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Literatur und Krieg: Ukrainische Kulturschaffende und ihre Überlebensstrategien

Ein Freiwilliger schweißt aus Stahlplatten eine schusssichere Weste zusammen. Ukraine, Saporischschja, Ende März.

Schusssichere Westen, nicht Bücher und Ideen

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Krieg in der Ukraine: Kein Tag vergeht ohne neue Nachrichten zu Truppenbewegungen, Einschätzungen von Militärexpert_innen, Statements von Politiker_innen. Doch wie denken die ukrainischen Intellektuellen, die Kulturschaffenden über die Lage? Wie leben sie mit dem Krieg? Von Tanja Dückers

Die Künstler_innen und Intellektuellen in der Ukraine lassen sich derzeit in zwei Gruppen einteilen: in die, die im Land geblieben sind oder bleiben mussten, und in die, die vor dem Krieg geflohen sind. Doch betroffen vom russischen Angriffskrieg sind sie alle.

Anastasiia Kosodii (geb. 1992), hat in ihrer Heimatstadt Saporischschja das progressive Theater Zaporizka Nova Drama mitbegründet. Später war sie Chefdramaturgin des PostPlay Theaters in Kiew. Sie schreibt auch selbst Stücke, die zum Beispiel an den Münchner Kammerspielen und am Gorki Theater in Berlin aufgeführt wurden. Nun teilt sie sich mit einer Freundin und deren Katze ein 1-ZimmerAppartement in Berlin-Treptow. Ihre Eltern sind weiterhin in Saporischschja. Dort wurden Anfang April Barrikaden gebaut. Die russische Armee zerbombte die Vororte. Eine Kleinstadt an der Front im Osten, in der Kosodii ein Projekt mit Schüler_innen geleitet hatte, wurde wie Mariupol dem Erdboden gleichgemacht. Die Schule gibt es nicht mehr. Über den Krieg macht sich die Theatermacherin keine Illusionen. In ihrem hellsichtigen und ergreifenden Stück »Timetraveller’s Guide to Donbass«, das kurz nach der Annexion der Krim 2014 uraufgeführt wurde, beschäftigte sie sich mit dem Krieg in der Ostukraine. Darin spielt eine Zeitmaschine eine Rolle, mit der man sich in die Zukunft beamen kann. Und die sieht düster aus.

Die aus Lwiw stammende Schriftstellerin und Übersetzerin Natalka Sniadanko (geb. 1973), die unter anderem in Freiburg studierte und deren Werke auch in Deutschland Widerhall fanden (zuletzt: »Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Groß-

Natalka Sniadanko, Schrift stellerin aus Lwiw, ist mit ihren Kindern nach Marbach am Neckar geflohen.

Foto: Elke Wetzig (CC BY-SA 3.0)

Evgenia Lopata aus Czernowitz leitet das Literaturfestival Meridian Czernowitz. Sie will die Stadt trotz des Krieges nicht verlassen.

Foto: gezett/Imago

vater wurde«) ist nach einer Odyssee in Marbach am Neckar gelandet. Als der Krieg ausbrach, war sie mit ihren beiden Kindern gerade in Krakau – Glück im Unglück, denn so konnte auch ihr 18-jähriger Sohn mit nach Deutschland fliehen, der sonst eingezogen worden wäre. Jetzt lebt sie mit den beiden Teenagern in zwei Zimmern. Immerhin, das Deutsche Literaturarchiv in Marbach bietet ihr eine Perspektive: Natalka erhält zunächst ein Stipendium; danach hat man ihr eine Teilzeitstelle angeboten.

In ihrem Fall ist es natürlich hilfreich, dass sie als Übersetzerin so gut Deutsch spricht. Ihr Mann ist noch in der Ukraine und wurde eingezogen. »Mit meinen Kolleginnen in Lwiw habe ich mich zuletzt nicht über Bücher und Ideen ausgetauscht, sondern darüber, wo wir schusssichere Westen herbekommen«, erzählt sie. Sie müssten sich die Ausrüstung zum Teil selbst organisieren, und das sei alles andere als einfach. Auch plage sie ein schlechtes Gewissen, weil sie geflohen sei und man ihr einen Job angeboten habe. Viele Kulturschaffende zu Hause hätten keine Auftritte, keine Arbeit und kein Einkommen mehr und befänden sich in einer desolaten Situation. Aber sie wollte ihre Kinder nicht Bomben, Raketen und Nächten im Schutzbunker aussetzen.

Die 27-jährige Evgenia Lopata leitet schon seit 2013 das international bekannte Literaturfestival Meridian Czernowitz. Sie ist bisher in der westukrainischen Stadt geblieben. Die Kulturmanagerin, Verlegerin und Übersetzerin spricht vier Sprachen und arbeitet zielstrebig an der nächsten Ausgabe des Literarturfestivals, das im September stattfinden soll. »Meine Arbeit hier ist wichtig«, sagt sie. »Kultur ist systemrelevant, in welcher Krise auch immer. Erst recht in dieser.« Sie hilft zudem Menschen, die in den Westen des Landes geflüchtet sind. Ob sie Angst davor hat, dass der Krieg auch auf Czernowitz übergreift? Die zierliche Frau lacht. »Nein. Wir sind so ukrainisch im Westen. Wenn die Russen hierherkommen, würde jeder, wirklich jeder zum Messer greifen.« Und immer wieder sagt sie diesen Satz: »Wir sind hier auch Europa.« Paul Celan und Rose Ausländer stammten aus Czernowitz, die Bukowina gehörte zu Habsburg. Bis zur rumänischen Grenze sind es nur 40 Kilometer. Berlin ist anderthalb Flugstunden entfernt. Evgenia Lopata kennt die deutsche Hauptstadt gut: 2019 absolvierte sie ein Praktikum im Deutschen Bundestag.

Ostap Slyvynsky (geb. 1978) hat keine Wahl. Der Literaturwissenschaftler, Lyriker und Übersetzer muss in Lwiw bleiben. Er hat Werke der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk ins Ukrainische übersetzt, und mehrere seiner Bücher liegen auch auf Deutsch vor (zuletzt: »Im fünften Jahrtausend erwachen: Gedichte aus den Jahren 2008 bis 2016«). Slyvynsky, der über das Phänomen der Stille in der Literatur promovierte, könnte bald im Gefechtsfeuer stehen. Es fällt ihm schwer, sich dies vorzustellen, aber Bitterkeit ist seine Sache nicht. »Hier helfen jetzt alle«, sagt Slyvynsky. Der Krieg habe sehr viel Solidarität hervorgebracht. Als Mitglied des ukrainischen PEN bemüht er sich derzeit darum, Kolleg_innen aus den zerbombten Städten im Osten des Landes zu unterstützen. Das Vorgehen der russischen Regierung hat Slyvynsky nicht überrascht. Er unterzeichnete 2016 den Aufruf »Schluss mit dem Massenmord in Aleppo!«, der sich gegen den Bombenkrieg Putins in Syrien wandte. Außerdem organisiert der Literaturwissenschaftler Kulturveranstaltungen in Lwiw. »Ein positiver Aspekt der Situation ist, dass jetzt die tollsten Autoren und Musiker aus dem Osten bei uns sind«, erzählt er und lächelt ironisch.

Slyvynsky hat eine Idee des polnischen Dichters und Literaturnobelpreisträgers Czesław Miłosz aufgegriffen und damit begonnen, ein »Wörterbuch des

»Meine Arbeit hier ist wichtig.«

Evgenia Lopata, Kulturmanagerin

Ostap Slyvynsky, Lyriker, Übersetzer und Literaturwissenschaftler aus Lwiw, musste Anfang April mit seiner Einberufung rechnen.

Foto: Dagmar Schwelle/laif

Kriegs« zu schreiben. »Jeder Eintrag ist das Fragment eines Monologs, den ich gehört habe«, sagt er, zum Beispiel am Bahnhof von Lwiw, dem zentralen Drehkreuz für die Fluchtrouten in den Westen, wo er Brot und Tee an Flüchtlinge verteilte, in Notunterkünften, in die er Medikamente und andere Dinge brachte, bei nächtlichen Wachen oder an den Ständen, an denen Kaffee ausgegeben wird. »Überall beginnen die Menschen zu erzählen. Manchmal von selbst, manchmal muss man sie ein wenig antippen, eine Frage stellen, und schon beginnt ein Redeschwall, der kaum zu stoppen ist«. Das liest sich im Ergebnis dann so:

SONNE (Nina, Konotop)

»Als der Krieg begann, dachte ich, ich würde viel weinen. Ich bin eine Heulsuse. Und plötzlich bin ich wie ausgetrocknet. All die Tage keine einzige Träne. Nur einmal habe ich geweint. Nachdem wir lange im Keller gesessen sind, gehe ich hinaus, und die Sonne ist so hell. Ich beginne zu weinen.

Anna Artwińska, Expertin für Slawistische

Literatur der Universität Leipzig. Foto: Uni Leipzig

Ich gehe in meine Wohnung und verstehe nicht, ob ich wirklich weine, oder ob bloß meine Augen tränen.«

ZAHLEN (Iryna, Sjewjerodonezk, redet ins Telefon)

»Du musst einfach zählen, komm wir machen es gemeinsam! Eins, zwei, drei … Nein, langsamer, noch einmal von vorne. Nicht so schnell. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben … Siehst du? Alles ist gut.«

Übersetzung: Maria Weissenböck

In Westeuropa werde die ukrainische Literatur im Vergleich zur russischen immer noch als marginal angesehen, klagt nicht nur Natalka Sniadanko. Sie mache ständig die Erfahrung, dass Westeuropäer sie darum bitten würden, ihr »diese ehemalige Sowjetrepublik« auf einer Karte zu zeigen und immer erstaunt reagierten: »So ein großes Land!« Während man einer Region wie dem Baltikum mit seinen gerade mal sechs Millionen Einwohner_innen oder einem Land wie Island, wo nur 320.000 Menschen leben, selbstverständlich eine eigene Kultur zugestehe, sei das bei der Ukraine mit ihrer Bevölkerung von 44 Millionen nicht der Fall. Das bestätigt auch Anna Artwińska, Professorin für Slawistische Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig. Die Ukrainistik sei ein marginalisierter Forschungszweig. Ostslawistik sei für viele faktisch dasselbe wie Russistik. Dies würde sich jetzt allerdings ändern, Studierende würden gezielt nach Literatur aus der Ukraine fragen.

Wenn Anna Artwińska über die ukrainische Romantik, die künstlerisch freizügigen 1920er Jahre und die neue Vielfalt der Literatur in der postsowjetischen Phase spricht, wird deutlich, wie groß die Wissenslücken über das mittelosteuropäische Land sind. Doch nicht nur Kenntnisse, auch Mitgefühl hätten lange gefehlt, erklärt Artwińska. Der empathische deutsche Blick auf die russischen Opfer des Zweiten Weltkriegs habe dazu geführt, dass die ukrainischen Opfer des Vernichtungsfeldzugs der Wehrmacht ignoriert worden seien. Dabei verlor das Land damals ein Viertel seiner Bevölkerung. Einige der größten Schlachten fanden in der Ukraine statt.

Und der jetzige Krieg? Ist er auch ein Krieg der Sprachen? Die im Land verbliebenen Kulturschaffenden betonen: Dass es ukrainische Autor_innen gebe, die auf Russisch schreiben würden, bedeute nicht, dass sie mit Russland sympathisierten. »Putin schweißt uns zusammen«, sagt Andrej Kurkow. Er ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Ukraine, der auf Russisch schreibt und Vorsitzender des ukrainischen PEN. Die Ukraine sei ein mehrsprachiges Land. Russisch gehöre zur Ukraine, russischsprachige Ukrai ner_in nen aber nicht zu Russland. In Russland sind Kurkows Bücher verboten. Dass aus Russland stammende Literatur jetzt in der Ukraine boykottiert wird, finden viele Kulturschaffende richtig, denn Russland führe einen aggressiven Propagandakrieg gegen die Ukraine, die oft als »Klein-Russland« bezeichnet werde.

Die nach Deutschland geflohenen Autorinnen irritiert, dass man sie ständig bittet, gemeinsam mit russischen Künstler_innen aufzutreten. Es sei nicht der Moment dafür, finden sie. Sie wollten und könnten sich nicht ausgewogen und klug äußern, während sie Angst um das Leben ihrer Liebsten hätten. Auch sei die Situation der russischen Künstler_innen eine völlig andere als die der Ukrainer_innen, die Hals über Kopf vor Bomben und Tod fliehen mussten.

Anastasiia Kosodii schaut in Berlin auf ihr Handy: »Heute ist ein guter Tag. Mama geht zum Friseur. Das klingt nach etwas Normalem«, sagt sie, während die Kaffeetasse in ihrer Hand zittert. »Ich hoffe, ich sehe meinen Mann wieder«, sagt Natalka Sniadanko in Marbach und seufzt. »Ich werde kämpfen«, sagt Ostap Slyvynsky in Lwiw und rückt seine Brille zurecht. »Meridian Czernowitz wird stattfinden«, sagt Evgenia Lopata und macht eine Geste hin zum Fenster, zu einem Himmel, dessen Grau schwer zu deuten ist. ◆

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