
68
Mutiges Kino: Der Amnesty-Filmpreis auf der Berlinale
70
RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 08 Spotlight: Raif Badawi 40 Was tun 52 Porträt: Mohammed Jouni 54 Dranbleiben 55 Rezensionen: Bücher 69 Rezensionen: Film & Musik 71 Briefe gegen das Vergessen 72 Aktiv für Amnesty 74 Kolumne: Eine Sache noch 75 Impressum 75
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Schusssichere Westen, nicht Bücher und Ideen. Krieg in der Ukraine: Kein Tag vergeht ohne neue Nachrichten zu Truppenbewegungen, Einschätzungen von Militärexpert_innen, Statements von Politiker_innen. Doch wie denken die ukrainischen Intellektuellen über die Lage?
56
Das Leben im Dazwischen. Rigide Konventionen, Kolonialismus, Sprachlosigkeit – die marokkanische Künstlerin Myriam El Haïk macht die Ambivalenzen von Gesellschaften im Wandel sichtbar. Ihre Mittel sind filigrane Zeichnungen und musikalische Muster.
66
20
»Gut vernetzte Frauen«. Seit mehr als drei Jahren fordern Tausende Menschen im Sudan eine zivile Regierung. Die im Exil lebende Menschenrechtsaktivistin Shadia Abdelmoneim spricht über Repression, Meinungsfreiheit und auffällig viele Akteurinnen bei den Protesten.
Gegner_innen des Kreml. Egal, ob in Russland, in der Ukraine oder im Exil: Diese Menschen, Organisationen und Proteste sind der russischen Regierung ein Dorn im Auge.
30
Abgeriegelt und streng überwacht. Repressive Sondergesetze, abgeschaltetes Internet und verfolgte Journalist_innen: In der indischen Region Jammu und Kaschmir ist die Meinungs- und Informationsfreiheit extrem eingeschränkt.
44
Per Verbot in die Charts. In der Demokratischen Republik Kongo darf man nicht alles singen, was einem in den Sinn kommt. Die Zensurbehörde ist jedoch nicht immer erfolgreich.
64
Titelbild: Protest gegen die sudanesische Regierung in Khartum, 19. Juni 2019. Foto: Yasuyoshi Chiba / AFP / Getty Images Fotos oben: Maheder Haileselassie | Sarah Eick | Alexandra Bertels Reuters | Klaus Petrus | Atul Loke /The New York Times / Redux / laif Celestino Arce Lavin / Zuma Wire / Imago | Official Video | Elodie Laleuf
EDITORIAL UND DANN WAR KRIEG Anfang April erreichte uns die Nachricht, der litauische Regisseur Mantas Kvedaravicius sei in der umkämpften ukrainischen Stadt Mariupol getötet worden. Für seinen Film »Barzakh« hatte er 2011 auf der Berlinale den AmnestyFilmpreis bekommen. Kvedaravicius’ Tod sorgt für Trauer und Fassungslosigkeit bei Amnesty International in Deutschland, einen Nachruf finden Sie auf unserer Webseite. Der Filmemacher wurde wohl von russischen Truppen hingerichtet, und diese Tat steht in einer Reihe von Kriegs- und schweren Menschenrechtsverbrechen, die seit dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 an vielen Orten in der Ukraine zu beobachten sind. Morde, Verschwindenlassen, Vergewaltigungen, Folter – es wird Jahre dauern, bis all das untersucht, aufgearbeitet und, wenn möglich, auch juristisch geahndet werden kann. In dieser Ausgabe haben wir uns trotz des Krieges entschieden, an dem seit langem geplanten Schwerpunkt zur Meinungsfreiheit in Ostafrika festzuhalten. Die äthiopische Menschenrechtsorganisation EHRCO erhält den Menschenrechtspreis von Amnesty, und mit ihr rückt eine Region ins Zentrum des Interesses, die ansonsten zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Auf fast 20 Seiten nehmen wir die Menschenrechte zwischen Sudan und Tansania in den Blick. Einen zweiten Schwerpunkt zum Krieg in der Ukraine und zur Situation in Russland haben wir auf den Seiten 4/5, 30 bis 39, 52, 56 bis 63 und 75 übers Heft verteilt. Weitere Beiträge finden Sie online: www.amnesty.de/amnestyjournal-das-magazin-fuer-die-menschenrechte. Meine Kollegin Lea De Gregorio hat Amnesty International nach mehr als drei Jahren auf eigenen Wunsch verlassen. Wir bedauern das sehr, danken Lea für ihre hervorragende Arbeit und wünschen ihr alles Gute für den weiteren Weg. Uta von Schrenk, die bisher die Kulturseiten verantwortet hat, wird nun Redakteurin für die Gesellschaftsthemen im Journal, neue freie Kulturredakteurin wird Nina Apin. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und wünsche Ihnen auch weiterhin eine gute Lektüre.
Maik Söhler ist verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals. Foto: Gordon Welters
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PANORAMA
ZERBOMBT Bewohner suchen nach Gegenständen in den Ruinen eines Wohnhauses, das am 5. April 2022 während der Kämpfe zwischen ukrainischen und russischen Streitkräften in Borodjanka zerstört wurde. Erst in der zweiten Aprilwoche zogen die russischen Truppen aus der nordwestlich von Kiew gelegenen Stadt ab. Seither wurden nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwältin Irina Wenediktowa Dutzende Leichen in Wohngebieten von Borodjanka gefunden. Insgesamt gibt es Tausende zivile Opfer des Krieges, rund fünf Millionen Menschen sind geflohen. Amnesty International berichtete am 7. April unter Verweis auf ukrainische Augenzeugen von russischen Gräueltaten in Butscha und anderen Orten in der Nähe von Kiew. Russische Truppen hätten wiederholt unbewaffnete Menschen erschossen. Der Amnesty-Bericht belegt auch Vergewaltigungen. Foto: Vadim Ghirda / AP / pa
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TOTE KINDER IN KANADA Kanada setzt sich seit einigen Jahren mit einem der dunkelsten Kapitel seiner Geschichte auseinander. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden schätzungsweise 150.000 indigene Kinder teilweise gewaltsam von ihren Eltern getrennt und zwangsweise in staatliche Internate gebracht. Dort unterdrückte und misshandelte man sie. Offiziellen Angaben zufolge starben mehr als 4.000 Kinder während dieser »Umerziehung«. Die Kamloops Indian Residential School in British Columbia war mit bis zu 500 Schüler_innen die größte ihrer Art. Sie wurde von der katholischen Kirche betrieben. Im Frühjahr 2021 untersuchten Ingenieur_innen mit Hilfe von Radarstrahlen den Boden und entdeckten die Leichen von 215 Kindern, von denen einige erst drei Jahre alt waren. Sie wurden vermutlich dort verscharrt, als es das Internat noch gab. Als Todesursachen gelten Misshandlung, Krankheiten und Verwahrlosung. Die Namen der Verstorbenen wurden nur unvollständig dokumentiert. Eine von der kanadischen Regierung eingesetzte Kommission konnte 51 Kinder identifizieren, die zwischen 1919 und 1971 ums Leben kamen. Das Siegerbild des World Press Photo 2022 zeigt Kreuze und Kleidung, die an die Kinder erinnern sollen. Foto: Amber Bracken /The New York Times / Redux / laif
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WIDERSTAND IN MYANMAR Im Februar 2021 stürzte das Militär in Myanmar die demokratisch gewählte Regierung und ging repressiv gegen Demonstrierende vor. Mehr als 1.500 Menschen wurden seitdem bei Protesten getötet. Schätzungsweise 11.000 Menschen wurden bislang festgenommen, von denen sich mehr als 8.000 nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Assistance Association for Political Prisoners immer noch in Haft befinden. Die prekäre Ernährungslage führt dazu, dass Millionen Menschen Hunger leiden. Hunderttausende wurden innerhalb des Landes vertrieben, Tausende flohen über die Grenze nach Thailand. Im Bild: Demonstrierende wehren sich im März 2021 in Yangon gegen Sicherheitskräfte. Das Foto wurde beim Wettbewerb zum World Press Photo 2022 ausgezeichnet. Foto: Anonymous /The New York Times / Redux / laif
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EINSATZ MIT ERFOLG
ÄGYPTEN
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge
Der Student Patrick George Zaki wurde am 7. Dezember 2021 nach 22 Monaten willkürlicher Haft vorläufig freigelassen. Seit seiner Festnahme im Februar 2020 war er unter grausamen Bedingungen in Kairo inhaftiert. Im September 2021 begann vor einem Staatssicherheitsgericht ein Verfahren gegen ihn wegen »Verbreitung falscher Nachrichten im In- und Ausland«. Hintergrund war ein 2019 veröffentlichter Artikel mit Auszügen aus seinem Tagebuch, in denen er die Diskriminierung koptischer Christ_innen in Ägypten beschrieb. Zuletzt vertagte das Gericht den Prozess, die Anklage besteht vorerst weiter. Urteile, die von einem Staatssicherheitsgericht gesprochen werden, können in Ägypten nicht angefochten werden. Amnesty International wird das Verfahren gegen ihn weiter beobachten.
GUATEMALA Am 24. März wurde Bernardo Caal Xol nach vier Jahren Haft aus dem Gefängnis in Cobán entlassen. Ein Richter ordnete seine Freilassung wegen guter Führung an. Der 50-jährige Lehrer und Verteidiger indigener Rechte war im Januar 2018 inhaftiert worden. Er hatte sich für die Maya-Gemeinschaft der Q’eqchi’ eingesetzt, die sich gegen den Bau zweier Wasserkraftwerke im Norden Guatemalas wehrt. Ein Gericht verurteilte ihn 2018 auf Grundlage konstruierter Anklagen zu sieben Jahren und vier Monaten Haft. Amnesty International setzte sich unter anderem beim Briefmarathon 2021 für ihn ein. »Es ist eine großartige Nachricht, dass Bernardo wieder bei seiner Familie ist«, sagte Erika Guevara-Rosas, Amnesty-Direktorin für Nord- und Südamerika. »Er ist jedoch nach wie vor für ein Verbrechen verurteilt, das er nicht begangen hat.«
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HONDURAS
TSCHAD
Acht Mitglieder der Umweltorganisation Comité Municipal para la Defensa de Bienes Comunes y Públicos (CMDBCP) sind ohne Auflagen freigelassen worden. Das Strafgericht von Trujillo ordnete am 24. Februar die Freilassung von José Daniel Márquez, Kelvin Alejandro Romero, José Abelino Cedillo, Porfirio Sorto Cedillo, Ewer Alexander Cedillo und Orbin Nahún Hernández an. Arnold Javier Alemán und Jeremías Martínez Díaz waren bereits am 9. Februar freigesprochen und aus der Haft entlassen worden. Die acht CMDBCP-Mitglieder befanden sich mehr als zwei Jahre in Untersuchungshaft. Amnesty International betrachtete sie als gewaltlose politische Gefangene, die nur deshalb in Haft saßen, weil sie sich für geschützte Gewässer und gegen ein Bergbauprojekt einsetzten.
Seit dem 30. Dezember 2021 ist Baradine Berdei Targuio uneingeschränkt frei. Eine Amnestie beendete alle Auflagen, darunter ein Reiseverbot, die mit seiner Freilassung im Juni 2021 verbunden waren. Der Menschenrechtsverteidiger war im Januar 2020 festgenommen worden und verbrachte 17 Monate in Haft. Vor seiner Festnahme hatte er sich zum Gesundheitszustand des Präsidenten und zur Menschenrechtslage in der Provinz Tibesti geäußert. Im Februar 2021 verurteilte ihn ein Gericht wegen »Verstoßes gegen die verfassungsmäßige Ordnung« zu einer dreijährigen Haftstrafe und einer Geldstrafe von 250.000 CFA-Franc (etwa 380 Euro). Baradine Berdei Targuio dankte allen Unterstützer_innen von Amnesty International für ihre »Entschlossenheit, den Optimismus und das Durchhaltevermögen«.
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES
IRAN
Mit den Briefen gegen das Vergessen (siehe Seite 72) können sich alle gegen Unrecht stark machen – allein zu Hause oder gemeinsam mit anderen. In jedem Amnesty Journal rufen wir dazu auf, an Regierungen oder andere Verantwortliche zu schreiben und sich für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Was aus ihnen geworden ist, erfahren Sie hier.
KAMERUN
Foto: Amnesty
Die seit Jahren im Iran inhaftierten britischiranischen Doppelstaatsangehörigen Nazanin Zaghari-Ratcliffe und Anoosheh Ashoori sind im März freigelassen worden. Weil Zaghari-Ratcliffe für die BBC und eine ausländische Wohltätigkeitsorganisation arbeitete, wurde sie im September 2016 wegen »Mitgliedschaft in einer illegalen Gruppe« zu fünf Jahren Haft verurteilt. Der in Großbritannien ansässige Anoosheh Ashoori war im August 2017 während eines Besuchs in Teheran inhaftiert worden. Nach Angaben seiner Familie zwang man ihn mit Folter zu »Geständnissen«, die ihm eine zwölfjährige Haftstrafe einbrachten. Amnesty International hatte sich jahrelang unter anderem mit Eilaktionen für die Freilassung der beiden eingesetzt.
Fomusoh Feh (Foto) und seine Freunde Afuh Nivelle Nfor und Azah Levis Gob wurden im Februar 2022 aus der Haft entlassen. Fomusoh Feh, kurz Ivo genannt, wollte gerade sein Studium beginnen, als er im Dezember 2014 in Mile Four Limbe von sechs Männern in Zivil festgenommen wurde. Grund war eine ironische SMS, die der 25-Jährige seinem Freund Azah Levis Gob geschickt hatte, der sie wiederum mit dem Schüler Afuh Nivelle Nfor geteilt hatte. Ein Militärgericht verurteilte die drei jungen Männer daraufhin zu zehn Jahren Haft wegen Straftaten, die mit Terrorismus in Verbindung gebracht wurden. Im Dezember 2021 entschied der Oberste Gerichtshof, ihre Haftstrafe von zehn auf fünf Jahre zu reduzieren, die sie bereits verbüßt haben. Die drei sind inzwischen bei ihren Freund_innen und ihrer Familie. (Oktober 2019)
Foto: privat
IRAN
SAUDI-ARABIEN Der Menschenrechtsaktivist und Blogger Raif Badawi wurde im März nach zehn Jahren Haft aus dem Gefängnis in der saudi-arabischen Hafenstadt Dschidda entlassen. Er war am 17. Juni 2012 festgenommen und im Jahr 2014 wegen »Beleidigung des Islams« zu zehn Jahren Gefängnis, einer Geldstrafe von umgerechnet etwa 240.000 Euro und 1.000 Stockhieben verurteilt worden. Die ersten 50 Stockhiebe gingen im Januar 2015 auf einem öffentlichen Platz auf ihn nieder, weltweite Protestaktionen folgten. Badawi hatte im Jahr 2008 ein Online-Forum gegründet und dort auch selbst Beiträge publiziert. Seit seiner Freilassung unterliegt er einem zehnjährigen Ausreiseverbot, sodass er nicht zu seiner Familie in Kanada reisen kann (siehe auch Seiten 40 und 41).
Die iranische Menschenrechtsverteidigerin Atena Daemi ist nach fünf Jahren Haft freigekommen. Sie war zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden, weil sie öffentlich die Abschaffung der Todesstrafe im Iran gefordert hatte. Das erste Urteil fiel im Jahr 2015, als sie der »Versammlung und Verschwörung gegen die nationale Sicherheit« sowie der »Verbreitung und Propaganda gegen das System« beschuldigt wurde. Sie hatte sich auf Facebook und Twitter kritisch zu Hinrichtungen und Menschenrechtsverletzungen im Iran geäußert. Daemi bekam eine Haftstrafe von 14 Jahren, die später auf sieben Jahre verkürzt wurde. Während der Haft wurde sie geschlagen, mit Pfefferspray traktiert und 51 Tage in Einzelhaft genommen. Am Abend des 24. Januar 2022 schrieb ihre Schwester im Online-Netzwerk Twitter: »Atena ist frei.« Außerdem postete sie ein Video, auf dem zu sehen ist, wie Daemi ihrer Mutter in die Arme fällt. Amnesty hatte sich jahrelang für ihre Freilassung eingesetzt, nicht nur mit den Briefen gegen das Vergessen, sondern auch beim Briefmarathon 2018. (Oktober 2021)
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TITEL
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Meinungsfreiheit in Ostafrika Er gibt denen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden: der Äthiopische Menschenrechtsrat EHRCO. Für diese Arbeit zeichnet ihn Amnesty International mit dem Menschenrechtspreis aus. Äthiopien ist aber nicht das einzige Land Ostafrikas, in dem sich Menschen lautstark für die Meinungs-, Informationsund Versammlungsfreiheit einsetzen. Wir geben einen Überblick von kämpfenden Frauen im Sudan über mutige Medien in Uganda bis in die Gefängnisse Burundis, in denen Oppositionelle dauerhaft zum Schweigen gebracht werden sollen.
Ein Zeichen für Mut: Das Symbol des EHRCO auf einer Weste, Addis Abeba, Januar 2022. Foto: Maheder Haileselassie
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OSTAFRIKA MENSCHENRECHTSPREIS
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Kämpft für grundlegende Werte. Dan Yirga Haile, Geschäftsführender Direktor des EHRCO.
Sie machen einen Job, den niemand machen will, und sie machen ihn gern Als der Äthiopische Menschenrechtsrat EHRCO 1991 gegründet wurde, hatten die Menschen in dem ostafrikanischen Land Jahrzehnte an Diktatur und Repression hinter sich. Seit 2020 in Äthiopien ein weiterer Krieg begann, ist die Arbeit des EHRCO gefährlicher denn je. Nun wird der Rat mit dem Menschenrechtspreis von Amnesty International ausgezeichnet. Aus Nairobi von Bettina Rühl mit Fotos von Maheder Haileselassie, Addis Abeba
D
an Yirga Haile sitzt im Café eines Hotels in der kenianischen Hauptstadt Nairobi und schaut sich nicht nach den anderen Gästen um. Jedenfalls nicht häufiger als dies andere Menschen tun. Stattdessen redet er konzentriert, nimmt nur gelegentlich einen Schluck von seinem Saft. In seiner Heimatstadt Addis Abeba wäre das so nicht möglich, sagt der Menschenrechtsaktivist. »Da könnten wir an einem öffentlich zugänglichen Ort nicht so frei sprechen.« Der 38-Jährige ist geschäftsführender Direktor des Äthiopischen Menschenrechtsrats EHRCO. Und als solcher nicht nur bekannt, sondern auch gefährdet, ebenso wie die übrigen Mitglieder der Organisation. »In Äthiopien kann jederzeit alles passieren«, sagt Dan. »Ein Mitglied unserer Organisation wurde auf der Straße regelrecht exekutiert, andere wurden verhaftet, im Gefängnis schwer gefoltert. Mir kann jederzeit dasselbe widerfahren.« Das allgegenwärtige Risiko ist in seinem Leben wie ein Grundrauschen, das ihn nicht davon abhält, zu tun, was er für nötig hält. »Unter bestimmten Umständen hat man gar keine andere Wahl, als für grundlegende Werte zu kämpfen«, sagt er. »Jemand muss sich dafür einsetzen, dass die Menschenrechte in Äthio-
pien künftig respektiert werden. Niemand will diesen Job machen, aber irgendjemand muss ihn übernehmen.« Dan und die übrigen Mitglieder des Äthiopischen Menschenrechtsrats haben sich dafür entschieden, »egal, wie hoch der Preis ist«. Das können Haftstrafen oder Misshandlungen sein, vielleicht auch der Verlust des Lebens. Dans Erklärung für seine Entscheidung klingt angesichts der Risiken überraschend schlicht: »Ich möchte, dass mein Heimatland für alle Menschen ein besserer Ort wird.« Dafür setzt sich der Jurist seit 2005 ein. Auslöser war ein Bericht über Menschenrechtsverletzungen der Regierung bei den schweren Unruhen nach den Parlamentswahlen im Mai 2005. Bei Demonstrationen gegen die formal demokratische, faktisch aber autoritäre Regierung hatten Polizeikräfte Anfang Juni 2005 mindestens 36 Menschen getötet und Hunderte verletzt. Tausende vorwiegend junge Demonstrierende waren in Lagern abseits der Hauptstadt Addis Abeba eingesperrt worden. Bei einem Marsch durch die Stadt bekam Dan den Bericht in die Hand gedrückt, der das Vorgehen der Regierung schonungslos kritisierte. »Ich war wie elektrisiert«, erinnert er sich. »Ich habe mich gefragt: Wer sind diese Leute, die die Regierung so mutig kritisie-
ren? Ich wollte sie kennenlernen und mich ihnen anschließen.« Verfasst hatte den Bericht der Äthiopische Menschenrechtsrat EHRCO, der zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre existierte. Gegründet wurde die Organisation im Oktober 1991 von Mesfin Woldemariam, einem damals 61-jährigen Professor der Geografie, und 31 anderen. Im Mai desselben Jahres hatte die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) zusammen mit der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF) den langjährigen Militärdiktator Mengistu Haile Mariam gestürzt. Als die siegreichen Rebellen nach Jahren des Krieges in die Hauptstadt Addis Abeba einmarschierten, hatte das Land noch keinerlei Erfahrung mit Demokratie, dafür umso mehr mit brutalen Diktaturen und blutiger Repression gegen die Bevölkerung. »Nach Mengistus Sturz waren alle voller Hoffnung, dass Menschenrechte von nun an gewahrt würden, dass Äthiopien demokratisch und ein Rechtsstaat würde«, erinnert sich Dan. Allerdings kamen die neuen Machthaber gerade erst aus einem jahrelangen Krieg. »Sie kannten nur Kugeln und Granaten. Und jetzt übernahmen sie die
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wichtigsten Schaltstellen der Macht.« Mesfin Woldemariam und einige Kolleg_innen von der Universität gründeten den Äthiopischen Menschenrechtsrat, um die noch junge Regierung beim Aufbau staatlicher Institutionen zu beraten und dafür zu sorgen, dass die Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und die Demokratisierung nicht ins Hintertreffen gerieten. Doch die Regierung reagierte sofort mit Repressionen: Die Mitglieder des Menschenrechtsrats verloren ihre Stellen an der Universität, wurden eingeschüchtert und bedroht.
Anfängliche Verbesserungen unter Abiy Anfangs hatte die Organisation kaum genug Geld, um auch nur das Nötigste anzuschaffen, Stühle und Tische für Büros zum Beispiel. Alle Mitglieder mussten ehrenamtlich arbeiten, da es an finanziellen Mitteln mangelte. Mit der Zeit wurde der EHRCO bekannter, erhielt Unterstützung von internationalen Partner_innen, konnte bescheidene Gehälter zahlen und weitere Büros in verschiedenen Regionen des Landes eröffnen. Doch 2009 setzte die Regierung genau da an, um ihren Gegner zu treffen: Ein Gesetz schränkte die Menge ausländischen Geldes für zivilgesellschaftliche Organisationen deutlich ein. Sie mussten nun 90 Prozent ihrer Einnahmen aus lokalen Quellen beziehen. Die Regierung fror das Vermögen des EHRCO ein, die Organisation verlor den Großteil ihrer Einnahmequellen und musste acht ihrer elf Büros schließen. Im Februar 2018 schien sich die Menschenrechtslage in dem ostafrikanischen Land mit seinen 105 Millionen Einwohner_innen zunächst zu verbessern: Nach jahrelangen Demonstrationen gegen die
Der Bürgerkrieg hat ihre Arbeit schwieriger und gefährlicher gemacht. EHRCO-Mitarbeitende in Addis Abeba.
Regierung trat Ministerpräsident Hailemariam Desalegn von der seit Jahren regierenden Koalition Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF) überraschend zurück. Neuer Regierungschef wurde Abiy Ahmed, der zunächst als Reformer begrüßt wurde und seine Amtszeit mit Neuerungen begann: Er hob den Ausnahmezustand auf, erlaubte verbotene Medien und Parteien, kündigte freie Wahlen an, ließ Tausende politische Gefangene frei, ging gegen Korruption vor und vergrößerte den Einfluss von Frauen in Politik und Gesellschaft. Außerdem schloss er im Juli 2018 einen Friedensvertrag mit dem benachbarten Eritrea, für den er ein Jahr später mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Unter Abiy habe sich die Menschenrechtslage zunächst in mancherlei Hinsicht verbessert, erkennt Dan Yirga Haile an. Das betraf auch den Menschenrechtsrat: Abiy erfüllte 2018 die schriftliche Bitte des EHRCO, das eingefrorene Geld freizugeben. Die Organisation konnte wieder mehr regionale Büros eröffnen und ihr Angebot erweitern: Derzeit überwachen 32 hauptamtliche und viele ehrenamtliche Aktivist_innen die Einhaltung der Menschenrechte und berichten, wenn diese verletzt werden. Sie setzen sich für benachteiligte Gruppen ein, leisten unentgeltlich Rechtsbeistand und informieren die Bevölkerung in Workshops über ihre Rechte. Doch die Hoffnung nach Abiys Machtantritt habe sich nicht erfüllt, berichtet Dan. Im Gegenteil: Die Menschenrechts-
Haben schon einige Krisen überwunden. Mitarbeitende des EHRCO im Büro in Addis Abeba.
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lage verschlechterte sich bald wieder. Im November 2020 wurde aus einer lange schwelenden politischen Krise ein Krieg in der Region Tigray im Norden des Landes. Schnell griffen die Kämpfe auf die benachbarten Regionen Afar und Amhara über. Der Äthiopische Menschenrechtsrat, Amnesty International, die UNO und andere Organisationen werfen allen Konfliktparteien schwere Menschenrechtsverletzungen vor. Seit Beginn der Kämpfe wurden Tausende Menschen getötet und mehr als zwei Millionen in die Flucht getrieben. Laut dem Welternährungsprogramm WFP sind in Tigray und den Nachbarregionen mehrere Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen. Die UNO kritisiert, die äthiopische Regierung habe Hilfslieferungen nach Tigray monatelang blockiert. »Die Situation der Binnenvertriebenen ist katastrophal«, bestätigt Dan. Grundlegende Menschenrechte wie Meinungsund Bewegungsfreiheit, das Recht auf Eigentum und das Recht auf Leben würden verletzt. Es hätten sich ethnische Milizen gebildet, die gegen Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen vorgingen, teilweise aufseiten der Regierung. Immer wieder fordert der Menschenrechtsrat die Regierung auf, die Bevölkerung zu schützen und das Recht auf Leben zu garantieren –
»Wir sprechen über Menschen, die Hoffnungen hatten.« Dan Yirga Haile, EHRCO
ohne Ansehen der ethnischen Zugehörigkeit. Er sei entsetzt angesichts dessen, was derzeit in Äthiopien passiere, sagt Dan.
Dramatische Verschlechterung der Menschenrechtslage Der Krieg hat die Arbeit der Menschenrechtsaktivist_innen schwieriger und gefährlicher gemacht. »Es ist nicht einfach, an die Orte zu gelangen, an denen die Verbrechen geschehen, und dort zu ermitteln«, sagt Dan. »Wir fürchten, bei unseren Untersuchungen ebenfalls getötet zu werden.« Auch die Veröffentlichung von Berichten kann Repressionen nach sich ziehen, von Inhaftierung bis hin zu Mord. Im November 2021 verhängte die Regierung den Ausnahmezustand, den sie erst Mitte Februar 2022 aufhob. Das Notstandsgesetz erlaubt den Behörden, Menschen ohne Gerichtsentscheid festzunehmen und Medien, nichtstaatliche Organisationen sowie lokale Verwaltungen aufzulösen. Nach Angaben des Komitees zum Schutz von Journalisten (CPJ) wurden auf dieser Grundlage von November bis Mitte Dezember 2021 mindestens 14 Journalist_innen inhaftiert. Nicht nur die Medien, sondern auch für die Mitglieder des EHRCO ist eine Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen wegen des Krieges nur schwer und unter großen Gefahren möglich. Viele mutmaßliche Tatorte seien kaum zugänglich, die Infrastruktur sei zerstört, erklärt Dan. Und in vielen Gegenden werde weiterhin gekämpft. »Oft ist es so, dass die Menschen fliehen. Unsere Ermittler_innen bewegen sich in die Gegenrichtung, in die Gefahrenzone hinein.« In
Tigray und Amhara seien die Kommunikationsnetze lange Zeit abgeschaltet gewesen, zum Teil sei dies noch immer der Fall. Dies bedeute ein zusätzliches Sicherheitsrisiko für jene, die sich auf den Weg dorthin machen. Dennoch schafft es der EHRCO immer wieder, nach mutmaßlichen Menschenrechtsverbrechen Untersuchungen anzustellen, beispielsweise nach dem Massaker von Mai-Kadra, einem Ort im Südwesten Tigrays. In der Nacht des 9. November 2021 wurden dort mehr als 1.200 Menschen getötet, mit Äxten, Macheten, Messern oder durch Kugeln. »Es war ein furchtbares Massaker«, sagt Dan. »Bei diesen Zahlen geht es schließlich nicht um reine Mathematik, um Bananen oder Orangen. Wir sprechen über Menschen, die wie du oder ich Hoffnungen und Träume hatten und von einem Moment auf den anderen getötet wurden.« Die Täter seien junge Menschen mit Verbindung zur TPLF gewesen, sagt Dan, doch sei auch die Regierung mitverantwortlich: »Denn es ist die Aufgabe des Staates, die Bevölkerung zu schützen.« Sowohl die Täter als auch die Regierung müssten zur Rechenschaft gezogen werden, fordert der Menschenrechtsaktivist.
Erfolge und Ermutigung Trotz aller Schwierigkeiten hat der Äthiopische Menschenrechtsrat im Lauf der Jahre immer wieder Erfolge erzielt: indem er denen eine Stimme gab, die sonst nicht gehört werden, oder indem er Menschen mit unentgeltlichem juristischem Beistand zu ihrem Recht verhalf und beispielsweise eine Vertreibung von ihrem
Land verhinderte. Dass die Organisation nun den Menschenrechtspreis von Amnesty International in Deutschland erhält, empfindet Dan Yirga Haile nicht nur als große Ehre und Auszeichnung, sondern auch als Ermutigung, mit der Arbeit weiterzumachen. Menschenrechtliches Engagement in Äthiopien sei nichts, was sich zwischen 9 und 17 Uhr erledigen lasse, es bestimme das ganze Leben, sagt Dan. »Ich versage mir fast alle Vergnügungen. Zum einen, weil wir uns nicht den geringsten Fehler erlauben dürfen. Die Regierung würde das sofort nutzen, um unserem Ruf zu schaden und uns zu verunglimpfen.« Zum anderen, weil jeder noch so harmlos wirkende Ausflug Risiken birgt: Wo viele Menschen sind, könnten potenzielle Auftragsmörder_innen ihren Job viel einfacher ausführen und ein Verbrechen wie einen Unfall aussehen lassen. Dan beklagt sich nicht darüber, dass ihn sein Einsatz für die Menschenrechte zu einem geradezu asketischen Leben zwingt, in dem er ständig auf der Hut sein muss. Auch finanziell könnte es ihm als Anwalt deutlich besser gehen. »Aber ich wüsste nichts, was mich mehr befriedigen würde als das, was ich tue«, versichert er. »Wir können mit unserer Arbeit Leben verändern, das ist mir jeden Einsatz wert.« ◆ Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
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OSTAFRIKA ÄTHIOPIEN
Die Hoffnung auf Freiheit bleibt Viele Jahre hat der äthiopische Journalist Eskinder Nega schon in Haft verbringen müssen. Auch unter dem Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed musste er wieder ins Gefängnis. Von Franziska Ulm-Düsterhöft
Da war er gerade freigekommen. Eskinder Nega im Jahr 2018. 16 AMNESTY JOURNAL | 03/2022
Foto: Amnesty
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skinder Nega ist 52 Jahre alt. Er hat mehr als ein Fünftel seines Lebens im Gefängnis verbracht. Seit 1993 wurde er zehn Mal inhaftiert, mehrfach angeklagt und verurteilt. Er wurde geschlagen, erniedrigt und mit Tausenden anderen Menschen im Gefängnis Maekelawi in Addis Abeba zusammengepfercht. Der Journalist kritisierte in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder öffentlich die Regierungen Äthiopiens und trat für Meinungsfreiheit ein. Im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen 2005 verschärfte die damalige Regierung unter Meles Zenawi die Medien- und Sicherheitsgesetze. Unzählige Journalist_innen, Oppositionelle und Menschenrechtsaktivist_innen wurden inhaftiert, Medien verloren ihre Zulassung und wurden geschlossen. Auch Eskinder Nega und seine Ehefrau, die Journalistin Serkalem Fasil, wurden inhaftiert, angeklagt und wegen Hochverrats verurteilt. Fasil, die schwanger war, wurde in einer Zelle voller Ratten und Kakerlaken angekettet und brachte ihren Sohn im Gefängnis zur Welt. Im Jahr 2007 kamen die beiden frei. Eskinder Nega berichtete Amnesty International anschließend, die Behörden hätten mit aller Macht versucht, ihn zu brechen. Im September 2011 wurde der Journalist erneut festgenommen, nachdem er regierungskritische Artikel geschrieben hatte, in denen er den Schutz der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit gefordert hatte, und später zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Jahren der Repression führten Proteste schließlich im Jahr 2018 zum Rücktritt der äthiopischen Regierung unter Hailemariam Desalegn und zur Amtsübergabe an Premierminister Abiy Ahmed. Dieser galt zunächst als Hoffnungsträger. Er ließ mehr als 7.000 politische Gefangene frei, darunter auch Eskinder Nega, schloss das verrufene Gefängnis Maekelawi und leitete Reformen ein. Gesetze, die bis dahin dazu gedient hatten, kritische Stimmen mundtot und Menschenrechtsarbeit unmöglich zu machen, wurden überarbeitet. Nach seinem ersten Amtsjahr waren alle inhaftierten Journalist_innen frei und verbotene Medien wieder zugelassen. Oppositionelle kehrten aus dem Exil zurück, und zivilgesellschaftliche Organisationen nahmen ihre Arbeit wieder auf. Für seine Aussöhnungspolitik mit dem Nachbarland Eritrea bekam Abiy Ahmed im Jahr 2019 den Friedensnobelpreis. Eskinder Nega begrüßte den Amtsantritt von Abiy Ahmed zunächst ebenfalls
und gründete wie viele andere eine eigene Partei, mit der er zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahr 2020 antreten wollte. Am 31. März 2020 kündigte der Nationale Wahlausschuss jedoch an, die für den Sommer angesetzten Wahlen wegen der Corona-Pandemie auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Das Parlament stimmte einer Verschiebung auf 2021 zu. Politische Mandate und Ämter wurden auf unbestimmte Zeit verlängert. In der Folge kam es zu Protesten in mehreren Landesteilen, auch in der Hauptstadt Addis Abeba und in der Region Oromia. Dies war deshalb bemerkenswert, weil mit Abiy Ahmed erstmals ein Oromo und damit ein Vertreter der größten Bevölkerungsgruppe an der Spitze der Regierung stand. Unter den vorherigen Regierungschefs aus der Region Tigray waren Angehörige der Oromo häufig Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt gewesen.
Wie es zum Krieg kam Im Juni 2020 kam der aus der Region Oromia stammende, populäre Sänger Hachalu Hundessa in Addis Abeba unter ungeklärten Umständen zu Tode. Im Anschluss fanden in seiner Heimatregion Demonstrationen statt, die von Sicherheitskräften gewaltsam niedergeschlagen wurden. Dabei wurden mindestens 177 Menschen getötet und mehr als 5.000 festgenommen. Unter den Inhaftierten befand sich abermals Eskinder Nega. Die Verschiebung der Wahlen führte auch zu wachsenden Spannungen zwischen der Regierung und der Partei Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), die bis zur Amtsübernahme Abiy Ahmeds fast drei Jahrzehnte lang die Regierung Äthiopiens dominiert hatte und sich nun entmachtet fühlte. Unter Missachtung des nationalen Beschlusses hielt die TPLF-Regionalregierung in Tigray im September 2020 Wahlen ab, die von der Zentralregierung umgehend für rechtswidrig erklärt wurden. Nach dem Beschuss eines Militärlagers in Mekelle durch die TPLF begann die Zentralregierung am 4. November 2020 eine Militäroffensive gegen die TPLF in Tigray, die sich rasch auf die angrenzenden Regionen Amhara und Afar ausweitete und bis heute andauert. Sowohl die Regierungstruppen als auch die TPLF-Kämpfer_innen verübten in diesem Konflikt Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die Kriegsverbrechen und in einigen Fällen möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen. Infolge der Kampfhandlungen wurden Tausende Menschen
Seit 1993 wurde Nega zehn Mal inhaftiert, mehrfach angeklagt und verurteilt. vor allem aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit getötet. Es kam zu Zerstörungen, Plünderungen und massenhaften Vertreibungen. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden 2,4 Millionen Menschen in Folge des Konflikts innerhalb des Landes vertrieben. Mehr als 70.000 Personen flüchteten in den Sudan. Amnesty International dokumentierte Hunderte von außergerichtlichen Hinrichtungen sowie Vergewaltigungen, wahllose Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur, die Blockade humanitärer Hilfe sowie Festnahmen und Inhaftierungen aufgrund ethnischer Kriterien. Im November 2021 verhängte die Regierung den Ausnahmezustand, der es ihr erlaubte, Medien zu zensieren, die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen einzuschränken und Menschen willkürlich festzunehmen. Die Behörden inhaftierten zahlreiche Menschen, nur weil sie aus Tigray kamen. Journalist_innen fanden sich im Gefängnis wieder, weil sie über den Konflikt berichtet hatten. UN-Personal wurde angegriffen und des Landes verwiesen. Sämtliche Kommunikationskanäle nach Tigray wurden gesperrt. Weil die TPLF zurückgedrängt werden konnte, kündigte Abiy Ahmed Anfang 2022 einen Versöhnungsprozess an und ließ einige politische Gefangene frei. Auch Eskinder Nega konnte das Gefängnis am 7. Januar nach eineinhalb Jahren Haft verlassen. Mitte Februar 2022 wurde der Ausnahmezustand aufgehoben, doch befinden sich weiterhin zahlreiche Menschen allein wegen ihrer tigrayischen Herkunft in Haft. Die Kämpfe im Norden Äthiopiens gehen weiter, und Millionen Menschen sind noch immer von humanitärer Hilfe abgeschnitten. Im Jahr 2018 hatte Eskinder Nega Amnesty nach seiner Freilassung gesagt: »Wir hoffen immer noch, dass das, wofür wir standen und wofür wir das Opfer auf uns genommen hatten, Wirklichkeit werden wird.« Wie viele seiner Landsleute will er weiterkämpfen, bis Demokratie und Freiheit in Äthiopien erreicht sind. ◆ Franziska Ulm-Düsterhöft ist Fachreferentin für Afrika bei Amnesty in Deutschland.
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OSTAFRIKA GRAPHIC REPORT
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Gräueltaten in Äthiopien
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OSTAFRIKA SUDAN
»Gut vernetzte Frauen« Seit mehr als drei Jahren fordern Tausende Menschen im Sudan eine zivile Regierung. Die im Exil lebende Menschenrechtsaktivistin Shadia Abdelmoneim spricht über Repression, Meinungsfreiheit und auffällig viele Akteurinnen bei den Protesten.
SHADIA ABDELMONEIM Die Menschenrechtsaktivistin wurde unter Omar al-Bashir inhaftiert und gefoltert. Sie verließ den Sudan 2016 und lebt seit 2018 in Deutschland. Abdelmoneim hat Informationstechnologie und Bibliothekswesen studiert. Foto: Sarah Eick
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Interview: Sabine Halfpap-Attia und Martina Liedke
Ende 2018 begannen im Sudan landesweite Proteste gegen Präsident Omar al-Bashir. Sie führten im April 2019 zum Sturz des Langzeitherrschers und einer Übergangsregierung, die sich aus Militärs und Zivilpersonen zusammensetzte. Diese Regierung verlor jedoch im Lauf der Zeit die Unterstützung der Bevölkerung. Es kam zu neuen Protesten und Forderungen nach einer reinen Zivilregierung. Ende Oktober 2021 putschte sich das Militär an die Macht. Seitdem demonstrieren fast täglich Zehntausende Menschen für Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie. Wie ist es um die Meinungsfreiheit im Sudan bestellt? Nach dem Sturz des Bashir-Regimes erlebte das Land ein Wiedererstarken der Meinungsfreiheit mit freien Medien, Versammlungen und Diskussionen. Als starkes Zeichen dieser neu gewonnenen Freiheit gab es vor dem Hauptquartier der Armee in Khartum zwei Monate lang eine massenhafte Sitzblockade, um eine zivile Regierung zu fordern. Doch am 3. Juni 2019 löste das Militär dieses Sit-in mit Gewalt auf. Es gab mehr als 100 Tote und rund 700 Verletzte. Die Furcht des Militärs und der Sicherheitsorgane, sich für ihr Vorgehen verantworten zu müssen, kann als einer der Gründe für den Putsch im Oktober 2021 gelten. Jetzt ist die Meinungsfreiheit wieder stark eingeschränkt. Seit Oktober wurden fast 90 friedliche Demonstrierende, die eine zivile Regierung forderten, getötet, Hunderte weitere verletzt und inhaftiert. Wie organisieren sich Aktivist_innen angesichts von Verhaftungswellen und Internetsperren? Besonders wichtig ist eine sichere digitale Kommunikation. Internetsperren können umgangen werden, Informationen werden in Netzwerke weitergeleitet. Der traditionell enge Zusammenhalt der Familien und Nachbarschaften erleichtert die Organisation des Widerstands gegen die Militärregierung in den verschiedenen Stadtteilen. Auch mit den weltweiten Diasporagruppen ist man in ständigem Kontakt. Wie ist die Situation sudanesischer Künstler_innen? Unter Bashir waren Kinos, Konzerte und Kunstausstellungen verboten. Während der friedlichen Revolution von 2018/19 traten plötzlich viele Künstler_innen bei Demonstrationen auf. Man sah Graffiti, neue Rapsongs wurden populär und trugen viel zur Motivation der Demonstrie-
renden bei. Dies führte dazu, dass das Militär nach dem Oktoberputsch 2021 Künstler_innen erneut unterdrückte. Davor gab es viele gezeichnete Porträts auf Wänden, die an Opfer des Massakers vom 3. Juni 2019 und anderer brutaler Angriffe auf Demonstrationen erinnerten. Doch inzwischen wurden sie mit weißer Farbe übertüncht. Künstler_innen, die ins Land zurückkamen, wurden teilweise bereits am Flughafen festgenommen. Welche Folgen hat der Putsch für Journalist_innen? Nach 30 Jahren totaler staatlicher Medienkontrolle und Zensur waren zu Beginn der Revolution 2018 kaum internationale Medien im Land. Ab 2019 konnten Journalist_innen wieder frei arbeiten, und viele ausländische Korrespondent_innen berichteten aus dem Sudan. Seit dem Putsch hat sich die Situation jedoch drastisch verschlechtert: Journalist_innen werden tätlich angegriffen, Ausrüstungen zerstört, Büros verwüstet und geschlossen. Die staatliche Kontrolle der Medien ist zurückgekehrt, das Recht auf freie Meinungsäußerung existiert de facto nicht mehr. Wie erklären Sie sich die starke Präsenz von Frauen bei den Protesten? Schon während der Diktatur Bashirs organisierten mutige Frauen Demonstrationen und gründeten Widerstands- und Selbsthilfegruppen. Durch ihre Proteste gegen islamische frauenfeindliche Gesetze und Zwangsrekrutierungen gerieten sie zunehmend ins Visier der Staatssicherheit. Inhaftierungen von Frauen häuften sich. Als es im Dezember 2018 zum Massenaufstand kam, waren Frauen bereits gut vernetzt und verstärkten ihre Kommunikation über Online-Netzwerke. Die »Erklärung für Freiheit und Wandel« einer oppositionellen Allianz wurde von 32 Frauengruppen unterzeichnet. Amnesty International berichtet über sexuelle Gewalt gegen Frauen durch Sicherheitskräfte. Können Sie das bestätigen? Ja, bereits Bashirs Regime setzte ab 2003 während des Völkermordes in Darfur Vergewaltigungen als Mittel der Kriegsführung ein. Auch bei den Massenprotesten, die zur Bildung der Übergangsregierung führten, kam es in Khartum immer wieder zu Vergewaltigungen. Und nach dem Oktoberputsch 2021 sind weitere Fälle dokumentiert worden. Diese Verbrechen werden gezielt eingesetzt, um Frauen und ihre Familien zu stigmatisieren, zu terrorisieren und davon abzuhalten, sich politisch zu betätigen. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte am 3. Juni 2019 ist bis heute nicht juristisch aufgearbeitet. Woran liegt das?
»Seit Oktober 2021 wurden fast 90 Demonstrierende getötet.« Während des Sit-ins haben ich und einige andere Frauen Folter und Misshandlung erlebt. Wir überlegten damals, juristisch gegen die verantwortlichen Sicherheitskräfte vorzugehen. Ich war jedoch davon überzeugt, dass das Justizsystem dazu nicht in der Lage ist, da es nicht unabhängig ist und noch viele Beamte aus der Bashir-Zeit beschäftigt. Als Menschrechtsaktivistin hätte ich nicht nur mein eigenes Leben gefährdet, sondern auch das meiner Tochter und meiner Familie. Es mangelt nicht nur an einer unabhängigen Aufklärung des Massakers, auch Bashir und die Mitglieder seines Machtapparates wurden immer noch nicht an den Internationalen Strafgerichtshof überstellt. Erhalten Betroffene Hilfe? Einige Menschenrechtsorganisationen und viele Anwält_innen versuchen, Opfern sexueller Gewalt zu helfen. Aber nicht alle sind ausreichend qualifiziert, insbesondere im Umgang mit Vergewaltigungen. Das kann dazu führen, dass den Betroffenen eher geschadet als geholfen wird. Viele schämen sich und befürchten, dass ihre Privatsphäre nicht ausreichend geschützt ist. Wurden die Frauenrechte in der Zeit der Übergangsregierung gestärkt? Nicht unbedingt, denn die Kleidervorschriften für Frauen wurden schon in den letzten Tagen des Bashir-Regimes gekippt. Die Übergangsregierung erließ zwar ein Gesetz gegen weibliche Genitalverstümmelung, aber bis heute gab es noch keinen erfolgreichen Gerichtsprozess, in dem dieses Gesetz zur Anwendung gekommen wäre. Es mangelt an der Durchsetzung der Menschenrechte im Allgemeinen und der Frauenrechte im Besonderen. Ohne die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen auf allen Entscheidungsebenen, ohne Chancengleichheit und ohne eine Reform der staatlichen Institutionen ist die Stärkung der Frauenrechte nicht möglich. ◆ Sabine Halfpap-Attia und Martina Liedke sind in der Amnesty-Koordinationsgruppe Sudan/Südsudan aktiv. Mehr Informationen: www.amnesty-zentral-ostafrika.de
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OSTAFRIKA UGANDA
Nicht frei, aber auch nicht unfrei Die Pressefreiheit in Uganda ist eingeschränkt. Dennoch gibt es eine vielfältige Medienlandschaft, in der nicht nur regierungskonforme Stimmen Platz finden. Von der Amnesty-Koordinationsgruppe Demokratische Republik Kongo/Uganda
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ie Corona-Krise hat viele Facetten. Dazu zählen Einschränkungen der Pressefreiheit in vielen Ländern. So stufte die Organisation Reporter ohne Grenzen die Pressefreiheit in Deutschland 2021 erstmals nur als »zufriedenstellend« ein. Der Hauptgrund dafür waren Angriffe auf Journalist_innen bei Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen. Auch im ostafrikanischen Staat Uganda erleben Journalist_innen im Zusammenhang mit der Pandemie Gewalt – dort geht sie allerdings von staatlichen Akteuren aus. So wurde der Journalist Julius Ocungi im März 2020 von Sicherheitskräften tätlich angegriffen, als er fotografierte, wie die Polizei eine Bar im Distrikt Kitgum im Norden des Landes schloss. Er ist beileibe kein Einzelfall. Zwar hat Uganda Gesetze, die die Pressefreiheit schützen, die Praxis sieht aber oft anders aus. Bereits vor der Corona-Pandemie wurden Journalist_innen wegen kritischer Berichte angegriffen oder bedroht. Bei brisanten Themen üben sie häufig auch Selbstzensur. Dies gilt zum Beispiel für die Berichterstattung über den seit 1986 amtierenden Präsidenten Yoweri Museveni und seine Familie. Internationales Aufsehen erregte ein Fall im Jahr 2013. Damals veröffentlichte der Daily Monitor, die größte unabhängige Tageszeitung des Landes, den Brief eines Armeeangehöri-
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gen, in dem es hieß, Museveni sehe seinen Sohn als Nachfolger im Präsidentenamt vor. Die Zeitung wurde daraufhin für mehr als eine Woche geschlossen, ebenso weitere Medien, die über den Brief berichtet hatten. Vom Ideal ist die Pressefreiheit also weit entfernt, doch im Gegensatz zu Eritrea, wo private Medien verboten sind (siehe Seite 23), hat sich in Uganda eine Medienlandschaft herausgebildet, die Raum bietet für eine Vielzahl unabhängiger Zeitungen, Radio- und TV-Sender. Und trotz aller Einschränkungen können sie zumindest teilweise Berichte veröffentlichen, die nicht der offiziellen Regierungslinie entsprechen. Dies wurde in den vergangenen Jahren deutlich, als Uganda Tausende abgelehnte Asylbewerber_innen aus Israel aufnahm. Die ursprünglich aus Eritrea und dem Sudan stammenden Menschen waren von Israels Regierung nach Uganda abgeschoben worden, wo sie unter prekären Umständen lebten. Die ugandische Regierung bestritt jahrelang, dass eine Abmachung mit Israel über die Aufnahme der Geflüchteten existiere. Dies hielt ugandische Zeitungen aber nicht davon ab, unter Schlagzeilen wie »Israel schickt 1.400 Flüchtlinge nach Uganda« oder »Uganda nimmt aus Israel ausgewiesene Ausländer auf« darüber zu berichten. Ein anderes Beispiel sind queere Themen. Obwohl LGBTI-Personen und Unterstützer_innen teilweise massive Unterdrückung erleben, existiert in Uganda
eines der ersten und auflagenstärksten Szenemagazine Afrikas: Seit 2014 erscheint »Bombastic« und schreibt offen über Probleme und Wünsche von Menschen mit LGBTI-Identität. Angriffe auf Journalist_innen einerseits und Spielräume für kritische Berichterstattung andererseits – dieser Widerspruch kennzeichnet die Situation in Uganda. Vor diesem spannungsgeladenen Hintergrund leisten zivilgesellschaftliche Organisationen wie Amnesty International und die ugandische NGO Chapter Four, die sich auf den Schutz von Bürger- und Menschenrechten spezialisiert hat, ihren Beitrag, um die Pressefreiheit zu verteidigen. ◆
Titelseite des Magazins »Bombastic«.
OSTAFRIKA ERITREA
Land ohne Meinungsfreiheit Eritreas Regierung unterdrückt seit mehr als zwei Jahrzehnten gnadenlos jegliche Kritik. Selbst Oppositionelle im Exil werden schikaniert. Von der Amnesty-Koordinationsgruppe Äthiopien/Eritrea an den bis heute amtierenden Präsidenten Isaias Afwerki unterzeichnet. Darin hatte die mittlerweile als G-15 bekannte Gruppe die Regierung aufgefordert, die ratifizierte Verfassung in Kraft zu setzen und Wahlen abzuhalten. Außerdem rief sie zu einem friedlichen und demokratischen Dialog auf. Doch die Regierung beschuldigte die Gruppe, das Land destabilisieren zu wollen und nahm die 15 Mitglieder sowie ihre in Eritrea lebenden Unterstützer_innen fest. Einer von ihnen ist Dawit Isaak (siehe Kurzporträt). Bis heute sind all diese Personen nicht offiziell angeklagt, ihr Aufenthaltsort ist unbekannt. Ein jüngeres Beispiel der unberechenbaren Willkür gegenüber Andersdenkenden ist Berhane Abrehe. Er war von 2001 bis 2014 Finanzminister und wurde 2018 nach der Veröffentlichung seines Buchs »Mein Land Eritrea« von Sicherheitskräften in der Hauptstadt Asmara festgenommen. In seinem Buch hatte er die Regierung kritisiert und die Eritreer_innen aufgefordert, mit friedlichen Mitteln für die Demokratie einzutreten. Bis heute ist Berhane Abrehe nicht wieder aufgetaucht. ◆
Regierungskritik ist in Eritrea schlicht nicht möglich.
DAWIT ISAAK Der eritreische Journalist und Schriftsteller ist seit 2001 ohne Gerichtsverfahren inhaftiert. 1964 geboren, erlebte Dawit Isaak Eritrea fast durchweg als ein Land, in dem man sich nicht frei äußern darf. Um unbeeinflusst schreiben zu können, ging er 1987 nach Schweden ins Exil, kehrte aber 1993 nach Ende des Unabhängigkeitskrieges zurück und beteiligte sich am neu erwachenden kulturellen Leben. Mit anderen Journalist_innen gründete er 1997 Setit, die Zeichnung: G. Costantini / PEN Eritrea
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ritrea, das kleine Land am Roten Meer, ist eines der am stärksten abgeschotteten und zensierten Länder der Welt. Nach Jahren des Unabhängigkeitskrieges gegen Äthiopien gründete eine linke Befreiungsbewegung im Jahr 1993 den unabhängigen Staat Eritrea und legte noch im gleichen Jahr den Grundstein für eine Diktatur. In keinem anderen Land südlich der Sahara sind heute mehr Journalist_innen inhaftiert. Seit 2001 gibt es keine unabhängige Presse mehr. Oppositionsparteien sind nicht zugelassen und Gewerkschaften nur, wenn sie sich von der Regierung kontrollieren lassen. Regierungskritik ist in Eritrea nicht möglich. Personen, die als kritisch gelten, werden in der Regel auf unbestimmte Zeit inhaftiert, ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand und ohne Anklageerhebung. Viele Oppositionelle, Menschenrechtsverteidiger_innen und unabhängige Journalist_innen verschwinden einfach, ihre Freund_innen und Verwandten wissen oft Jahre später noch nichts über ihr Schicksal und ihren Aufenthaltsort. Selbst im Exil werden Oppositionelle von Mitgliedern der Regierungspartei schikaniert, eingeschüchtert und bedroht. Im September 2001 begannen die bis heute andauernden Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung. Im Mai 2001 hatte sich eine Gruppe von 15 hochrangigen Beamten der Regierungspartei Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PFDJ) getroffen und einen offenen Brief
erste unabhängige Zeitung des Landes. Als er 2001 gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Gruppe G-15 die Regierungspolitik kritisierte, wurde er wegen »Verbrechen gegen die Sicherheit des Landes« inhaftiert; Setit wurde verboten. 2008 verlegten ihn die Behörden aus der Hauptstadt Asmara in das Gefängnis Eiraeiro, das für seine grausamen Haftbedingungen bekannt ist. Eritreische Gefängniswärter, die nach Schweden fliehen konnten, berichteten, Dawit Isaak habe sich in einem schlechten gesundheitlichen Zustand befunden.
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OSTAFRIKA BURUNDI
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ermain Rukuki ist müde, er hat in der Nacht nicht geschlafen. »Wir müssen bald eine neue Wohnung finden«, sagt er. »Das ist alles gerade nicht einfach.« Er macht eine vage Geste. Seit September 2021 lebt Rukuki in Belgien, geflohen aus Burundi, wo er vier Jahre lang unschuldig im Gefängnis saß. Seine Familie kam im Februar 2022 nach. Da hatten sie sich fast fünf Jahre lang nicht mehr gesehen, seit seiner Inhaftierung im Jahr 2017 waren sie getrennt gewesen. Die Geschichte der Inhaftierung und unrechtmäßigen Verurteilung Germain Rukukis begann deutlich vorher, im Jahr 2004. Er studierte damals an der Université de Burundi in Bujumbura Wirtschaft, als er beschloss, sich in einer Menschenrechtsorganisation zu engagieren. »Es ist sinnlos, eine Wirtschaft aufbauen zu wollen, solange die Menschenrechte und die Freiheit der Menschen nicht Grundlage des Staates sind«, sagt er. »Alles andere
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kommt danach.« Rukuki begann als Freiwilliger für ACAT (Action des Chrétiens pour l’Abolition de la Torture) zu arbeiten, einer christlichen Menschenrechtsorganisation, die sich für die Abschaffung der Folter einsetzt. Zwei Jahre später fing Rukuki an, Gefängnisse zu besuchen und Gefangene zu befragen, um möglichen Menschenrechtsverletzungen nachzugehen. »Bei einem meiner ersten Besuche wurden wir auf dem Weg dorthin von Polizisten eskortiert. Irgendwann überholte uns ein Polizeiauto. Die Polizei fing uns ein paar hundert Meter weiter ab, und beschuldigte uns, auf dem Markt einer Stadt, durch die wir gefahren waren, zehn Millionen burundische Francs (umgerechnet nach heutigem Wert knapp 4.500 Euro) gestohlen zu haben. Wir verwiesen auf die Es-
»Die Kerker in Burundi sind Aufbewahrungsorte für Oppositionelle.« Germain Rukuki
korte, die uns durch den Ort geleitet hatte, und der zuständige Kommissar bestätigte, dass wir nichts getan hatten. Die Polizei nahm unser Auto auseinander und fand nichts. Als sie fertig waren, war es aber zu spät, um noch zum Gefängnis zu fahren. Das war eine meiner ersten Erfahrungen in dieser Arbeit.« Rukuki erlebte diese Zeit stets als unsicher und gefährlich, aber das Jahr 2015 verschärfte die politische Situation in Burundi. Oder um es in Rukukis Worten zu sagen: Das war das Jahr, in dem ein Nagel in den Sarg geschlagen wurde. Der damalige Präsident Pierre Nkurunziza ließ sich verfassungswidrig für eine dritte Amtszeit wählen. Expert_innen sahen Burundi, das schon einige Bürgerkriege hinter sich hat, am Rand eines neuen Bürgerkriegs. Nkurunziza verfolgte Menschenrechtsaktivist_innen, die er für Proteste gegen seine Wiederwahl verantwortlich machte. Germain Rukuki erzählt, dass er im Juli 2015 einem Anschlag entging und im September nur knapp einer Entführung entkam. Andere Oppositionelle flohen, 400.000 Menschen verließen das Land. Rukuki beschloss, zu bleiben. Seine
Endlich in Sicherheit Weil Germain Rukuki in Burundi für eine Menschenrechtsorganisation arbeitete, wurde er wegen »Rebellion« und »Terrorismus« angeklagt und zu 32 Jahren Haft verurteilt. 2021 kam er frei, nun lebt er im Exil in Brüssel. Von Frédéric Valin
Er hat vier Jahre Haft überstanden. Germain Rukuki in Brüssel, Oktober 2021. Foto: Alexandra Bertels
Familie brachte er vorübergehend in Sicherheit, in Kigali, im benachbarten Ruanda. Und er hörte auf, bei ACAT zu arbeiten, wo er zum Finanzbeauftragten aufgestiegen war. 2017 ging er zu einer Vereinigung katholischer Juristen, seine Familie kehrte zurück. Aber die Regierung hatte ihn und sein Engagement nicht vergessen; auch nicht, dass er einen von einer außergerichtlichen Hinrichtung bedrohten Oppositionellen mit dem Auto außer Landes geschafft hatte.
Jahre im Kerker In der Nacht vom 12. zum 13. Juli 2017 träumte Germain Rukukis jüngster Sohn schlecht. Er wachte mitten in der Nacht auf und weinte. Also nahm Rukuki ihn zu sich und legte ihn auf seinen Bauch; so fand er wieder zur Ruhe. Wenige Stunden später, am frühen Morgen, klopfte es an der Tür: Etwa 30 Polizisten standen davor, einer hatte einen Durchsuchungsbefehl bei sich. Der jüngste Sohn begann wieder zu weinen. Während die Polizisten das Haus durchsuchten, ging Rukuki in den Laden nebenan, um Bonbons zu kaufen;
vielleicht würden sie seinen Sohn beruhigen. »Ich habe versucht, so dreinzuschauen, als ob nichts wäre, um meine Familie nicht zu beunruhigen. Aber eigentlich wusste ich, dass nun meine Tage gezählt sind.« Als ihn der Kommissar aufforderte, mitzukommen, macht er drei Kreuze: eines vor dem Gesicht seines jüngeren Sohnes, eines vor dem Gesicht seiner Frau, und eines vor ihrem Bauch; sie war im sechsten Monat schwanger. Der ältere Sohn schlief noch, von ihm verabschiedete er sich nicht. Seine Frau weckte ihn aber gleich, um das Land sofort zu verlassen, nachdem Germain Rukuki abgeführt worden war. Der Kommissar kam nach ein paar Stunden zurück, um auch sie zu festzunehmen. Da war schon niemand mehr im Haus. Zwei Wochen verbrachte Rukuki in Untersuchungshaft, dann kam er vor Gericht. Er wurde im April 2018 zu 32 Jahren Haft verurteilt, unter anderem wegen »Untergrabung der staatlichen Sicherheit«, »Rebellion« und »Terrorismus«. Außerdem warf man ihm vor, einen Mordanschlag auf den Präsidenten ge-
plant zu haben. Als er das erzählt, kratzt sich Rukuki am Kopf. »Das ist undenkbar«, sagt er, das sei eine vollkommen haltlose Beschuldigung. Aufgrund seiner Arbeit für ACAT glaubte er zu wissen, wie es in burundischen Gefängnissen zugeht. »Aber es ist das eine, in Gefängnissen Interviews zu führen und die Vorschriften zu kennen. Wenn das niemand überprüft, sind es nur leere Worte.« Germain Rukuki nennt das Gefängnis »cachot«, was so viel wie Kerker bedeutet. Etymologisch stammt das Wort ab von »cacher« (verstecken), und das trifft es gut. »Die Kerker in Burundi sind nicht Teil eines Rechtssystems, sondern Aufbewahrungsorte für Oppositionelle«, sagt Rukuki. Dort werden sie vor der Öffentlichkeit verborgen. Wer einen Schlafplatz in einer Zelle wolle, der müsse dafür 50.000 burundische Francs bezahlen (22 Euro); Geld, das dann unter privilegierten Gefangenen und Beamten verteilt werde. Wer nicht zahlt, bleibt unter »menschenunwürdigen Bedingungen« auf dem Flur. Das Recht auf Gesundheit wird in burundischen Gefängnissen systematisch missachtet. Einmal brach sich Rukuki den Knöchel und musste operiert werden. Nach einer Woche wurde er gegen den ärztlichen Rat zurück ins Gefängnis gebracht. Der Bruch war zwar versorgt, aber die Infektionsgefahr im Gefängnis blieb groß. »Sie haben riskiert, dass mir ein Bein amputiert werden muss.« Im Gefängnis bekam er auch Corona, behandelt wurde er allerdings nicht. Stattdessen wurden Masken an Wärter und Mitgefangene verteilt. »Sie haben gehofft, dass ich still in einer Ecke sterbe. Aber das habe ich nicht getan.« Dass es nicht still um Rukuki wurde, daran hat auch Amnesty International großen Anteil. Unterstützer_innen von Amnesty hatten sich unter anderem beim Briefmarathon 2020 für ihn eingesetzt und Hunderttausende Briefe und E-Mails an Burundis Präsidenten geschrieben. Germain Rukuki sagt, er habe nicht gewusst, in welchem Ausmaß die Regierung die Verfassung hintergehe und das Recht beuge. »Meine Festnahme hat wenigstens etwas Gutes: Es ist offensichtlich, dass die burundische Justiz nur Scherge der Exekutive ist. Die Menschen kennen jetzt die Wahrheit.« Kann das ein Anfang sein für einen Umschwung? »Es ist zu früh, dazu etwas zu sagen«, antwortet Rukuki. »Es wird auf jeden Fall noch ein langer Weg.« ◆
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OSTAFRIKA LANDKARTE DER MEINUNGSFREIHEIT
Sechs Länder, viele Probleme KENIA
SÜDSUDAN
Während der im Zuge der Corona-Pandemie verhängten Ausgangssperren wurden in Kenia mehrfach Journalist_innen und Blogger_innen festgenommen. Die Regierung nutzte die restriktiven Regelungen als Vorwand, um die Meinungsfreiheit einzuschränken und kritische Berichterstattung zu unterbinden. Außerdem lösten die Sicherheitskräfte immer wieder Proteste gegen die CoronaMaßnahmen gewaltsam auf. Im Jahr 2018 verbot die Film- und Klassifizierungsbehörde den kenianischen Film »Rafiki«, der von einer lesbischen Beziehung handelt. 2020 wurde die Dokumentation »I am Samuel« verboten, die die Geschichte eines schwulen Kenianers erzählt.
Im Rahmen einer zweijährigen Untersuchung schilderten 63 Personen, darunter südsudanesische Aktivist_innen, Journalist_innen und Rechtsanwält_innen, Amnesty ihre Erfahrungen mit der Überwachung der Kommunikation im öffentlichen und privaten Raum durch den Nationalen Sicherheitsdienst (NSS). Ein Bericht aus dem Februar 2021 dokumentiert diese Fälle. Die Betroffenen beschreiben darin, dass sie in ständiger Angst leben. Die meisten Aktivist_innen sagten jedoch, dass Überwachung, Schikanen, das Risiko einer willkürlichen Festnahme und sogar Todesdrohungen sie nicht davon abhalten würden, sich zu äußern. Stattdessen würden sie sorgfältig abwägen, was sie wo und wem sagten. Seit 2011, als der Südsudan unabhängig wurde, ist die Meinungsfreiheit extrem eingeschränkt.
RUANDA In den vergangenen Jahren haben in Ruanda Inhaftierungen wegen regierungskritischer Kommentare in digitalen Kanälen deutlich zugenommen. Im Prozess gegen den Sänger Kizito Mihigo wurden dessen private Whatsapp-Chatverläufe als Beweismaterial präsentiert. Er starb 2020 unter unklaren Umständen in der Haft. Im Februar 2021 verschwand Innocent Bahati spurlos – er hatte zuvor in Liedern und Gedichten auf seinem YouTube-Kanal wachsende Armut und die Corona-Politik der Regierung kritisiert. Die ruandische Regierung sucht zudem nach Wegen, YouTube-Kanäle und Weblogs nur nach staatlicher Registrierung zuzulassen. Damit nimmt sie einen letzten Zufluchtsort der Meinungsfreiheit in Ruanda ins Visier.
TANSANIA Unter Präsident John Magufuli war das Recht auf freie Meinungsäußerung extrem eingeschränkt, insbesondere vor den Wahlen 2020. Zahlreiche Medienunternehmen (Mwananchi, Tanzania Daima, Kwanza TV) waren von Geldstrafen betroffen oder mussten ihre Tätigkeit einstellen. Journalist_innen und Oppositionelle wurden willkürlich inhaftiert, entführt oder getötet, Menschenrechtsorganisationen konnten nicht mehr arbeiten. Die Regierung verschärfte Gesetze und nutzte die Corona-Pandemie als Vorwand, um kritische Berichterstattung zu kriminalisieren. Nach dem Amtsantritt von Samia Hassan im März 2021 wurden die meisten Medienunternehmen wieder zugelassen, einige jedoch erst im Februar 2022. Im Juli 2021 nahmen die Behörden erneut Oppositionelle willkürlich fest wie zum Beispiel Freeman Mbowe. Er und drei weitere Inhaftierte kamen erst im März 2022 wieder frei.
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SOMALIA In Süd-Zentral-Somalia sind Journalist_innen willkürlichen Festnahmen, Zensur und Angriffen seitens somalischer Sicherheitskräfte und der bewaffneten Gruppe al-Shabaab ausgesetzt. Die somalischen Behörden versuchen, Medienschaffende zu bestechen und zu zensieren. Die Medienfreiheit wird durch Einschüchterungen, Schikanen, Entlassungen und willkürliche Festnahmen eingeschränkt. Um der Zensur zu entgehen, nutzen Medienschaffende häufig Online-Netzwerke, diese werden jedoch ebenfalls überwacht. In den Jahren 2018 und 2019 wurden 13 von Journalist_innen betriebene Facebook-Konten dauerhaft deaktiviert. Seit dem 27. Dezember 2020 ist der Journalist Kilwe Adan Farah in der Region Puntland in Haft. Er wurde vor einem Militärgericht wegen »Veröffentlichung von Falschnachrichten« angeklagt.
DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO Gute Neuigkeiten in Sachen Pressefreiheit gibt es aus der Demokratischen Republik Kongo. Dabei sieht es dort auf den ersten Blick gar nicht gut aus: Obwohl die Pressefreiheit verfassungsrechtlich garantiert ist, belegt das Land in der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen nur Platz 149 von 180. Grund dafür ist das restriktive Pressegesetz aus dem Jahr 1996, das immer noch angewendet wird und journalistische Arbeit kriminalisiert. Optimistisch stimmt jedoch, dass im Januar 2022 in der Hauptstadt Kinshasa eine Konferenz zur Reform dieses Gesetzes abgehalten wurde, an der staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure teilnahmen. Die Reform zielt darauf ab, die Pressearbeit zu entkriminalisieren, das Pressewesen zu professionalisieren und Selbstregulierungsorgane zu stärken. Ein entsprechender Gesetzentwurf soll zeitnah ins Parlament eingebracht werden.
SUDAN
ERITREA
DSCHIBUTI
ÄTHIOPIEN
SÜDSUDAN
SOMALIA DR KONGO
UGANDA KENIA
RUANDA
BURUNDI
TANSANIA
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POLITIK UND GESELLSCHAFT KRIEG IN DER UKRAINE
Frieden jetzt! Antikriegsprotest in St. Petersburg, März 2022. 30 AMNESTY JOURNAL | 03/2022
Foto: Reuters
Gegner_innen des Kreml Egal, ob in Russland, in der Ukraine oder im Exil: Diese Menschen, Organisationen und Proteste sind der russischen Regierung ein Dorn im Auge.
Menschen helfen, Beweise sichern Olga Skrypnyk leitet die Menschenrechtsorganisation Crimean Human Rights Group in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Spätestens seit der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 ist sie dem Kreml verhasst. Von Tigran Petrosyan
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bwohl russische Bomben und Raketen auf Kiew fallen, ist es kaum möglich, Olga Skrypnyk zum Schweigen zu bringen. Die Menschenrechtlerin zählte bereits im Jahr 2014 zu den Tausenden mutigen Bewohner_innen der Krim, die sich unbewaffnet russischen Truppen entgegenstellten, als diese die ukrainische Halbinsel annektierten. Nach massivem Druck russischer Spezialeinheiten sah sie sich später gezwungen, die Krim zu verlassen. »Ich habe direkte Drohungen erhalten, dass sie mich inhaftieren oder töten würden.« Heute ist Olga Skrypnyk wieder in Gefahr – dieses Mal durch den russischen Beschuss der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Die 35-Jährige leitet dort die Menschenrechtsorganisation Crimean Human Rights Group, die Beweise für russische Verbrechen gegen die Bevölkerung der Krim sammelt. «Für uns ist das Wichtigste, dass wir die Verbindung zwischen den Menschen auf der Krim und dem ukrainischen Festland aufrechterhalten«, sagt Skrypnyk. Ihre Organisation hilft deshalb auch Binnenvertriebenen in der Ukraine und unterstützt ukrainische politische Gefangene, die in Russland und auf der Krim inhaftiert sind. Geboren wurde Olga Skrypnyk in Sibirien, doch zog ihre Familie auf die Krim,
als sie noch ein Kleinkind war. Sie studierte Pädagogik und Rechtswissenschaft. In Jalta gründete sie im Jahr 2011 Almenda, ein Zentrum für Kinder und Jugendliche im Bereich der politischen Bildung und arbeitete auch als Dozentin für Strafund Zivilrecht an der Krim-Universität. Immer wieder stellte sie sich die Frage, wie sich die Öffentlichkeit stärker für den Schutz der Menschenrechte sensibilisieren lässt. Skrypnyk organisierte deshalb regelmäßig Filmvorführungen im Kino, zeigte Dokumentarfilme über Menschenrechte und lud Aktivist_innen und Rechtsanwält_innen zum Gespräch ein. Nach der Annexion der Krim setzte der Kinoklub seine Arbeit in Kiew fort. Doch nun ist Krieg, und gemeinsam mit 15 Mitarbeiter_innen der Crimean Human Rights Group dokumentiert sie die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine. Sie sammelt Beweise für Angriffe russischer Streitkräfte auf zivile Einrichtungen. Betroffen sind Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und Wohngebäude. »Russische Truppen versuchen, Kiew zu erobern, aber der Vormarsch
stockt. Putins Plan, Kiew mit einen Blitzkrieg in die Knie zu zwingen, ist gescheitert. Die Ukrainer_innen kämpfen hartnäckig«, sagte sie Ende März, befürchtete aber auch, dass Kiew zu einem zweiten Mariupol, zu einer zerstörten Stadt werde. Wie auch immer der Krieg ausgehe, eines sei ihr klar: Der Kreml sehe in ihr eine gefährliche Feindin, weil sie Menschenrechtlerin sei. Auch ihr Ehemann, der russische Oppositionelle Wissarion Aseew, ist der russischen Regierung ein Dorn im Auge. Im September 2014 wurden die beiden von russischen Grenzschutzbeamten inhaftiert, als sie Russland besucht hatten und auf der Rückreise in die Ukraine waren. Erst nach internationalem Druck kamen sie wieder frei. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sie eines Tages verschwinden werde, sagt Olga Skrypnik. Immer wieder drohe der russische Geheimdienst, sie zu verschleppen. »Doch ich darf keine Angst haben. Es ist wichtig, dass ich mich weiter für die Menschenrechte einsetze und mich darauf konzentriere, den Menschen zu helfen«. ◆
Von der Krim vertrieben, macht sie aus Kiew weiter: Olga Skrypnyk. Foto: Valeriia Mezentseva
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»Salam« heißt Frieden
Swetlana Gannuschkina im August 2021 in Moskau. Foto: Alexander Zemlianichenko / AP / pa
Swetlana Gannuschkina ist eine der führenden Persönlichkeiten der russischen Menschenrechtsbewegung. Seit mehr als 30 Jahren setzt sie sich für Flüchtende ein, nun stellt sie sich in Moskau gegen den russischen Angriffskrieg. Von Bernhard Clasen
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n dieses eine »Salam« erinnert sich die russische Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina noch sehr gut: Anfang der 1990er Jahre besuchte sie Bergkarabach, als dort Armenien und Aserbaidschan Krieg gegeneinander führten und Zehntausende Menschen ihr Leben verloren. Gannuschkina war Teil einer Delegation von Menschenrechtler_innen und wollte sich nicht von einer Seite vereinnahmen lassen. Sie zog auf eigene Faust los, ging durch einen Wald, immer weiter, bis sie die Stimme einer Frau hörte. Die Frau winkte ihr fröhlich zu, lud sie in ihren Garten ein und sagte »Salam«. An diesem in Aserbaidschan verbreiteten Gruß erkannte Gannuschkina, dass sie sich nicht mehr auf der armenischenen Seite der Front befand. Viel gesprochen wurde beim Tee nicht, dazu reichten die Russischkenntnisse der Aserbaidschanerin nicht aus. Doch gab sie Gannuschkina zum Abschied eine kleine Tasche voller Äpfel aus dem Garten mit. Als die Menschenrechtlerin wieder auf der armenischen Seite war, beäugten alle die Äpfel voller Argwohn, als ob sie vergiftet wären. Niemand wollte sie anrühren. Doch dann fasste sich eine Frau ein Herz und nahm sich einen Apfel. Der Bann war gebrochen, eine Stunde später waren alle Äpfel aufgegessen. Die Mathematikerin Swetlana Gannuschkina ist seit mehr als 30 Jahren eine führende Persönlichkeit in der russischen Menschenrechtsbewegung. Die Friedensarbeit zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Unzählige Male hat die mittlerweile 80-Jährige unter großen Gefahren Tschetschenien besucht, sie setzte sich auch gemeinsam mit Menschenrechtsorganisationen gegen die Abschiebung von Tschetschen_innen aus Deutschland nach Russland ein.
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In der Flüchtlingsarbeit ist sie seit Ende der 1980er Jahre aktiv, als armenische und aserbaidschanische Flüchtlinge nach Moskau kamen. Ihre Organisation, das seit drei Jahrzehnten im Bereich der Flüchtlingshilfe arbeitende Komitee Bürgerbeteiligung, setzt sich mittlerweile nicht nur für Binnenvertriebene aus dem Kaukasus, sondern auch für Flüchtlinge aus Usbekistan, dem Iran und anderen Staaten ein. Das Komitee wird seit dem 20. April 2015 vom russischen Staat als »ausländischer Agent« gelistet und musste zuletzt auch eine Hausdurchsuchung hinnehmen, kann aber noch legal arbeiten. Immer wieder geht Gannuschkina auf die Straße. Als sie im Juli 2019 auf dem Roten Platz in Moskau daran erinnern wollte, dass ihre Mitarbeiterin Natalia Estemirowa zehn Jahre zuvor in Tschetschenien ermordet worden war, wurde sie festgenommen und zu einer Geldstrafe verurteilt. Es war nicht der einzige Mord an Weggefährt_innen Gannuschkinas. Auch ihr Mitarbeiter Wiktor Popkow, ihr Rechtsanwalt Stanislaw Markelow und die mit ihr befreundete Journalistin Anna Politkowskaja wurden ermordet. Nun ist es der russische Überfall auf die Ukraine, der Gannuschkina hart getroffen hat. »Das ist ein absoluter Albtraum«, sagte sie wenige Tage nach Kriegsbeginn. »Für das, was jetzt geschieht, gibt es keine Entschuldigung.« Zusammen mit weiteren Menschenrechtler_innen rief sie zum sofortigen Ende des Krieges auf. Es blieb nicht bei Worten. Gannuschkina äußerte auch auf der Straße ihren Unmut gegen den Krieg. Es folgten eine Festnahme und eine Geldstrafe in Höhe von umgerechnet 80 Euro. Doch Gannuschkina lässt sich davon nicht beeindrucken und ignoriert die
staatliche Vorgabe, den Krieg als »Sonderoperation« zu bezeichnen. Womöglich braucht diese Frau, die so vielen Menschen geholfen hat, deshalb bald selbst Hilfe. ◆ Komitee Bürgerbeteiligung im Netz: Refugee.ru
Rund um die Uhr erreichbar Seit mehr als zehn Jahren dokumentiert die Menschenrechtsorganisation OVD-Info politische Verfolgung in Russland. Seit Kriegsbeginn steht Repression gegen Friedensaktivist_innen im Fokus ihrer Arbeit. Von Bernhard Clasen
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er Informationen aus erster Hand zu Menschenrechten in Russland braucht, wendet sich an OVD-Info. Seit 2011 dokumentiert die unabhängige Organisation mit Hauptsitz in Moskau politisch motivierte Festnahmen und Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Behörden. Nach Angaben der Organisation wurden ihre Informationen allein im ersten Monat des Kriegs gegen die Ukraine 7.000 Mal in der internationalen Presse zitiert. Der Name OVD ist ein Wortspiel: Die Abkürzung steht für »Abteilung für innere Angelegenheiten«. So hießen bis vor einigen Jahren die Polizeidienststellen in Russland. Die Organisation will damit nicht nur zum Ausdruck bringen, dass sie
sich mit Problemen im Inland beschäftigt, sondern auch, wer für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Ab dem Beginn des Kriegs am 24. Februar bis zum 20. April dokumentierte das Portal OVDinfo.org die Namen von 15.434 Antikriegsaktivist_innen, die in ganz Russland festgenommen wurden. Und die Liste wird von Tag zu Tag länger. »Natürlich ist seit Beginn der ›Ereignisse in der Ukraine‹ unser Arbeitspensum extrem gestiegen« erklärt Katharina, die eigentlich anders heißt. Die Proteste hätten unmittelbar nach Beginn des Militäreinsatzes begonnen, und sofort habe auch die Repression zugenommen. Das Wort »Krieg« nimmt sie nicht in den Mund, denn die »Sonderoperation« darf in Russland nicht Krieg genannt werden. Anfang März traten zwei Gesetze in Kraft, die für unabhängige Berichterstattung über den Krieg 15 Jahre Haft vorsehen. Der Druck auf OVD-Info habe sich nicht verstärkt, meint sie, denn er sei zuvor schon sehr hoch gewesen. Die Internetseite OVDinfo.org ist in Russland gesperrt, die Seiten ovd.news und ovd.legal waren Ende März aber noch zugänglich. OVD-Info berichtet vor allem über Kriegsgegner_innen, die Repression erfahren. Schon jetzt gebe es Dutzende Straf- und Hunderte administrativer Verfahren, sagt Katharina. Der Vorwurf laute »Diskreditierung der russischen Streitkräfte« oder »Übermittlung von Falschinformationen«. »Wir berichten über diese Aktionen, weil wir nicht wollen, dass die ganze Welt denkt, die russische Gesellschaft unterstütze ›diese Vorgänge‹ in der Ukraine.« Jeden Tag finde irgendwo im Land eine Aktion statt, berichtet Katharina. Doch die Schrauben würden angezogen. Teilweise sei ein leeres Plakat oder eines mit der Aufschrift »Frieden!« bereits Grund für eine Festnahme. OVD-Info hat eine Hotline eingerichtet, die rund um die Uhr erreichbar ist. Wer Informationen über Repressionen gegen politische Aktivist_innen weitergeben will, kann dort anrufen. Die Organisation gibt auch Tipps, wie man sich bei einer Festnahme oder Hausdurchsuchung verhalten sollte. Die Arbeit von OVD-Info ist nicht leichter geworden, gleichzeitig bieten immer mehr Menschen ihre Mitarbeit an. IT-Fachleute, Juristinnen und andere Expert_innen seien bereit, mitzumachen, erzählt Katharina, in vielen Fällen sogar ohne Bezahlung. Auch an Geld mangelt es im Moment nicht: 2021 wurde die Arbeit der Organisation nach Angaben des Mitgründers von OVD-Info, Daniel Beilinson, fast vollständig über Crowdfunding finanziert. ◆
Weggesperrt und abgeschaltet Polizeigewalt, Festnahmen, Zensur und »Agentengesetze«: Die russischen Behörden gehen hart gegen all jene vor, die sich kritisch mit dem Krieg auseinandersetzen. Von Tigran Petrosyan
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iele Ausdrucksformen bleiben den Russ_innen nicht mehr, wenn sie gegen den Krieg in der Ukraine protestieren wollen. Zuletzt kam ein grünes Band zum Einsatz, das sie an Laternen, Bäumen, Bushaltestellen und Abwasserrohren befestigten. Für die Polizei ist eine grüne Schleife derzeit noch kein Anlass, aktiv zu werden. Alle anderen Protestformen endeten bislang mit Repression und Haft. Nach Angaben der unabhängigen russischen Menschenrechtsorganisation OVD-Info wurden ab dem Beginn des Kriegs bis Mitte April rund 15.000 Menschen im Zusammenhang mit Antikriegsaktionen in Russland festgenommen. OVD-Info zufolge gehen Polizist_innen dabei äußerst brutal vor. Sie schlagen den Demonstrierenden mit Stöcken ins Gesicht und auf den Kopf, in Dutzenden Fällen setzten sie Elektroschockgeräte ein. Sie drohten Inhaftierten nicht nur mit strafrechtlicher Verfolgung, sondern auch mit sexueller Gewalt. Der Kreml versucht, die eigenen Bürger_innen zum Schweigen zu bringen. Schweigen sollen auch die Medien. Fast gleichzeitig mit dem militärischen Einmarsch in die Ukraine führten die Behörden eine strenge Zensur der Kriegsberichterstattung ein. Russische Medien dürfen nur unter Bezugnahme auf offizielle Quellen berichten und im Zusammenhang mit der Ukraine nur von einer »Spezialoperation« sprechen. Begriffe wie »Krieg«, »russischer Angriff« oder »Invasion« sind verboten. Im Fall eines Verstoßes drohen Publikationssperren und Geldstrafen von bis zu fünf Millionen Rubel (rund 50.000 Euro, Umrechnungskurs Ende März). Die russische Nichtregierungsorganisation Roskomsvoboda hatte am 9. April 2.000 Webseiten erfasst, die seit dem 24. Februar gesperrt sind. Dazu gehören Internetpräsenzen großer unabhängiger Medien wie Echo Moskwy und Doschd, aber auch einzelne Unterwebsites in Online-Netzwerken oder auf Medien-
portalen. Die russische Generalstaatsanwaltschaft wirft den beanstandeten Medien Falschinformationen, Aufrufe zu Extremismus und zur Gewalt gegen Russ_innen vor. Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor blockierte auch ukrainische und internationale Medienseiten in Russland, darunter BBC und Deutsche Welle. Der Zugang zu Facebook, Instagram und Twitter war zumindest zeitweilig unterbunden. Um gegen die unliebsame Opposition vorzugehen, greifen die Behörden außerdem auf das Gesetz über »ausländische Agenten« aus dem Jahr 2012 zurück. Es richtete sich zunächst gegen Nichtregierungsorganisationen, die Geld aus dem Ausland erhielten. Seit 2020 gelten neue Regelungen: Nicht nur registrierte Organisationen wie Memorial gelten als »ausländische Agenten«, sondern auch nicht registrierte Vereinigungen und Privatpersonen, sofern sie »finanzielle Mittel« aus dem Ausland erhalten und »politische Aktivitäten« ausüben. Darunter können auch die Teilnahme an einer Kundgebung oder Äußerungen über den Krieg fallen. Aufgrund einer Verschärfung der Gesetze zu »ausländischen Agenten« und »unerwünschten Organisationen« waren zivilgesellschaftliche Organisationen 2021 in noch stärkerem Maße Repressalien und Einschränkungen ausgesetzt. Inzwischen stufe der russische Staat mehr als 400 Personen, Medienhäuser und NGOs als »ausländische Agenten« ein, schrieb OVD-Info Ende März. ◆
»Nein zum Krieg« steht in Russland derzeit unter Strafe. Graffito in St. Petersburg, März 2022. Foto: Zk Media / ZUMA Press / pa
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RUSSISCHE MILITÄREINSÄTZE
»Russland führt auch mit Informationen Krieg« Der Syrische Zivilschutz ist seit 2013 für die Opfer des Krieges in Syrien im Einsatz. Die sogenannten Weißhelme leisten erste Hilfe, versorgen Verletzte und ziehen Menschen nach Luftangriffen aus den Trümmern. Sie wissen nur zu gut, was Krieg mit Russland bedeutet, denn russische Truppen kämpfen auch auf Seiten des Assad-Regimes. Was die Menschen in der Ukraine daraus lernen können, erklärt Raed Al Saleh, Leiter der Weißhelme.
Wieder mal im Einsatz. Der Syrische Zivilschutz in Sheikh Ahmad, Syrien, 30. Dezember 2019. 34 AMNESTY JOURNAL | 03/2022
Foto: Omar Haj Kadour / AFP / Getty Images
Interview: Hannah El-Hitami
Seit 2015 unterstützt Russland Baschar al-Assad im Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Sie und ihre Kolleg_innen haben unzählige Menschen nach Luftangriffen und Chemiewaffeneinsätzen versorgen müssen. Was haben Sie über die Vorgehensweise des russischen Militärs gelernt? Die russische Armee hält sich an keinerlei moralische oder menschenrechtliche Regeln. Wenn sie angreift, dann trifft es zuerst die Infrastruktur: Krankenhäuser, Bäckereien, Wasser- und Elektrizitätswerke. Sie vertreibt Menschen aus ihren Vierteln und zerbombt diese komplett, es ist eine Strategie der verbrannten Erde. Sie erlangt Kontrolle über Gebiete, in denen dann niemand mehr lebt. Das ist der Grund für die massive Zerstörung, die wir heute in der Ukraine sehen. Wir haben das in Aleppo, Ghouta, Homs und anderen Städten erlebt. Und dieselbe Strategie wendet das russische Regime jetzt in der Ukraine an. Was hat Russland durch den Krieg in Syrien gelernt, wovon es nun in der Ukraine profitieren könnte? Russland hat mehr als 300 neue Waffen an der syrischen Zivilbevölkerung getestet. Diese Erfahrung kann das Militär nun nutzen, um in der Ukraine noch mehr Schaden anzurichten. Wie haben Sie in den vergangenen Jahren Ihre Einsätze an die russischen Methoden angepasst? Alles, was wir heute wissen, mussten wir unter Einsatz unseres Lebens lernen. Jedes Mal, wenn wir etwas gelernt haben, ist einer unserer Freiwilligen getötet worden. Wir haben zum Beispiel gelernt, keine humanitären Korridore zu nutzen, die Russland einrichtet. Denn dort greifen die Truppen noch gezielter an. Das sind keine humanitären Korridore, sondern Korridore zur Hölle. Zudem haben wir beobachtet, dass Russland nach einem ersten Luftangriff auf ein Gebiet fast direkt einen zweiten Angriff startet. Wir haben also nur eine sehr kurze Zeitspanne, um Menschen zu retten. Wir haben uns außerdem Flugachsen eingeprägt, um zu antizipieren, wo bombardiert werden soll. Das
Wichtigste, was wir gelernt haben, ist aber: immer eine Kamera am Helm tragen und alles aufnehmen. Damit schützen Sie sich auch gegen russische Propaganda. In der Vergangenheit wurden viele Falschinformationen über die Weißhelme in die Welt gesetzt, etwa dass sie mit Jihadisten zusammenarbeiten oder dass sie für Giftgasattacken verantwortlich sind. Russland führt auch mit Informationen Krieg. Sie verwenden dabei immer die gleichen Vorwürfe. Wenn es um den Nahen Osten geht, kommt der Terrorismusvorwurf. In der Ukraine funktioniert das nicht, also behaupten sie, Nazis bekämpfen zu wollen. Als Russland sich 2015 in Syrien einmischte, war uns »Desinformation« noch kein Begriff. Doch bald mussten wir feststellen, dass Russland gezielt Falschinformationen über uns verbreitete. Es entstanden zahlreiche neue Profile in den Online-Netzwerken, die sich an die westliche Gesellschaft richteten. Wie wirkte sich das auf Ihre Arbeit aus? Anfangs hat uns das sehr getroffen. Wir sind eine Nichtregierungsorganisation mit vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Wie kann es sein, dass wir Menschenleben retten und des Terrors bezichtigt werden? Das hat uns fertiggemacht. Desinformation kann tödlich sein, wenn sie sich gegen die richtet, die in einem Krieg medizinische Versorgung leisten. Wir haben also begonnen, die Desinformation zu bekämpfen. Wir wurden medial sichtbarer und zeigten der ganzen Welt die Aufnahmen unserer Helmkameras. Sie beweisen, was passiert ist. Die Entdeckung der russischen Einflussnahme auf die US-Wahlen 2016 hat uns übrigens sehr geholfen. Denn dabei wurden Tausende Profile aufgedeckt, die während der Wahlen gezielt für Desinformation verwendet worden waren und die sich auch gegen uns gerichtet hatten. Der Internationale Strafgerichtshof ermittelt bereits gegen Russland wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen, auch die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe hat Ermittlungen aufgenommen. Dabei geht es um den Einsatz von Streubomben oder Angriffe auf zivile Ziele. Für all das wird Russland auch in Syrien verantwortlich gemacht. Können Ermittlungen und zukünftige Prozesse etwas verändern? Das hoffen wir. Wir hoffen, dass Putin vor Gericht gestellt wird, damit die ukrainische Bevölkerung Gerechtigkeit erfährt. Wenn Putin für die Ukraine zur Rechen-
»Humanitäre Korridore werden von russischen Truppen gezielt angegriffen.« schaft gezogen wird, dann bedeutet das für uns Syrerinnen und Syrer, dass er auch für die Verbrechen in Syrien zur Rechenschaft gezogen wird. Es handelt sich schließlich um den gleichen Täter und die gleichen Taten. Wäre Russland für die Kriegsverbrechen in Syrien zur Rechenschaft gezogen worden, dann würde es die gleichen Verbrechen jetzt kaum in der Ukraine begehen können. Und wäre das Land vorher für Verbrechen auf der Krim und in Georgien verurteilt worden, dann wäre es gar nicht erst so weit gekommen. Wenn Putin aber ungestraft davonkommt, für Georgien, die Krim, für Syrien und die Ukraine, dann ist das nächste Verbrechen nur eine Frage der Zeit. Es ist also wichtig, Putin für seine Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen – nicht nur für die ukrainische oder die syrische Bevölkerung, sondern für alle, die die Menschenrechte verteidigen. Fürchten Sie, dass die internationale Gemeinschaft angesichts des Krieges in der Ukraine den Krieg in Syrien vergessen könnte? Nein, das glaube ich nicht. Die Lage in Syrien steht in sehr engem Zusammenhang mit der ukrainischen Lage. Viele Menschen haben diesen Zusammenhang immer wieder betont. Ich glaube eher, dass der Krieg in Syrien in den vergangenen Jahren in Vergessenheit geraten ist und jetzt wieder etwas mehr Aufmerksamkeit bekommt. Gibt es Solidarität zwischen den Menschen in Syrien und der Ukraine? Syrerinnen und Syrer auf der ganzen Welt haben sich mit der Ukraine solidarisch gezeigt und sind gegen den Krieg auf die Straße gegangen. Selbst in Syrien, in der Stadt Azaz, gab es kürzlich eine kleine Kundgebung zur Unterstützung der Ukraine. Wir Weißhelme stehen in direktem Kontakt mit zivilgesellschaftlichen Gruppen in der Ukraine. Wir arbeiten an einem gemeinsamen Netzwerk, das die Bevölkerung in Syrien und in der Ukraine darin unterstützen soll, Russland zur Rechenschaft zu ziehen. Außerdem bereiten wir aktuell Materialien auf Ukrainisch vor, damit man dort von unseren Erfahrungen profitieren kann. ◆
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FLUCHT AUS DER UKRAINE
Schulausflug in den Frieden Lehrerinnen und Schüler_innen einer Schule im ukrainischen Charkiw sind vor der russischen Armee ins litauische Vilnius geflohen. Die Direktorin hofft auf eine baldige Rückkehr. Text und Fotos: Sead Husic
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ädchen und Jungen rennen durch die Flure. Es herrscht Unruhe in den Klassen, bevor der Unterricht beginnt. Ein scheinbar unbeschwerter, ganz normaler Tag in der Schule Varnu Sala (Kräheninsel) in einem beschaulichen Vorort der litauischen Hauptstadt Vilnius. Doch normal ist hier nichts. Die Lehrerinnen und Schüler_innen sind erst vor wenigen Tagen aus Charkiw gekommen, einer umkämpften Stadt im Osten der Ukraine. Anfang April lagen Teile der Stadt in Trümmern, immer wieder flogen russische Bomber Angriffe. Die Menschen suchten Schutz in Kellern und Tiefgaragen oder flohen. Die Litauerin Irena Pranskevičiutė, die seit vielen Jahren im Bildungswesen ar-
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beitet, hat viele Kontakte zu Schulen in der gesamten Ukraine. Kurz nach Kriegsbeginn erhielt sie eine ungewöhnliche Anfrage. Die Direktorin der Schule Gravitacija in Charkiw wollte wissen, ob man nicht ihre gesamte Schule in Vilnius unterbringen könne. Irena Pranskevičiutė griff die Idee sofort auf, wandte sich an die Inhaberin der Privatschule Varnu Sala, organisierte gemeinsam mit ihr und einer Lehrerin private Unterkünfte in der Nähe der Schule und rief zu Spenden auf. Margerita Pilkauskaite hat die Schule erst vor wenigen Monaten gegründet. Deswegen besuchen bisher nur 30 die für etwa 200 Schüler_innen ausgelegte Schule und niemand muss nun enger zusammenrücken. »Ich habe alle Eltern gefragt, was sie von der Idee halten, die Schule für ukrainische Schüler zur Verfügung zu stellen. Und alle waren dafür«, sagt Pilkauskaite.
Zu den ersten, die kamen, gehörte die Direktorin der Gravitacija, Ekaterina Strelchenko, und ihre zwölfjährige Tochter. Ihr Mann und ihr Sohn seien in Charkiw geblieben, um zu kämpfen, erzählt sie. »Noch vor wenigen Wochen haben wir ein ganz normales Leben geführt, und in der Schule liefen die Vorbereitungen für unser alljährliches Frühlingsfest, das wir am 5. März feiern wollten. Wir hatten absolut keine Vorstellung davon, was uns bevorstehen würde. Am 23. Februar sind wir wie immer nach der Schule nach Hause gegangen. Und nur eine Nacht später war alles anders.« Zunächst habe sie gedacht, nach wenigen Tagen sei alles ausgestanden, berichtet Strelchenko. »Dass Russland Städte, Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten bombardiert, habe ich nicht für möglich gehalten.« Zwischendurch klingelt ihr Mobiltelefon. Es melden sich weitere Schüler_innen
In Sicherheit: Schüler_innen und Lehrerinnen aus Charkiw vor ihrer neuen Schule in Vilnius.
und deren Eltern, die gerade aus Charkiw nachkommen, das von Vilnius mehr als 1.200 Kilometer Luftlinie entfernt ist. Sie alle haben eine tagelange, anstrengende Fahrt hinter sich, haben fast die gesamte Ukraine durchquert und mussten sich immer wieder vor Bomben und Artilleriebeschuss in Sicherheit bringen. Unter den Geflüchteten sind auch 13- und 14-Jährige ohne Begleitung. Um sie kümmern sich die Lehrerinnen der Varnu Sala besonders.
Normalität in schrecklichen Zeiten »Wir versuchen, hier so schnell wie möglich einen geregelten Schulalltag aufzubauen, damit die Kinder und Jugendlichen nicht immer nur an den Krieg denken«, sagt Strelchenko. Sie ist überzeugt davon, das nächste Schuljahr wieder in Charkiw beginnen zu können, und zeigt auf ihrem Mobiltelefon das Schulgebäude, das sie über eine Live-Webcam sehen kann. Auch ein Blick in die Innenräume ist möglich: In den Klassenzimmern stehen verwaiste Bänke und Tische. An der Tafel sind kyrillische Sätze zu lesen, in der Ecke steht eine Landkarte, auf dem Lehrerpult liegen Bücher. Noch hat die Schule keine Schäden erlitten. Das gibt Strelchenko Hoffnung: »Ein Prinzip unserer Schule ist der Zusammenhalt. Und solange wir zusammenbleiben, haben alle das Gefühl, dass es weitergeht.« Eine der Mütter ihrer Schülerinnen, Olesia Avdoskyna, ist mit ihrer 16-jährigen Tochter Sofia nach Vilnius gekommen. »Ich habe als Buchhalterin in einem
Schuldirektorin im Exil: Ekaterina Strelchenko.
Nahrungsmittelunternehmen gearbeitet, und in der Firma war klar, dass unser Land bald angegriffen wird. Wir wohnten in der Nähe einer Flugzeugfabrik und stellten daher ein Ziel für die russischen Angriffe dar. Als es dann losging, konnten wir es dennoch nicht fassen«, sagt Avdoskyna, während ihr Tränen über das Gesicht laufen. Sofia habe wegen der ständigen Angst vor Beschuss und Bombenangriffen nicht mehr geschlafen. »Ich wusste, wir müssen weg.« Zuvor habe sie noch den Hund einschläfern lassen, weil er die Strapazen einer Flucht nicht überstanden hätte, berichtet sie, und man merkt ihr an, dass ihr dies nicht leicht gefallen ist. »Die Litauer engagieren sich sehr, um den Menschen in der Ukraine zu helfen, denn sie empfinden diesen Krieg auch als ihren«, erklärt die Lehrerin Agne Klimčiauskaitė, die an der Varnu Sala Französisch und Litauisch unterrichtet. »Alle fühlen sich betroffen, weil sie Angst haben, dass unser Land als nächstes angegriffen werden könnte.« Freiwillige fahren die Eltern, Schülerinnen und Lehrerinnen mit ihren Autos und einem Kleinbus zur Ausländerbehörde. Vor dem Gebäude warten viele Flüchtlinge darauf, sich anzumelden. Es gibt Stände mit Babykleidung, Nahrung, Windeln, Kosmetika, Handtüchern, Lebensmittelpaketen, Wasserflaschen und Kleidung. Freiwillige bringen die Sachspenden hierher und sprechen den Flüchtlingen Mut zu.
In der Schule stehen Sofia und ihre Freundin Alexandra nebeneinander und lächeln verschämt, als sie gefragt werden, was sie am meisten vermissen. »Ich war in Charkiw in einem Tanzverein, und das hat meinen Wochenrhythmus bestimmt. Ich frage mich, ob ich je wieder zu diesem Verein gehen werde«, sagt Alexandra. »Und natürlich vermisse ich all die Orte, an denen ich mich mit meinen Freunden getroffen habe und die es vielleicht nie mehr geben wird.« Sofia denkt ebenfalls an die vielen Orte und Gesichter, die sie vielleicht nie mehr sehen wird. »Es ist eine ganze Welt, die man verloren hat, und das macht mir sehr zu schaffen«, sagt sie. Dann werden die beiden gerufen. Die Schuldirektorin arrangiert die Schüler_innen, die bisher eingetroffen sind, zu einem Klassenfoto. Fast alle lächeln, ganz so, als gehörten sie zu einer ganz normalen Schule. Später sieht man Strelchenko nachdenklich auf ihr Mobiltelefon starren. Sie klickt sich durch die verschiedenen Ansichten ihrer Schule in Charkiw und atmet tief aus. »Es wird von schweren Bombardierungen berichtet. Aber unsere Schule steht noch.« ◆ Diesen Artikel können Sie sich in unserer TabletApp vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
»Es ist eine ganze Welt, die man verloren hat.« Sofia aus Charkiw Sie vermissen Charkiw: Alexandra, Sofia und Polina. AMNESTY JOURNAL | 03/2022 37
FLUCHT AUS DER UKRAINE
Flüchtlinge zweiter Klasse
An der Grenze zu Ungarn werden aus der Ukraine flüchtende Rom_nja benachteiligt. Von Klaus Petrus (Text und Fotos)
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s ist Mitte März, und wer sich dieser Tage an der 137 Kilometer langen ungarisch-ukrainischen Grenze aufhält, kann viele Helfende sehen: Gemeinden, die ihre Turnhallen zu Sammelunterkünften umfunktioniert haben, lokale Organisationen, die an ukrainische Geflüchtete Essen ausgeben, Privatpersonen mit Bussen, die Fahrten nach Budapest oder gar bis nach Deutschland anbieten. Doch nicht alle Flüchtenden sind willkommen. »Ich brauchte Babynahrung, doch sie haben mich beschimpft und fortgeschickt«, sagt Valeria, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte. Als der Krieg ausbrach, ist die 19-jährige Romni aus der westukrainischen Region Transkarpatien in Richtung Ungarn geflohen. Jetzt steht sie auf dem Bahngleis in Záhony, einem kleinen Dorf an der ungarisch-ukrainischen Grenze, hält ihren Säugling in den Armen und wartet auf den Zug nach Budapest. Mit Valeria sind auch ihre Mutter, ihre ältere Schwester und deren drei Kinder geflohen; wo die Männer der Familie sind, möchte sie nicht sagen. »Wir hatten Glück, sie ließen uns daheim in den Zug steigen.« Valeria hat von Rom_nja-Familien aus Lviv und weiteren Städten gehört, die anderen Flüchtenden Platz machen und am Bahnsteig zurückbleiben mussten. Als sie an der ungarischen Grenze ankamen, mussten sie bei der Ausweiskontrolle länger warten als die anderen, erzählt Valeria. Der NGO Chrikli zufolge lebten vor Kriegsbeginn rund 300.000 Rom_nja in der Ukraine – nach Angaben der Regierung sollen es
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nur 50.000 sein. Rund 40 Prozent von ihnen besitzen zwar eine Geburtsurkunde, aber keinen ukrainischen Pass. Dazu gehören auch Valeria und ihre Familie. »Die Grenzpolizisten glauben nicht, dass wir aus der Ukraine sind, sie sagen, wir hätten unsere Dokumente gefälscht.« Nachdem sie registriert wurden, waren Valeria und ihre Familie auf sich selbst gestellt. »Den anderen Flüchtlingen half man mit den Koffern, sie bekamen Suppe, und die Kinder durften im Bahnhofsgebäude spielen. Uns ließ man draußen in der Kälte stehen.«
Beschimpft und fortgeschickt »Was Valeria erlebt hat, ist leider kein Einzelfall«, sagt Adrienn Balogh, ebenfalls Romni und Mitbegründerin der ungarischen Rom_nja-Organisation Magyarország Kezdeményezés. Seit sich die Fälle von Diskriminierung der Rom_nja an der
Dokumentiert die Diskriminierung: Adrienn Balogh von der NGO Magyarország Kezdeményezés.
ungarisch-ukrainischen Grenze gehäuft haben, ist sie vor Ort und dokumentiert das Geschehen. »Oft sind es verbale Diskriminierungen, Romnja und Roma werden beschimpft und fortgeschickt. Oder man hilft ihnen nicht beim Gepäck, sie haben Mühe, Tickets für die Weiterfahrt zu bekommen, manchmal wird ihnen sogar der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt«, sagt Balogh. Von vergleichbaren Diskriminierungen geflüchteter Rom_nja aus der Ukraine ist inzwischen auch an der Grenze zur Slowakei und zu Rumänien zu hören. Hilfsorganisationen und Gemeinden weisen die Vorwürfe zurück, was Balogh nicht weiter erstaunt: »Die Unterdrückung der Romnja und Roma ist subtil, sie ist schon so normal geworden, dass es den Leuten gar nicht mehr auffällt.« Auch für Valeria gehören Verunglimpfungen und Hass zum Alltag. »In meiner Heimat, in Transkarpatien, werden wir immer wieder angegriffen.« Tatsächlich haben sich nach Angaben der Organisation Roma of Ukraine Ternipe in den vergangenen Jahren Übergriffe auf Rom_nja gehäuft, oft sind rechte Gruppierungen dafür verantwortlich. Sie verbreiten im Netz Hass und Hetze. Auch sind Fälle bekannt, in denen Rom_nja gezielt attackiert und verletzt wurden. In Ungarn sei das nicht anders, sagt Balogh. Zwar würden die etwa 900.000 Rom_nja knapp neun Prozent der ungari-
»Man glaubt uns nicht, dass auch wir vor dem Krieg flüchten müssen.« Valeria, Romni
Am Bahnhof von Záhony an der ukrainisch-ungarischen Grenze: Die junge Romni Valeria ist mit ihrer kleinen Tochter auf der Flucht vor dem Krieg.
schen Bevölkerung ausmachen und seien damit die größte Minderheit im Land; doch würden sie am schlechtesten behandelt. »Fast die Hälfte der ungarischen Romnja und Roma lebt unter prekären Bedingungen. Wir haben kaum Arbeit, bekommen keine Wohnungen, der Staat lässt uns im Stich«, sagt Balogh. Die ungarische Gesellschaft würde den Rom_nja insgesamt keinen Platz zugestehen. Aktivist_innen wie Balogh befürchten, dass Ungarn mit der Diskriminierung der Rom_nja an der Grenze zwei Klassen von Flüchtlingen etabliert. Überraschenderweise hatte die ungarische Regierung kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar der schnellen und unkomplizierten Aufnahme ukrainischer Geflüchteter in die EU zugestimmt. Denn eigentlich betreibt Regierungschef Viktor Orbán seit der sogenannten Migrationskrise im Sommer 2015 eine konsequente Abschottungspolitik – erst mit dem Bau eines 175 Kilometer und vier Meter hohen Zauns an der ungarisch-serbischen Grenze, dann mit oft gewaltsamen Rückschiebungen von Geflüchteten. Solche Pushbacks hat der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte zwar für rechtswidrig erklärt, doch Orbán ignorierte das Urteil einfach. Die Menschenrechtsorganisation Hungarian Helsinki Committee registrierte allein im vergangenen Jahr 70.000 Pushbacks an der ungarisch-serbischen Grenze. Betroffen waren vor allem Geflüchtete aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus den Maghrebstaaten.
Ungarns Regierung schürt Vorurteile Doch dürften Orbáns offene Arme für ukrainische Geflüchtete nichts an der rigiden Migrationspolitik ändern. Das wurde Anfang März bei seinem Besuch im ungarischen Beregsurány an der Grenze zur Ukraine deutlich. Dort sagte er: »Den Geflüchteten werden wir helfen, die Migranten müssen gestoppt werden.« Er unterscheidet zwischen Ukrainer_innen, die vor dem Krieg flüchten müssen, und Migrant_innen, die angeblich Europa stürmen wollen. Ob die Rom_nja aus der Ukraine aus Sicht der ungarischen Regierung ebenfalls Flüchtlinge zweiter Klasse darstellen, wird sich zeigen. Dass sich Orbán an der Hetze gegen Rom_nja beteiligt, ist für Balogh je-
denfalls nicht zu übersehen. Sie verweist auf eine Schule in der nordungarischen Stadt Gyöngyöspata, in der Rom_nja -Kinder diskriminiert wurden – so durften sie unter anderem nicht dieselben Toiletten benutzen wie die übrigen Schüler_innen. Ein Gericht verurteilte daraufhin den ungarischen Staat zu Schadenersatz, was Orbán mit der Bemerkung kommentierte, es sei unverständlich, wieso eine ethnische Minderheit so viel Geld bekomme, ohne dafür gearbeitet zu haben. Wie sehr sich solche Vorurteile in den Köpfen der Menschen festsetzen können, zeigt ein Erlebnis, von dem die flüchtende Valeria berichtet. Als sie mit Gepäck und ihrem Kind auf dem Arm am Bahnsteig in Záhony auf den Zug wartete, kam jemand auf sie zu und meinte, sie würde die jetzige Situation ja nur ausnutzen, um sich von den Hilfsorganisationen Essen und Kleider zu ergattern. »Man glaubt uns nicht, dass auch wir vor dem Krieg flüchten müssen. Am liebsten würde man uns zurückschicken.« ◆
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SPOTLIGHT: RAIF BADAWI
Seit 2015 forderte die Mahnwache Tübingen Badawis Freilassung. Nun fordern die Aktivist_innen, dass er ausreisen darf.
Foto: Mahnwache Tübingen
FREI UND DOCH NICHT FREI Als sich am 11. März 2022 die Tore des Gefängnisses Al-Dhaban in Dschidda für den prominenten saudischen Journalisten und Blogger Raif Badawi öffneten, hatte er zehn Jahre Haft hinter sich, getrennt von seiner Frau und seinen drei Kindern. Badawi hatte das Online-Forum Saudi Arabian Liberals gegründet, um dort politische Diskussionen zu führen, und hatte selbst regierungskritische Artikel und Blogbeiträge geschrieben. Dafür war er 2012 festgenommen und 2014 zu zehn Jahren Haft, 1.000 Peitschenhieben, einer Million Saudi-Riyal (umgerechnet etwa 238.000 Euro) Geldstrafe sowie einem anschließenden zehnjährigen Reiseverbot verurteilt worden. Die Anklage warf ihm vor, er habe in seinen Artikeln den Islam verunglimpft
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und vorgeschlagen, Staat und Religion zu trennen. Im Januar 2015 wurden 50 der Peitschenhiebe öffentlich vollstreckt, was zu weltweiten und lautstarken Protesten führte. Nach seiner Freilassung geht es Raif Badawi den Umständen entsprechend, frei ist er jedoch noch nicht. Das Reiseverbot bedeutet, dass er womöglich weitere zehn Jahre warten muss, bis er zu seiner Frau und seinen dann erwachsenen Kindern nach Kanada ausreisen darf. Dabei hätte Badawi keinen einzigen Tag im Gefängnis verbringen dürfen, denn er hat lediglich sein Recht auf Meinungsfreiheit ausgeübt.
»Meinungsfreiheit ist die Luft, die jeder Denker zum Atmen braucht.« Raif Badawi
Das harte Vorgehen gegen Raif Badawi unterstreicht einmal mehr, wie schlecht es um die Menschenrechte in SaudiArabien bestellt ist. Fast alle friedlichen Oppositionellen und Menschenrechtsverteidiger_innen erlebten ähnliche Anklagen wie Raif Badawi und sitzen derzeit im Gefängnis. Folter und Misshandlungen in der Haft sind weit verbreitet, um »Geständnisse« zu erpressen, die vor Gericht regelmäßig als Beweismittel anerkannt werden. Das Verhängen von Todesurteilen und ihre gnadenlose Vollstreckung hat mittlerweile einen weiteren traurigen Höhepunkt erreicht: Seit Jahresbeginn sind in Saudi-Arabien bereits 117 Menschen hingerichtet worden, 81 davon an einem einzigen Tag, am Samstag, den 12. März. Das Jahr 2022 könnte zu einem der blutigsten in der Geschichte SaudiArabiens werden.◆ Regina Spöttl
»EINFACH WIE JEDE NORMALE FAMILIE LEBEN« Foto: Alexander Heinl / dpa / pa
Ensaf Haidar ist die Ehefrau des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi. Unermüdlich kämpfte sie in den vergangenen zehn Jahren für seine Freilassung. Mit den drei gemeinsamen Kindern lebt die 37-Jährige in Kanada im Exil. Interview: Cornelia Wegerhoff
Wie geht es Ihrem Mann nach seiner Freilassung im März? Es lässt sich nicht in Worte fassen, in welchem Zustand sich Raif befindet, nachdem er während seiner langen Haftzeit so vielen Tragödien und psychischem wie physischem Leid ausgesetzt war. Nur so viel: Er versucht, sich jetzt von all dem zu erholen. Können Sie sagen, wo und unter welchen Umständen er nun in Saudi-Arabien lebt? Ich kann nicht auf Details eingehen, in erster Linie wegen Raifs Sicherheit und aufgrund der Zusagen, die er unterschrieben hat. Ich kann nur sagen, dass er sich quält, um seinen Alltag bewältigen zu können. Nach zehn Jahren Haft folgt nun neben einer hohen Geldstrafe ein zehnjähriges Reiseverbot für Raif Badawi. Was bedeutet das für Ihre Familie? Es ist eine Katastrophe und an erster Stelle eine eklatante Fortsetzung von Raifs Leid. Aber auch mein Leiden, das unseres Sohnes und unserer beiden Töchter geht weiter. Es ist schrecklich. Hat sich Ihr Familienleben seit der Freilassung dennoch verändert? Wir sprechen jetzt täglich mit ihm, auch per Video. So ist es möglich, ihn zu sehen. Natürlich ist seine Freilassung nur die halbe Lösung. Es gibt noch viel zu tun, damit er zu seinen Kindern in Kanada nach Hause kommen kann. In Saudi-Arabien hat sich das Leben im vergangenen Jahrzehnt verändert. Inwiefern finden sich in den Reformen frühere Forderungen Ihres Mannes wieder? Buchstäblich alles, was jetzt passiert, war ein Teil dessen, was er vor seiner Verhaftung beschrieben und gefordert hat. All das,
was die saudische Gesellschaft nun in Richtung Liberalismus und Befreiung führt. Worauf hoffen Sie nach diesen langen bitteren Jahren für die Zukunft? Wir wünschen uns nur noch, dass Raif zu uns kommen kann, dass wir einfach nur wie jede andere normale Familie leben können. ◆
REISEVERBOTE IN SAUDI-ARABIEN Die saudi-arabischen Behörden verbinden immer öfter langjährige Haftstrafen mit einem anschließenden Reiseverbot. »Wir haben inzwischen mehrere Fälle von Aktivist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen dokumentiert, die entweder noch im Gefängnis sitzen oder bereits aus der Haft entlassen wurden, denen im Anschluss langjährige Reiseverbote auferlegt wurden«, erklärt Hashem Hashem, Nahost-Experte von Amnesty International. »Dabei entspricht der Zeitraum des Reiseverbots der Länge der jeweiligen Freiheitsstrafe. Im Fall von Adulrahman al-Sadhan, einem Mitarbeiter des Roten Halbmonds, der sein Recht auf Meinungsfreiheit friedlich ausübte, wurde eine 20-jährige Haftstrafe verhängt, gefolgt von 20 Jahren Reiseverbot. In zahlreichen Fällen ist es sogar Familienangehörigen, gegen die überhaupt nicht ermittelt wird, verboten, das Land zu verlassen. Reiseverbote sind ein zusätzliches Strafinstrument, das die saudische Regierung systematisch einsetzt, um Aktivist_innen und ihre Familien zu unterdrücken.«
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AMNESTY REPORT
Globale Politik für unser aller Rechte Ende März ist der neue Amnesty-Report zur weltweiten Lage der Menschenrechte erschienen. Ein Auszug aus dem Vorwort der Internationalen Generalsekretärin. Von Agnès Callamard
W
ie ist es den Menschen in den machtpolitischen Konstellationen des Jahres 2021 ergangen? Wurden ihre Rechte inmitten der chaotischen Kämpfe um Profit, Privilegien und Positionen in der Welt besser gewahrt als in der Vergangenheit? Haben sie angesichts der Corona-Pandemie und einer Verschärfung vorherrschender Konflikte mehr Anerkennung, Respekt und Schutz erhalten? Ein Mantra des Jahres 2021 war: »Wir werden alles wieder besser aufbauen.« Auch andere Versprechen wurden gemacht: von einem »globalen Neustart« der Wirtschaft war die Rede, einer weltweiten »gemeinsamen Politik« zur Eindämmung des Missbrauchs von Umweltressourcen und einer neuen globalen Solidarität. Doch diese Slogans erwiesen sich als leere Parolen. Trotz anderer Möglichkeiten haben die Regierungen sich für Maßnahmen und Wege entschieden, die uns davon entfernen, Würde und Rechte zu wahren. Die Pandemie hat systembedingte Ungleichheiten vorangetrieben und damit verfestigt. Der grenzüberschreitende Austausch von Gesundheitsleistungen und -gütern, der die medizinische Versorgung für alle hätte verbessern können, kam oft nicht zustande. Ebenso fehlte es häufig an der Zusammenarbeit zwischen den Regierungen, die zur Abwendung weiterer Katastrophen und Milderung von Menschenrechtskrisen erforderlich gewesen wäre. Anstatt eine konstruktive globale Politik zu verfolgen, haben sich die Staatsund Regierungschef_innen in ihre nationalstaatlichen Höhlen zurückgezogen.
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Anstatt mehr Sicherheit für mehr Menschen zu schaffen, verwickeln sie die Nationen in Konflikte und selbstzerstörerische Wettkämpfe um Reichtum und Ressourcen. Anstatt die universelle Menschenrechtsnorm der Gleichheit zu verteidigen, wurde der Rassismus weiter in die Logik des internationalen Systems eingeschrieben. 2021 hätte ein Jahr der Genesung und Erholung sein sollen. Stattdessen sollte es noch mehr Ungleichheit und Instabilität mit sich bringen. Die hohen Zahlen an Covid-19-Infektionen, -Erkrankungen und -Todesfällen waren vorhersehbar und vermeidbar. Während Regierungen wohlhabender Länder sich zu ihren Impfkampagnen beglückwünschten, sorgte ihr Impfnationalismus dafür, dass zum Jahresende mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ungeimpft oder nur zum Teil geimpft war. Angesichts niedriger Immunisierungsraten konnten sich neue Varianten verbreiten. Im September stellte Amnesty International fest, dass die Industrieländer auf einer halben Milliarde überschüssiger Impfdosen saßen – genug, um mehrere der Länder mit der geringsten Impfquote weltweit vollständig zu impfen. Die Entsorgung überschüssiger Dosen, deren Verfallsdatum überschritten war, wurde zu einem Symptom für eine Welt ohne moralischen Kompass. Während Unternehmensleitungen und Investor_innen gigantische Profite einstrichen, mussten jene warten, die den Impfstoff benötigten. Und manche mussten deswegen sterben. Neue Konflikte kamen auf, ungelöste Konflikte verschärften sich. So kam es unter anderem in Äthiopien, Afghanistan, Burkina Faso, Israel/Palästina, im Jemen und in Libyen zu massiven Verstößen gegen die Menschenrechte und das huma-
nitäre Völkerrecht. Viel zu selten wurde international angemessen reagiert; viel zu selten wurde für Gerechtigkeit gesorgt. Nirgendwo sonst wurde der Verfall der Weltordnung deutlicher als in Afghanistan. Nach dem Abzug aller internationalen Truppen, dem Zusammenbruch der Regierung und der Übernahme des Landes durch die Taliban wurden die afghanischen Frauen und Männer sich selbst überlassen.
Versagen beim Klima und beim Rassismus Auch die von Kurzsichtigkeit und Egoismus geprägten Verhandlungen während der UN-Klimakonferenz endeten mit einem Verrat. Die Regierungen verrieten ihre Bürger_innen, weil sie sich nicht auf ein Abkommen einigen konnten, das eine katastrophale Erderwärmung verhindert hätte. Weite Teile der Menschheit wurden zu einer Zukunft mit Wasserknappheit, Hitzewellen, Überschwemmungen und Hunger verdammt. Es sind die gleichen Regierungen, die Migrant_innen an ihren Grenzen abweisen, die auf diese Weise Millionen von Menschen dazu verurteilt haben, auf der Suche nach Sicherheit und besseren Lebensbedingungen aus ihrer Heimat zu fliehen. Die Akzeptanz rassistischer politischer Maßnahmen und Ideologien nahm 2021 weiter zu. Millionen Menschen wurden dazu gezwungen, ein Leben am Rande der Gesellschaft zu führen. Dies zeigte
In mehr als 80 Ländern erhoben sich die Menschen in großer Zahl zum Protest.
* 2021 wurden 12 Journalist_innen ermordet und 230 angegriffen, vorrangig nach Berichten über Protste gegen die Taliban.
* 2021 erklärte die russische Regierung 14 Medien und 70 Personen zu »ausländischen Agenten«, darunter auch NGOs wie »Allianz der Ärzte«.
* 252 von weltweit 358 Morden an Menschenrechtsverteidiger_innen wurden in Lateinamerika und der Karibik registriert – allein in Kolumbien waren es 138.
* Im Zeitraum von November 2020 bis April 2021 wurden 10.100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Opfer der Pushbacks an der USmexikanischen Grenze.
* Bis zum Ende des Jahres 2021 wurden 32.425 Flüchtlinge und Migrant_innen von der libyschen Küstenwache mit Unterstützung Italiens und der EU auf See aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht.
* Anfang 2021 trat die Türkei aus der IstanbulKonvention zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen aus. Im gleichen Jahre wurden mindestens 280 Frauen ermordet, motiviert durch Frauenfeindlichkeit.
sich in einer Regierungspolitik, die ein »Sterberisiko« als akzeptable Abschreckung für Flüchtlinge, Migrant_innen, Binnenvertriebene und Asylsuchende betrachtete. Dies zeigte sich in einer Politik, die jene kriminalisierte, die Leben zu retten versuchten. Dies zeigte sich in der Streichung grundlegender Versorgungsleistungen für die sexuelle und reproduktive Gesundheit mit verheerenden Folgen insbesondere für Frauen und Mädchen. 2021 setzten sich Menschen weltweit aber auch für ihre eigenen Rechte und für die Rechte aller ein. Sie forderten bessere Institutionen, faire Gesetze und eine gerechtere Gesellschaft. In mehr als 80 Ländern erhoben sich die Menschen in großer Zahl zum Protest. In Russland wurden Kundgebungen zur Unterstützung Alexej Nawalnys trotz einer noch nie dagewesenen Zahl willkürlicher Festnahmen fortgesetzt. In Indien demonstrierten Landwirt_innen gegen neue Agrargesetze, bis die indische Bundesregierung die Gesetze aufhob. Das ganze Jahr 2021 hindurch haben Menschen protestiert: Im Libanon, in Kolumbien und Myanmar, im Sudan, in
Thailand, Venezuela und in vielen anderen Ländern. 2021 setzten sich weltweit Jurist_innen, Wissenschaftler_innen, Betroffene und ihre Familien für Gerechtigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Dabei konnten vor Gericht bahnbrechende Verfahren gewonnen werden. Im Juni wurde Alieu Kosiah, der ehemalige Kommandant einer Rebellengruppe in Liberia, in der Schweiz wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Haft verurteilt. Nichtregierungsorganisationen sorgten für Strafanzeigen gegen große Unternehmen wie Nike, Patagonia und C&A wegen deren Mitschuld an Zwangsarbeit in der chinesischen Region Xinjiang. Das Pegasus-Projekt – eine umfangreiche Kooperation von Menschenrechtsexpert_innen und Investigativjournalist_innen – deckte die staatliche Überwachung von Regierungskritiker_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen auf. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie
Amnesty setzten sich erfolgreich dafür ein, dass der UN-Menschenrechtsrat das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt anerkennt und Sonderberichterstatter_innen für Menschenrechte und Klimawandel sowie für Menschenrechte in Afghanistan einsetzt. Die Regierungen sollten, anders als bisher, künftig »alles wieder besser aufbauen«. Denn sonst lassen sie uns keine Wahl, und wir müssen jede ihrer Entscheidungen unter die Lupe nehmen. Und wir müssen aufeinander zugehen und uns gegenseitig unterstützen. Wir wissen, dass unsere Zukunft und unsere Schicksale miteinander verwoben und voneinander abhängig sind, das gilt auch für das Verhältnis der Menschen zu ihrem Planeten. Wir müssen die Sache der Menschenrechte in die Hand nehmen und gemeinsam eine globale Politik für die Rechte von uns allen einfordern, ohne Ausnahme. Diese Entwicklung sollten wir alle zusammen antreiben. ◆
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INDIEN
Ausgestattet mit Sonderrechten: Militärpatrouille in Srinagar, Kaschmir, August 2019. Foto: Atul Loke / The New York Times / Redux / laif
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»Niemand
spricht mehr frei« Repressive Sondergesetze, abgeschaltetes Internet und verfolgte Journalist_innen: In der indischen Region Jammu und Kaschmir ist die Meinungs- und Informationsfreiheit extrem eingeschränkt. Von Oliver Schulz
D
er Kaschmirkonflikt ist ein koloniales Erbe: Als Großbritannien Indien und Pakistan 1947 in die Unabhängigkeit entließ, wurde die mehrheitlich von Muslim_innen bewohnte Region im Norden in einen pakistanischen und einen indischen Teil gespalten. Seither ist sie ein Zankapfel zwischen den beiden Ländern, die deshalb fünf Kriege führten. Für die Bevölkerung im indischen Teil gab es bislang jedoch kaum Frieden. Im Gegenteil: Seit den 1980er Jahren schwelt ein Bürgerkrieg in Kaschmir, angefacht durch Widerstandskämpfer aus Pakistan und den Versuch Indiens, die Region zu kontrollieren. Seit in Indien der Hindunationalismus erstarkt ist und Muslim_innen im ganzen Land unter Generalverdacht stehen, verfolgt und gelyncht werden (siehe Amnesty Journal 4/2021), ist die Bevölkerung noch stärker unter Druck geraten. Im Jahr 2019 wurde der in Artikel 370 der indischen Verfassung festgelegte Sonderstatus Kaschmirs aufgehoben, die begrenzte Autonomie der Region abgeschafft und das Gebiet in zwei Bundesterritorien aufgeteilt. In der gesamten Region kam es seither zu Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten, Ausgangs- und Kommunikationssperren und einer verstärkten Militarisierung. »Amnesty International beobachtet eine kontinuierliche Verschlechterung der menschenrechtlichen Lage«, sagt Theresa Bergmann, Asienreferentin von Amnesty International in Deutschland. »Die Sicherheitskräfte stehen im Verdacht, Menschen willkürlich inhaftiert, gefoltert und außergerichtlich hingerichtet zu haben. Die indischen Behörden gehen rigoros gegen Politiker_innen, Menschenrechtsaktivist_innen, Journalist_innen, Regierungskritiker_innen und zivilgesellschaftliche Gruppen vor und greifen zunehmend auf Antiterror- und Sicherheitsgesetze zurück, um Menschen zu inhaftieren und zu verfolgen.« Auch die Meinungs- und Pressefrei-
heit wurde stark eingeschränkt. Journalist_innen können ihrer Arbeit nicht frei nachgehen und müssen mit Einschüchterungen sowie willkürlichen Festnahmen rechnen. »Mittlerweile sind Menschenrechtsverletzungen in erheblichem Ausmaß an der Tagesordnung«, sagt der Anwalt Ashraf Wali*: »Es klingt unvorstellbar, aber sie sind zu etwas ganz Gewöhnlichem geworden. Niemand spricht mehr frei.«
Eine Region im Würgegriff Der Journalist Khalid Bhat* beschreibt die Lage so: »Wir erleben ständig Folter, Zerstörung von Häusern, nächtliche Razzien, digitale Überwachung, Vorladungen und Anklagen wegen angeblichem Terror aufgrund politischer Aktivitäten sowie Angriffe auf Menschenrechtsaktivist_innen. Seit dem vergangenen Jahr werden Zivilpersonen vermehrt als Militante gebrandmarkt und getötet.« Die Behörden gingen immer härter gegen politische Parteien, die Zivilgesellschaft und die Medien vor, klagt der Journalist. Sie nähmen die Region in den Würgegriff und verfolgten eine Einschüchterungstaktik: »Die Polizei versucht, das soziale Gefüge und die Beziehungen in Freundeskreisen und Familien zu manipulieren. Wenn eine Person inhaftiert wird, ist die Angst vor Verfolgung so groß, dass Freunde, Verwandte und Bekannte keine Solidarität zeigen. Außerdem nehmen die Behörden gezielt Personen ins Visier, die Einfluss haben, wie Akademiker_innen, Journalist_innen oder andere Persönlichkeiten, die Machtmissbrauch oder Übergriffe melden oder melden könnten.« Im November 2021 Jahr traf die Repression zum Beispiel den Menschenrechtsaktivisten Khurram Parvez. Sicherheitskräfte drangen am frühen Morgen in seine Wohnung ein, als er, seine Frau und die beiden Kinder noch im Bett lagen. Eine auf Terrorbekämpfung spezialisierte
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Im Gespräch mit seinem Anwalt: Khurram Parvez (l.), Srinagar, August 2021. Foto: Dar Yasin / AP / pa
Einheit nahm ihn fest und berief sich dabei auf ein Antiterrorgesetz (Unlawful Activities Prevention Act). Die Kinder seien traumatisiert, sagte seine Frau Sameena Mir später den Medien. Außer seinen Wohnräumen wurden auch die Büros der Organisation durchsucht, für die Parvez arbeitet. Man warf dem 42-Jährigen vor, er sei seit sechs Jahren in Kontakt mit Unterstützer_innen einer militanten pakistanischen Gruppe, was er und seine Kolleg_innen kategorisch zurückwiesen. Parvez ist Programmkoordinator der Jammu Kashmir Coalition of Civil Society (JKCCS), einer im Jahr 2000 gegründeten Dachorganisation unabhängiger Menschenrechtsorganisationen in der Stadt Srinagar. »JKCCS versucht, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen, sei es durch Berichte, Programme, systematische Dokumentation, Rechtsstreitigkeiten oder andere Aktivitäten«, heißt es auf der Website. Parvez ist zudem Vorsitzender der Asiatischen Föderation gegen das unfreiwillige Verschwinden (AFAD). Seit mehr als 20 Jahren hat der Aktivist Menschenrechtsverletzungen durch die Streitkräfte im von Indien verwalteten Kaschmir dokumentiert. 2019 legte JKCCS einen ausführlichen Bericht über staatliche Folter vor, gefolgt von einem »Human Rights Review Report«, der Menschenrechtsverletzungen durch die Behörden nach der Abschaffung des Sonderstatus öffentlich machte. Parvez wurde im Jahr 2016 schon einmal inhaftiert, einen Tag, nachdem man ihm untersagt hatte, an einer Sitzung des UN-Menschenrechtsrats teilzunehmen. Er verbrachte 76 Tage im Gefängnis. Wäh-
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rend seiner Haft erhielt die AFAD den Asia Democracy and Human Rights Award. Damals war die Grundlage seiner Festnahme ein spezielles Gesetz zur öffentlichen Sicherheit in Jammu und Kaschmir (Public Safety Act). Wie das Antiterrorgesetz ist auch dieses Gesetz vielfach kritisiert worden. »Beide Gesetze ermöglichen eine Inhaftierung ohne formale Anklage«, erklärt Ashraf Wali. Ihre Anwendung spiegele »die autoritäre Struktur der Verwaltung« wider: »Die Anforderungen an die Beweise, die der Staat für die Inhaftierung beziehungsweise Verurteilung des Beschuldigten nach diesen Gesetzen vorbringen muss, sind außerordentlich niedrig.« Das Antiterrorgesetz sieht für die »Befürwortung, Beihilfe, Beratung oder Anstiftung zu rechtswidrigen Aktivitä-
Journalist_innen protestieren gegen »schwarze Listen« der Regierung. Srinagar, Januar 2019. Foto: Muzamil Mattoo / Pacific Press / pa
ten« eine Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren vor. Das vage formulierte Gesetz ermöglicht es, Menschen ohne Gerichtsverfahren und auf unbestimmte Zeit festzuhalten. Oft verbringen die Beschuldigten Monate, manchmal sogar Jahre im Gefängnis, ohne dass man sie vor Gericht stellt oder schuldig spricht. Das Gesetz zur öffentlichen Sicherheit lässt eine Inhaftierung von bis zu zwei Jahren ohne formelle Anklage oder Gerichtsverfahren zu. Es wird seit den 1990er Jahren missbraucht, um die Bevölkerung unter Druck zu setzen, seit zweieinhalb Jahren wird es jedoch massiv angewendet. Allein im vergangenen Jahr wurden auf Grundlage der beiden Gesetze etwa 900 Menschen in Kaschmir festgenommen. Nach Angaben der Tageszeitung Indian Express wurden seit 2019 in der Region mindestens 2.300 Menschen unter Verweis auf das Antiterrorgesetz inhaftiert. Fast die Hälfte von ihnen sitze noch immer im Gefängnis. Auf Grundlage des Gesetzes zur öffentlichen Sicherheit seien im selben Zeitraum 954 Personen inhaftiert worden, von denen ebenfalls fast die Hälfte immer noch in Haft sei.
Strafloses Militär Während diese beiden Gesetze die Zivilbevölkerung unter Druck setzen, schützt ein anderes Regelwerk die Sicherheitskräfte: Der Armed Forces Special Powers Act gewährt ihnen weitgehende Immunität vor Strafverfolgung, selbst bei schweren Menschenrechtsverletzungen. »Es ist ein Werkzeug, das der Armee gegeben wurde, um ungestraft zu arbeiten, ohne sich vor irgendeinem Gericht verantworten zu müssen«, sagt Ashraf Wali.
Ein Bild aus besseren Zeiten (August 2019): Der Kashmir Press Club in Srinagar wurde mittlerweile geschlossen. Foto: Atul Loke / The New York Times / Redux / laif
Amnesty International stellte bereits 2015 fest, dass kein einziges Mitglied der in Kaschmir stationierten Sicherheitskräfte je wegen Menschenrechtsverletzungen vor einem Zivilgericht angeklagt wurde. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Auch an den Einschränkungen der Meinungs- und Informationsfreiheit hat sich nichts geändert: »Das Internet wird regelmäßig abgeschaltet, oft mehrmals am Tag. Zwar hat der Oberste Gerichtshof den Zugang zum Internet zu einem Grundrecht erklärt, die Regierung hat jedoch einen Weg gefunden, das Urteil zu umgehen«, sagt Ashraf Wali. Das treffe auch die Wirtschaft in Kaschmir schwer. Aber trotz Beschwerden von Wirtschaftsund Schulverbänden setze die Regierung die Abschaltungen fort. Besonders drastisch wird auch die Pressefreiheit in Kaschmir beschnitten. 2020 führte die Regierung neue medienpolitische Maßnahmen ein, die obligatorische Hintergrundüberprüfungen von Journalist_innen umfassen und der Verwaltung die Befugnis erteilten, »Fake News, Plagiate und unethische oder antinationale Aktivitäten« strafrechtlich zu
»Die Situation ist beängstigend und so noch nie da gewesen.« Khalid Bhat, Journalist
verfolgen. Die Richtlinie enthält vage und weit gefasste Bestimmungen, die für Missbrauch anfällig sind. So wurden in den vergangenen zwei Jahren mehr als 40 Journalist_innen Razzien und polizeilichen Befragungen unterzogen oder auf Flugverbotslisten gesetzt, um zu verhindern, dass sie das Land verlassen. Die Erosion der Medienfreiheit spiegelt sich auch im World Press Freedom Index wider, einer Rangliste der Pressefreiheit. Dort rangiert Indien mittlerweile hinter Myanmar und Afghanistan. Zuletzt schlossen die Behörden die größte unabhängige Medienorganisation in Kaschmir, den Kashmir Press Club. »Die aktuelle Situation ist beängstigend und so noch nie da gewesen«, sagt der Journalist Khalid Bhat. Die Behörden versuchten, die Journalist_innen zum Schweigen zu bringen. »Ich habe tätliche Angriffe, ernsthafte Drohungen und Einschüchterungen erlebt und auch gesehen, wie Wohnungen von Kollegen durchsucht und ihre elektronischen Geräte beschlagnahmt wurden.« Oft wollten die Behörden durchsetzen, dass nur die offizielle Darstellung von Ereignissen veröffentlicht werde. Aus diesem Grund wurde auch Fahad Shah festgenommen. Im Februar 2022 rief ein Polizeibeamter in Pulwama den Redakteur des lokalen Nachrichtenportals The Kashmir Walla an und forderte ihn auf, umgehend auf der Polizeiwache zu erscheinen, um »eine Aussage aufzuneh-
men«. Es ginge um eine Schießerei am 30. Januar. Bei dem Feuergefecht waren nach Polizeiangaben mindestens drei Rebellen und ein »hybrider Militanter«, also ein als Zivilist getarnter Rebell, getötet worden. Shahs Website hatte eine andere Version der Geschichte veröffentlicht, wonach der vierte Getötete ein Junge im Teenageralter war. Aber auch die Polizeiversion wurde publik gemacht. Als Shah mit Kollegen auf der Wache ankam, teilte die Polizei ihnen mit, dass man Anzeige gegen ihn erstattet habe. Der Redakteur wurde unter Verweis auf das Antiterrorgesetz festgenommen. »Fahad Shah ist in schlechter Verfassung«, sagt der Journalist Khalid Bhat. »Laut denen, die ihn im Gefängnis getroffen haben, wurde er wie ein Krimineller behandelt. Er ist massivem Druck durch die Polizeibeamten ausgesetzt.« Viele seiner Kollegen seien nach seiner Festnahme befragt worden. Dass ihm Anklage wegen Terror und nicht wegen seiner Berichterstattung drohe, mache seinen Fall noch schlimmer. »Wenn es zu einem normalen Gerichtsverfahren kommt, besteht die Möglichkeit, dass er gegen Kaution freikommen kann.« In seinem Fall sei das hingegen so gut wie ausgeschlossen. ◆ *Name von der Redaktion geändert.
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KUBA
Größte Protestveranstaltung seit Jahrzehnten. Festnahme in Havanna am 11. Juli 2021. Foto: Adalberto Roque / AFP / Getty Images
Zivilgesellschaft vor Gericht Die kubanische Regierung geht mit Hunderten Prozessen gegen jene vor, die sich im Sommer 2021 an regierungskritischen Demonstrationen beteiligten. Hohe Haftstrafen und die Ausweisung von Aktivist_innen sorgen für ein Klima der Einschüchterung. Von Nicolás Ardila
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E
steban Rodríguez hatte keine Wahl. Am 4. Januar 2022 wurde der kubanische Journalist, der für die Online-Plattform ADN arbeitete, nach acht Monaten Haft in Handschellen zum Flughafen José Martí in Havanna transportiert. Dort verabschiedete er sich noch von seiner Mutter, bevor das Flugzeug in Richtung Nicaragua abhob. Eine Rückreise ist ausgeschlossen. Das hatte ihm die Staatssicherheit mit auf den Weg gegeben. Esteban Rodríguez lebt heute in Mexiko-Stadt. »Destierro«, also Ausbürgerung oder Verbannung, heißt das auf Kuba. Die Liste derjenigen, die gehen müssen, wird immer länger. Auch Hamlet Lavastida gehört zu ihnen. Der Künstler, der in seinen Arbeiten die politische Realität auf der Insel kritisch hinterfragt, wurde im September 2021 aus seiner Zelle in der Zentrale der Staatssicherheit geholt und zum Flughafen gefahren. Dort setzte man den 39Jährigen gemeinsam mit seiner Freundin Katherine Bisquet in ein Flugzeug nach Warschau. »Die Polizei hat uns als Bedingung für die Freilassung Hamlets verpflichtet, ins Exil zu gehen«, schrieb Bisquet auf Facebook. Die kubanischen Behörden sorgten für die nötigen Ausreisedokumente inklusive PCR-Test. Amnesty International hatte Rodríguez, Lavastida und vier weitere Personen im August vergangenen Jahres zu gewaltlosen politischen Gefangenen erklärt. Die übrigen befinden sich weiterhin auf der Insel: Luis Manuel Otero Alcántara, der Koordinator der Künstlerorganisation Movimiento San Isidro; José Daniel Ferrer, Gründer der Bürgerrechtspartei Unión Patriótica de Cuba (UNPACU); der kritische Musiker Maykel »Osorbo« Castillo sind in Haft, und die Menschenrechtsaktivistin Thais Mailén Franco Benítez wartet in Hausarrest auf ihren Prozess. Die Situation dieser gewaltlosen politischen Gefangenen ist nicht gut. So trat Luis Manuel Otero Alcántara Anfang 2022 in den Hungerstreik, um seine Freilassung oder eine offizielle Anklage zu erzwingen. Ohne Erfolg. Überaus schwach sei er, sagt die kubanische Juristin Laritza Diversent, die mit seinem Fall vertraut ist. Gleiches gilt für den Rapper Maykel »Osorbo« Castillo, der seit Mai 2021 inhaftiert ist. Einzelhaft und schlechte Versorgung hätten zu Gesundheitsproblemen geführt, berichten Familienangehörige. All das, weil sie das Recht auf Meinungfreiheit in Anspruch genommen haben. Thais Mailén Franco Benítez hatte zum Beispiel gemeinsam mit Esteban Rodríguez am 30. April 2021 an einer Kundgebung in Havanna teilgenommen und
wurde fünf Monate in Untersuchungshaft festgehalten. Man warf den beiden »Störung der öffentlichen Ordnung« und »Widerstand gegen die Staatsgewalt« vor. Die Vorwürfe seien »haltlos«, sagt Rodríguez. »Videos zeigen, dass wir bei der Festnahme keinen Widerstand geleistet und friedlich demonstriert haben.« Waren es im April einzelne Kundgebungen, so fanden am 11. Juli 2021 Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmenden statt. Es handelte sich um die größten Protestveranstaltungen seit der Revolution von 1959, auf denen weitgehend friedlich gegen die Wirtschafts- und Gesundheitspolitik sowie Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit protestiert wurde. Die Behörden reagierten hart und nahmen Hunderte Demonstrierende fest, von denen Ende 2021 noch mehr als 700 in Haft waren.
Prozesswelle gegen 790 Demonstrierende Dabei ist das Demonstrationsrecht sogar in der kubanischen Verfassung verankert, wie die kubanische Menschenrechtsanwältin Laritza Diversent betont. Sie leitet die juristische Beratungsorganisation Cubalex, die 2016 in die USA ins Exil ging, nachdem kubanische Behörden die Organisation durchsucht und Akten und Computer beschlagnahmt hatten. Nun berät Diversent kubanische Organisationen und Familien von Pennsylvania aus. Nach den Demonstrationen vom 11. Juli 2021 erstellte sie eine Liste der Festgenommenen und recherchierte mit Hilfe von Angehörigen und Freiwilligen deren Verbleib. Die Liste umfasst derzeit 1.396 Personen. Wie die kubanische Staatsanwaltschaft Ende Januar bekanntgab, wurde gegen 790 von ihnen Anklage erhoben. In mehr als 360 Fällen ergingen bereits Urteile, darunter Haftstrafen von bis zu 20 Jahren. Die Strafen seien »unverhältnismäßig hoch«, stellt Diversent fest und weist darauf hin, dass die Prozesse sowohl nationale als auch internationale Rechtsstandards verletzen. »Sie sind nicht öffentlich. Internationale Beobachter, Botschaftsangehörige und internationale Presse sind nicht zugelassen.« Die Polizei sperre die Gerichte großräumig ab. Zudem habe es im Juli 2021 Sammelprozesse gegeben, bei denen keine Rechtsbeistände zugegen waren, kritisiert die Juristin. Dies habe sich zwar inzwischen geändert, aber wie schon bei der ersten darf auch bei der seit Dezember 2021 laufenden zweiten Prozesswelle in der Regel nur ein Familienmitglied anwesend sein. Und nicht einmal das gilt in allen Fällen. »Wir wissen von Prozessen gegen Minder-
»Was derzeit in Kuba abläuft, erinnert an die Zeiten Fidel Castros.« Gabriele Stein, Amnesty jährige, bei denen die Eltern nicht in den Verhandlungssaal gelassen wurden«, sagt Diversent. Kuba habe zwar die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert, sie aber nicht in nationales Recht umgesetzt. So gilt in Kuba die Strafmündigkeit ab 16 Jahren, obwohl die Konvention diese auf 18 Jahre festlegt. Dies führte dazu, dass zum Beispiel der 17-jährige Nelson Nestor Rivero Garzón zu einer Haftstrafe von 15 Jahren verurteilt wurde. »Das, was derzeit in Kuba abläuft, erinnert an die Zeiten Fidel Castros, als Haftstrafen von 20 bis 25 Jahren verhängt wurden«, sagt Gabriele Stein von der deutschen Amnesty-Länderkoordinationsgruppe Kuba. »Die letzte Gruppe langjährig inhaftierter politischer Gefangener kam 2015 frei. Danach gab es vor allem kurzzeitige Inhaftierungen, die ein paar Tage, maximal Monate dauerten, aber eben nicht mehr.« Allerdings gibt es einen markanten Unterschied: Während damals vorwiegend bekannte Dissident_innen inhaftiert wurden, handelt es sich heute zumeist um Jugendliche oder junge Männer und Frauen, die oft keine Kontakte ins Ausland haben und sich keinen engagierten Rechtsbeistand leisten können. Sie sind zudem inhumanen Haftbedingungen ausgesetzt. Aus dem Exil weist Esteban Rodríguez auf die Zustände hin. »In den Haftanstalten gibt es kaum medizinische Versorgung, physische und psy-chologische Folter sind an der Tagesordnung«, klagt Rodríguez, der unter Bluthochdruck und Asthma leidet. Er sei stundenlang so gefesselt worden, dass er nur auf dem Bauch liegen konnte. Er habe miterlebt, wie Inhaftierte unter Androhung von Prügeln genötigt wurden, Revolutionsparolen zu rufen. Cubalex veröffentlichte Briefe von Inhaftierten, die das bestätigen, etwa ein Schreiben der Aktivistin Mailene Noguera Santiesteban, die zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Wann die Prozesse gegen die von Amnesty unterstützten gewaltlosen politschen Gefangenen beginnen, ist unklar. Eine Zwangsausreise lehnen sie nach Angaben von Familienangehörigen ab. Sie wollen auf der Insel bleiben. ◆
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KLIMA IM NAHEN OSTEN
Bei wie viel Grad schmilzt Misstrauen?
Heiß, heißer, Naher Osten: Die Klimakrise trifft Israel und seine Nachbarstaaten gleichermaßen. Kooperationen könnten allen Beteiligten helfen. Aus Beer Sheva von Till Schmidt
D
er Sommer 2021 gab einen Vorgeschmack auf die kommenden Jahrzehnte. Mit Temperaturen zwischen 40 und 46 Grad sah sich Israel im August einer langen und ungewöhnlichen Hitzewelle ausgesetzt. Auch Ende November war es ungewöhnlich heiß. Dazu kamen im Lauf des Jahres weitere Extremwetterereignisse, wie zum Beispiel Starkregenfälle, die für die Klimakrise typisch sind. In den vergangenen drei Jahrzehnten betrug der durchschnittliche Temperaturanstieg in Israel 1,7 Grad. Das im Pariser Klimaabkommen genannte Ziel wurde damit bereits überschritten. Eine globale Erwärmung von mehr als 1,5 Grad dürfte auf der gesamten Welt zu tödlichen Hitzewellen, verstärkter Wasserknappheit, Ernteausfällen und dem Kollaps von Ökosystemen führen. Im konfliktreichen Nahen Osten steigen die Temperaturen jedoch besonders schnell. Daher sind die Effekte der Klimakrise – ökonomische Zusammenbrüche oder verstärkte militärische Spannungen – für die gesamte Region eine besonders große Herausforderung. Oder in den drastischen Worten der israelischen Tageszeitung Haaretz: »Der Nahe Osten brennt.«
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Israel ist ein relativ kleines Land mit lediglich 9,3 Millionen Einwohner_innen. Gleichzeitig aber liegt die Pro-Kopf-Emission im oberen Drittel der OECD-Staaten. Im Oktober 2021 legte Matanyahu Englman, der höchste staatliche Ombudsmann, eine aufsehenerregende Evaluation der nationalen Klimapolitik vor. Demnach versäumten es Politik und Verwaltung in den vergangenen Jahren, die Bekämpfung der Klimakrise in den Fokus zu rücken. Der Analysezeitraum von Englmans Bericht geht zurück bis ins Jahr 2015 und umfasst damit weitgehend die Regierungszeit von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Wichtige klimapolitische Entscheidungen scheiterten an unzureichender Finanzierung, Pläne wurden nicht umgesetzt. Insgesamt seien die ohnehin moderaten Reduktionsziele nicht eingehalten worden, heißt es in dem Bericht. Ein Beispiel: Bis 2030 sollen erneuerbare Energien 30 Prozent des Energiebedarfs decken – bisher beträgt ihr Anteil lediglich rund zehn Prozent. In den vergangenen Monaten hat sich allerdings einiges geändert. »Ich beobachte eine neue Energie und ein weitaus schnelleres Tempo im Kampf gegen den Klimawandel«, stellt Sue Surkes fest, Reporterin für Umweltthemen bei der Zeitung Times of Israel. So kündigte der seit
Juni 2021 amtierende Premierminister Naftali Bennett neue Emissionsziele an, ließ die Klimakrise als »strategisches Bedrohungsszenario« einstufen und forderte die staatlichen Institutionen auf, dies in ihre Pläne einzubeziehen. Surkes erklärt diese Veränderung auch mit der Zusammensetzung der neuen Koalitionsregierung, die ein vielfältigeres Parteienspektrum als ihre Vorgängerin umfasst . Auf dem UN-Klimagipfel in Glasgow im November 2021 erklärte Bennett, die Emission von Treibhausgasen bis zum Jahr 2050 auf Null reduzieren zu wollen und verwies auf einen 100-Punkte-Aktionsplan seines Kabinetts. Zudem betonte er die Bedeutung Israels als innovativer High-Tech-Nation. »Auf diesem Gebiet kann Israel tatsächlich einen Beitrag leisten«, meint auch Surkes. Sie hebt israelische Erfindungen wie die Tröpfchenbewässerung und die Meerwasserentsalzung hervor. Dazu komme Israels weltweit führende Rolle, was die Verwendung von wiederaufbereitetem Abwasser (etwa
»Auf beiden Seiten lohnt sich die Kooperation auch wegen der Kosten.« Gidon Bromberg
Sonne satt. Solarfarm in der Negev-Wüste, September 2021. Foto: Naftali Hilger / laif
in der Landwirtschaft oder in öffentlichen Parks) und die Forschung zu künstlichem Fleisch angeht. Die Bereiche Ernährung und Bewässerung haben in der Klimakrise große Bedeutung. Israels Staatspräsident Isaac Herzog hat indes mit dem Israeli Climate Forum ein vielversprechendes Expertengremium gegründet, das die politischen Entscheidungsträger_innen beraten soll. »Was trotz dieser zahlreichen Bemühungen allerdings immer noch fehlt, ist ein nationales Klimaschutzgesetz«, betont Sue Surkes. Dies sei jedoch die Voraussetzung dafür, den ökologischen Zielen tatsächlich näherzukommen.
Abkommen zwischen Israel, Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten Dass die Klimakrise im Nahen Osten nicht nur nationale, sondern vor allem regionale Lösungen erfordert, wurde in den vergangenen Monaten immer wieder betont. Gidon Bromberg teilt diese Überzeugung seit Jahrzehnten. Er gründete 1994 infolge des Oslo-Friedensprozesses zwischen Israel und den Palästinenser_innen und des Friedensvertrags zwischen Israel und Jordanien die Nichtregierungsorganisation EcoPeace Middle East. Sie hat Büros in Tel Aviv, Ramallah und Amman, beschäftigt knapp 60 Mitarbeitende und
wird von vielen Freiwilligen unterstützt. »Über zahlreiche Projekte verbinden wir Umweltschutz mit Peacebuilding und Kooperation vor Ort«, sagt Bromberg. Der Umgang mit Wasser spielt für EcoPeace ein zentrale Rolle, da die bereits jetzt existierende Wasserknappheit in Kombination mit der Klimakrise eine existentielle Bedrohung für die Menschen in der Region darstellt. Zudem wären nachbarschaftliche Kooperationen vor dem Hintergrund geteilter Wasserressourcen sinnvoll. Mit der Initiative »Green Blue Deal« ruft EcoPeace zur ökologischen Zusammenarbeit in der gesamten Region auf. Als Beispiel für Klimakooperation verweist Bromberg auf ein Abkommen zwischen Jordanien, Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten vom November 2021. Im dünn besiedelten Jordanien soll eine große, von den Emiraten gebaute Solaranlage entstehen, die Israel mit erneuerbarer Energie versorgt. Israel hat sich im Gegenzug dazu verpflichtet, das notorisch wasserarme Jordanien mit einer großen Menge entsalztem Wasser aus dem Mittelmeer zu versorgen. »Auf beiden Seiten lohnt sich die Kooperation auch wegen der Kosten«, sagt Bromberg nüchtern. Erst 2021 hatten Israel und die Emirate diplomatische Beziehungen aufgenommen.
In Teilen der jordanischen Bevölkerung löste das Kooperationsprojekt Proteste aus. Die Kooperation mit Israel galt mehreren tausend Demonstrierenden als grundlegendes Problem. Sue Surkes von Times of Israel sieht in diesem Ressentiment gegenüber dem jüdischen Staat ein Hindernis für eine umfassende regionale Zusammenarbeit. Vielversprechende regionale Austauschforen wie die »Cyprus Government Initiative for Coordinating Climate Change Action in the Eastern Mediterranean and Middle East«, in der sich Politik, Wissenschaft und NGOs aus dem gesamten Nahen Osten versammeln, haben ambitionierte Ziele angekündigt, aber bisher noch keine Ergebnisse vorgelegt. Die regionale Kooperation erfolgt jedoch nicht immer in ökologischer oder klimaschützender Absicht. Ein israelischemiratisches Joint Venture bringt Erdöl aus den Emiraten über Israel nach Europa. Nach landesweiten Protesten und einer Petition von Umweltschutzgruppen beim Obersten Gerichtshof limitierte das israelische Umweltministerium im Dezember 2021 die Lieferungen schließlich auf sechs Tanker und eine Gesamtmenge von zwei Millionen Tonnen Öl pro Jahr. ◆
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WAS TUN?
WAS SAGT AMNESTY EIGENTLICH ZUR: INVASION IN DIE UKRAINE? Amnesty International verurteilt die russische Invasion in der Ukraine als einen Akt und ein Verbrechen der Aggression. Damit bezieht die Organisation zum ersten Mal in ihrer Geschichte Stellung zu einem solchen gewaltsamen staatlichen Überfall. Russlands Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar ist Amnesty zufolge ein eklatanter Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen und stellt ein Völkerrechtsverbrechen dar. Amnesty fordert deshalb, dass alle an diesem Verbrechen Beteiligten zur Rechenschaft gezogen werden, sowohl persönlich und individuell als auch kollektiv. Dasselbe gilt für die vielen einzelnen Verbrechen, welche die Invasion der Ukraine bisher gekennzeichnet haben. Amnesty International ruft die UNMitgliedsstaaten dazu auf, die UN-Charta zu wahren und zu verteidigen. Diese verbietet die Anwendung von Gewalt gegen
die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates. Amnesty weist darauf hin, dass die einzigen Ausnahmen von diesen Bestimmungen die Selbstverteidigung und die vom UN-Sicherheitsrat genehmigte Anwendung von Gewalt sind – beides trifft auf diese Krise nicht zu. Amnesty betont ferner, dass nach dem Völkerrecht alle Staaten verpflichtet sind, internationale Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln und in einer Weise beizulegen, die den internationalen Frieden, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet. »Russlands Einmarsch in die Ukraine ist schwerwiegend und durch ein einziges Merkmal definiert: Aggression. Russland dringt in das Herz der Ukraine vor und versucht, die rechtmäßig gewählte Regierung zu stürzen, mit realen und potenziell massiven Auswirkungen auf das Le-
ben, die Sicherheit und das Wohlergehen der Zivilbevölkerung. Die Handlungen der russischen Führung können mit keinem der von Russland vorgebrachten Gründe auch nur annähernd gerechtfertigt werden. Dennoch wird all dies von einem ständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrates begangen«, sagte Agnès Callamard, Internationale Generalsekretärin von Amnesty International. Seit Beginn der russischen Invasion dokumentiert Amnesty die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte. Dazu gehören auch die zivilen Todesopfer infolge der Angriffe auf zivile Gebiete und Infrastruktur. Die Angriffe auf geschützte Objekte wie Krankenhäuser und Schulen, der Einsatz von unterschiedslos wirkenden Waffen wie ballistischen Raketen und der Einsatz verbotener Waffen wie Streubomben können als Kriegsverbrechen eingestuft werden.
DAS STECKT DRIN: ERDGAS Deutsche Privathaushalte und Industriebetriebe sind immer noch in hohem Maß von Erdgas abhängig. Rund die Hälfte aller Wohnungen wird mit Gas beheizt. Die Industrie deckt ihren Energiebedarf zu 31 Prozent aus Erdgas. 56,3 Milliarden Kubikmeter Erdgas bezog die Bundesrepublik 2020 aus Russland. Das ist mehr als die Hälfte des deutschen Erdgasbedarfs. Infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine bemüht sich die deutsche Regierung weltweit um alternative Energielieferanten.
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Der völkerrechtswidrige Überfall auf die Ukraine ist nur eine von zahlreichen Menschrechtsverletzungen der russischen Regierung, die auch gegen die eigene Bevölkerung mit Repressionen vorgeht. Die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wurden 2021 systematisch verletzt. Öffentliche Versammlungen der politischen Opposition waren fast vollständig verboten, abweichende Meinungen wurden unterdrückt. Übergriffe auf Journalist_innen, Menschenrechtsverteidiger_innen und andere Aktivist_innen blieben straflos. Folter und andere Misshandlungen in der Haft waren an der Tagesordnung. LGBTI+ wurden diskriminiert. Die Bundesregierung verhandelte nach Beginn des Ukrainekrieges unter anderem mit Katar, um die Erdgasimporte aus Russland abzulösen. Doch auch in Katar werden die Menschenrechte massiv verletzt. Arbeitsmigrant_innen waren 2021 von Ausbeutung und beschränkter Freiheit betroffen. Das Recht auf Meinungsfreiheit war eingeschränkt. Frauen besaßen nicht die gleichen Rechte wie Männer. Auch LGBTI+ wurden diskriminiert.
Wesentlich besser für Menschenrechte und Klimaschutz wären regenerative Energieträger wie Wind, Sonne, Wasser oder nachwachsende Rohstoffe. Einer Studie zufolge könnten sämtliche Gebäude in Deutschland ab 2035 vollständig mit erneuerbaren Energien beheizt werden.
Quellen: Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft, Statistisches Bundesamt, Energiejahresbericht BP, Amnesty Report 2021/22, Wuppertal Institut Foto: Olga Kuzyk / shutterstock.com
MALEN NACH ZAHLEN: IMPFGERECHTIGKEIT Der Amnesty Report 2021/22 bemängelt den Umgang mit der Covid-19-Pandemie: »Während Regierungen wohlhabender Länder sich zu ihren Impfkampagnen beglückwünschten, sorgte ihr Impfnationalismus dafür, dass zum Jahresende mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung nicht oder nur zum Teil geimpft war.«
BESSER MACHEN: ENTWICKLUNGSPOLITIK Internationale Entwicklungsbanken haben Ende Februar die Förderung eines Unternehmens in der Demokratischen Republik Kongo beendet, das in Menschenrechts- und Umweltverbrechen verwickelt ist. Die Banken BIO (Belgien), CDC (Großbritannien), DEG (Deutschland) und FMO (Niederlande) haben nach eigenen Angaben ihre finanziellen Beteiligungen an Plantation et Huileries du Congo (PHC) verkauft. Bereits ein Jahr zuvor war die französische Entwicklungsbank Proparco aus dem Unternehmen ausgestiegen. Die umstrittene PHC hat Konzessionen für mehr als 100.000 Hektar Ölpal-
menplantagen in der DR Kongo. In den vergangenen Jahren hatten die internationalen Entwicklungsbanken das Unternehmen mit mehr als 150 Millionen USDollar unterstützt. Dabei war nach Recherchen verschiedener NGOs bekannt, dass die PHC ihre Konzessionen durch Landraub in der belgischen Kolonialzeit erworben hat und sowohl vor als auch während der Förderungszeit der Entwicklungsbanken in Menschenrechtsverletzungen und Umweltverbrechen verwickelt war. Zu den Vorwürfen gegen das Unternehmen gehören neben dem Landraub
SCHUTZ FÜR DIE UMWELTAKTIVISTIN JANI SILVA!
Die kolumbianische Umweltaktivistin Jani Silva riskiert für den Schutz des Amazonasgebiets ihr Leben. Bewaffnete Gruppen, Drogenkartelle, das Militär und Unternehmen haben es auf Gold, Öl und Coltan abgesehen. Wegen ihres Engagements erhält Jani Silva Morddrohungen. Die bisherigen staatlichen Maßnahmen können ihre Sicherheit nicht gewährleisten. Beteilige dich an unserem Online-Appell an das Innenministerium Kolumbiens!
auch gewaltsame Übergriffe von PHC-Sicherheitskräften auf Dorfbewohner_innen, die Tötung zweier Zivilpersonen, Hungerlöhne sowie gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen auf den Plantagen. Der NGO Fian zufolge ignorierten die Banken zahlreiche Warnungen zivilgesellschaftlicher Organisationen und untersuchten die Vorfälle und Beschwerden der betroffenen Gemeinden nicht gründlich. Die Gemeinden fordern die Rückgabe des Landes, dessen Nutzung ihnen seit mehr als 100 Jahren ohne ihre Zustimmung verwehrt wird.
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PORTRÄT
AUSGEZEICHNET UND ANGEFEINDET Mohammed Jouni setzt sich dafür ein, dass Geflüchtete in Deutschland bleiben können. Dafür hat er das Bundesverdienstkreuz erhalten – und jede Menge Hass. Von Böbe Barsi
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Foto: Layla Kübler
A
n einem Abend im Oktober wartet auf Mohammed Jouni zu Hause ein Brief. Der 36-jährige Sozialarbeiter macht den Umschlag auf, liest den Text ein paar Mal und googelt dann die Bedeutung von »Verdienstmedaille des Verdienstordens«. Absender des Briefs ist das Bundespräsidialamt, das ihn über seine Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz informiert – die höchste Anerkennung für bürgerschaftliches Engagement in Deutschland. Jouni ist ein Berliner Aktivist libanesischer Herkunft, der 2005 die Selbstorganisation Jugendliche ohne Grenzen (JoG) mitbegründete. Als Lobbygruppe junger Geflüchteter spielte sie eine zentrale Rolle, als 2007 die sogenannte Altfallregelung verabschiedet wurde. Sie ermöglichte es vielen geduldeten Geflüchteten, die seit Langem in Deutschland lebten, ein Bleiberecht zu erhalten. Unter anderem wegen seines Beitrags zu diesem Gesetz wurde Jouni ausgezeichnet. Er kam mit zwölf Jahren selbst als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland. Aufgrund der politisch instabilen Lage in den 1990er Jahren hielten seine Eltern den Libanon für einen unsicheren Ort. Kurz nachdem seine Eltern 1998 nachgekommen waren, wurde sein Vater von der Familie getrennt und in den Libanon abgeschoben. Später kam er nach Deutschland zurück und lebte dort mehr als sieben Jahre lang ohne Papiere. Jounis Mutter, die zum Zeitpunkt der Abschiebung schwanger war, wurde mit ihren vier Kindern in ein Lager gebracht. Für die Familie war das keine einfache Zeit. »Ich bin mir absolut bewusst, was das für einen Wert hat, was meine Eltern für uns getan haben«, sagt Jouni. Zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes im November 2021 lud er Menschen ein, die eine zentrale Rolle in seinem Le-
ben in Deutschland spielten. So etwa die Anti-Rassismustrainerin Sanchita Basu, die ihm und anderen mit ihrem Engagement zum Vorbild wurde: »Sie half uns zu verstehen, dass Rassismus eine Struktur ist, die eine lange historische Kontinuität hat«, sagt Jouni. Auch Walid Chahrour, der Leiter des Beratungs- und Betreuungszentrums für junge Geflüchtete und Migrant*innen in Berlin (BBZ) zählte zu den Gästen. »Dank ihm fing ich an zu begreifen, dass ich Rechte habe und mich beteiligen kann.« Die Freude über die Auszeichnung wurde jedoch bald getrübt. Am Tag der Verleihung veröffentlichte die Zeitung taz ein Interview mit Jouni. Kurz darauf gab es hasserfüllte Kommentare in den Online-Netzwerken. In kürzester Zeit fand sich der Bundesverdienstkreuz-Aktivist in einem Shitstorm wieder. Jouni hat sogar Morddrohungen per E-Mail erhalten. Er erstattete Strafanzeige. Nun ermittelt die Polizei. Jouni erzählt, es habe gedauert, bis er sich vom ersten Schock erholt habe. Doch inzwischen könne er all dem sogar etwas Positives abgewinnen: »Ich betrachte diese Hassnachrichten auch als Bestätigung unserer Arbeit und meiner Überzeugung«, sagt er. Einfach war seine Arbeit nie: »Das Zusammenleben mit anderen Menschen ist immer kompliziert. Konflikte treten immer auf, wo Menschen sich begegnen, egal ob wir es wollen oder nicht.« Wichtig sei es, Wege zu finden, mit Konflikten und Herausforderungen produktiv umzugehen. ◆
DRANBLEIBEN
BEDROHTER LEBENSRAUM IN GUATEMALA Die indigene Bevölkerungsgruppe Maya Q’eqchi’ im Osten Guatemalas wirft einem Schweizer Bergbauunternehmen massive Umweltzerstörung vor, die ihren Lebensraum bedroht. Recherchen eines weltweiten Journalistennetzwerks belegen nun die Vorwürfe der Q’eqchi’ gegenüber der Solway Investment Group, die in Guatemala Nickel abbaut und weiterverarbeitet. Hacker konnten sich interne Dokumente eines Tochterunternehmens der Schweizer Firma beschaffen, die die Aussagen der Fischer vor Ort bestätigen: Durch heftige Regenfälle wurde Abraum von einer Mine in einen See gespült und sorgte dort für roten Giftschlamm. Das Unternehmen, lokale Behörden und das guatemaltekische Umweltministerium weisen die Vorwürfe zurück und behaupteten, Algen seien für die Verunreinigung verantwortlich. Doch die Beweislast ist erdrückend: E-Mails aus 470 Postfächern und acht Millionen Dokumente aus dem Unternehmen belegen konkrete Vorschläge zur Bestechung von Gemeindevorstehern, Zahlungen an die Polizei, detaillierte Pläne zur Vertreibung lokaler Gemeinschaften und enthalten Bilder, welche die Überwachung von Journalisten dokumentieren. Im Amnesty Journal 02/2022 schrieb der Journalist Wolf-Dieter Vogel über den Nickelabbau in El Estor und die Aktivist_innen, die sich für die Rechte der Maya Q’eqchi’ engagieren. In dem Artikel kam unter anderem der Fischer Eduardo
Bin Poou zu Wort, der über den giftigen Schlamm im Izabal-See berichtete. Er beklagte auch, dass man die Maya Q’eqchi’ nie gefragt habe, ob sie dem Bergbau überhaupt zustimmten. Denn indigene Gemeinschaften müssen gemäß der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation »im Voraus, frei und informiert befragt werden«, wenn auf ihrem Land Rohstoffe abgebaut werden sollen. Weder die Regierung noch das Schweizer
Unternehmen und seine Tochterfirmen scherten sich darum, sondern fuhren unentwegt Kipplader und LKWs über die Straße, die zu der nickelverarbeitenden Fabrik führt. Die Ergebnisse der Recherchen des Journalistennetzwerks sind nun jedoch ein Hoffnungsschimmer für die Gemeinschaft der Q’eqchi’, ihre Rechte durchsetzen zu können. (»Die Rechte der Q’eqchi’«, Amnesty Journal 02/2022)
Ein LKW auf dem Weg zur Mine, Januar 2022. Foto: Wolf-Dieter Vogel
VERZICHT AUF PATENTSCHUTZ FÜR CORONA-IMPFSTOFF KOMMT SPÄT Der US-Konzern Moderna verkündete Anfang März, in 92 Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen dauerhaft auf den Patentschutz seines Corona-Impfstoffs und die entsprechenden Lizenzeinnahmen verzichten zu wollen. Bedingung sei, dass die Impfstoffe ausschließlich zur Verwendung in diesen Ländern hergestellt würden. Die betreffenden Länder werden durch Covax versorgt, das weltweite Impfprogramm unter Führung der Weltgesundheitsorganisation WHO sowie der Impf- und Forschungsallianzen Gavi und CEPI.
Martin Friede, WHO-Koordinator für Impfforschung, kritisierte, die Entscheidung des Unternehmens, seine Patente in den Covax-Zielländern nicht durchzusetzen, komme ein wenig spät. Dort mangele es nun am Wissen und an der Technologie zur lokalen Herstellung von mRNAImpfstoffen. Bis die Impflücke im globalen Süden mit selbst hergestellten Vakzinen geschlossen werden kann, kann es noch Jahre dauern. Die People’s Vaccine Alliance, ein zivilgesellschaftliches Bündnis für Impfstoffgerechtigkeit, dem auch Amnesty Inter-
national angehört, stellt nach zwei Jahren Corona fest: »Wir haben die Fähigkeit, die Welt zu impfen und diese Pandemie zu beenden. Doch stattdessen horten reiche Länder Impfstoffe und schützen die Profite ihrer Pharmafirmen – anstatt Leben zu retten.« So waren Anfang Februar erst elf Prozent der afrikanischen Bevölkerung vollständig gegen Corona geimpft. (»Menschen schützen, nicht Patente«, Amnesty Journal 05/2021)
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Ein Freiwilliger schweißt aus Stahlplatten eine schusssichere Weste zusammen. Ukraine, Saporischschja, Ende März. 56 AMNESTY JOURNAL | 03/2022
Foto: Celestino Arce Lavin / Zuma Wire / Imago
KULTUR LITERATUR UND KRIEG
Schusssichere Westen, nicht Bücher und Ideen Krieg in der Ukraine: Kein Tag vergeht ohne neue Nachrichten zu Truppenbewegungen, Einschätzungen von Militärexpert_innen, Statements von Politiker_innen. Doch wie denken die ukrainischen Intellektuellen, die Kulturschaffenden über die Lage? Wie leben sie mit dem Krieg? Von Tanja Dückers
D
ie Künstler_innen und Intellektuellen in der Ukraine lassen sich derzeit in zwei Gruppen einteilen: in die, die im Land geblieben sind oder bleiben mussten, und in die, die vor dem Krieg geflohen sind. Doch betroffen vom russischen Angriffskrieg sind sie alle. Anastasiia Kosodii (geb. 1992), hat in ihrer Heimatstadt Saporischschja das progressive Theater Zaporizka Nova Drama mitbegründet. Später war sie Chefdramaturgin des PostPlay Theaters in Kiew. Sie schreibt auch selbst Stücke, die zum Bei-
spiel an den Münchner Kammerspielen und am Gorki Theater in Berlin aufgeführt wurden. Nun teilt sie sich mit einer Freundin und deren Katze ein 1-ZimmerAppartement in Berlin-Treptow. Ihre Eltern sind weiterhin in Saporischschja. Dort wurden Anfang April Barrikaden gebaut. Die russische Armee zerbombte die Vororte. Eine Kleinstadt an der Front im Osten, in der Kosodii ein Projekt mit Schüler_innen geleitet hatte, wurde wie Mariupol dem Erdboden gleichgemacht. Die Schule gibt es nicht mehr. Über den Krieg macht sich die Theatermacherin keine Illusionen. In ihrem hellsichtigen
und ergreifenden Stück »Timetraveller’s Guide to Donbass«, das kurz nach der Annexion der Krim 2014 uraufgeführt wurde, beschäftigte sie sich mit dem Krieg in der Ostukraine. Darin spielt eine Zeitmaschine eine Rolle, mit der man sich in die Zukunft beamen kann. Und die sieht düster aus. Die aus Lwiw stammende Schriftstellerin und Übersetzerin Natalka Sniadanko (geb. 1973), die unter anderem in Freiburg studierte und deren Werke auch in Deutschland Widerhall fanden (zuletzt: »Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Groß-
Natalka Sniadanko, Schriftstellerin aus Lwiw, ist mit ihren Kindern nach Marbach am Neckar geflohen. Foto: Elke Wetzig (CC BY-SA 3.0)
Anastasiia Kosodii, Autorin aus Saporischschja, lebt nun in Berlin. Foto: Esra Rotthoff / gorki
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Evgenia Lopata aus Czernowitz leitet das Literaturfestival Meridian Czernowitz. Sie will die Stadt trotz des Krieges nicht verlassen. Foto: gezett / Imago
vater wurde«) ist nach einer Odyssee in Marbach am Neckar gelandet. Als der Krieg ausbrach, war sie mit ihren beiden Kindern gerade in Krakau – Glück im Unglück, denn so konnte auch ihr 18-jähriger Sohn mit nach Deutschland fliehen, der sonst eingezogen worden wäre. Jetzt lebt sie mit den beiden Teenagern in zwei Zimmern. Immerhin, das Deutsche Literaturarchiv in Marbach bietet ihr eine Perspektive: Natalka erhält zunächst ein Stipendium; danach hat man ihr eine Teilzeitstelle angeboten. In ihrem Fall ist es natürlich hilfreich, dass sie als Übersetzerin so gut Deutsch spricht. Ihr Mann ist noch in der Ukraine und wurde eingezogen. »Mit meinen Kolleginnen in Lwiw habe ich mich zuletzt nicht über Bücher und Ideen ausgetauscht, sondern darüber, wo wir schusssichere Westen herbekommen«, erzählt sie. Sie müssten sich die Ausrüstung zum Teil selbst organisieren, und das sei alles andere als einfach. Auch plage sie ein schlechtes Gewissen, weil sie geflohen sei und man ihr einen Job angeboten habe. Viele Kulturschaffende zu Hause hätten keine Auftritte, keine Arbeit und kein Einkommen mehr und befänden sich in einer desolaten Situation. Aber sie wollte
»Meine Arbeit hier ist wichtig.« Evgenia Lopata, Kulturmanagerin 58 AMNESTY JOURNAL | 03/2022
ihre Kinder nicht Bomben, Raketen und Nächten im Schutzbunker aussetzen. Die 27-jährige Evgenia Lopata leitet schon seit 2013 das international bekannte Literaturfestival Meridian Czernowitz. Sie ist bisher in der westukrainischen Stadt geblieben. Die Kulturmanagerin, Verlegerin und Übersetzerin spricht vier Sprachen und arbeitet zielstrebig an der nächsten Ausgabe des Literarturfestivals, das im September stattfinden soll. »Meine Arbeit hier ist wichtig«, sagt sie. »Kultur ist systemrelevant, in welcher Krise auch immer. Erst recht in dieser.« Sie hilft zudem Menschen, die in den Westen des Landes geflüchtet sind. Ob sie Angst davor hat, dass der Krieg auch auf Czernowitz übergreift? Die zierliche Frau lacht. »Nein. Wir sind so ukrainisch im Westen. Wenn die Russen hierherkommen, würde jeder, wirklich jeder zum Messer greifen.« Und immer wieder sagt sie diesen Satz: »Wir sind hier auch Europa.« Paul Celan und Rose Ausländer stammten aus Czernowitz, die Bukowina gehörte zu Habsburg. Bis zur rumänischen Grenze sind es nur 40 Kilometer. Berlin ist anderthalb Flugstunden entfernt. Evgenia Lopata kennt die deutsche Hauptstadt gut: 2019 absolvierte sie ein Praktikum im Deutschen Bundestag. Ostap Slyvynsky (geb. 1978) hat keine Wahl. Der Literaturwissenschaftler, Lyriker und Übersetzer muss in Lwiw bleiben. Er hat Werke der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk ins Ukrainische übersetzt, und mehrere seiner Bücher liegen auch auf Deutsch vor (zuletzt: »Im fünften Jahrtausend erwachen: Gedichte aus den Jahren 2008 bis 2016«). Slyvynsky, der über das Phänomen der Stille in
Ostap Slyvynsky, Lyriker, Übersetzer und Literaturwissenschaftler aus Lwiw, musste Anfang April mit seiner Einberufung rechnen. Foto: Dagmar Schwelle / laif
der Literatur promovierte, könnte bald im Gefechtsfeuer stehen. Es fällt ihm schwer, sich dies vorzustellen, aber Bitterkeit ist seine Sache nicht. »Hier helfen jetzt alle«, sagt Slyvynsky. Der Krieg habe sehr viel Solidarität hervorgebracht. Als Mitglied des ukrainischen PEN bemüht er sich derzeit darum, Kolleg_innen aus den zerbombten Städten im Osten des Landes zu unterstützen. Das Vorgehen der russischen Regierung hat Slyvynsky nicht überrascht. Er unterzeichnete 2016 den Aufruf »Schluss mit dem Massenmord in Aleppo!«, der sich gegen den Bombenkrieg Putins in Syrien wandte. Außerdem organisiert der Literaturwissenschaftler Kulturveranstaltungen in Lwiw. »Ein positiver Aspekt der Situation ist, dass jetzt die tollsten Autoren und Musiker aus dem Osten bei uns sind«, erzählt er und lächelt ironisch. Slyvynsky hat eine Idee des polnischen Dichters und Literaturnobelpreisträgers Czesław Miłosz aufgegriffen und damit begonnen, ein »Wörterbuch des
Anna Artwińska, Expertin für Slawistische Literatur der Universität Leipzig. Foto: Uni Leipzig
Ich gehe in meine Wohnung und verstehe nicht, ob ich wirklich weine, oder ob bloß meine Augen tränen.«
ZAHLEN (Iryna, Sjewjerodonezk, redet ins Telefon) »Du musst einfach zählen, komm wir machen es gemeinsam! Eins, zwei, drei … Nein, langsamer, noch einmal von vorne. Nicht so schnell. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben … Siehst du? Alles ist gut.« Übersetzung: Maria Weissenböck
Kriegs« zu schreiben. »Jeder Eintrag ist das Fragment eines Monologs, den ich gehört habe«, sagt er, zum Beispiel am Bahnhof von Lwiw, dem zentralen Drehkreuz für die Fluchtrouten in den Westen, wo er Brot und Tee an Flüchtlinge verteilte, in Notunterkünften, in die er Medikamente und andere Dinge brachte, bei nächtlichen Wachen oder an den Ständen, an denen Kaffee ausgegeben wird. »Überall beginnen die Menschen zu erzählen. Manchmal von selbst, manchmal muss man sie ein wenig antippen, eine Frage stellen, und schon beginnt ein Redeschwall, der kaum zu stoppen ist«. Das liest sich im Ergebnis dann so:
SONNE (Nina, Konotop) »Als der Krieg begann, dachte ich, ich würde viel weinen. Ich bin eine Heulsuse. Und plötzlich bin ich wie ausgetrocknet. All die Tage keine einzige Träne. Nur einmal habe ich geweint. Nachdem wir lange im Keller gesessen sind, gehe ich hinaus, und die Sonne ist so hell. Ich beginne zu weinen.
In Westeuropa werde die ukrainische Literatur im Vergleich zur russischen immer noch als marginal angesehen, klagt nicht nur Natalka Sniadanko. Sie mache ständig die Erfahrung, dass Westeuropäer sie darum bitten würden, ihr »diese ehemalige Sowjetrepublik« auf einer Karte zu zeigen und immer erstaunt reagierten: »So ein großes Land!« Während man einer Region wie dem Baltikum mit seinen gerade mal sechs Millionen Einwohner_innen oder einem Land wie Island, wo nur 320.000 Menschen leben, selbstverständlich eine eigene Kultur zugestehe, sei das bei der Ukraine mit ihrer Bevölkerung von 44 Millionen nicht der Fall. Das bestätigt auch Anna Artwińska, Professorin für Slawistische Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig. Die Ukrainistik sei ein marginalisierter Forschungszweig. Ostslawistik sei für viele faktisch dasselbe wie Russistik. Dies würde sich jetzt allerdings ändern, Studierende würden gezielt nach Literatur aus der Ukraine fragen. Wenn Anna Artwińska über die ukrainische Romantik, die künstlerisch freizügigen 1920er Jahre und die neue Vielfalt der Literatur in der postsowjetischen Pha-
se spricht, wird deutlich, wie groß die Wissenslücken über das mittelosteuropäische Land sind. Doch nicht nur Kenntnisse, auch Mitgefühl hätten lange gefehlt, erklärt Artwińska. Der empathische deutsche Blick auf die russischen Opfer des Zweiten Weltkriegs habe dazu geführt, dass die ukrainischen Opfer des Vernichtungsfeldzugs der Wehrmacht ignoriert worden seien. Dabei verlor das Land damals ein Viertel seiner Bevölkerung. Einige der größten Schlachten fanden in der Ukraine statt. Und der jetzige Krieg? Ist er auch ein Krieg der Sprachen? Die im Land verbliebenen Kulturschaffenden betonen: Dass es ukrainische Autor_innen gebe, die auf Russisch schreiben würden, bedeute nicht, dass sie mit Russland sympathisierten. »Putin schweißt uns zusammen«, sagt Andrej Kurkow. Er ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Ukraine, der auf Russisch schreibt und Vorsitzender des ukrainischen PEN. Die Ukraine sei ein mehrsprachiges Land. Russisch gehöre zur Ukraine, russischsprachige Ukrainer_innen aber nicht zu Russland. In Russland sind Kurkows Bücher verboten. Dass aus Russland stammende Literatur jetzt in der Ukraine boykottiert wird, finden viele Kulturschaffende richtig, denn Russland führe einen aggressiven Propagandakrieg gegen die Ukraine, die oft als »Klein-Russland« bezeichnet werde. Die nach Deutschland geflohenen Autorinnen irritiert, dass man sie ständig bittet, gemeinsam mit russischen Künstler_innen aufzutreten. Es sei nicht der Moment dafür, finden sie. Sie wollten und könnten sich nicht ausgewogen und klug äußern, während sie Angst um das Leben ihrer Liebsten hätten. Auch sei die Situation der russischen Künstler_innen eine völlig andere als die der Ukrainer_innen, die Hals über Kopf vor Bomben und Tod fliehen mussten. Anastasiia Kosodii schaut in Berlin auf ihr Handy: »Heute ist ein guter Tag. Mama geht zum Friseur. Das klingt nach etwas Normalem«, sagt sie, während die Kaffeetasse in ihrer Hand zittert. »Ich hoffe, ich sehe meinen Mann wieder«, sagt Natalka Sniadanko in Marbach und seufzt. »Ich werde kämpfen«, sagt Ostap Slyvynsky in Lwiw und rückt seine Brille zurecht. »Meridian Czernowitz wird stattfinden«, sagt Evgenia Lopata und macht eine Geste hin zum Fenster, zu einem Himmel, dessen Grau schwer zu deuten ist. ◆
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SPRACHE UND AGGRESSION
»Ich schreibe keine Literatur mehr. Ich schreibe nur noch über den Krieg« Der Schriftsteller und PEN-Präsident der Ukraine Andrej Kurkow ist in Sankt Petersburg geboren, in Kiew aufgewachsen und schrieb bislang auf Russisch. Der russische Angriff hat seine Arbeit verändert. Interview: Cornelia Wegerhoff
In Ihrem aktuellen Roman »Graue Bienen« geht es um den Bienenzüchter Sergej aus dem Donbass. Obwohl sich dort ukrainische Soldaten und prorussische Separatisten bekämpfen, lebt er nach dem Motto: »Nichts hören, nichts sehen – sich raushalten«. Hat sich auch Westeuropa aus dem Konflikt zwischen der Ukraine und Russland zu lange rausgehalten? Sicher. Das Verhalten der europäischen Politik hat Putin motiviert, von Tag zu Tag aggressiver auf die Ukraine zu blicken. Zusammen mit Putins Propaganda war das die Grundlage für diesen Krieg. Ihre Bücher sind in Russland schon länger verboten. Ist Putins Krieg gegen die Ukraine auch ein Krieg gegen die ukrainische Kultur? Natürlich. Russland hat immer versucht, die ukrainische Kultur entweder zu vernichten oder ideologisch zu »korrigieren«. In den 1920er und 30er Jahren wurde die Mehrheit der ukrainischen Dichter und Schriftsteller inhaftiert und ermordet. Geblieben sind kommunistische Schriftsteller ohne Ansehen, Stil und Inhalt. Sol-
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che sowjetisch-ukrainischen Autoren waren ab 1991 sofort vergessen. Vor zwei, drei Jahren gab es in Belarus den Versuch, den ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan zu inhaftieren. Nur dank ukrainischer Diplomatie konnte verhindert werden, dass er von Minsk nach Russland ausgeliefert wurde. Deshalb bin ich sicher, dass auch jetzt alle ukrainischen Schriftsteller und Intellektuellen in Gefahr sind. In der russisch besetzen Stadt Melitopol sind die Leute des russischen Geheimdienstes FSB mit Namens- und Adresslisten unterwegs und suchen proukrainische Aktivisten und Journalisten. Es sind schon viele Leute verschwunden. Sie haben immer für ein friedliches Zusammenleben plädiert. Ist diese Idee gescheitert? Ich glaube, es wird für russischsprachige Schriftsteller in der Ukraine künftig moralisch schwierig. Viele von ihnen wollen jetzt auf Ukrainisch weiterschreiben. Boris Chersonskij, der russischsprachige Dichter aus Odessa, hat schon damit angefangen, Gedichte auf Ukrainisch zu schreiben. Wollen Sie künftig auch auf Ukrainisch schreiben? Ich poste jetzt überwiegend auf Ukrainisch. Aber ich will weiterhin russischsprachige Romane schreiben. Im nonfik-
tionalen Bereich habe ich bereits zuvor auf Ukrainisch geschrieben. Und ich denke darüber nach, die Sachbücher, die ich bereits auf Russisch geschrieben habe, bis auf Weiteres nicht mehr auf Russisch veröffentlichen zu lassen. Sie sind von Kiew in eine ländliche Region geflüchtet, wollen aber in der Ukraine bleiben. Warum? Ich habe kurze Auslandsbesuche unternommen. Ich war in Großbritannien und Norwegen eingeladen. Aber ich gehöre hierher. Meine Familie gehört jetzt zwar auch zu den Binnenflüchtlingen, aber ich werde in der Ukraine bleiben, um zu sehen, was passiert, und um zu hören, was die Leute denken. Dann verstehe ich die Situation viel besser. Hat der Krieg Ihre Rolle als Schriftsteller verändert? Der Krieg verändert die Rolle eines jeden Menschen. Ich schreibe keine Literatur mehr. Ich schreibe nur noch journalistische Texte und Essays über den Krieg.
»Alle ukrainischen Schriftsteller und Intellektuellen sind jetzt in Gefahr.«
ANDREJ KURKOW Verändert der Krieg auch die Sprache? Es ist jetzt viel Hass in der Sprache. Aber das kann man verstehen. Wir alle haben die Bilder vom Massaker in Butscha gesehen, mit Hunderten brutal ermordeter Zivilisten. Dass das auch die Sprache verändert, ist nur logisch. Viele Ukrainer_innen flüchten. Was bedeutet das für die ukrainische Literatur, die Kunst? Ich kann nicht bestätigen, dass viele Kulturschaffende fliehen. Wir haben aber durch den ukrainischen PEN die Möglichkeit, dass einige unserer Mitglieder Residenzen im Ausland erhalten, auch im nahen Polen. Niemand verlässt freiwillig das Land. Die Mehrheit der Leute, die geflohen sind, sind Frauen und Kinder. Was kann der Westen, was kann Deutschland tun, um die ukrainische Kultur und Literatur zu stärken? Es sollten mehr Bücher über die ukrainische Geschichte veröffentlicht werden. Es gibt wunderschöne, international bekannte Bücher von Timothy Snyder, Anne Applebaum, Serhii Plokhii und anderen. Das sind Bücher über die ukrainische Kultur, über die Beziehungen zu Russland und auch über das Zusammenleben in sowjetischer Zeit. Solche Bücher sind zurzeit wichtiger als Romane aus
der Ukraine. Romane können warten. Die Menschen in Deutschland kennen die russische Geschichte sehr gut. Und selbst wenn sie Empathie für die Ukraine empfinden, interessieren sie sich nicht für den Unterschied zwischen russischer und ukrainischer Geschichte. Das hat zur Folge, dass sie der russischen Version ukrainischer Geschichte Glauben schenken. Russland versucht Kriegsgegner_innen im eigenen Land durch massive Repression zum Schweigen zu bringen. Wieviel Hoffnung setzen Sie auf diese oppositionellen Kräfte? Keine. Das ist keine wahre Opposition. Die russischen Oppositionskräfte wurden bereits in den ersten fünf Jahren von Putins Präsidentschaft physisch vernichtet. Heutzutage gibt es nur noch einige Leute im Ausland, die etwas auf Facebook schreiben können, um die Ukraine zu unterstützen. Alle anderen Proteste spielen keine Rolle, das ist so eine kleine Minderheit. Zu Beginn des Krieges gab es in Moskau sechs Protestierende – 1, 2, 3, 4, 5, 6! Und nicht 600 oder 6.000. Anfang März sorgte der Aufruf ukrainischer Literaturverbände, russische Autor_innen zu boykottieren, für viel Aufsehen und Kritik. Sie haben das als PEN-Präsident später zurechtge-
Der Schriftsteller wurde 1961 in Sankt Petersburg geboren und hielt sich Anfang April, während des Interviews, kriegsbedingt in der Westukraine auf. Sein Roman »Picknick auf dem Eis« ist ein Welterfolg. Der ehemalige Journalist spricht elf Sprachen, darunter auch Deutsch. Seine Bücher erscheinen in deutscher Übersetzung im Diogenes Verlag. Foto: Julien Falsimagne / Leextra / opale.photo / laif
rückt – auch wegen persönlicher Erfahrungen mit Zensur? Ich habe mein Statement dazu gemacht. Die Mehrheit der ukrainischen Kulturschaffenden ist jetzt gegen alles Russische. Das wird man bis zum Ende des Krieges nicht ändern können. Es hat keinen Sinn, weiter darüber zu sprechen. Wann wird der russische Krieg gegen die Ukraine beendet sein? Wenn Putin tot ist. Wenn nicht, wird das dauern und dauern und dauern und dauern. Jahrelang. Er wird das neu besetzte Territorium verteidigen. Die Ukraine wird das nicht akzeptieren. Aber die Ukraine wird nicht genügend Kräfte und nicht genügend Waffen haben, um diese Gebiete aus eigener Kraft zu befreien. ◆
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KREML-KRITIKER IM EXIL
Putin rockt nicht Der bekannte russische Musikkritiker Artemy Troitsky ging ins estnische Exil, als Russland 2014 die Krim annektierte. Heute gehört er zu den schärfsten Kritiker_innen des Überfalls auf die Ukraine. Aus Tallinn Tigran Petrosyan
Der große Widerstand gegen Wladimir Putin komme noch, ist sich der Journalist und Musikkritiker Artemy Troitsky sicher. Foto: Mikhail Tereshchenko / ITAR-TASS / Imago
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r ist Anarchist, Pazifist und zählt zu den prominentesten russischen Kreml-Kritiker_innen im Baltikum. Der Journalist und Musikkritiker Artemy Troitsky ist für seine Frechheit und Schärfe bekannt. Er schreibt Bücher, spielt in Filmen mit, und seine Radiosendungen sind von schwarzem Humor geprägt. Als Russland 2014 die Krim annektierte und in der Ostukraine einmarschierte, verließen er und seine Familie Russland aus Protest. Heute leben die Troitskys in der estnischen Hauptstadt Tallinn und gehen dort gegen den Ukrainekrieg auf die Straße. »Wir wollten nicht, dass unsere Kinder in einem autoritären Russland aufwachsen«, sagt der 66-Jährige. Voller Abscheu spricht Troitsky über die zunehmende Militarisierung Russlands. Es sei Wladimir Putin gewesen, der den zweiten Tschetschenienkrieg provoziert habe, 2008 in Georgien einmarschiert sei, vor acht Jahren die Krim annektiert habe und heute die Ukraine zerlegen wolle. »Ich hasse den Krieg und den Kremlchef«, sagt Troitsky. Als »absoluter Kosmopolit« wehre er sich gegen die nationalistische Rhetorik des Kremls. Er lehne die Ideologie von Orthodoxie und Panslawismus ab, »ein Schrecken, der immer wieder in starken Tönen im heutigen Russland anklingt«. Seit Putin vor mehr als 20 Jahren an die Macht kam, wurde die Meinungsfreiheit immer stärker missachtet und die staatliche Zensur zunehmend härter. »Die Korruption in den Behörden, Kritik an Putin, Recherchen über sein Vermögen und das seines Umfelds sind nach wie vor Tabuthemen«, sagt Troitsky, der in den 1990er Jahren ein prominenter Fernsehund Radiomoderator war, außerdem der erste Redakteur des russischen Playboys und Autor der Nowaja Gaseta, einer der wenigen unabhängigen Zeitungen in Russland. Im estnischen Exil spricht er unter anderem im Fernsehsender ARU TV, um die repressive Politik der Regierung Putin und deren Menschenrechtsverletzungen sowohl in Russland als auch im verbündeten Belarus zu kritisieren. Der Umgang mit Musik zeige beispielhaft, wie scharf die Zensur in Russland sei: »Das Regime in Moskau hat verstanden, dass Musik eine revolutionäre Rolle spielt«, sagt Troitsky. Also verbiete der Kreml alles, was nicht genehm sei und bestimme auch die Musik – wie bereits zuzeiten der UdSSR, als Lieder über Patriotismus, den Sieg der Roten Armee, die Kommunistische Partei und ihren Anführer Wladimir Lenin im Chor gesungen wurden. Heute würden in Russland Lie-
der über Putin gesungen. Dabei gingen manche Interpret_innen so weit, ihn als Verführer und Traummann darzustellen. »Das ist so albern und billig, dass diese Lieder kein großes Ansehen genießen«, sagt Troitsky. »Was beweist, dass die Mehrheit ihren Verstand noch nicht verloren hat.« So brachte der Sänger Wadim Samoilow 2003 mit seiner Band ein Album heraus, dessen Texte der Chef der Kremlverwaltung geschrieben hatte. Troitsky nannte den Musiker in einer russischen Fernsehsendung einen »dressierten Pudel«, der Putins Propagandamaschine diene. Der kremlnahe Sänger verklagte den Musikkritiker daraufhin – es war nicht das einzige Mal, dass Troitsky vor Gericht stand. Doch ließ er sich davon nicht beirren. Auf einem Konzert in Russland bezeichnete er Mitglieder der Verkehrspolizei als »schmutzige Bullen« und »Werwölfe in Uniform«. Einem korrupten Verkehrspolizisten verlieh er den Antipreis »Machen Sie Platz für den Streitwagen«. Denn nach Ansicht Troitskys hatte die Polizei Fakten über einen skandalösen Autounfall vertuscht, bei dem eine renommierte Ärztin und ihre Schwiegertochter ums Leben gekommen waren. Der mutmaßliche Unfallverursacher, Anatoly Barkov, damals Vizepräsident des russischen Ölkonzerns Lukoil, wurde so gedeckt. Troitskys Äußerung inspirierte den Rapper Noize MC zu seinem Song »Machen Sie Platz für den Streitwagen«, der sehr populär wurde.
Protestlieder werden wieder gehört Troitsky kann sich noch gut an die 1980er Jahre erinnern, als Undergroundsongs zu Hymnen der Perestroika wurden. »Diese guten Traditionen sind wieder aufgenommen worden, dank Putin, Geheimpolizei und Zensur«, sagt der Musikkritiker. Protestlieder spielten immer noch eine wesentliche Rolle in Russland. Heute seien viele Rockgruppen und Rapper politisch aktiv. Sie protestierten sowohl auf der Bühne als auch auf den Straßen und müssten dann oft ins Exil gehen, wenn sie nicht im Gefängnis landen wollten. »Die Ereignisse auf dem ukrainischen Maidan in den Jahren 2012 bis 2014 haben einmal mehr gezeigt, dass die Musik Menschen mobilisieren kann. Das wollen die Machthaber in Russland unterbinden.« Bevor er seine Heimat verließ, unterrichtete Troitsky an der Staatlichen Universität Moskau, einer seit Sowjetzeiten renommierten Hochschule, und verfolgte dabei seine eigene Agenda. Bis zu 400 Studierende besuchten seine Vorlesungen, in denen er regierungskritischen
»Die Mehrheit hat ihren Verstand noch nicht verloren.« Artemy Troitsky Musiker_innen eine Plattform bot. So lud er zum Beispiel Andrej Makarewitsch ein, den Sänger der legendären Rockband »Maschina Wremeni« (Zeitmaschine), der die Annexion der Krim und die russische Intervention im Donbass scharf kritisiert hatte. Die staatlichen Massenmedien griffen den Musiker an, seine Konzerte wurden abgesagt. Troitsky wurde wegen des Vorfalls ins Dekanat einbestellt und musste in der Folge den Inhalt seiner Vorlesungen vorab mit dem Dekan und dem Rektor der Universität abstimmen. Er ignorierte die Vorgaben jedoch und lud stattdessen Journalist_innen des einzigen unabhängigen Fernsehsenders Doschd ein, der inzwischen wegen seiner kremlkritischen Berichterstattung über den Ukrainekrieg abgeschaltet wurde. Troitskys Gehalt wurde insgesamt zwanzig Mal gekürzt – auf schließlich 31 Euro im Monat. Nachdem ihn auch noch der russische Geheimdienst mehrfach aufgesucht hatte, verließ er die Universität schließlich: »Ich habe aufgegeben, aber nicht wegen des Geldes, sondern wegen der Zensur«, sagt Troitsky. Der Geheimdienst hatte sich bereits zu Sowjetzeiten für die Arbeit des Musikkritikers interessiert. Als er zur Soziologie der modernen Musik forschte, klopften KGB-Männer häufig an seine Tür, um ihn anzuwerben, weil er Kontakte zum Ausland hatte und sich mit Auslandskorrespondent_innen in Moskau traf. »Ich kenne keine Spione und bin selbst keiner«, verwahrt sich Troitsky. 1983 wurde er vom Institut der Kunstgeschichte ausgeschlossen – kurz vor Abschluss seiner Dissertation. Die russischen Behörden hätten die Methoden des sowjetischen Geheimdienstes perfekt adaptiert, sagt Troitsky. Sie gingen in gleicher Weise mit Zensur, Repression, Festnahmen und Folter gegen Menschen vor, die sich gegen Diktatur, Korruption und nun auch gegen den Krieg stellten. Doch Troitsky ist sich sicher: »Der große Widerstand kommt noch – gegen den Staats- und Kriegsverbrecher Wladimir Putin.« ◆ Artemy Troitsky ist bei Twitter: @aktroitsky
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ZENSUR IN DER DR KONGO
Per Verbot in die Charts In der Demokratischen Republik Kongo darf man nicht alles singen, was einem in den Sinn kommt. Doch die Zensurbehörde ist auch nicht immer erfolgreich. Von Jonathan Fischer
Das HipHop-Duo MPR geriet wegen eines gesellschaftskritischen Hits ins Visier der kongolesischen Zensurbehörde.
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an sagte uns: Wenn Mobutu geht, wird alles besser. Er ist gegangen. Dann sagte man uns: Wenn Kabila geht, wird alles besser. Auch er ist gegangen – und nichts steht zum Besten. Stattdessen verkaufen wir Kolanüsse und Zigaretten auf der Straße, um zu überleben, und sind am Ende noch selbst schuld …« So rappt das kongolesische HipHop-Duo MPR auf Lingala in dem Song »Nini Tosali Te« (auf Deutsch: »Was wir nicht alles versucht haben«).
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Im November 2021 brachte das Lied den beiden Rappern in nur vier Tagen fast eine Million Klicks auf YouTube ein, aber auch den Ärger der kongolesischen Zensurbehörde: Die Commission Nationale de Censure des Chansons et des Spectacles verbot umgehend die Verbreitung des gesellschaftskritischen Pophits. Zur Begründung hieß es, MPR habe der Behörde den Videoclip nicht rechtzeitig vorgelegt. Doch hatten die Zensoren ihre Rechnung ohne die Fans gemacht: Die entfachten auf Twitter und in anderen Online-Netzwerken eine leidenschaftliche Diskussion über Meinungsfreiheit. Denn MPR hatten lediglich altbekannte gesellschaftliche Missstände beim Namen
Foto: Official Video
genannt und für alle jene gesprochen, die sonst keine Stimme haben. »Dieses Video schafft es, unsere Leiden in nur vier Minuten einzufangen«, lautete einer der typischen Kommentare auf YouTube, oder: »Ich habe Tränen in den Augen.« »Die korrupte Regierungsführung ist das Krebsgeschwür, das unseren geliebten Kontinent zerfrisst«, erklärte ein anderer Nutzer und schlug vor, den Song zur Hymne der afrikanischen Jugend zu erklären. Stimmen aus Kenia, Angola, Nigeria und der Elfenbeinküste pflichteten ihm bei: »Es ist traurig, aber die Wahrheit.« Während die meisten kongolesischen Popstars ihre Songs in einer eskapistischen Mischung aus Luxusarti-
kelwerbung, Tanzanleitung und erotischer Anmache präsentieren, zeigt das Video von »Nini Tosali Te« die Realität einer armen Familie. »Was willst du werden, wenn du groß bist?«, fragt eine Mutter in der Eingangsszene ihr Kind. »Ein bekannter Arzt«, antwortet der Sohn im Grundschulalter, bevor er sich in den Schoß der Mutter schmiegt. Dann konfrontieren die Kameraaufnahmen den schönen Traum mit der alltäglichen Realität: Man sieht eine ärmliche, aus Wellblech zusammengeflickte Hütte – die Art improvisierter Unterkunft, der Millionen Menschen in dem Land zeitlebens nicht entkommen können. »Meine Mutter hat alles geopfert, damit ich mein Studium beenden konnte«, singen die MPR-Rapper Yuma Dash und Zozo Machine zu diesen Bildern. »Sie hat Brot und glühende Kohlen an die Nachbarschaft verkauft, um uns am Leben zu erhalten. Dennoch konnte ich sie nicht zum Lächeln bringen, weil ich nie einen Job bekam …« Das ist nicht nur emotionaler Straßenrealismus, sondern in Kinshasa – wo man allzu gern die Insignien der Mittelschicht vorzeigt – ebenso ungewöhnlich wie der Verzicht des Duos auf die üblichen Lobhudeleien auf die musikalischen Mäzene. Die Zensurbehörde hatte bereits in der Vergangenheit immer wieder Songs wegen obszöner oder moralisch anstößiger Inhalte verbannt. Betroffen waren auch bekannte kongolesische Künstler_innen wie Koffi Olomidé, Wenge Musica oder Werrason. Im Jahr 2020 zensierte die Behörde den Song »Ingratitude« der Sängerin Tshala Muana, die daraufhin sogar für kurze Zeit ins Gefängnis musste. Der Text der legendären Popveteranin galt als unbequemes politisches Gleichnis: Sie hatte über einen Jungen gesungen, der seine Prüfungen nur dank des Mitgefühls seines Lehrers besteht, sich anschließend aber kaltherzig von diesem abwendet.
»Was willst du werden, wenn du groß bist?« Szene aus dem Video von MPR.
Doch mit dem Verbot von »Nini Tosali Te« war die Zensurbehörde offenbar zu weit gegangen. Die kongolesische Bürgerrechtsbewegung LUCHA befand, der Song sei »eine bewegende Beschwörung der Apathie unserer aufeinander folgenden politischen Führer und letztlich eine Hymne der Verzweiflung«. Und die für die Demokratische Republik Kongo zuständige Amnesty-Vertreterin Flavia Mwangovya erklärte, dass die Behörde mit Zensur gegen die künstlerische Freiheit vorgehe, mache eindringlich klar, dass Künstler_innen riskierten, für kritische Meinungen zum Schweigen gebracht zu werden.« Sie forderte die kongolesischen Behörden auf, einen Erlass aus dem Jahr 1996, der ein Verbot jeglicher unliebsamer künstlerischer Äußerung vorsieht, umgehend aufzuheben.
Raffinierte Kritik Wenn die Zensurbehörde geglaubt hatte, mit dem Verbot die Verbreitung des Songs zu verhindern, so hatte sie sich geirrt: Millionen Menschen wurden nun erst recht neugierig, und »Nini Tosali Te« wurde im Internet erfolgreich. Schließlich musste die Zensurbehörde nachgeben: Sie hob das Verbot wenige Tage später wieder auf. Vorausgegangen war ein politisches Tauziehen. Der für Medien und Kommunikation zuständige Minister Patrick Muyaya hatte mitgeteilt, die Entscheidung, den Song zu zensieren, sei nicht von der Regierung ausgegangen. Er habe den Song vielmehr mit dem Premierminister geteilt, und beide seien »gerührt« gewesen. Regierungssprecher Steve Mbiyaki äußerte ebenfalls Unverständnis für die Zensurmaßnahme, verwies jedoch darauf, dass man »die Versäumnisse von 60 Jahren nicht auf eine erst seit drei Jahren amtierende Regierung schieben könne«. Schließlich ging sogar Justizministerin Rose Mutombo gegen das Aufführungsverbot vor. Ein Sieg für die demokratischen Kräfte im Land? Der Rückzieher war wohl eher der Popularität von
»Es heißt doch, die Fakten seien heilig und die Kommentare frei.« Rapper Bob Elvis MPR geschuldet. Ein Ende der Zensur bedeutete sie nicht. Denn der ebenfalls im November 2021 verbotene Song »Lettre à Ya Tshitshi« des kongolesischen Rappers Bob Elvis blieb weiter auf dem Index. Ein Grund dafür war vermutlich, dass der Musiker, der bürgerlich Masudi Matengo Bob heißt, sich nicht scheut, in seinem Song Namen zu nennen – auch aus der persönlichen Umgebung von Präsident Félix Antoine Tshilombo Tshisekedi. Seit sein Debüt 2015 zum »besten Rap-Album des Kongo« gekürt wurde, zählt Bob Elvis zu den wenigen Rappern des Landes, die es wagen, der Regierung die Stirn zu bieten. In »Lettre à Ya Tshitshi« klagt er auf raffinierte Weise über Stromausfälle, korrupte Abgeordnete und willkürlich erhobene Steuern: Von Kerzen umgeben wendet er sich an Étienne Tshisekedi, den verstorbenen Vater des derzeitigen Präsidenten und einstigen Oppositionsführer, der bereits zur Zeit Mobutus die autokratischen Herrscher des Kongo kritisierte. »Seit du weg bist Tshitshi, ist dein Sohn Félix Präsident geworden … Wir haben das Regime gewechselt, aber nicht das System.« Sein Song sei vom täglichen Überlebenskampf der Bevölkerung inspiriert, erklärte Bob Elvis in einem Interview. Es müsse darum gehen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Ob er Angst habe, die Wahrheit zu sagen? Nein, sagte der Rapper, er beleidige doch niemanden: »Es heißt doch immer, die Fakten seien heilig und die Kommentare frei …« Warum also benötige man in einem demokratischen Land eine Zensurbehörde – zumal unter einer Regierungspartei, die sich den Slogan »Die Menschen zuerst« auf die Fahnen geschrieben habe? Doch dem Rapper bleibt ein Trost: Das Internet ist schwerer zu kontrollieren als Radio und Fernsehen. »Lettre à Ya Tshitshi« wurde auf YouTube in nur zwei Monaten mehr als eine halbe Million Mal aufgerufen – und damit öfter als alle seine bisherigen Songs zusammen. Bereits Anfang November hatte Bob Elvis verkündet: »Durch das Verbot meiner Lieder hat die Welt davon Kenntnis genommen, dass wir leben.« ◆
Foto: Official Video
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KUNST AUS MAROKKO
Das Leben im Dazwischen Rigide Konventionen, Kolonialismus, Sprachlosigkeit – die marokkanische Künstlerin Myriam El Haïk macht die Ambivalenzen von Gesellschaften im Wandel sichtbar. Ihre Mittel sind filigrane Zeichnungen und musikalische Muster. Von Elisabeth Wellershaus
R
abat im Jahr 2017. Ein paar hundert Meter vom marokkanischen Parlament entfernt erzählt Myriam El Haïk bei einem Workshop vom komplizierten Leben zwischen Maghreb und Europa. Es geht um die Arbeitsbedingungen von Künstler_innen, die sich in Marokko gegen rigide Konventionen und in westlichen Großstädten gegen Eurozentrismus wehren. Die Galerie Le Cube, in der die Künstlerin spricht, liegt in einem schönen alten Stadthaus. El Haïk kennt die Räume bereits seit Kindertagen, denn ihre Großmutter lebte einst in ihnen. El Haïk hatte in dieser Galerie eine Ausstellung, bei der sie eine Installation mit dem Titel »Bit Lgless« zeigte, die ihrer Großmutter gewidmet war: ihrem Wohnzim-
Wall drawing N°4, 2011. Myriam El Haïk bei der Arbeit. Foto: Elodie Laleuf
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mer, ihrer Gastfreundschaft und ihrem ungewöhnlichen Leben. Das interaktive Kunstwerk war dem traditionellen marokkanischen Wohnzimmer nachempfunden. Bunte Schaumstoffelemente, die auf dem Boden lagen, symbolisierten die bodennahen Sofas und Kissen, die El Haïk aus der Wohnung ihrer Großmutter kannte. Doch waren die Elemente in ihrer Installation flexibel und beweglich und beschrieben damit vielleicht die soziale Mobilität, die die Künstlerin bei den Frauen ihrer Familie beobachtet hatte. Ihre Großmutter war in Taroudannt aufgewachsen, einer traditionell geprägten Stadt im Süden Marokkos. Als Analphabetin hatte sie sich zunächst in ein Schicksal als Hausfrau und Mutter gefügt,
wie es in der patriarchalisch geprägten Gesellschaft üblich war. Doch dann bot sich eine Gelegenheit, diesem Leben zu entkommen. Ihr Mann, El Haïks Großvater, hatte den Sohn nach Rabat geschickt, damit dieser dort einen Schulabschluss machte. Der Sohn studierte anschließend Ingenieurswesen in Paris, kehrte nach Rabat zurück und kaufte jene Wohnung, in der sich heute die Galerie Le Cube befindet. Ein paar Jahre später zogen die Großmutter und ihre Tochter dorthin. Die Tochter, Myriam El Haïks Mutter, wurde Französischlehrerin, und das Appartement im Zentrum der Hauptstadt war ein Treffpunkt der Familie. Die Großmutter kehrte nie wieder nach Taroudannt zurück. Fasziniert von den Möglichkeiten, die sich einer alleinstehenden Frau in der Hauptstadt boten, verließ sie ihren Mann und begleitete fortan das Leben ihrer Kinder und Enkel. In El Haïks aktuellen künstlerischen Arbeiten steckt eine ähnliche Symbolik wie in ihrer Installation aus dem Jahr 2017. Bei genauem Hinsehen ergeben sich aus kleinteiligen Zeichnungen oft Teppichmuster, die an die klassischen Läufer erinnern, die in vielen marokkanischen Haushalten liegen. Ihre filigranen Werke scheinen eine Art codierte Schrift zu enthalten. Sie weisen auf das Missverhältnis hin, das in Marokko bis heute in der Ver-
Pulsation, 2017. Myriam El Haïk experimentiert mit Mustern. Foto: Xhinao Bu
Toy Toy!, 2013. Performance mit Myriam El Haïk und Elodie Baffalio, Paris. Foto: Elodie Laleuf
mittlung von Sprache liegt. Zum einen geht es ihr um die Diskrepanz zwischen elitären Bildungschancen in der Hauptstadt und der fehlenden Alphabetisierung in ländlichen Gebieten. Zum anderen führen El Haïks Reflexionen über Sprachlosigkeit und Spracherwerb bis in koloniale Zeiten zurück. Die Künstlerin wuchs in einer Umgebung auf, in der die Berberkultur zunächst von der arabischen Kultur verdrängt wurde, die wiederum von der französischen unterdrückt wurde. Bis heute gibt es weder Medien noch Bücher auf Darija, jenem in Marokko weit verbreiteten Dialekt, der eine Brücke zwischen arabisch- und berbersprachigen Menschen darstellt. So verblassen viele mündliche Überlieferungen. Auch Biografien wie die von El Haïks Großmutter leben nur durch die Übersetzungskünste ihrer Enkelin weiter. Die Codesprache in El Haïks Kunstwerken lässt sich auch als Anspielung auf die Kultur des Schweigens lesen, die ab 1961 bis Ende der 1990er Jahre unter der Re-
Myriam El Haïk reflektiert in ihren Kunstwerken Sprachlosigkeit und Spracherwerb.
gentschaft Hassans II. herrschte, die als »bleierne Zeit« bezeichnet wird. Sein Sohn Mohammed VI. ließ 1999 kurz nach seiner Inthronisierung zwar zunächst Oppositionelle frei und unterstützte öffentlich die Forderungen marokkanischer Frauen nach Gleichberechtigung, doch übernahm er den politischen Verwaltungsapparat seines Vaters. Und obwohl er als junger König Fortschritt propagierte, hat sich an den Strukturen bis heute wenig geändert. Noch immer üben sich manche Künstler_innen in Selbstzensur, wenn sie in ihren Werken Themen wie die Königsfamilie, Religion oder gesellschaftliche Strukturen streifen. Noch immer fehlt es an Plattformen, um sich abseits staatlicher Kulturinstitutionen wirklich offen austauschen zu können. Diese Ambivalenz in der marokkanischen Gesellschaft zeigt sich unterschwellig in El Haïks Werken. Zum einen reflektieren sie rigide Konventionen, gegen die sich bereits ihre allein lebende Großmutter auflehnte. Zum anderen beschreiben sie mit ihren Bezügen auf die vielen Bedeutungsebenen des traditionellen Kunsthandwerks eine Kultur der Vielfalt. El Haïks Experimente mit Mustern gehen jedoch auch weit über das Zeichnerische hinaus. Die Künstlerin, die an der École Normale de Musique in Paris Komposition studierte, stellt auch immer wie-
der Verbindungen zwischen Kunst und Musik her. So will sie auf der diesjährigen Berlin-Biennale eine Installation vorstellen, in der sich zeichnerische und musikalische Systeme begegnen: El Haïk wird zwischen ihren Werken sitzen und auf dem Klavier ein Stück spielen, das die Strukturen ihrer Bilder widerspiegelt. Bereits 2017 in Rabat hatte sie ein rotes Spielzeugklavier dabei, auf dessen scheppernden Tasten sie ein Lied spielte. Sie hatte in einem Pariser Spielzeugladen jedes Minipiano einzeln durchprobiert, bevor sie sich für dieses Exemplar entschied. Die Verkäuferin hatte ihr damals schräge Blicke zugeworfen und erklärt, die kleinen Dinger hätten keinen musikalischen Wert. El Haïk hatte ihr damals geantwortet, dass sie das anders sehe. Für sie war das Musizieren auf Spielzeugklavieren ein Ausdruck künstlerischer Freiheit, ein Weiterdenken jener Stilrichtungen, die in ihrer klassisch und europäisch geprägten Musikerziehung keinen Platz gefunden hatten – die Aneignung neuer Sprachen, die sie am Klavier weiterdachte. Seit einigen Jahren lebt Myriam El Haïk in Berlin. »Hier wird mein Sohn für mich zum Übersetzer, hier bin ich die Analphabetin«, sagt sie. Auf dem Fußboden ihrer Wohnung liegt ein Teppich aus Taroudannt mit einem für die Region typischen schwarz-weißen Muster. Er erinnert an die symmetrischen Zeichnungen aus ihren jüngsten Arbeiten. Eines von vielen Mustern, mit denen sie das Leben im Dazwischen kartografiert. ◆ www.myriamelhaik.org
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Ex-Fußballprofi Lilian Thuram gründete eine Antirassismusstiftung. Foto: Denis Allard / opale.photo / laif
Die Maße der Dinge Schwarze Menschen im Blick: Der ehemalige französische Fußballstar und heutige Aktivist Lilian Thuram hat ein Buch über Rassismus in Frankreich geschrieben. »Das weiße Denken« wirbt für mehr Menschlichkeit. Von Frédéric Valin
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ilian Thuram gewann mit der französischen Nationalmannschaft 1998 die Fußballweltmeisterschaft. Diese Mannschaft sollte Ausweis eines neuen Frankreichs sein – multikulturell, weltoffen und modern. Die Farben der Republik, so sagte es auch der damalige Präsident Jacques Chirac, seien nicht länger nur Blau-Weiß-Rot, sondern Black-Blanc-Beur (als Beur werden Französ_innen maghrebinischer Abstammung bezeichnet). Von diesem Traum ist nicht sehr viel übrigge-
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blieben: In den Umfragen vor den Präsidentschaftswahlen 2022 lagen rechtsextreme Kandidat_innen zusammengenommen stabil bei mehr als 30 Prozent. Nach dem Ende seiner Karriere im Jahr 2008 verschrieb sich Lilian Thuram der Bildungsarbeit und gründete eine Stiftung, um über Rassismus aufzuklären. Über seine jahrelangen Erfahrungen mit Antirassismusarbeit hat er nun ein Buch geschrieben. Dabei geht es ihm um zweierlei: um eine Dekonstruktion dessen, was er »das weiße Denken« nennt, und um die Geschichte des Rassismus in Frankreich aus Schwarzer Perspektive.
Ein Anstoß für dieses Buch sei ein Telefonat mit seinem Freund Pierre gewesen, schreibt Thuram. Er habe seinem Freund gesagt, dass er selbst ja Schwarz sei und ihn dann gefragt, was er eigentlich sei. Pierre habe darauf instinktiv geantwortet: »Naja, normal!« Dieses Selbstverständnis weißer Menschen, das Maß aller Dinge zu sein, ist nur ein Aspekt. Hinzu kommt, dass die Verhältnisse, insbesondere die Sklaverei, genährt und befeuert wurden von einer »habgierigen Minderheit«, einer Elite, die daran verdiente und noch immer davon profitiert. »Das weiße Denken« zeichnet deutlich die historische Kontinuität nach, angefangen von der Entdeckung der neuen Welt über den Kolonialismus und den Sklavenhandel hin zum heutigen Rassismus. Dass Thuram einen Schwerpunkt auf die französische Geschichte legt, ist für deutsche Leser_innen ein Vorteil: Denn hierzulande ist nur wenig bekannt über den »Code noir« von Ludwig XIV., der den Umgang mit Schwarzen Sklav_innen regelte, oder über die postkoloniale Ausbeutung der ehemaligen französischen Kolonien in Afrika oder die Umstürze und Morde durch europäische Geheimdienste, denen afrikanische Politiker zum Opfer fielen. Sind doch diese Geschichtskenntnisse notwendig, um aktuelle Debatten besser einordnen zu können – sei es die Diskussion über die Restitution von Kunstwerken oder die Umbenennung von Straßen, sei es die europäische Außen- und Asylpolitik. Lilian Thuram zählt darauf, dass eine bessere und profundere Bildung mehr Menschlichkeit hervorbringt. Bisweilen scheint es, als unterziehe er die Geschichte einer Psychoanalyse, um auf Verwundungen hinzuweisen und sie sogar zu heilen. Sein Buch ist weniger anklagend, als es dies angesichts des beschriebenen, jahrhundertelangen Unrechts sein dürfte. Gegen Ende erzählt Thuram von einer Freundin, der er einst ein Buch lieh, das von Verbrechen an afrikanischen Menschen handelt. Die Freundin habe ihm das Buch unter Tränen zurückgegeben, sie habe es nicht lesen können, weil es so furchtbar sei. Schuldgefühle will »Das weiße Denken« nicht auslösen, denn schuldig mache sich nur, wer wissentlich andere Menschen ausbeute, schreibt Thuram, aber auch jene, die wegsehen und Unrecht ignorieren. Nicht wegzusehen, dabei hilft dieses Buch. ◆ Lilian Thuram: Das weiße Denken. Aus dem Französischen von Cornelia Wend, Nautilus, Hamburg 2022, 304 Seiten, 22 Euro
BÜCHER EU erlaubt Pushbacks
Armenisches Leid
Rechte für Kinder
Zehn Jahre ist es her, dass die Europäische Union für den »erfolgreichen Kampf für Frieden und Menschenrechte« mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Anlässlich dieses Jubiläums untersucht das Autorinnenkollektiv Meuterei die Gewalt und die Rechtsbrüche an den EUAußengrenzen. Auf mehr als 300 Seiten beschreiben Aktivistinnen, Fluchthelferinnen, Anwältinnen sowie Wissenschaftlerinnen den »Krieg gegen Flüchtende« und fordern eine juristische Aufarbeitung. Dabei gehen die Autorinnen auf die verschiedenen Fluchtrouten ein und erklären deren tödliche Dynamiken: das Ertrinken und die Pushbacks auf der zentralen Mittelmeerroute, die Polizeigewalt entlang der Balkanroute, die Entrechtung in sogenannten Hotspots in Griechenland und die Bemühungen der EU, ihre Grenzen auszulagern, indem sie Deals mit Staaten wie der Türkei oder Libyen aushandelt. »Menschenrechtsverletzungen entlang der Binnen- und Außengrenzen der EU werden tagtäglich begangen, sind bekannt und gewollt«, stellen die Autorinnen fest. Ob administrativ, juristisch oder militärisch – die EU habe ein differenziertes System entwickelt, um flüchtende Menschen zu bekämpfen. Das Buch wolle einen Überblick über dieses System und die Facetten seiner Gewalt liefern, sagt Julia Winkler von borderline-europe, eine der Autorinnen. Dabei geht es auch um indirekte Formen der Gewalt: Menschen, die Geflüchtete retten, werden vor Gericht gestellt oder Geflüchtete wegen irregulärer Einreisen inhaftiert. »Der Friedensnobelpreis wird als Persilschein missbraucht, um wider alle Realität humane Politik und Rechtsstaatlichkeit vorzugaukeln«, bilanzieren die Autorinnen. Zum Jahrestag der Verleihung im Dezember wollen sie allen Abgeordneten des EUParlaments eine Ausgabe des Buchs überreichen. »Damit keiner behaupten kann, er oder sie hätte es nicht gewusst«, sagt Winkler.
Karla, die eigentlich Karlotta heißt, ist die Tochter einer Deutschen und eines türkischen Armeniers, aufgewachsen in Bremen. Als ihre Großmutter stirbt, kehrt die Protagonistin von Laura Cwiertnias Roman »Auf der Straße heißen wir anders« in ihren Heimatort zurück. Oma Maryams letzter Wille: eine traditionelle armenische Beerdigung in Bremen. Die Großmutter hat detaillierte Anweisungen hinterlassen und gebeten, man solle nach ihrem Tod doch mal in der Kommode nachsehen. Dort finden sich allerlei Erbstücke: Herzchenohrringe für Karla, eine abgewetzte Wärmeflasche für die Tante, eine Stange mit HB-Zigaretten für den Vater sowie ein Armreif aus Gold, daneben ein Zettel mit der Aufschrift »Lilit Kuyumcyan, Yerevan, Armenien«. Wer ist diese Frau? Auf der Suche nach Lilit unternehmen Karla und ihr Vater eine Reise nach Armenien. Der Tod der Großmutter und die Suche nach ihren Wurzeln führen zu einem Neubeginn: Wie ein Schatten lag das Trauma des Völkermords an den Armenier_innen über der Familie. Doch jetzt findet Karla nicht nur zu ihrem Vater, sondern füllt auch die jahrzehntelange familiäre Sprachlosigkeit nach und nach mit Worten. Der Roman von Laura Cwiertnia erzählt einen wenig bekannten Teil deutscher Migrationsgeschichte: Hunderttausende neue Arbeitskräfte kamen ab 1961 aus der Türkei nach Deutschland, unter ihnen auch viele Armenier_innen. Sie waren auf der Suche nach einem freieren Leben als in der Türkei, wo sie ihre Herkunft leugnen mussten. Karlas Großmutter konnte diese Vorsicht ihr Leben lang nicht hinter sich lassen: »Seit ihrer Kindheit legte sie ihren Vornamen an der Türschwelle ab wie einen Mantel. Zuhause hieß sie Maryam, draußen Meryem.« Trotz schwerer Themen wie transgenerationaler Traumata, Diskriminierung und Völkermord gelingt es Laura Cwiertnia, ihrem Roman Leichtigkeit, Witz, Wärme und sogar Hoffnung zu verleihen.
»Egal, wer du bist und wo du wohnst, unabhängig von deiner Hautfarbe, deiner ethnischen Zugehörigkeit, deiner Religion oder deinem Gender, egal, ob du arm oder reich bist – dein Leben ist genauso viel wert wie das Leben eines Erwachsenen und jedes anderen jungen Menschen auf dieser Welt. Niemand hat das Recht, dir wehzutun, dich zum Schweigen zu bringen, dir vorzuschreiben, was du denken oder glauben sollst, dich zu behandeln, als wärst du nichts wert, oder dich daran zu hindern, voll an der Gesellschaft teilzuhaben.« Mit diesen Worten wendet sich die Schauspielerin und UN-Sondergesandte Angelina Jolie in ihrem Vorwort an die Leser_innen. Mit ebenso viel Nachdruck und Engagement erklärt die Menschenrechtsanwältin und Expertin für Kinderrechte Geraldine Van Bueren die Bedeutung der Kinderrechte. Marlene Frucht und Maren Illinger übersetzten Van Buerens Text in klaren und starken Worten und lassen so auch in der deutschen Übersetzung keinen Zweifel an der Relevanz des Themas: Kinderrechte sind Menschenrechte und gehen jede und jeden etwas an. Nur wer seine Rechte kennt und diese auch versteht, kann Gerechtigkeit einfordern. Genau dazu möchte dieses Buch, das in Zusammenarbeit mit Amnesty International entstand, Heranwachsende ermutigen und ermächtigen. In diesem Sinn werden Hintergrundinformationen zur Geschichte der Kinderrechte und deren grundlegende Prinzipien durch anschauliche, mit Beispielen unterlegte Erklärungen ergänzt. Hierbei wird immer wieder deutlich, wie sehr Theorie und Realität voneinander abweichen, wie wichtig es ist, sich für die Wahrung der eigenen, aber auch der Rechte anderer einzusetzen. Wie es gelingt, sich selbst aktiv einzubringen, zeigt das Buch ebenfalls eindrucksvoll.
Autorinnenkollektiv Meuterei: Grenzenlose Gewalt – Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende. Assoziation A, Berlin 2022, 312 Seiten, 18 Euro
Bücher: Hannah El-Hitami, Tobias Oellig und Marlene Zöhrer
Laura Cwiertnia: Auf der Straße heißen wir anders. Klett-Cotta, Stuttgart 2022, 240 Seiten, 22 Euro
Amnesty International, Geraldine Van Bueren, Angelina Jolie: Du hast Rechte! Kinderrechte erklärt für Kinder und Jugendliche. Aus dem Englischen von Marlene Frucht und Maren Illinger. Loewe Verlag, Bindlach 2022, 288 Seiten, 14,95 Euro, ab 11 Jahren
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Akt des Widerstands: Die »Myanmar Diaries« zeigen den gefährlichen Protest unter einem Militärregime. Foto: The Myanmar Film Collective
Mutiges Kino Der Berlinale-Filmpreis von Amnesty International ging in diesem Jahr an den Dokumentarfilm »Myanmar Diaries«. Eine lobende Erwähnung gab es für »Mein kleines Land«. Von Jürgen Kiontke
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ag ich es ihm, sag ich es ihm nicht …« Eine junge Frau zählt Bubble-TeaBlasen ab. Sie ist schwanger und überlegt, ob sie das ihrem Freund mittteilen soll. Denn der ist gerade anderweitig beschäftigt: Er hat beschlossen, sich der Guerilla im Dschungel anzuschließen und gegen die Militärregierung in Myanmar zu kämpfen. Seit dem Putsch am 1. Februar 2021 herrscht in dem Land eine beispiellose Repression. Nach Erkenntnissen von Amnesty International geht das Militärregime brutal gegen Aktivist_innen und Journalist_innen vor, nimmt sie in Haft und tötet sie. Wer auf die Straße geht und demonstriert, läuft Gefahr, erschossen zu werden. Ein Filmkollektiv, das aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will, hat die aktuelle Situation dokumentiert und eine Kopie seiner »Myanmar Diaries« (NL/MMR/NOR 2022) außer Landes ge-
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schafft. Die jungen Filmemacher_innen verstehen ihre Arbeit als Akt des Widerstands. Ihr Werk handele vom »frühlingshaften Traum« von Freiheit in Myanmar, »vom Enthusiasmus und von der Hoffnung einer jungen Generation, die brutal niedergeschlagen wurde«. Das hybride Filmformat aus gespielten und dokumentarischen Szenen gewährt einen Blick auf die landesweiten Proteste und den zivilen Ungehorsam. Dabei werden auch Handyfilme von Bürger_innen verwendet, die brutale Übergriffe des Militärs auf die Zivilbevölkerung zeigen: Bei Demonstrationen wird scharf geschossen; Kinder verhandeln mit Soldaten, damit diese ihre Eltern nicht zum Verhör mitnehmen. Wegen solch eindrücklicher Szenen gewannen die »Myanmar Diaries«, die im Februar bei der Berlinale in der Sektion Panorama liefen, den mit 5.000 Euro dotierten Filmpreis von Amnesty International. Die Jury, der in diesem Jahr der Regisseur Franz Böhm, die Schauspielerin Eva
Meckbach und die Amnesty-Referentin Ines Wildhage angehörten, bezeichnete den Film als beeindruckend investigativ und zutiefst mutig: »Mutig sind alle Beteiligten, die unter Lebensgefahr diesen Film produziert haben, mutig sind die Menschen, die dieser Film porträtiert und die sich dem Militärregime in Myanmar entgegenstellen.« Außerdem habe das Filmkollektiv eine ganz eigene Dramaturgie und Bildsprache dafür gefunden, wie man es schaffe, Menschen zu zeigen, ohne sie zu zeigen. Mit einer lobenden Erwähnung bedachte die Jury den äußerst sehenswerten japanischen Film »My Small Land« (J 2022). Im Mittelpunkt steht eine kurdische Familie, die in die Mühlen der japanischen Bürokratie gerät, nachdem ihr der Aufenthaltsstatus entzogen wurde. Die Jury lobte insbesondere die hervorragend spielende 18-jährige Lina Arashi. Dem stark erzählten Film gelinge es, »den inhumanen Umgang mit Geflüchteten anzuprangern«. Für den Amnesty-Filmpreis waren insgesamt 15 Filme nominiert, viele von ihnen beschäftigten sich mit Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen. ◆ Informationen zum Filmpreis von Amnesty International: www.amnesty.de/der-amnestyfilmpreis-auf-der-berlinale2022
FILM & MUSIK Murat ist weg
Postkoloniale Harmonien
Queere Stimme
»Murat, aufstehen. Essen ist fertig.« Rabiye Kurnaz steht im Zimmer und fragt sich, wo ihr Sohn abgeblieben ist. Seine Abwesenheit ist ernst: Murat Kurnaz hatte eine Ausbildung bei einem Bremer Bootsbauer begonnen und war dann auf einen Selbstfindungstrip nach Pakistan gegangen – zu einem ungünstigen Zeitpunkt, kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Murat Kurnaz geriet ins Visier der pakistanischen Polizei, die ihn an die US-Streitkräfte in Afghanistan übergab. Im Januar 2002 war er einer der ersten Gefangenen im Lager Guantánamo Bay auf Kuba, das die USA kurz zuvor eingerichtet hatten. Seine Mutter Rabiye kämpfte resolut um die Freilassung ihres Sohnes, die von deutscher Seite behindert wurde: 2002 sollte Kurnaz nach Deutschland abgeschoben werden, die Behörden lehnten seine Aufnahme jedoch ab. Insgesamt fünf Jahre wurde Kurnaz in Guantánamo verhört und gefoltert. Mit seinem Spielfilm »Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush« hat Regisseur Andreas Dresen der kämpferischen Mutter, die vom Bremer Menschenrechtsanwalt Bernhard Docke unterstützt wurde, ein Denkmal gesetzt. Der Film erweist sich als Tour de Force durch den deutschen und amerikanischen Gesetzesdschungel. Die Rolle der Protagonistin ist mit der Schauspielerin und Comedienne Meltem Kaptan glänzend besetzt. Der Regisseur selbst spielt einen US-Richter. Beider Hang zur Alltagskomik lassen zuweilen Zweifel daran aufkommen, ob der Film eine ernsthafte Kritik an Missständen beabsichtigt. Diese Dissonanz wurde anlässlich der Premiere auf der Berlinale stark diskutiert: Ob dies das richtige Format sei, fragte sich die Kritik. Zugleich wirkt der Film damit wie ein Kommentar auf das Gefangenenlager Guantánamo und dessen abstruse Rechtsgrundlage. Insofern scheint jedes Mittel recht, das Thema wieder ins Bewusstsein zu bringen. Chapeau, Frau Kaptan und Herr Dresen!
Da bricht plötzlich eine elektrische Gitarre aus, bohrt sich tief in die polyrhythmischen Muster, bis sie ganz fest in den verschlungenen Trommeln sitzt, als hätte sie schon immer dahin gehört. Dann setzen die Gesangstimmen ein, die sich antworten und widersprechen, zu Dialogen formen und zu Chören verschmelzen, bis die Gitarre zurückkehrt und alles niederwalzt mit großer Macht. Es ist erstaunlich, wie deutlich in der Musik von Congotronics International die konzeptionelle Idee des Projekts zutage tritt: Marc Hollander, Betreiber des verdienten Labels Crammed Disc, hatte 2011 die Idee, Musiker_innen aus verschiedenen Welten zusammenzubringen für eine gemeinsame Tournee. Er lud einerseits die kongolesischen Bands Konono No.1 und Kasai Allstars ein und andererseits Mitglieder von schwedischen, japanischen oder US-amerikanischen Avantgarde-Rockbands wie Deerhoof, Wildbirds & Peacedrums oder Skeletons. Seitdem besteht das Projekt über vier Kontinente, fünf Sprachen und zahllose musikalische Genres hinweg. Elf Musiker_innen haben sich als harter Kern herausgebildet, deren jahrelange Kooperation nun mit »Where’s The One?« dokumentiert wird. Die Grundlagen sind zum großen Teil bei Live-Auftritten entstanden, wurden im Studio ergänzt und schließlich unter der Federführung von Deerhoof-Schlagzeuger Greg Saunier zu 23 Stücken zusammengeführt, die nicht nur eine Brücke bauen zwischen den Welten, sondern eine ganz neue Dimension errichten. Mal treten die Trommeln in den Vordergrund, dann legt sich der Gitarrenlärm wie Nebel über die Landschaft, durch den dann wieder das von Konono No.1 erfundene Daumenklavier Likembe dringt und Chöre auf den Weg bringt, die diese Musik aus den afrikanischen Städten direkt in die hippen Clubs Berlins oder New Yorks befördern. Es ist Musik, in der sich die Erben des Postkolonialismus endlich auf Augenhöhe begegnen.
Dieses Debütalbum ist noch keine halbe Minute angeklungen, da steht man schon inmitten der ganzen Zerrissenheit von Miki Ratsula. »I hate myself sometimes«, singt die Künstler_in, die sich als nonbinär definiert und von schlaflosen, vom Zweifel zerfressenen Nächten erzählt. Zu einem Social-Media-Star wurde Ratsula, die als Kind finnischer Eltern in Südkalifornien als begeisterte Fußballspielerin aufwuchs, durch Songs über Fußballprofis wie Hope Solo, Megan Rapinoe und andere Heldinnen des US-Nationalteams, die für Sichtbarkeit und Selbstbewusstsein von Queers im Mainstream womöglich mehr erreicht haben als alle Christopher-Street-Umzüge zusammen. Auf »I Owe It To Myself«, ihrem ersten Album, wechselt Ratsula nun dramatisch die Perspektive: Statt von Prominenz erzählt sie nur noch von sich und aus ihrem 23 Jahre alten Leben. Nahezu systematisch werden alle Themen abgehandelt, die einen nonbinären Menschen notgedrungen bewegen: Ratsula singt von der Konfrontation mit Vorurteilen, von der Identitätsfindung und sexuellen Irrungen, vor allem von Selbstzweifeln und Depressionen, von der Geschlechtsoperation, von der Lust und immer wieder von der Liebe. »I Owe It To Myself« ist ein Konzeptalbum, wenn auch ein radikal persönliches: Schonungslos und ungeschönt präsentiert Ratsula ihr Seelenleben, zeigt auf dem Cover des Albums oder im Videoclip zur wunderschönen Single »Second« ihren operierten, nackten Oberkörper, aber musikalisch federt sie die inhaltliche Radikalität mit maximaler Eingängigkeit ab. Sanft klimpert die Akustikgitarre, Folk-Harmonien versöhnen sich mit Elektro-Pop-Beats, und gelegentliche Bläser polieren die Kanten, während sich Ratsula mit glockenklarer Stimme auf die Suche nach den schönsten Popmelodien macht. Es ist, als schicke sie ein Boot mit Hits in die Charts, damit die queeren Stimmen dort unbemerkt ankommen können, um letztlich für Akzeptanz zu sorgen.
»Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush«. D/F 2022. Regie: Andreas Dresen, Darsteller: Meltem Kaptan, Alexander Scheer. Kinostart: 28. April 2022
Film: Jürgen Kiontke, Musik: Thomas Winkler
Congotronics International: »Where’s The One?« (Crammed Discs/Indigo)
Miki Ratsula: »I Owe It To Myself« (Nettwerk)
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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Herkunft oder aus rassistischen Gründen inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht an dieser Stelle regelmäßig Geschichten von Betroffenen, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.
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SCHREIBEN SIE EINEN BRIEF
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Obersten Gerichtshof zu sammeln. Doch ihr Fall ist nur ein Beispiel für die Kultur der Straflosigkeit in dem von Konflikten zerrütteten Land, und das Vertrauen in die parteiischen Behörden fällt schwer. Die Ermittlungen verlaufen schleppend: Die Täter sind weiterhin unbekannt, und Claire Yinguinza ist schon lange nicht mehr über den Fortgang der Untersuchungen informiert worden.
Foto: Amnesty
Bitte schreiben Sie bis 30. Juni 2022 höflich formulierte Briefe an den Präsidenten der Zentralafrikanischen Republik und bitten Sie ihn, im Fall der Vergewaltigung von Claire Yinguinza und ihrer Tochter Nadia unverzüglich eine unparteiische und effektive Ermittlung einzuleiten, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Fordern Sie ihn auch auf, dafür zu sorgen, dass die beiden eine umfassende Entschädigung erhalten. Außerdem müssen sie angemessen psychologisch unterstützt werden und eine medizinische Behandlung ihrer HIV-Erkrankung erhalten.
ZENTRALAFRIKANISCHE REPUBLIK CLAIRE YINGUINZA Am 23. Dezember 2013 drangen elf bewaffnete Mitglieder der »Selbstverteidigungsmiliz« Anti-Balaka gewaltsam in das Haus von Claire Yinguinza in Bangui ein. Sie bedrohten Claire Yinguinza und ihre Familie mit
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dem Tod und plünderten das Haus. Mindestens zwei der Männer vergewaltigten sie und ihre damals 19-jährige Tochter Nadia. Nadia wurde schwanger und hat in der Zwischenzeit eine Tochter – beide sind infolge der Vergewaltigung HIV-positiv. Claire Yinguinza ist verwitwet und arbeitslos. Die Mutter von acht Kindern mit elf Enkeln, die auf sie angewiesen sind, fordert Gerechtigkeit und Entschädigung für das Leid, das ihr und ihrer Tochter angetan wurde. 2019 fing sie an, die nötigen Unterlagen und Beweise für eine Klage beim
Schreiben Sie bitte in gutem Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: President of the Central African Republic Archange Touadéra Palais de la Renaissance Bangui, ZENTRALAFRIKANISCHE REPUBLIK (Anrede: Your Excellency / Eure Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Zentralafrikanischen Republik Egide Gouguia, Geschäftsträger a. i. 30, Rue de Perchamps 75016 Paris, FRANKREICH Fax: 00 33 - 1 45 27 48 11 E-Mail: ambassadercafrance@yahoo.fr (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Gefangener, der nur wegen der friedlichen Ausübung seiner Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit inhaftiert ist. Bitten Sie ihn außerdem, Esmail Abdi bis zu seiner Freilassung Zugang zu fachärztlicher Betreuung und Schutz vor Folter und anderen Formen der Misshandlung zu gewähren.
USA TOFFIQ AL-BIHANI Der Jemenit Toffiq al-Bihani ist seit mittlerweile fast 20 Jahren im US-Militärstützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba inhaftiert, obwohl gegen ihn keine offiziellen Anklagen vorliegen. Er wurde ursprünglich im Iran von den dortigen Behörden festgenommen und Anfang 2002 in Afghanistan an das US-Militär übergeben. Ab Oktober desselben Jahres befand er sich in Gewahrsam der CIA. Dort wurde er über mehrere Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt gefoltert und misshandelt. Seinen Angaben zufolge wurde er unter anderem fast zehn Tage lang angekettet und in seiner Zelle mit einer Waffe am Kopf mit dem Tod bedroht. Eine vom damaligen US-Präsidenten Barack Obama zur Schließung Guantánamos eingerichtete Arbeitsgruppe entschied bereits 2010, dass Toffiq al-Bihani freigelassen wer-
Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de
tische Rechte und des Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ist. Diese Pakte garantieren das Recht jeder Person, Gewerkschaften zur Förderung und dem Schutz ihrer wirtschaftlichen und sozialen Rechte zu gründen und diesen beizutreten. Bitte schreiben Sie bis 30. Juni 2022 höflich formulierte Briefe an die Oberste Justizautorität des Irans. Bitten Sie ihn, Esmail Abdi unverzüglich und bedingungslos freizulassen. Er ist ein gewaltloser politischer
den könne. Seitdem wartet er darauf, in ein sicheres Drittland ausreisen zu dürfen. Toffiq al-Bihani ist einer von fünf Häftlingen in Guantánamo, die seit mehreren Jahren für einen Transfer in ein Aufnahmeland vorgesehen, aber dennoch weiterhin inhaftiert sind. Ein anderer Guantánamo-Gefangener, Sufyian Barhoumi, der 20 Jahre lang ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festgehalten wurde, konnte Anfang April 2022 endlich nach Algerien zurückkehren, wo er nun wieder mit seiner Familie vereint ist. Somit besteht die Hoffnung, dass auch Toffiq al-Bihani bald freigelassen werden könnte. Bitte schreiben Sie bis 30. Juni 2022 höflich formulierte Briefe an den Außenminister der USA und fordern Sie ihn auf, umgehend dafür zu sorgen, dass Toffiq al-Bihani Guantánamo verlassen und in ein Aufnahmeland ausreisen kann, das seine Menschenrechte achtet. Bitten Sie ihn auch, dafür zu sorgen,
AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de
Schreiben Sie in gutem Persisch, Englisch, Französisch oder auf Deutsch an: Oberste Justizautorität Gholamhossein Mohseni Ejei c/o Embassy of Iran to the European Union Avenue Franklin Roosevelt No. 15 1050 Brüssel, BELGIEN (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Islamischen Republik Iran S. E. Herrn Mahmoud Farazandeh Podbielskiallee 67, 14195 Berlin Fax: 030 - 832 22 91 33 E-Mail: info@iranbotschaft.de (Standardbrief: 0,85 €)
dass Toffiq al-Bihani Zugang zu angemessenen Rechtsmitteln und Rehabilitation gewährt wird und dass er eine Entschädigung für die Verletzungen seiner Menschenrechte während seiner USHaft erhält.
Foto: privat
Esmail Abdi ist Mathematiklehrer und war früher Generalsekretär der Lehrergewerkschaft im Iran (ITTA). Er wurde im Februar 2016 wegen seiner gewerkschaftlichen Aktivitäten zu sechs Jahren Haft verurteilt. Später wurde die Haftstrafe um weitere zehn Jahre verlängert. Er hatte friedliche Demonstrationen von Lehrkräften gegen ihre schlechte Bezahlung und den niedrigen Bildungsetat sowie gegen die Inhaftierung von Gewerkschaftsmitgliedern organisiert. Sein Prozess verstieß gegen internationale Standards für faire Gerichtsverfahren, denn er hatte während des gesamten Ermittlungsverfahrens keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand seiner Wahl. Seit dem 9. November 2016 befindet sich Esmail Abdi – mit Ausnahme von zwei kurzen Unterbrechungen – im Teheraner Evin-Gefängnis. Im Iran werden Gewerkschafter_innen verfolgt, bedroht und inhaftiert. Und das, obwohl der Iran Unterzeichnerstaat des Internationalen Pakts über bürgerliche und poli-
Foto: privat
IRAN ESMAIL ABDI
Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Antony Blinken, Secretary of State US Department of State 2201 C St., NW Washington DC 20520, USA (Anrede: Dear Secretary of State / Sehr geehrter Herr Außenminister) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika I. E. Frau Amy Gutmann Clayallee 170, 14195 Berlin Fax: 030 - 83 05 10 50 oder 030 - 831 49 26 E-Mail: feedback@usembassy.de (Standardbrief: 0,85 €)
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AKTIV FÜR AMNESTY
Zehn Kilometer Rechte Zwischen Eiben zum Russengrab: Unterwegs auf dem Plesse-Menschenrechtspfad der Amnesty-Gruppen Göttingen/Bovenden. Von Nina Apin
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alerisch thront die Plesse, eine Burgruine aus dem 11. Jahrhundert, über dem Leinetal. Einige junge Leute sonnen sich auf den Mauerresten, ein Biker genießt die Aussicht. Michael Bokemeyer hat für das Panorama wenig Zeit. Strammen Schrittes läuft der 82-Jährige zum überdachten Wanderschild und kontrolliert den Startpunkt des Amnesty-Menschenrechtspfads Göttingen/Bovenden: Der Flyerkasten ist noch gut gefüllt, doch jemand hat den Amnesty-Aufkleber unter der Wanderkarte abgekratzt. Jetzt wissen nur Eingeweihte, dass die nächsten zehn Kilometer durch den Pleßforst den Menschenrechten gewidmet sind. 16 weiße Infotafeln informieren am Wegesrand über die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte samt Präambel. »Neuer Aufkleber, müssen wir dran denken«, erinnert Bokemeyer seinen gleichaltrigen Freund Ulrich Braun. Ein herabgestürzter Ast hat das Schild zu Artikel 3 und 4 (Recht auf Leben und Freiheit/Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels) beschädigt, aber es ist noch lesbar. In wenigen Tagen wird eine Berufsschulklasse zu einer von Amnesty geführten Tour erwartet – die beiden Aktivisten machen daher noch schnell einen Inspektionsrundgang. Die Idee, ein Naherholungsangebot mit Sinngehalt zu schaffen, entstand 2010: »Die Bovender Gruppe wurde 1974 gegründet, von meiner Frau Uta bei uns zu Hause«, erzählt Michael Bokemeyer, der früher Stadtplaner in Göttingen war. Die zwölf Gruppenmitglieder widmeten sich zunächst der Betreuung politischer Gefangener. Mit Erfolg: Der marokkanische Gewerkschafter Abdellali el Hajji wurde 1989 freigelassen, und die Bokemeyers haben noch heute Kontakt zu ihm. Altersbedingt schrumpfte die Gruppe jedoch im Lauf der Zeit. Auf der Suche nach jüngeren Engagierten entstand die Idee, einen Menschenrechtspfad einzurichten. Gemeinsam mit zwei Göttinger Amnesty-Gruppen und dem Forstamt
wurde der Plesse-Pfad konzipiert und 2010 eingeweiht. Beim Festakt gab es eine Treckerparade und Musik. 16 Schilderpaten, vom Pastor bis zur Schulleiterin, hielten Kurzvorträge zu »ihren« Artikeln. Zum zehnjährigen Jubiläum des Pfads im Jahr 2020 wurde außerdem eine »Baumreihe gegen das Vergessen« eingeweiht. Bedrohte Arten wie Elsbeere und Speierling mahnen seitdem zwischen Bovenden und dem Startpunkt des Pfads vor dem Verschwinden von Bäumen und Menschen. Der Menschenrechtspfad wird vor allem von Schulklassen und lokalen Vereinen genutzt, aber auch von den Bewohner_innen einer nahegelegenen Flüchtlingsunterkunft, die ihre Picknickdecken im Wald ausbreiten. Michael Bokemeyer macht noch auf ein silbernes Kreuz auf einem Baumstumpf aufmerksam. Davor befindet sich ein von bemoosten Steinen umfasstes
Rechteck. Es handle sich um das Grab eines russischen Kriegsgefangenen, der im Jahr 1920 dort Suizid begangen habe, erklärt Bokemeyer. Er war bei den Vorbereitungen zum zehnjährigen Jubiläum des Menschenrechtspfads im Gemeindearchiv auf das Grab gestoßen. Damals wurde es von einer Familie im Ort gepflegt, inzwischen kümmert sich Amnesty darum. Dass das »Russengrab« in unmittelbarer Nähe des Schilds mit Artikel 13 (Recht auf Heimat) und Artikel 14 (Recht auf Asyl) steht, findet Ulrich Braun besonders passend. »Die Menschenrechte gelten für jeden – auch im Krieg.« Das haben offenbar noch nicht alle begriffen. Das Schild wurde bereits dreimal gestohlen, bzw. zerstört. ◆ Mehr unter: amnesty-bovendengoettingen.de/aktionen
Hegen und pflegen den Menschenrechtspfad: Michael Bokemeyer (l.) und andere. Foto: Amnesty Göttingen/Bovenden
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KOLUMNE: EINE SACHE NOCH
Von Markus N. Beeko »Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht«, sagte Annalena Baerbock am 24. Februar nach dem Angriff auf die Ukraine – und sprach damit Menschen in ganz Europa aus der Seele. Anfang April waren fast fünf Millionen Menschen geflohen, meist Frauen und Kinder, und es gab Tausende zivile Opfer des Krieges. Amnesty International dokumentierte Angriffe auf zivile Ziele, die Verwendung geächteter Munition und gezielte Tötungen von Zivilpersonen. Kriegsverbrechen und Verletzungen des humanitären Völkerrechts gehören offensichtlich zur Kriegsführung der russischen Armee, wie bereits in Syrien und andernorts. Ein Schock ging durch Europa. Selbst in Polen und Ungarn hieß man unkompliziert die Flüchtenden der größten Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg willkommen. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer »Zeitenwende« und rief 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr auf. Aktien von Rüstungskonzernen erfreuten sich plötzlicher Beliebtheit, und Politiker_innen forderten eine allgemeine Wehrpflicht. Außenpolitische »Falken« fühlten sich bestätigt und riefen »das Ende der Naivität« aus, Pazifist_innen kamen ins Grübeln. Verständlich. Der völkerrechtswidrige Angriff auf die Ukraine ist ein Angriff auf die Friedensordnung Europas. Er zwingt zu einer Analyse und einer Auseinandersetzung mit bisherigen Strategien. Wer »Nie wieder Krieg!« dachte, wurde wachgerüttelt,
IMPRESSUM Amnesty International Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Maik Söhler (V.i.S.d.P.), Lea De Gregorio, Anton Landgraf, Tobias Oellig, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk, Lena Wiggers Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Nina Apin, Nicolás Ardila, Böbe Barsi, Markus N. Beeko, Agnès Callamard, Bernhard Clasen, Tanja Dückers,
ebenso wer dachte, Krieg und Kriegsverbrechen seien ein Problem »anderer Länder«. Es lohnt nun, nicht nur reflexartig hinzuschauen – und nicht nur auf Russland und die Ukraine zu blicken, sondern auf die ganze Welt. Es ist wichtig, Versäumnisse zu erkennen und die richtigen Lehren zu ziehen: Wir brauchen mehr internationale Ordnung, nicht weniger. Der aktuelle Amnesty-Jahresbericht 2021/2022 zeigt: Die Ukraine ist die Spitze eines Eisbergs. Konfliktparteien haben vielerorts das Völkerrecht missachtet und Kriegsverbrechen begangen, ohne dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen wurden. Diese fehlende Durchsetzung der internationalen Ordnung gefährdet mittlerweile auch in Europa Frieden und Sicherheit. Wir brauchen ein internationales Strafrecht, das strafen kann. Für aktuelle Schwächen internationaler Institutionen sind wir alle verantwortlich. Viele Staaten haben wegen wirtschaftlicher und machtpolitischer Interessen die konsequente Ahndung von Völkerrechtsverletzungen verhindert; auch die USA und Europa haben Institutionen wie den Internationalen Strafgerichtshof behindert und geschwächt. Klimagerechtigkeit, Menschenrechte und eine feministische Außenpolitik sind essenziell für Sicherheit und Frieden im 21. Jahrhundert. Amnesty begrüßt, dass die kürzlich von Außenministerin Baerbock vorgestellte Initiative für eine neue nationale Sicherheitsstrategie dies anerkennt und berücksichtigt. Wir brauchen Flüchtlingsschutz für
Hannah El-Hitami, Jonathan Fischer, Oliver Grajewski, Sabine Halfpap-Attia, Sead Husic, Jürgen Kiontke, Martina Liedke, Patrick Loewenstein, Tigran Petrosyan, Klaus Petrus, Wera Reusch, Bettina Rühl, Till Schmidt, Oliver Schulz, Regina Spöttl, Franziska Ulm-Düsterhöft, Frédéric Valin, Cornelia Wegerhoff, Elisabeth Wellershaus, Thomas Winkler, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg
Foto: Bernd Hartung / Amnesty
NIE WIEDER KRIEG!?
die Opfer von Gewalt und Verfolgung. Die aktuelle Situation zeigt, wie man Verantwortung übernehmen kann. Abrüstungsinitiativen müssen her! Es braucht grundsätzlich nicht mehr, sondern weniger Waffen in den Händen von Akteuren, die das Völkerrecht missachten – ob sie Putin, Assad, Xi Jinping oder Trump heißen. Dafür braucht es Abrüstungsinitiativen und ein internationales Verbot tödlicher vollautomatischer Waffensysteme. Es braucht ein wirksameres Rüstungsexportkontrollgesetz sowie die menschenrechtskonforme Exportkontrolle von Überwachungstechnologie. Kein Handel ohne Wandel. Ob mit China, Katar, Saudi-Arabien, Indien oder der Türkei: Wer Handel treibt ohne die Achtung von Menschenrechten zu einem »Teil des Deals« zu machen, sendet falsche Signale an die Gegner_innen der »Stärke des Rechts«. Menschenrechtler_innen und Aktivist_innen haben Putin & Co. bisher nur selten unterschätzt. Vielleicht schenkt man ihnen zukünftig öfter Gehör. ◆ Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
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LAUT FÜR DIE MENSCHENRECHTE. STEHTDIRGUT. Von S bis XL – dieses schöne T-Shirt zeigt, dass du dich auch für andere stark machst. Mit jedem Einkauf im Amnesty Shop setzt du nicht nur ein Statement für die Menschenrechte, sondern unterstützt uns auch bei der Sicherung unserer Unabhängigkeit im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen weltweit.
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