Amnesty Journal Mai/Juni 2022

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AMNESTY REPORT

Globale Politik für unser aller Rechte Ende März ist der neue Amnesty-Report zur weltweiten Lage der Menschenrechte erschienen. Ein Auszug aus dem Vorwort der Internationalen Generalsekretärin. Von Agnès Callamard

W

ie ist es den Menschen in den machtpolitischen Konstellationen des Jahres 2021 ergangen? Wurden ihre Rechte inmitten der chaotischen Kämpfe um Profit, Privilegien und Positionen in der Welt besser gewahrt als in der Vergangenheit? Haben sie angesichts der Corona-Pandemie und einer Verschärfung vorherrschender Konflikte mehr Anerkennung, Respekt und Schutz erhalten? Ein Mantra des Jahres 2021 war: »Wir werden alles wieder besser aufbauen.« Auch andere Versprechen wurden gemacht: von einem »globalen Neustart« der Wirtschaft war die Rede, einer weltweiten »gemeinsamen Politik« zur Eindämmung des Missbrauchs von Umweltressourcen und einer neuen globalen Solidarität. Doch diese Slogans erwiesen sich als leere Parolen. Trotz anderer Möglichkeiten haben die Regierungen sich für Maßnahmen und Wege entschieden, die uns davon entfernen, Würde und Rechte zu wahren. Die Pandemie hat systembedingte Ungleichheiten vorangetrieben und damit verfestigt. Der grenzüberschreitende Austausch von Gesundheitsleistungen und -gütern, der die medizinische Versorgung für alle hätte verbessern können, kam oft nicht zustande. Ebenso fehlte es häufig an der Zusammenarbeit zwischen den Regierungen, die zur Abwendung weiterer Katastrophen und Milderung von Menschenrechtskrisen erforderlich gewesen wäre. Anstatt eine konstruktive globale Politik zu verfolgen, haben sich die Staatsund Regierungschef_innen in ihre nationalstaatlichen Höhlen zurückgezogen.

42 AMNESTY JOURNAL | 03/2022

Anstatt mehr Sicherheit für mehr Menschen zu schaffen, verwickeln sie die Nationen in Konflikte und selbstzerstörerische Wettkämpfe um Reichtum und Ressourcen. Anstatt die universelle Menschenrechtsnorm der Gleichheit zu verteidigen, wurde der Rassismus weiter in die Logik des internationalen Systems eingeschrieben. 2021 hätte ein Jahr der Genesung und Erholung sein sollen. Stattdessen sollte es noch mehr Ungleichheit und Instabilität mit sich bringen. Die hohen Zahlen an Covid-19-Infektionen, -Erkrankungen und -Todesfällen waren vorhersehbar und vermeidbar. Während Regierungen wohlhabender Länder sich zu ihren Impfkampagnen beglückwünschten, sorgte ihr Impfnationalismus dafür, dass zum Jahresende mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ungeimpft oder nur zum Teil geimpft war. Angesichts niedriger Immunisierungsraten konnten sich neue Varianten verbreiten. Im September stellte Amnesty International fest, dass die Industrieländer auf einer halben Milliarde überschüssiger Impfdosen saßen – genug, um mehrere der Länder mit der geringsten Impfquote weltweit vollständig zu impfen. Die Entsorgung überschüssiger Dosen, deren Verfallsdatum überschritten war, wurde zu einem Symptom für eine Welt ohne moralischen Kompass. Während Unternehmensleitungen und Investor_innen gigantische Profite einstrichen, mussten jene warten, die den Impfstoff benötigten. Und manche mussten deswegen sterben. Neue Konflikte kamen auf, ungelöste Konflikte verschärften sich. So kam es unter anderem in Äthiopien, Afghanistan, Burkina Faso, Israel/Palästina, im Jemen und in Libyen zu massiven Verstößen gegen die Menschenrechte und das huma-

nitäre Völkerrecht. Viel zu selten wurde international angemessen reagiert; viel zu selten wurde für Gerechtigkeit gesorgt. Nirgendwo sonst wurde der Verfall der Weltordnung deutlicher als in Afghanistan. Nach dem Abzug aller internationalen Truppen, dem Zusammenbruch der Regierung und der Übernahme des Landes durch die Taliban wurden die afghanischen Frauen und Männer sich selbst überlassen.

Versagen beim Klima und beim Rassismus Auch die von Kurzsichtigkeit und Egoismus geprägten Verhandlungen während der UN-Klimakonferenz endeten mit einem Verrat. Die Regierungen verrieten ihre Bürger_innen, weil sie sich nicht auf ein Abkommen einigen konnten, das eine katastrophale Erderwärmung verhindert hätte. Weite Teile der Menschheit wurden zu einer Zukunft mit Wasserknappheit, Hitzewellen, Überschwemmungen und Hunger verdammt. Es sind die gleichen Regierungen, die Migrant_innen an ihren Grenzen abweisen, die auf diese Weise Millionen von Menschen dazu verurteilt haben, auf der Suche nach Sicherheit und besseren Lebensbedingungen aus ihrer Heimat zu fliehen. Die Akzeptanz rassistischer politischer Maßnahmen und Ideologien nahm 2021 weiter zu. Millionen Menschen wurden dazu gezwungen, ein Leben am Rande der Gesellschaft zu führen. Dies zeigte

In mehr als 80 Ländern erhoben sich die Menschen in großer Zahl zum Protest.


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