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Kuba: Zivilgesellschaft vor Gericht

Größte Protestveranstaltung seit Jahrzehnten. Festnahme in Havanna am 11.Juli 2021.

Foto: Adalberto Roque/AFP/Getty Images

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Zivilgesellschaft vor Gericht

Die kubanische Regierung geht mit Hunderten Prozessen gegen jene vor, die sich im Sommer 2021 an regierungskritischen Demonstrationen beteiligten. Hohe Haftstrafen und die Ausweisung von Aktivist_innen sorgen für ein Klima der Einschüchterung. Von Nicolás Ardila

Esteban Rodríguez hatte keine Wahl. Am 4. Januar 2022 wurde der kubanische Journalist, der für die Online-Plattform ADN arbeitete, nach acht Monaten Haft in Handschellen zum Flughafen José Martí in Havanna transportiert. Dort verabschiedete er sich noch von seiner Mutter, bevor das Flugzeug in Richtung Nicaragua abhob. Eine Rückreise ist ausgeschlossen. Das hatte ihm die Staatssicherheit mit auf den Weg gegeben. Esteban Rodríguez lebt heute in Mexiko-Stadt. »Destierro«, also Ausbürgerung oder Verbannung, heißt das auf Kuba. Die Liste derjenigen, die gehen müssen, wird immer länger. Auch Hamlet Lavastida gehört zu ihnen. Der Künstler, der in seinen Arbeiten die politische Realität auf der Insel kritisch hinterfragt, wurde im September 2021 aus seiner Zelle in der Zentrale der Staatssicherheit geholt und zum Flughafen gefahren. Dort setzte man den 39Jährigen gemeinsam mit seiner Freundin Katherine Bisquet in ein Flugzeug nach Warschau. »Die Polizei hat uns als Bedingung für die Freilassung Hamlets verpflichtet, ins Exil zu gehen«, schrieb Bisquet auf Facebook. Die kubanischen Behörden sorgten für die nötigen Aus reisedokumente inklusive PCR-Test.

Amnesty International hatte Rodríguez, Lavastida und vier weitere Personen im August vergangenen Jahres zu gewaltlosen politischen Gefangenen erklärt. Die übrigen befinden sich weiterhin auf der Insel: Luis Manuel Otero Alcántara, der Koordinator der Künstlerorganisation Movimiento San Isidro; José Daniel Ferrer, Gründer der Bürgerrechtspartei Unión Patriótica de Cuba (UNPACU); der kritische Musiker Maykel »Osorbo« Castillo sind in Haft, und die Menschenrechts aktivistin Thais Mailén Franco Benítez wartet in Hausarrest auf ihren Prozess.

Die Situation dieser gewaltlosen politischen Gefangenen ist nicht gut. So trat Luis Manuel Otero Alcántara Anfang 2022 in den Hungerstreik, um seine Freilassung oder eine offizielle Anklage zu erzwingen. Ohne Erfolg. Überaus schwach sei er, sagt die kubanische Juristin Laritza Diversent, die mit seinem Fall vertraut ist. Gleiches gilt für den Rapper Maykel »Osorbo« Castillo, der seit Mai 2021 inhaftiert ist. Einzelhaft und schlechte Versorgung hätten zu Gesundheitsproblemen geführt, berichten Familienangehörige.

All das, weil sie das Recht auf Meinungfreiheit in Anspruch genommen haben. Thais Mailén Franco Benítez hatte zum Beispiel gemeinsam mit Esteban Rodríguez am 30. April 2021 an einer Kundgebung in Havanna teilgenommen und wurde fünf Monate in Untersuchungshaft festgehalten. Man warf den beiden »Störung der öffentlichen Ordnung« und »Widerstand gegen die Staatsgewalt« vor. Die Vorwürfe seien »haltlos«, sagt Rodríguez. »Videos zeigen, dass wir bei der Festnahme keinen Widerstand geleistet und friedlich demonstriert haben.«

Waren es im April einzelne Kundgebungen, so fanden am 11. Juli 2021 Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmenden statt. Es handelte sich um die größten Protestveranstaltungen seit der Revolution von 1959, auf denen weitgehend friedlich gegen die Wirtschafts- und Gesundheitspolitik sowie Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit protestiert wurde. Die Behörden reagierten hart und nahmen Hunderte Demonstrierende fest, von denen Ende 2021 noch mehr als 700 in Haft waren.

Prozesswelle gegen 790 Demonstrierende

Dabei ist das Demonstrationsrecht sogar in der kubanischen Verfassung verankert, wie die kubanische Menschenrechtsanwältin Laritza Diversent betont. Sie leitet die juristische Beratungsorganisation Cubalex, die 2016 in die USA ins Exil ging, nachdem kubanische Behörden die Organisation durchsucht und Akten und Computer beschlagnahmt hatten. Nun berät Diversent kubanische Organisationen und Familien von Pennsylvania aus. Nach den Demonstrationen vom 11. Juli 2021 erstellte sie eine Liste der Festgenommenen und recherchierte mit Hilfe von Angehörigen und Freiwilligen deren Verbleib.

Die Liste umfasst derzeit 1.396 Personen. Wie die kubanische Staatsanwaltschaft Ende Januar bekanntgab, wurde gegen 790 von ihnen Anklage erhoben. In mehr als 360 Fällen ergingen bereits Urteile, darunter Haftstrafen von bis zu 20 Jahren. Die Strafen seien »unverhältnismäßig hoch«, stellt Diversent fest und weist darauf hin, dass die Prozesse sowohl nationale als auch internationale Rechtsstandards verletzen. »Sie sind nicht öffentlich. Internationale Beobachter, Botschaftsangehörige und internationale Presse sind nicht zugelassen.« Die Polizei sperre die Gerichte großräumig ab.

Zudem habe es im Juli 2021 Sammelprozesse gegeben, bei denen keine Rechtsbeistände zugegen waren, kritisiert die Juristin. Dies habe sich zwar inzwischen geändert, aber wie schon bei der ersten darf auch bei der seit Dezember 2021 laufenden zweiten Prozesswelle in der Regel nur ein Familienmitglied anwesend sein. Und nicht einmal das gilt in allen Fällen. »Wir wissen von Prozessen gegen Minder-

»Was derzeit in Kuba abläuft, erinnert an die Zeiten Fidel Castros.« Gabriele Stein, Amnesty

jährige, bei denen die Eltern nicht in den Verhandlungssaal gelassen wurden«, sagt Diversent. Kuba habe zwar die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert, sie aber nicht in nationales Recht umgesetzt. So gilt in Kuba die Strafmündigkeit ab 16 Jahren, obwohl die Konvention diese auf 18 Jahre festlegt. Dies führte dazu, dass zum Beispiel der 17-jährige Nelson Nestor Rivero Garzón zu einer Haftstrafe von 15 Jahren verurteilt wurde. »Das, was derzeit in Kuba abläuft, erinnert an die Zeiten Fidel Castros, als Haftstrafen von 20 bis 25 Jahren verhängt wurden«, sagt Gabriele Stein von der deutschen Amnesty-Länderkoordinationsgruppe Kuba. »Die letzte Gruppe langjährig inhaftierter politischer Gefangener kam 2015 frei. Danach gab es vor allem kurzzeitige Inhaftierungen, die ein paar Tage, maximal Monate dauerten, aber eben nicht mehr.«

Allerdings gibt es einen markanten Unterschied: Während damals vorwiegend bekannte Dissident_innen inhaftiert wurden, handelt es sich heute zumeist um Jugendliche oder junge Männer und Frauen, die oft keine Kontakte ins Ausland haben und sich keinen engagierten Rechtsbeistand leisten können.

Sie sind zudem inhumanen Haftbedingungen ausgesetzt. Aus dem Exil weist Esteban Rodríguez auf die Zustände hin. »In den Haftanstalten gibt es kaum medizinische Versorgung, physische und psy-chologische Folter sind an der Tagesordnung«, klagt Rodríguez, der unter Bluthochdruck und Asthma leidet. Er sei stundenlang so gefesselt worden, dass er nur auf dem Bauch liegen konnte. Er habe miterlebt, wie Inhaftierte unter Androhung von Prügeln genötigt wurden, Revolutionsparolen zu rufen. Cubalex veröffentlichte Briefe von Inhaftierten, die das bestätigen, etwa ein Schreiben der Aktivistin Mailene Noguera Santiesteban, die zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt wurde.

Wann die Prozesse gegen die von Amnesty unterstützten gewaltlosen politschen Gefangenen beginnen, ist unklar. Eine Zwangsausreise lehnen sie nach Angaben von Familienangehörigen ab. Sie wollen auf der Insel bleiben. ◆

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