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Amnesty-Report: Globale Politik für unser aller Rechte
Globale Politik für unser aller Rechte
Ende März ist der neue Amnesty-Report zur weltweiten Lage der Menschenrechte erschienen. Ein Auszug aus dem Vorwort der Internationalen Generalsekretärin. Von Agnès Callamard
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Wie ist es den Menschen in den machtpolitischen Konstellationen des Jahres 2021 ergangen? Wurden ihre Rechte inmitten der chaotischen Kämpfe um Profit, Privilegien und Positionen in der Welt besser gewahrt als in der Vergangenheit? Haben sie angesichts der Corona-Pandemie und einer Verschärfung vorherrschender Konflikte mehr Anerkennung, Respekt und Schutz erhalten?
Ein Mantra des Jahres 2021 war: »Wir werden alles wieder besser aufbauen.« Auch andere Versprechen wurden gemacht: von einem »globalen Neustart« der Wirtschaft war die Rede, einer weltweiten »gemeinsamen Politik« zur Eindämmung des Missbrauchs von Umweltressourcen und einer neuen globalen Solidarität. Doch diese Slogans erwiesen sich als leere Parolen.
Trotz anderer Möglichkeiten haben die Regierungen sich für Maßnahmen und Wege entschieden, die uns davon entfernen, Würde und Rechte zu wahren. Die Pandemie hat systembedingte Ungleichheiten vorangetrieben und damit verfestigt. Der grenzüberschreitende Austausch von Gesundheitsleistungen und -gütern, der die medizinische Versorgung für alle hätte verbessern können, kam oft nicht zustande. Ebenso fehlte es häufig an der Zusammenarbeit zwischen den Regierungen, die zur Abwendung weiterer Katastrophen und Milderung von Menschenrechtskrisen erforderlich gewesen wäre.
Anstatt eine konstruktive globale Politik zu verfolgen, haben sich die Staatsund Regierungschef_innen in ihre nationalstaatlichen Höhlen zurückgezogen. Anstatt mehr Sicherheit für mehr Menschen zu schaffen, verwickeln sie die Nationen in Konflikte und selbstzerstörerische Wettkämpfe um Reichtum und Ressourcen. Anstatt die universelle Menschenrechtsnorm der Gleichheit zu verteidigen, wurde der Rassismus weiter in die Logik des internationalen Systems eingeschrieben. 2021 hätte ein Jahr der Genesung und Erholung sein sollen. Stattdessen sollte es noch mehr Ungleichheit und Instabilität mit sich bringen. Die hohen Zahlen an Covid-19-Infektionen, -Erkrankungen und -Todesfällen waren vorhersehbar und vermeidbar. Während Regierungen wohlhabender Länder sich zu ihren Impfkampagnen beglückwünschten, sorgte ihr Impfnationalismus dafür, dass zum Jahresende mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ungeimpft oder nur zum Teil geimpft war. Angesichts niedriger Immunisierungsraten konnten sich neue Varianten verbreiten.
Im September stellte Amnesty International fest, dass die Industrieländer auf einer halben Milliarde überschüssiger Impfdosen saßen – genug, um mehrere der Länder mit der geringsten Impfquote weltweit vollständig zu impfen. Die Entsorgung überschüssiger Dosen, deren Verfallsdatum überschritten war, wurde zu einem Symptom für eine Welt ohne moralischen Kompass. Während Unternehmensleitungen und Investor_innen gigantische Profite einstrichen, mussten jene warten, die den Impfstoff benötigten. Und manche mussten deswegen sterben.
Neue Konflikte kamen auf, ungelöste Konflikte verschärften sich. So kam es unter anderem in Äthiopien, Afghanistan, Burkina Faso, Israel/Palästina, im Jemen und in Libyen zu massiven Verstößen gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht. Viel zu selten wurde international angemessen reagiert; viel zu selten wurde für Gerechtigkeit gesorgt. Nirgendwo sonst wurde der Verfall der Weltordnung deutlicher als in Afghanis tan. Nach dem Abzug aller internationalen Truppen, dem Zusammenbruch der Regierung und der Übernahme des Landes durch die Taliban wurden die afghanischen Frauen und Männer sich selbst überlassen.
Versagen beim Klima und beim Rassismus
Auch die von Kurzsichtigkeit und Egoismus geprägten Verhandlungen während der UN-Klimakonferenz endeten mit einem Verrat. Die Regierungen verrieten ihre Bürger_innen, weil sie sich nicht auf ein Abkommen einigen konnten, das eine katastrophale Erderwärmung verhindert hätte. Weite Teile der Menschheit wurden zu einer Zukunft mit Wasserknappheit, Hitzewellen, Überschwemmungen und Hunger verdammt. Es sind die gleichen Regierungen, die Migran t_in nen an ihren Grenzen abweisen, die auf diese Weise Millionen von Menschen dazu verurteilt haben, auf der Suche nach Sicherheit und besseren Lebensbedingungen aus ihrer Heimat zu fliehen.
Die Akzeptanz rassistischer politischer Maßnahmen und Ideologien nahm 2021 weiter zu. Millionen Menschen wurden dazu gezwungen, ein Leben am Rande der Gesellschaft zu führen. Dies zeigte
*2021 wurden 12 Journalist_innen ermordet und 230 angegriffen, vorrangig nach Berichten über
Protste gegen die Taliban. *2021 erklärte die russische Regierung 14 Medien und 70 Personen zu »ausländischen Agenten«, darunter auch NGOs wie »Allianz der Ärzte«.
*Im Zeitraum von November 2020 bis April 2021 wurden 10.100 unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge Opfer der Pushbacks an der USmexikanischen Grenze.
sich in einer Regierungspolitik, die ein »Sterberisiko« als akzeptable Abschreckung für Flüchtlinge, Migrant_innen, Binnenvertriebene und Asylsuchende betrachtete. Dies zeigte sich in einer Politik, die jene kriminalisierte, die Leben zu retten versuchten. Dies zeigte sich in der Streichung grundlegender Versorgungsleistungen für die sexuelle und reproduktive Gesundheit mit verheerenden Folgen insbesondere für Frauen und Mädchen. 2021 setzten sich Menschen weltweit aber auch für ihre eigenen Rechte und für die Rechte aller ein. Sie forderten bessere Institutionen, faire Gesetze und eine gerechtere Gesellschaft. In mehr als 80 Ländern erhoben sich die Menschen in großer Zahl zum Protest. In Russland wurden Kundgebungen zur Unterstützung Alexej Nawalnys trotz einer noch nie dagewesenen Zahl willkürlicher Festnahmen fortgesetzt. In Indien demonstrierten Landwirt_innen gegen neue Agrargesetze, bis die indische Bundesregierung die Gesetze aufhob. Das ganze Jahr 2021 hindurch haben Menschen protestiert: Im Libanon, in Kolumbien und Myanmar, im Sudan, in
*Bis zum Ende des Jahres 2021 wurden 32.425
Flüchtlinge und Migrant_innen von der libyschen Küstenwache mit Unterstützung
Italiens und der EU auf See aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht.
Thailand, Venezuela und in vielen anderen Ländern. 2021 setzten sich weltweit Jurist_innen, Wissenschaftler_innen, Betroffene und ihre Familien für Gerechtigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, Kriegs verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Dabei konnten vor Gericht bahnbrechende Verfahren gewonnen werden. Im Juni wurde Alieu Kosiah, der ehemalige Kommandant einer Rebellengruppe in Liberia, in der Schweiz wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Haft verurteilt. Nichtregierungsorganisationen sorgten für Strafanzeigen gegen große Unternehmen wie Nike, Patagonia und C&A wegen deren Mitschuld an Zwangsarbeit in der chinesischen Region Xinjiang.
Das Pegasus-Projekt – eine umfang reiche Kooperation von Menschenrechtsexpert_innen und Investigativjournalist_innen – deckte die staatliche Überwachung von Regierungskritiker_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen auf. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie
*252 von weltweit 358 Morden an
Menschenrechtsverteidiger_innen wurden in
Lateinamerika und der Karibik registriert –allein in Kolumbien waren es 138.
*Anfang 2021 trat die Türkei aus der Istanbul-
Konvention zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen aus. Im gleichen Jahre wurden mindestens 280 Frauen ermordet, motiviert durch Frauenfeindlichkeit.
Amnesty setzten sich erfolgreich dafür ein, dass der UN-Menschenrechtsrat das Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt anerkennt und Sonderberichterstatter_innen für Menschenrechte und Klimawandel sowie für Menschenrechte in Afghanistan einsetzt.
Die Regierungen sollten, anders als bisher, künftig »alles wieder besser aufbauen«. Denn sonst lassen sie uns keine Wahl, und wir müssen jede ihrer Entscheidungen unter die Lupe nehmen. Und wir müssen aufeinander zugehen und uns gegenseitig unterstützen. Wir wissen, dass unsere Zukunft und unsere Schicksale miteinander verwoben und voneinander abhängig sind, das gilt auch für das Verhältnis der Menschen zu ihrem Planeten. Wir müssen die Sache der Menschenrechte in die Hand nehmen und gemeinsam eine globale Politik für die Rechte von uns allen einfordern, ohne Ausnahme. Diese Entwicklung sollten wir alle zusammen antreiben. ◆