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Bosnien-Herzegowina: Diskriminierendes Wahlrecht

An politischer Werbung kommt niemand vorbei: Wahkampf in Sarajevo, September 2022.

Ethno-Proporz verhindert Gleichberechtigung

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Bosnien-Herzegowina hat das ungerechteste Wahlrecht Europas. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits mehrfach Änderungen gefordert. Doch noch immer müssen Menschen für ihre politische Gleichstellung kämpfen. Von Sead Husic, Sarajevo (Text und Fotos)

Die Reifen quietschen, als das bald 35 Jahre alte Auto eine weitere Serpentine nimmt. Hinter dem Steuer sitzt Nermin Avdičević. Der 33-Jährige ist Nachrichtenredakteur bei der Radiostation Glas Drine (Die Stimme der Drina). Um seinen Arbeitsplatz in Sapna zu erreichen, fährt er über die schmale Straße, die von seinem Dorf Sniježnica im Norden Bosniens über eine dicht bewaldete Bergkette führt. »Wir sind nur ein kleiner Regionalsender, und unser Programm besteht vor allem aus Musik«, erzählt er. »Bosnische Schlager, die bei Serben, Kroaten und Bosniaken gleichermaßen beliebt sind. Deshalb haben wir auch eine sehr gemischte Hörerschaft. Im Alltag leben und arbeiten die verschiedenen Bevölkerungsgruppen ganz normal miteinander. Anders geht es auch nicht.« Avdičević parkt vor dem Sender, steigt aus dem Auto und betritt das Gebäude. Ein schmaler Flur führt zu seinem Büro. Auf dem Tisch stapeln sich verschiedene Zeitungen. »Wenn man die Presse liest, dann entsteht der Eindruck, man könne nicht einmal mehr vor die Tür treten, weil jeden Moment ein Krieg drohe«, sagt er und lächelt. Auf den Titelseiten vom 3. Oktober 2022 steht: »Schmidt ändert Wahlrecht kurz nach Ende der Abstimmung.«

Avdičević setzt sich und verharrt für einige Sekunden nachdenklich. »In keinem anderen Land der Welt ändert man am Wahltag die Abstimmungsrechte, das ist absurd. Aber vielleicht ist dieses Land auch nur ein Spielfeld für ganz andere Dinge, die hier vor sich gehen«, sagt er über die Entscheidung von Christian Schmidt, den Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft für Bosnien-Herzegowina, der mit immensen Machtbefugnissen ausgestattet ist.

Was in Sapna für ungläubiges Staunen sorgte, löste in der 150 Kilometer entfernten Hauptstadt Sarajevo ein wahres Beben aus. Schon seit vielen Jahren sorgt das Wahlrecht immer wieder für politische Krisen und ständige Auseinandersetzungen zwischen ethno-nationalistischen und bürgerlichen Parteien, die völlig unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft Bosnien-Herzegowinas haben, das sich 1991 von Jugoslawien lossagte und derzeit 3,5 Millionen Einwoh ne r*in nen hat.

Kein Platz für Minderheiten

Zu den Vertretern der bürgerlichen Parteien zählt Jakob Finci. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Sarajevo schrieb gemeinsam mit seinem Freund, dem Roma Dervo Sejdić, im Jahr 2009 Rechtsgeschichte, als er seinen Staat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen Diskriminierung von Minderheiten verklagte und gewann. Das Gericht urteilte, dass die Staatsverfassung Bestimmungen enthalte, die Jüdinnen und Juden, Rom*nja und andere Minderheiten diskriminierten. Jüdinnen und Juden sowie Rom*nja könnten beispielsweise nicht für das Staatspräsident*innenamt kandidieren, weil das Dreiergremium laut Verfassung aus einer*m Bosniak*in, einer*m Serb*in und einer*m Kroat*in bestehen muss.

Diese Bestimmungen sind das Ergebnis des Krieges von 1992 bis 1995. Damals hatte der Nachbarstaat Serbien unter Führung von Slobodan Milošević Bosnien angegriffen, um rein serbische Gebiete zu schaffen, diese an Serbien anzuschließen und damit ein »Großserbien« zu schaffen. Auch der Nachbar Kroatien unter Franjo Tudjman verfolgte eine Großmachtpolitik. Bosnien sollte zwischen Serbien und Kroatien aufgeteilt werden, die muslimischen Bosniak*innen sollten verschwinden. Der Krieg führte zu 100.000 Toten, der Belagerung Sarajevos und dem Völkermord von Srebrenica (siehe Seiten 56/57). Er endete mit einem Abkommen, das unter Vermittlung der USA in Dayton geschlossen wurde. Seit 27 Jah-

»Die Nationalisten haben wieder gewonnen.«

Jakob Finci

ren herrscht in Bosnien-Herzegowina nun ein fragiler Frieden, der auf einem ausgeklügelten politischen System beruht, in dem sich die drei größten Bevölkerungsgruppen die Macht teilen. Für Jüdinnen und Juden, Rom*nja und andere Minderheiten ist da kaum Platz.

Finci sitzt in seinem Büro in der jüdischen Synagoge Sarajevos. Der gepflegte, weltgewandte Mann macht trotz seiner 79 Jahre einen vitalen Eindruck. »Die Wahlen sind vorbei, und viel hat sich nicht verändert. Denn die Nationalisten haben im Großen und Ganzen wieder gewonnen«, sagt er nüchtern über die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die gerade abgehalten wurden. Übersteigerter Nationalismus ist Fincis Lebensthema. Schon seine Geburt stand unter dem Zeichen der Verfolgung: Er wurde in einem italienischen Konzentrationslager auf der Insel Rab geboren, die heute zu Kroatien gehört. »Es war nur glücklichen Umständen zuzuschreiben, dass wir mit dem Leben davonkamen. Als der Zweite Weltkrieg vorbei war, entschied meine Mutter, dass wir nach Sarajevo zurückkehren«, sagt Finci.

Nach dem Krieg entstand der sozialistische Staat Jugoslawien, zu dem auch Bosnien-Herzegowina gehörte. Jakob Finci studierte Jura mit Schwerpunkt internationales Handelsrecht und arbeitete für den jugoslawischen Staat unter anderem in Äthiopien und Kenia. Als 1984 die Olympischen Winterspiele in Sarajevo stattfanden, gehörte er zu den Mitorganisator*innen. »Es waren die guten Jahre«, sagt Finci.

Als die serbischen Truppen Sarajevo belagerten, beschloss er, in der Stadt zu bleiben, unterstützte die jüdische Hilfs organisation La Benovelencija und verhalf vielen Menschen zur Flucht vor dem täglichen Beschuss. Den Dayton-Vertrag, der die politische Macht zwischen den verfeindeten Bevölkerungsgruppen aufteilte, sieht er kritisch: »Ich hatte die Gelegenheit, mit dem Friedensvermittler Richard Holbrooke zu sprechen, und sagte zu ihm: ›Wie kannst du mich von einer Kandidatur für das Präsidentenamt ausschließen?‹ Er antwortete, dass sich dies natürlich nicht gegen mich richte, doch müsse zunächst Frieden zwischen den drei großen Gruppen geschaffen werden, und das gehe eben nicht anders.«

Auch 27 Jahre später haben es die Parteien der verschiedenen Bevölkerungsgruppen immer noch nicht geschafft, einen Kompromiss zu finden, der dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gerecht wird. »Alle führenden Politiker sagen, dass sie unser Land in die Europäische Union führen wollen. Aber mit dieser diskriminierenden Verfassung ist das nicht möglich«, meint Finci.

»Zehntausende wollen nicht in eine ethnische Schublade.«

Azra Zornić

Wütend: Nermin Avdičević.

Enttäuschte Hoffnungen

Dieser Ansicht ist auch Azra Zornić. Die 65-Jährige zog vor acht Jahren vor den EGMR, weil sie sich weder als Serbin, Bosniakin noch Kroatin versteht, sondern einfach Bosnierin sein will. Als solche darf sie jedoch – wie Finci – weder für das Staatspräsident*innenamt kandidieren noch für das Haus der Völker, eine der beiden Parlamentskammern der Föderation Bosnien-Herzegowina. Auch Zornić

Kämpferisch: Jakob Finci. Kritisch: Nedim Ademović.

gewann ihre Klage. Laut EGMR muss die bosnische Verfassung geändert werden, damit Menschen, die eine ethnische Zuordnung verweigern, endlich den drei dominierenden Bevölkerungsgruppen gleichgestellt werden.

Mit Zornić ist nur ein Telefongespräch möglich, ihre Stimme klingt ziemlich kampfeslustig: »Wir leben in einem Land, das von den ethno-nationalistischen Parteien bestimmt wird. Es gibt aber Zehntausende Bosnier und Bosnierinnen, die sich nicht in eine dieser ethnischen Schubladen stecken lassen wollen. Und deswegen bleibt ihnen nicht nur das passive Wahlrecht versagt, sondern sie erhalten auch keine Chance auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungswesen. Denn das gesamte System wird von den drei Ethnien beherrscht. Zudem mischen sich unsere Nachbarstaaten Serbien und Kroatien ständig ein und heizen den Nationalis mus der Volksgruppen, auf die sie Anspruch erheben, immer wieder an.«

Die Hoffnung auf die internationalen Vermittler der EU oder der USA, die in den vergangenen Jahren immer wieder eine Lösung finden wollten, sei enttäuscht worden, meint Zornić. Meist versuchten diese, eine Einigung mit den ethno-nationalen Führer*innen zu erzielen, die das Land nicht voranbrächten.

Auch die Wahlrechtsänderung durch den Hohen Repräsentanten in der Wahlnacht des 2. Oktober bewerten viele Verfassungsrechtler*innen und Politolog*innen skeptisch. Die weltweit einzigartige Institution wurde nach dem Krieg 1995 von der internationalen Staatengemeinschaft geschaffen, um den Friedensvertrag zwischen Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina zu überwachen. Der Hohe Repräsentant verfügt über umfangreiche Vollmachten, kann Gesetze erlassen und Politiker*innen aus Ämtern entfernen. Er ist die letzte Instanz bei Konflikten, zum Beispiel wenn es um die Frage geht, ob sich alle Seiten an den Vertrag von Dayton halten. Seit 2021 bekleidet der CSU-Politiker Christian Schmidt dieses Amt. Schmidt änderte nun in einem Landesteil, der Föderation BosnienHerzegowina, unter anderem die Zusammensetzung des Hauses der Völker und erhöhte die Zahl der Delegierten aus jeder der drei Bevölkerungsgruppen von je 17 auf 23.

Alle singen dieselben Lieder

Der Hohe Repräsentant habe damit die Stellung der ethno-nationalen Parteien weiter gestärkt, meint Nedim Ademović, ein bekannter Verfassungsrechtler. Der 50-Jährige sitzt in seinem repräsentativen Büro, das gegenüber der bosnischen Zentralbank liegt. Von seinem Fenster im vierten Stock blickt man auf die breite »Straße des Marschall Tito«, in der immer noch Wahlplakate an den Laternen hängen. »Der Zeitpunkt der Wahlrechtsänderung ist von Herrn Schmidt denkbar schlecht gewählt worden und sendet ein fatales Signal an die Menschen im Land. Vor allem aber ist die Entscheidung rechtlich problematisch. Eigentlich sollte sich die Politik mit den Entscheidungen des EGMR befassen, um endlich gleiche Rechte für alle Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Es muss sichergestellt werden, dass alle Bürgerinnen und Bürger bei der Bewerbung um öffentliche Stellen fair und gleich behandelt werden, dass sie individuellen Schutz genießen und dass es dabei transparent zugeht. Das wären konkrete Schritte, um die Verhältnisse zu verbessern. Stattdessen befasst man sich nach wie vor mit ethnischen Proporzsystemen, die das Land weiter lähmen«, sagt Ademović. Das liege vor allem an der schon immer falschen Einschätzung, es gebe in Bosnien nur Nationalist*innen und keine ausreichende Mehrheit für einen Bürgerstaat nach europäischem Vorbild.

In den Buchläden Sarajevos ist derzeit die Biografie von Zdravko Grebo ein Bestseller. Der bosnische Juraprofessor und Intellektuelle (1947–2019) setzte sich bereits in Jugoslawien für einen demokratischen Bürgerstaat ein und wurde deshalb von der Kommunistischen Partei geächtet. Während des Krieges kämpfte er in Sarajevo für den Erhalt einer multikulturellen Gesellschaft und gegen Nationalismus. »Zur Buchpremiere vor wenigen Tagen kamen bekannte Intellektuelle und Gleichgesinnte aus Kroatien, Serbien und Montenegro, um diesen Mann und seine Idee zu ehren«, berichtet eine Buchhändlerin, die namentlich nicht genannt werden möchte. »Das zeigt, dass die Idee von Bosnien als Land, in dem alle Menschen friedlich zusammenleben können, gleich welcher Religion oder Kultur sie angehören, immer noch existiert«, sagt sie.

Der Radioredakteur Nermin Avdičević sieht das ähnlich: »Ich weiß, dass es auf allen Seiten Menschen gibt, die in einem normalen Land leben wollen, in einem Land, in dem keiner ständig erklären muss, wer oder was er ist, in einem Land, in dem es nur darum geht, was du kannst.« Und er weist auf einen neuen Song hin, der just in dem Moment im Programm läuft: »Diese Liebesschnulze mag jeder, ganz gleich, ob Bosniake, Serbe oder Kroate. Wahrscheinlich singen gerade alle mit.« ◆

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