9 minute read
Menschenrechtspreis: Der Äthiopische Menschenrechtsrat
Sie machen einen Job, den niemand machen will, und sie machen ihn gern
Als der Äthiopische Menschenrechtsrat EHRCO 1991 gegründet wurde, hatten die Menschen in dem ostafrikanischen Land Jahrzehnte an Diktatur und Repression hinter sich. Seit 2020 in Äthiopien ein weiterer Krieg begann, ist die Arbeit des EHRCO gefährlicher denn je. Nun wird der Rat mit dem Menschenrechtspreis von Amnesty International ausgezeichnet. Aus Nairobi von Bettina Rühl mit Fotos von Maheder Haileselassie, Addis Abeba
Advertisement
Dan Yirga Haile sitzt im Café eines Hotels in der kenianischen Hauptstadt Nairobi und schaut sich nicht nach den anderen Gästen um. Jedenfalls nicht häufiger als dies andere Menschen tun. Stattdessen redet er konzentriert, nimmt nur gelegentlich einen Schluck von seinem Saft. In seiner Heimatstadt Addis Abeba wäre das so nicht möglich, sagt der Menschenrechtsaktivist. »Da könnten wir an einem öffentlich zugänglichen Ort nicht so frei sprechen.« Der 38-Jährige ist geschäftsführender Direktor des Äthiopischen Menschenrechtsrats EHRCO. Und als solcher nicht nur bekannt, sondern auch gefährdet, ebenso wie die übrigen Mitglieder der Organisation. »In Äthiopien kann jederzeit alles passieren«, sagt Dan. »Ein Mitglied unserer Organisation wurde auf der Straße regelrecht exekutiert, andere wurden verhaftet, im Gefängnis schwer gefoltert. Mir kann jederzeit dasselbe widerfahren.«
Das allgegenwärtige Risiko ist in seinem Leben wie ein Grundrauschen, das ihn nicht davon abhält, zu tun, was er für nötig hält. »Unter bestimmten Umständen hat man gar keine andere Wahl, als für grundlegende Werte zu kämpfen«, sagt er. »Jemand muss sich dafür einsetzen, dass die Menschenrechte in Äthiopien künftig respektiert werden. Niemand will diesen Job machen, aber irgendjemand muss ihn übernehmen.« Dan und die übrigen Mitglieder des Äthiopischen Menschenrechtsrats haben sich dafür entschieden, »egal, wie hoch der Preis ist«. Das können Haftstrafen oder Misshandlungen sein, vielleicht auch der Verlust des Lebens. Dans Erklärung für seine Entscheidung klingt angesichts der Risiken überraschend schlicht: »Ich möchte, dass mein Heimatland für alle Menschen ein besserer Ort wird.«
Dafür setzt sich der Jurist seit 2005 ein. Auslöser war ein Bericht über Menschenrechtsverletzungen der Regierung bei den schweren Unruhen nach den Parlamentswahlen im Mai 2005. Bei Demonstrationen gegen die formal demokratische, faktisch aber autoritäre Regierung hatten Polizeikräfte Anfang Juni 2005 mindestens 36 Menschen getötet und Hunderte verletzt. Tausende vorwiegend junge Demonstrierende waren in Lagern abseits der Hauptstadt Addis Abeba eingesperrt worden. Bei einem Marsch durch die Stadt bekam Dan den Bericht in die Hand gedrückt, der das Vorgehen der Regierung schonungslos kritisierte. »Ich war wie elektrisiert«, erinnert er sich. »Ich habe mich gefragt: Wer sind diese Leute, die die Regierung so mutig kritisieren? Ich wollte sie kennenlernen und mich ihnen anschließen.«
Verfasst hatte den Bericht der Äthiopische Menschenrechtsrat EHRCO, der zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre existierte. Gegründet wurde die Organisation im Oktober 1991 von Mesfin Woldemariam, einem damals 61-jährigen Professor der Geografie, und 31 anderen. Im Mai desselben Jahres hatte die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) zusammen mit der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF) den langjährigen Militärdiktator Mengistu Haile Mariam gestürzt. Als die siegreichen Rebellen nach Jahren des Krieges in die Hauptstadt Addis Abeba einmarschierten, hatte das Land noch keinerlei Erfahrung mit Demokratie, dafür umso mehr mit brutalen Diktaturen und blutiger Repression gegen die Bevölkerung. »Nach Mengistus Sturz waren alle voller Hoffnung, dass Menschenrechte von nun an gewahrt würden, dass Äthiopien demokratisch und ein Rechtsstaat würde«, erinnert sich Dan.
Allerdings kamen die neuen Macht haber gerade erst aus einem jahrelangen Krieg. »Sie kannten nur Kugeln und Granaten. Und jetzt übernahmen sie die
wichtigsten Schaltstellen der Macht.« Mesfin Woldemariam und einige Kol leg_in nen von der Universität gründeten den Äthiopischen Menschenrechtsrat, um die noch junge Regierung beim Aufbau staatlicher Institutionen zu beraten und dafür zu sorgen, dass die Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und die Demokratisierung nicht ins Hintertreffen gerieten. Doch die Regierung reagierte sofort mit Repressionen: Die Mitglieder des Menschenrechtsrats verloren ihre Stellen an der Universität, wurden eingeschüchtert und bedroht.
Anfängliche Verbesserungen unter Abiy
Anfangs hatte die Organisation kaum genug Geld, um auch nur das Nötigste anzuschaffen, Stühle und Tische für Büros zum Beispiel. Alle Mitglieder mussten ehrenamtlich arbeiten, da es an finanziellen Mitteln mangelte. Mit der Zeit wurde der EHRCO bekannter, erhielt Unterstützung von internationalen Partner_innen, konnte bescheidene Gehälter zahlen und weitere Büros in verschiedenen Regionen des Landes eröffnen. Doch 2009 setzte die Regierung genau da an, um ihren Gegner zu treffen: Ein Gesetz schränkte die Menge ausländischen Geldes für zivilgesellschaftliche Organisationen deutlich ein. Sie mussten nun 90 Prozent ihrer Einnahmen aus lokalen Quellen beziehen. Die Regierung fror das Vermögen des EHRCO ein, die Organisation verlor den Großteil ihrer Einnahmequellen und musste acht ihrer elf Büros schließen.
Im Februar 2018 schien sich die Menschenrechtslage in dem ostafrikanischen Land mit seinen 105 Millionen Einwohner_innen zunächst zu verbessern: Nach jahrelangen Demonstrationen gegen die Regierung trat Ministerpräsident Hailemariam Desalegn von der seit Jahren regierenden Koalition Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF) überraschend zurück. Neuer Regierungschef wurde Abiy Ahmed, der zunächst als Reformer begrüßt wurde und seine Amtszeit mit Neuerungen begann: Er hob den Ausnahmezustand auf, erlaubte verbotene Medien und Parteien, kündigte freie Wahlen an, ließ Tausende politische Gefangene frei, ging gegen Korruption vor und vergrößerte den Einfluss von Frauen in Politik und Gesellschaft. Außerdem schloss er im Juli 2018 einen Friedensvertrag mit dem benachbarten Eri trea, für den er ein Jahr später mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Unter Abiy habe sich die Menschenrechtslage zunächst in mancherlei Hinsicht verbessert, erkennt Dan Yirga Haile an. Das betraf auch den Menschenrechtsrat: Abiy erfüllte 2018 die schriftliche Bitte des EHRCO, das eingefrorene Geld freizugeben. Die Organisation konnte wieder mehr regionale Büros eröffnen und ihr Angebot erweitern: Derzeit überwachen 32 hauptamtliche und viele ehrenamtliche Aktivist_innen die Einhaltung der Menschenrechte und berichten, wenn diese verletzt werden. Sie setzen sich für benachteiligte Gruppen ein, leisten unentgeltlich Rechtsbeistand und informieren die Bevölkerung in Workshops über ihre Rechte.
Doch die Hoffnung nach Abiys Machtantritt habe sich nicht erfüllt, berichtet Dan. Im Gegenteil: Die Menschenrechtslage verschlechterte sich bald wieder. Im November 2020 wurde aus einer lange schwelenden politischen Krise ein Krieg in der Region Tigray im Norden des Landes. Schnell griffen die Kämpfe auf die benachbarten Regionen Afar und Amhara über. Der Äthiopische Menschenrechtsrat, Amnesty International, die UNO und andere Organisationen werfen allen Konfliktparteien schwere Menschenrechtsverletzungen vor. Seit Beginn der Kämpfe wurden Tausende Menschen getötet und mehr als zwei Millionen in die Flucht getrieben. Laut dem Welternährungsprogramm WFP sind in Tigray und den Nachbarregionen mehrere Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen. Die UNO kritisiert, die äthiopische Regierung habe Hilfslieferungen nach Tigray monatelang blockiert. »Die Situation der Binnenvertriebenen ist katastrophal«, bestätigt Dan. Grundlegende Menschenrechte wie Meinungsund Bewegungsfreiheit, das Recht auf Eigentum und das Recht auf Leben würden verletzt. Es hätten sich ethnische Milizen gebildet, die gegen Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen vorgingen, teilweise aufseiten der Regierung. Immer wieder fordert der Menschenrechtsrat die Regierung auf, die Bevölkerung zu schützen und das Recht auf Leben zu garantieren –
Haben schon einige Krisen überwunden. Mitarbeitende des EHRCO im Büro in Addis Abeba. Der Bürgerkrieg hat ihre Arbeit schwieriger und gefährlicher gemacht. EHRCO-Mitarbeitende in Addis Abeba.
Dan Yirga Haile, EHRCO
ohne Ansehen der ethnischen Zugehörigkeit. Er sei entsetzt angesichts dessen, was derzeit in Äthiopien passiere, sagt Dan.
Der Krieg hat die Arbeit der Menschenrechtsaktivist_innen schwieriger und gefährlicher gemacht. »Es ist nicht einfach, an die Orte zu gelangen, an denen die Verbrechen geschehen, und dort zu ermitteln«, sagt Dan. »Wir fürchten, bei unseren Untersuchungen ebenfalls getötet zu werden.« Auch die Veröffentlichung von Berichten kann Repressionen nach sich ziehen, von Inhaftierung bis hin zu Mord. Im November 2021 verhängte die Regierung den Ausnahmezustand, den sie erst Mitte Februar 2022 aufhob. Das Notstandsgesetz erlaubt den Behörden, Menschen ohne Gerichtsentscheid festzunehmen und Medien, nichtstaatliche Organisationen sowie lokale Verwaltungen aufzulösen. Nach Angaben des Komitees zum Schutz von Journalisten (CPJ) wurden auf dieser Grundlage von November bis Mitte Dezember 2021 mindestens 14 Journalist_innen inhaftiert.
Nicht nur die Medien, sondern auch für die Mitglieder des EHRCO ist eine Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen wegen des Krieges nur schwer und unter großen Gefahren möglich. Viele mutmaßliche Tatorte seien kaum zugänglich, die Infrastruktur sei zerstört, erklärt Dan. Und in vielen Gegenden werde weiterhin gekämpft. »Oft ist es so, dass die Menschen fliehen. Unsere Ermitt ler_in nen bewegen sich in die Gegenrichtung, in die Gefahrenzone hinein.« In Tigray und Amhara seien die Kommunikationsnetze lange Zeit abgeschaltet gewesen, zum Teil sei dies noch immer der Fall. Dies bedeute ein zusätzliches Sicherheitsrisiko für jene, die sich auf den Weg dorthin machen.
Dennoch schafft es der EHRCO immer wieder, nach mutmaßlichen Menschenrechtsverbrechen Untersuchungen anzustellen, beispielsweise nach dem Massaker von Mai-Kadra, einem Ort im Südwesten Tigrays. In der Nacht des 9. November 2021 wurden dort mehr als 1.200 Menschen getötet, mit Äxten, Macheten, Messern oder durch Kugeln. »Es war ein furchtbares Massaker«, sagt Dan. »Bei diesen Zahlen geht es schließlich nicht um reine Mathematik, um Bananen oder Orangen. Wir sprechen über Menschen, die wie du oder ich Hoffnungen und Träume hatten und von einem Moment auf den anderen getötet wurden.« Die Täter seien junge Menschen mit Verbindung zur TPLF gewesen, sagt Dan, doch sei auch die Regierung mitverantwortlich: »Denn es ist die Aufgabe des Staates, die Bevölkerung zu schützen.« Sowohl die Täter als auch die Regierung müssten zur Rechenschaft gezogen werden, fordert der Menschenrechtsaktivist.
Erfolge und Ermutigung
Trotz aller Schwierigkeiten hat der Äthiopische Menschenrechtsrat im Lauf der Jahre immer wieder Erfolge erzielt: indem er denen eine Stimme gab, die sonst nicht gehört werden, oder indem er Menschen mit unentgeltlichem juristischem Beistand zu ihrem Recht verhalf und beispielsweise eine Vertreibung von ihrem Land verhinderte. Dass die Organisation nun den Menschenrechtspreis von Amnesty International in Deutschland erhält, empfindet Dan Yirga Haile nicht nur als große Ehre und Auszeichnung, sondern auch als Ermutigung, mit der Arbeit weiterzumachen.
Menschenrechtliches Engagement in Äthiopien sei nichts, was sich zwischen 9 und 17 Uhr erledigen lasse, es bestimme das ganze Leben, sagt Dan. »Ich versage mir fast alle Vergnügungen. Zum einen, weil wir uns nicht den geringsten Fehler erlauben dürfen. Die Regierung würde das sofort nutzen, um unserem Ruf zu schaden und uns zu verunglimpfen.« Zum anderen, weil jeder noch so harmlos wirkende Ausflug Risiken birgt: Wo viele Menschen sind, könnten potenzielle Auftragsmörder_innen ihren Job viel einfacher ausführen und ein Verbrechen wie einen Unfall aussehen lassen.
Dan beklagt sich nicht darüber, dass ihn sein Einsatz für die Menschenrechte zu einem geradezu asketischen Leben zwingt, in dem er ständig auf der Hut sein muss. Auch finanziell könnte es ihm als Anwalt deutlich besser gehen. »Aber ich wüsste nichts, was mich mehr befriedigen würde als das, was ich tue«, versichert er. »Wir können mit unserer Arbeit Leben verändern, das ist mir jeden Einsatz wert.« ◆
Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: