18 minute read
Mutiges Kino: Der Amnesty-Filmpreis auf der Berlinale
Akt des Widerstands: Die »Myanmar Diaries« zeigen den gefährlichen Protest unter einem Militärregime.
Foto: The Myanmar Film Collective
Advertisement
Mutiges Kino
Der Berlinale-Filmpreis von Amnesty International ging in diesem Jahr an den Dokumentarfilm »Myanmar Diaries«. Eine lobende Erwähnung gab es für »Mein kleines Land«. Von Jürgen Kiontke
Sag ich es ihm, sag ich es ihm nicht…« Eine junge Frau zählt Bubble-TeaBlasen ab. Sie ist schwanger und überlegt, ob sie das ihrem Freund mittteilen soll. Denn der ist gerade anderweitig beschäftigt: Er hat beschlossen, sich der Guerilla im Dschungel anzuschließen und gegen die Militärregierung in Myanmar zu kämpfen. Seit dem Putsch am 1. Februar 2021 herrscht in dem Land eine beispiellose Repression. Nach Erkenntnissen von Amnesty International geht das Militärregime brutal gegen Aktivist_innen und Journalist_innen vor, nimmt sie in Haft und tötet sie. Wer auf die Straße geht und demonstriert, läuft Gefahr, erschossen zu werden.
Ein Filmkollektiv, das aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will, hat die aktuelle Situation dokumentiert und eine Kopie seiner »Myanmar Diaries« (NL/MMR/NOR 2022) außer Landes geschafft. Die jungen Filmemacher_innen verstehen ihre Arbeit als Akt des Widerstands. Ihr Werk handele vom »frühlingshaften Traum« von Freiheit in Myanmar, »vom Enthusiasmus und von der Hoffnung einer jungen Generation, die brutal niedergeschlagen wurde«.
Das hybride Filmformat aus gespielten und dokumentarischen Szenen gewährt einen Blick auf die landesweiten Proteste und den zivilen Ungehorsam. Dabei werden auch Handyfilme von Bürger_innen verwendet, die brutale Übergriffe des Militärs auf die Zivilbevölkerung zeigen: Bei Demonstrationen wird scharf geschossen; Kinder verhandeln mit Soldaten, damit diese ihre Eltern nicht zum Verhör mitnehmen. Wegen solch eindrücklicher Szenen gewannen die »Myanmar Diaries«, die im Februar bei der Berlinale in der Sektion Panorama liefen, den mit 5.000 Euro dotierten Filmpreis von Amnesty International.
Die Jury, der in diesem Jahr der Regisseur Franz Böhm, die Schauspielerin Eva Meckbach und die Amnesty-Referentin Ines Wildhage angehörten, bezeichnete den Film als beeindruckend investigativ und zutiefst mutig: »Mutig sind alle Beteiligten, die unter Lebensgefahr diesen Film produziert haben, mutig sind die Menschen, die dieser Film porträtiert und die sich dem Militärregime in Myanmar entgegenstellen.« Außerdem habe das Filmkollektiv eine ganz eigene Dramaturgie und Bildsprache dafür gefunden, wie man es schaffe, Menschen zu zeigen, ohne sie zu zeigen.
Mit einer lobenden Erwähnung bedachte die Jury den äußerst sehenswerten japanischen Film »My Small Land« (J 2022). Im Mittelpunkt steht eine kurdische Familie, die in die Mühlen der japanischen Bürokratie gerät, nachdem ihr der Aufenthaltsstatus entzogen wurde. Die Jury lobte insbesondere die hervorragend spielende 18-jährige Lina Arashi. Dem stark erzählten Film gelinge es, »den inhumanen Umgang mit Geflüchteten anzuprangern«. Für den Amnesty-Filmpreis waren insgesamt 15 Filme nominiert, viele von ihnen beschäftigten sich mit Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen. ◆
Informationen zum Filmpreis von Amnesty International: www.amnesty.de/der-amnestyfilmpreis-auf-der-berlinale2022
FILM & MUSIK
Murat ist weg
»Murat, aufstehen. Essen ist fertig.« Rabiye Kurnaz steht im Zimmer und fragt sich, wo ihr Sohn abgeblieben ist. Seine Abwesenheit ist ernst: Murat Kurnaz hatte eine Ausbildung bei einem Bremer Bootsbauer begonnen und war dann auf einen Selbstfindungstrip nach Pakistan gegangen – zu einem ungünstigen Zeitpunkt, kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Murat Kurnaz geriet ins Visier der pakistanischen Polizei, die ihn an die US-Streitkräfte in Afghanistan übergab. Im Januar 2002 war er einer der ersten Gefangenen im Lager Guantánamo Bay auf Kuba, das die USA kurz zuvor eingerichtet hatten. Seine Mutter Rabiye kämpfte resolut um die Freilassung ihres Sohnes, die von deutscher Seite behindert wurde: 2002 sollte Kurnaz nach Deutschland abgeschoben werden, die Behörden lehnten seine Aufnahme jedoch ab. Insgesamt fünf Jahre wurde Kurnaz in Guantánamo verhört und gefoltert.
Mit seinem Spielfilm »Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush« hat Regisseur Andreas Dresen der kämpferischen Mutter, die vom Bremer Menschenrechtsanwalt Bernhard Docke unterstützt wurde, ein Denkmal gesetzt. Der Film erweist sich als Tour de Force durch den deutschen und amerikanischen Gesetzes dschungel. Die Rolle der Protagonistin ist mit der Schauspielerin und Comedienne Meltem Kaptan glänzend besetzt. Der Regisseur selbst spielt einen US-Richter. Beider Hang zur Alltagskomik lassen zuweilen Zweifel da ran aufkommen, ob der Film eine ernst hafte Kritik an Missständen beabsichtigt. Diese Dissonanz wurde anlässlich der Premiere auf der Berlinale stark diskutiert: Ob dies das richtige Format sei, fragte sich die Kritik. Zugleich wirkt der Film damit wie ein Kommentar auf das Gefangenenlager Guantánamo und dessen abs truse Rechtsgrundlage. Insofern scheint jedes Mittel recht, das Thema wieder ins Bewusstsein zu bringen. Chapeau, Frau Kaptan und Herr Dresen!
»Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush«. D/F 2022. Regie: Andreas Dresen, Darsteller: Meltem Kaptan, Alexander Scheer. Kinostart: 28.April 2022
Postkoloniale Harmonien
Da bricht plötzlich eine elektrische Gitarre aus, bohrt sich tief in die polyrhythmischen Muster, bis sie ganz fest in den verschlungenen Trommeln sitzt, als hätte sie schon immer dahin gehört. Dann setzen die Gesangstimmen ein, die sich antworten und widersprechen, zu Dialogen formen und zu Chören verschmelzen, bis die Gitarre zurückkehrt und alles niederwalzt mit großer Macht. Es ist erstaunlich, wie deutlich in der Musik von Congotronics International die konzeptionelle Idee des Projekts zutage tritt: Marc Hollander, Betreiber des verdienten Labels Crammed Disc, hatte 2011 die Idee, Musiker_innen aus verschiedenen Welten zusammenzubringen für eine gemeinsame Tournee. Er lud einerseits die kongolesischen Bands Konono No.1 und Kasai Allstars ein und andererseits Mitglieder von schwedischen, japanischen oder US-amerikanischen Avantgarde-Rockbands wie Deerhoof, Wildbirds & Peacedrums oder Skeletons.
Seitdem besteht das Projekt über vier Kontinente, fünf Sprachen und zahllose musikalische Genres hinweg. Elf Musiker_innen haben sich als harter Kern herausgebildet, deren jahrelange Kooperation nun mit »Where’s The One?« dokumentiert wird. Die Grundlagen sind zum großen Teil bei Live-Auftritten entstanden, wurden im Studio ergänzt und schließlich unter der Federführung von Deerhoof-Schlagzeuger Greg Saunier zu 23 Stücken zusammengeführt, die nicht nur eine Brücke bauen zwischen den Welten, sondern eine ganz neue Dimension errichten. Mal treten die Trommeln in den Vordergrund, dann legt sich der Gitarrenlärm wie Nebel über die Landschaft, durch den dann wieder das von Konono No.1 erfundene Daumenklavier Likembe dringt und Chöre auf den Weg bringt, die diese Musik aus den afrikanischen Städten direkt in die hippen Clubs Berlins oder New Yorks befördern. Es ist Musik, in der sich die Erben des Postkolonialismus endlich auf Augenhöhe begegnen.
Congotronics International: »Where’s The One?« (Crammed Discs/Indigo)
Queere Stimme
Dieses Debütalbum ist noch keine halbe Minute angeklungen, da steht man schon inmitten der ganzen Zerrissenheit von Miki Ratsula. »I hate myself sometimes«, singt die Künstler_in, die sich als nonbinär definiert und von schlaflosen, vom Zweifel zerfressenen Nächten erzählt. Zu einem Social-Media-Star wurde Ratsula, die als Kind finnischer Eltern in Südkalifornien als begeisterte Fußballspielerin aufwuchs, durch Songs über Fußballprofis wie Hope Solo, Megan Rapinoe und andere Heldinnen des US-Nationalteams, die für Sichtbarkeit und Selbstbewusstsein von Queers im Mainstream womöglich mehr erreicht haben als alle Christopher-Street-Umzüge zusammen.
Auf »I Owe It To Myself«, ihrem ersten Album, wechselt Ratsula nun dramatisch die Perspektive: Statt von Prominenz erzählt sie nur noch von sich und aus ihrem 23 Jahre alten Leben. Nahezu systematisch werden alle Themen abgehandelt, die einen nonbinären Menschen notgedrungen bewegen: Ratsula singt von der Konfrontation mit Vorurteilen, von der Identitätsfindung und sexuellen Irrungen, vor allem von Selbstzweifeln und Depressionen, von der Geschlechtsoperation, von der Lust und immer wieder von der Liebe. »I Owe It To Myself« ist ein Konzeptalbum, wenn auch ein radikal persönliches: Schonungslos und ungeschönt präsentiert Ratsula ihr Seelenleben, zeigt auf dem Cover des Albums oder im Videoclip zur wunderschönen Single »Second« ihren operierten, nackten Oberkörper, aber musikalisch federt sie die inhaltliche Radikalität mit maximaler Eingängigkeit ab. Sanft klimpert die Akustikgitarre, Folk-Harmonien versöhnen sich mit Elektro-Pop-Beats, und gelegentliche Bläser polieren die Kanten, während sich Ratsula mit glockenklarer Stimme auf die Suche nach den schönsten Popmelodien macht. Es ist, als schicke sie ein Boot mit Hits in die Charts, damit die queeren Stimmen dort unbemerkt ankommen können, um letztlich für Akzeptanz zu sorgen.
Miki Ratsula: »I Owe It To Myself« (Nettwerk)
SCHREIBEN SIE EINEN BRIEF
Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Herkunft oder aus rassistischen Gründen inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht an dieser Stelle regelmäßig Geschichten von Betroffenen, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.
• BRI E FE GEGEN DAS VE R GESSEN
Foto: Amnesty
ZENTRALAFRIKANISCHE REPUBLIK CLAIRE YINGUINZA
Am 23.Dezember 2013 drangen elf bewaffnete Mitglieder der »Selbstverteidigungsmiliz« Anti-Balaka gewaltsam in das Haus von Claire Yinguinza in Bangui ein. Sie bedrohten Claire Yinguinza und ihre Familie mit dem Tod und plünderten das Haus. Mindestens zwei der Männer vergewaltigten sie und ihre damals 19-jährige Tochter Nadia. Nadia wurde schwanger und hat in der Zwischenzeit eine Tochter – beide sind infolge der Vergewaltigung HIV-positiv. Claire Yinguinza ist verwitwet und arbeitslos. Die Mutter von acht Kindern mit elf Enkeln, die auf sie angewiesen sind, fordert Gerechtigkeit und Entschädigung für das Leid, das ihr und ihrer Tochter angetan wurde. 2019 fing sie an, die nötigen Unter lagen und Beweise für eine Klage beim Obersten Gerichtshof zu sammeln. Doch ihr Fall ist nur ein Beispiel für die Kultur der Straflosigkeit in dem von Konflikten zerrütteten Land, und das Vertrauen in die parteiischen Behörden fällt schwer. Die Ermittlungen verlaufen schleppend: Die Täter sind weiterhin unbekannt, und Claire Yinguinza ist schon lange nicht mehr über den Fortgang der Untersuchungen informiert worden.
Bitte schreiben Sie bis 30.Juni 2022 höflich
formulierte Briefe an den Präsidenten der Zentralafrikanischen Republik und bitten Sie ihn, im Fall der Vergewaltigung von Claire Yinguinza und ihrer Tochter Nadia unverzüglich eine unparteiische und effektive Ermittlung einzuleiten, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Fordern Sie ihn auch auf, dafür zu sorgen, dass die beiden eine umfassende Entschädigung erhalten. Außerdem müssen sie angemessen psychologisch unterstützt werden und eine medizinische Behandlung ihrer HIV-Erkrankung erhalten.
Schreiben Sie bitte in gutem Französisch, Englisch oder auf Deutsch an:
President of the Central African Republic Archange Touadéra Palais de la Renaissance Bangui, ZENTRALAFRIKANISCHE REPUBLIK (Anrede: Your Excellency / Eure Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft der Zentralafrikanischen Republik Egide Gouguia, Geschäftsträger a. i. 30, Rue de Perchamps 75016 Paris, FRANKREICH Fax: 0033-145274811 E-Mail: ambassadercafrance@yahoo.fr (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
IRAN ESMAIL ABDI
Esmail Abdi ist Mathematiklehrer und war früher Generalsekretär der Lehrergewerkschaft im Iran (ITTA). Er wurde im Februar 2016 wegen seiner gewerkschaftlichen Aktivitäten zu sechs Jahren Haft verurteilt. Später wurde die Haftstrafe um weitere zehn Jahre verlängert. Er hatte friedliche Demonstrationen von Lehrkräften gegen ihre schlechte Bezahlung und den niedrigen Bildungsetat sowie gegen die Inhaftierung von Gewerkschaftsmitgliedern organisiert. Sein Prozess verstieß gegen internationale Standards für faire Gerichtsverfahren, denn er hatte während des gesamten Ermittlungsverfahrens keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand seiner Wahl. Seit dem 9.November 2016 befindet sich Esmail Abdi –mit Ausnahme von zwei kurzen Unterbrechungen – im Teheraner Evin-Gefängnis. Im Iran werden Gewerkschafter_innen verfolgt, bedroht und inhaftiert. Und das, obwohl der Iran Unterzeichnerstaat des Internationalen Pakts über bürgerliche und poliGefangener, der nur wegen der friedlichen Ausübung seiner Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit inhaftiert ist. Bitten Sie ihn außerdem, Esmail Abdi bis zu seiner Freilassung Zugang zu fachärztlicher Betreuung und Schutz vor Folter und anderen Formen der Misshandlung zu gewähren.
Foto: privat
tische Rechte und des Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ist. Diese Pakte garantieren das Recht jeder Person, Gewerkschaften zur Förderung und dem Schutz ihrer wirtschaftlichen und sozialen Rechte zu gründen und diesen beizutreten.
Bitte schreiben Sie bis 30.Juni 2022 höflich
formulierte Briefe an die Oberste Justiz autorität des Irans. Bitten Sie ihn, Esmail Abdi unverzüglich und bedingungslos freizulassen. Er ist ein gewaltloser politischer
Schreiben Sie in gutem Persisch, Englisch, Französisch oder auf Deutsch an:
Oberste Justizautorität Gholamhossein Mohseni Ejei c/o Embassy of Iran to the European Union Avenue Franklin Roosevelt No. 15 1050 Brüssel, BELGIEN (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft der Islamischen Republik Iran S. E. Herrn Mahmoud Farazandeh Podbielskiallee 67, 14195 Berlin Fax: 030-832229133 E-Mail: info@iranbotschaft.de (Standardbrief: 0,85 €)
USA TOFFIQ AL-BIHANI
Der Jemenit Toffiq al-Bihani ist seit mittlerweile fast 20 Jahren im US-Militärstützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba inhaftiert, obwohl gegen ihn keine offiziellen Anklagen vorliegen. Er wurde ursprünglich im Iran von den dortigen Behörden festgenommen und Anfang 2002 in Afghanistan an das US-Militär übergeben. Ab Oktober desselben Jahres befand er sich in Gewahrsam der CIA. Dort wurde er über mehrere Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt gefoltert und misshandelt. Seinen Angaben zufolge wurde er unter anderem fast zehn Tage lang angekettet und in seiner Zelle mit einer Waffe am Kopf mit dem Tod bedroht. Eine vom damaligen US-Präsidenten Barack Obama zur Schließung Guantánamos ein gerichtete Arbeitsgruppe entschied bereits 2010, dass Toffiq al-Bihani freigelassen werdass Toffiq al-Bihani Zugang zu angemessenen Rechtsmitteln und Rehabilitation gewährt wird und dass er eine Entschädigung für die Verletzungen seiner Menschenrechte während seiner USHaft erhält.
den könne. Seitdem wartet er darauf, in ein sicheres Drittland ausreisen zu dürfen. Toffiq al-Bihani ist einer von fünf Häftlingen in Guantánamo, die seit mehreren Jahren für einen Transfer in ein Aufnahmeland vorgesehen, aber dennoch weiterhin inhaftiert sind. Ein anderer Guantánamo-Gefangener, Sufyian Barhoumi, der 20 Jahre lang ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festge halten wurde, konnte Anfang April 2022 endlich nach Algerien zurückkehren, wo er nun wieder mit seiner Familie vereint ist. Somit besteht die Hoffnung, dass auch Toffiq al-Bihani bald freigelassen werden könnte.
Bitte schreiben Sie bis 30.Juni 2022 höflich
formulierte Briefe an den Außenminister der USA und fordern Sie ihn auf, umgehend dafür zu sorgen, dass Toffiq al-Bihani Guantánamo verlassen und in ein Aufnahmeland ausreisen kann, das seine Menschenrechte achtet. Bitten Sie ihn auch, dafür zu sorgen,
Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de AMNESTY INTERNATIONAL
Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de
Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an:
Antony Blinken, Secretary of State US Department of State 2201 C St., NW Washington DC 20520, USA (Anrede: Dear Secretary of State / Sehr geehrter Herr Außenminister) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika I. E. Frau Amy Gutmann Clayallee 170, 14195 Berlin Fax: 030-83051050 oder 030-8314926 E-Mail: feedback@usembassy.de (Standardbrief: 0,85 €)
Zehn Kilometer Rechte
Zwischen Eiben zum Russengrab: Unterwegs auf dem Plesse-Menschenrechtspfad der Amnesty-Gruppen Göttingen/Bovenden. Von Nina Apin
Malerisch thront die Plesse, eine Burgruine aus dem 11. Jahrhundert, über dem Leinetal. Einige junge Leute sonnen sich auf den Mauerresten, ein Biker genießt die Aussicht. Michael Bokemeyer hat für das Panorama wenig Zeit. Strammen Schrittes läuft der 82-Jährige zum überdachten Wanderschild und kontrolliert den Startpunkt des Amnesty-Menschenrechtspfads Göttingen/Bovenden: Der Flyerkasten ist noch gut gefüllt, doch jemand hat den Amnesty-Aufkleber unter der Wanderkarte abgekratzt. Jetzt wissen nur Eingeweihte, dass die nächsten zehn Kilometer durch den Pleßforst den Menschenrechten gewidmet sind. 16 weiße Infotafeln informieren am Wegesrand über die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte samt Präambel. »Neuer Aufkleber, müssen wir dran denken«, erinnert Bokemeyer seinen gleichaltrigen Freund Ulrich Braun. Ein herabgestürzter Ast hat das Schild zu Artikel 3 und 4 (Recht auf Leben und Freiheit/Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels) beschädigt, aber es ist noch lesbar. In wenigen Tagen wird eine Berufsschulklasse zu einer von Amnesty geführten Tour erwartet – die beiden Aktivisten machen daher noch schnell einen Inspektionsrundgang.
Die Idee, ein Naherholungsangebot mit Sinngehalt zu schaffen, entstand 2010: »Die Bovender Gruppe wurde 1974 gegründet, von meiner Frau Uta bei uns zu Hause«, erzählt Michael Bokemeyer, der früher Stadtplaner in Göttingen war. Die zwölf Gruppenmitglieder widmeten sich zunächst der Betreuung politischer Gefangener. Mit Erfolg: Der marokkanische Gewerkschafter Abdellali el Hajji wurde 1989 freigelassen, und die Bokemeyers haben noch heute Kontakt zu ihm.
Altersbedingt schrumpfte die Gruppe jedoch im Lauf der Zeit. Auf der Suche nach jüngeren Engagierten entstand die Idee, einen Menschenrechtspfad einzurichten. Gemeinsam mit zwei Göttinger Amnesty-Gruppen und dem Forstamt wurde der Plesse-Pfad konzipiert und 2010 eingeweiht. Beim Festakt gab es eine Treckerparade und Musik. 16 Schilderpaten, vom Pastor bis zur Schulleiterin, hielten Kurzvorträge zu »ihren« Artikeln. Zum zehnjährigen Jubiläum des Pfads im Jahr 2020 wurde außerdem eine »Baumreihe gegen das Vergessen« eingeweiht. Bedrohte Arten wie Elsbeere und Speierling mahnen seitdem zwischen Bovenden und dem Startpunkt des Pfads vor dem Verschwinden von Bäumen und Menschen.
Der Menschenrechtspfad wird vor allem von Schulklassen und lokalen Vereinen genutzt, aber auch von den Bewohner_innen einer nahegelegenen Flüchtlingsunterkunft, die ihre Picknickdecken im Wald ausbreiten.
Michael Bokemeyer macht noch auf ein silbernes Kreuz auf einem Baumstumpf aufmerksam. Davor befindet sich ein von bemoosten Steinen umfasstes Rechteck. Es handle sich um das Grab eines russischen Kriegsgefangenen, der im Jahr 1920 dort Suizid begangen habe, erklärt Bokemeyer. Er war bei den Vorbereitungen zum zehnjährigen Jubiläum des Menschenrechtspfads im Gemeindearchiv auf das Grab gestoßen. Damals wurde es von einer Familie im Ort gepflegt, inzwischen kümmert sich Amnesty darum.
Dass das »Russengrab« in unmittel barer Nähe des Schilds mit Artikel 13 (Recht auf Heimat) und Artikel 14 (Recht auf Asyl) steht, findet Ulrich Braun besonders passend. »Die Menschenrechte gelten für jeden – auch im Krieg.« Das haben offenbar noch nicht alle begriffen. Das Schild wurde bereits dreimal gestohlen, bzw. zerstört. ◆
Mehr unter: amnesty-bovendengoettingen.de/aktionen
Hegen und pflegen den Menschenrechtspfad: Michael Bokemeyer (l.) und andere.
NIE WIEDER KRIEG!?
Von Markus N. Beeko
»Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht«, sagte Annalena Baerbock am 24. Februar nach dem Angriff auf die Ukraine – und sprach damit Menschen in ganz Europa aus der Seele. Anfang April waren fast fünf Millionen Menschen geflohen, meist Frauen und Kinder, und es gab Tausende zivile Opfer des Krieges.
Amnesty International dokumentierte Angriffe auf zivile Ziele, die Verwendung geächteter Munition und gezielte Tötungen von Zivilpersonen. Kriegsverbrechen und Verletzungen des humanitären Völkerrechts gehören offensichtlich zur Kriegsführung der russischen Armee, wie bereits in Syrien und andernorts.
Ein Schock ging durch Europa. Selbst in Polen und Ungarn hieß man unkompliziert die Flüchtenden der größten Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg willkommen. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einer »Zeitenwende« und rief 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr auf. Aktien von Rüstungskonzernen erfreuten sich plötzlicher Beliebtheit, und Politiker_innen forderten eine allgemeine Wehrpflicht. Außenpolitische »Falken« fühlten sich bestätigt und riefen »das Ende der Naivität« aus, Pazifist_innen kamen ins Grübeln. Verständlich.
Der völkerrechtswidrige Angriff auf die Ukraine ist ein Angriff auf die Friedensordnung Europas. Er zwingt zu einer Analyse und einer Auseinandersetzung mit bisherigen Strategien. Wer »Nie wieder Krieg!« dachte, wurde wachgerüttelt,
die Opfer von Gewalt und Verfolgung.
Die aktuelle Situation zeigt, wie man Verantwortung übernehmen kann.
Abrüstungsinitiativen müssen her!
Es braucht grundsätzlich nicht mehr, sondern weniger Waffen in den Händen von Akteuren, die das Völkerrecht missachten – ob sie Putin, Assad, Xi Jinping oder Trump heißen. Dafür braucht es Abrüstungsinitiativen und ein internationales Verbot tödlicher vollautomatischer Waffensysteme. Es braucht ein wirksameres Rüstungsexportkontrollgesetz sowie die menschenrechtskonforme Export kontrolle von Überwachungstechnologie.
Kein Handel ohne Wandel. Ob mit China, Katar, Saudi-Arabien, Indien oder der Türkei: Wer Handel treibt ohne die Achtung von Menschenrechten zu einem »Teil des Deals« zu machen, sendet falsche Signale an die Gegner_innen der »Stärke des Rechts«.
Menschenrechtler_innen und Aktivist_innen haben Putin & Co. bisher nur selten unterschätzt. Vielleicht schenkt man ihnen zukünftig öfter Gehör. ◆
ebenso wer dachte, Krieg und Kriegsverbrechen seien ein Problem »anderer Länder«. Es lohnt nun, nicht nur reflexartig hinzuschauen – und nicht nur auf Russland und die Ukraine zu blicken, sondern auf die ganze Welt. Es ist wichtig, Versäumnisse zu erkennen und die richtigen Lehren zu ziehen:
Wir brauchen mehr internationale
Ordnung, nicht weniger. Der aktuelle Amnesty-Jahresbericht 2021/2022 zeigt: Die Ukraine ist die Spitze eines Eisbergs. Konfliktparteien haben vielerorts das Völkerrecht missachtet und Kriegsverbrechen begangen, ohne dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen wurden. Diese fehlende Durchsetzung der internationalen Ordnung gefährdet mittlerweile auch in Europa Frieden und Sicherheit.
Wir brauchen ein internationales
Strafrecht, das strafen kann. Für aktuelle Schwächen internationaler Institutionen sind wir alle verantwortlich. Viele Staaten haben wegen wirtschaftlicher und machtpolitischer Interessen die konsequente Ahndung von Völkerrechtsverletzungen verhindert; auch die USA und Europa haben Institutionen wie den Internationalen Strafgerichtshof behindert und geschwächt.
Klimagerechtigkeit, Menschenrechte und eine feministische Außenpolitik sind essenziell für Sicherheit und Frie-
den im 21. Jahrhundert. Amnesty begrüßt, dass die kürzlich von Außenministerin Baerbock vorgestellte Initiative für eine neue nationale Sicherheitsstrategie dies anerkennt und berücksichtigt.
Wir brauchen Flüchtlingsschutz für
Amnesty / Foto: Bernd Hartung
Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.
IMPRESSUM
Amnesty International Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030-420248-0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Maik Söhler (V.i.S.d.P.), Lea De Gregorio, Anton Landgraf, Tobias Oellig, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk, Lena Wiggers Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Nina Apin, Nicolás Ardila, Böbe Barsi, Markus N. Beeko, Agnès Callamard, Bernhard Clasen, Tanja Dückers, Hannah El-Hitami, Jonathan Fischer, Oliver Grajewski, Sabine Halfpap-Attia, Sead Husic, Jürgen Kiontke, Martina Liedke, Patrick Loewenstein, Tigran Petrosyan, Klaus Petrus, Wera Reusch, Bettina Rühl, Till Schmidt, Oliver Schulz, Regina Spöttl, Franziska Ulm-Düsterhöft, Frédéric Valin, Cornelia Wegerhoff, Elisabeth Wellershaus, Thomas Winkler, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk/schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg Spendenkonto: Amnesty International Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE23 3702 0500 0008 0901 00 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) ISSN: 2199-4587
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.