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Dann eben digitalAmnesty im Lockdown
Dann eben digital
Covid-19 hat Auswirkungen auf die Arbeit von Amnesty International in aller Welt. Welche? Amnesty-Mitarbeiter aus den USA, Südafrika, Indien und Brasilien berichten.
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Konzentration auf Bildungsarbeit Gestärkter Sinn für Solidarität
Bevor die antirassistischen Proteste begannen, standen in den USA der Wahlkampf und die Pandemie im Vordergrund. Welchen Fokus die USSektion von Amnesty in dieser Zeit hatte, erzählt Daniel Balson (35).
Seit drei Jahren arbeite ich für Amnesty International in Wa - shington, dem politischen Zentrum des Landes. Meine Aufgabe besteht darin, auf politisch Verantwortliche einzuwirken, um sicherzustellen, dass Menschenrechte nicht vernachlässigt werden. Diese Arbeit umfasst viele persönliche Treffen, in denen ich die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger davon überzeuge, Seite an Seite mit Amnesty Stellung zu beziehen.
Mein Arbeitsalltag gestaltet sich derzeit anders als sonst. Ich stehe zwar immer noch früh auf und informiere mich über das politische Geschehen weltweit. Doch anstatt auf persönliche Treffen im Regierungsviertel Capitol Hill bereite ich mich nun auf Videokonferenzen vor. Einerseits ist es erfreulich, dass ich meine Arbeit von zu Hause aus fortsetzen kann. Da ich Beziehungen zu vielen Politikerinnen und Politikern aufgebaut habe, kann ich weiterhin den Kampf für die Menschenrechte auf die politische Agenda setzen. Andererseits galt die Aufmerksamkeit meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner vor dem Tod von George Floyd vor allem der Corona-Krise.
Hinzu kommt, dass in diesem Jahr die Präsidentschaftswahl ansteht. Alles, was damit zu tun hat, wird verfolgt und dominiert die Nachrichten. Viele Menschen sorgen sich um ihre Gesundheit und achten darauf, wie die Präsidentschaftskandidaten mit der Corona-Krise umgehen. Damit die Menschenrechte Teil der Corona-Diskussion sind und bleiben, konzentrieren wir uns auf die Bildungsarbeit. Wir informieren sowohl die Wählerschaft als auch die Kandidaten über die wichtigsten Menschenrechtsthemen. Da der zukünftige US-Präsident die Menschenrechtslage beeinflussen kann, ist es uns wichtig, dass die Wählerinnen und Wähler dies bei ihrer Entscheidung berücksichtigen.
Bis zur Wahl im November haben wir noch Zeit. In der Zwischenzeit werde ich weiterhin vom Homeoffice aus arbeiten. Die Pandemie fordert mich heraus, kreativer und flexibler zu denken, und ich genieße es, mehr Zeit mit meiner dreijährigen Tochter verbringen zu können. Doch ich freue mich schon auf die Zeit, wenn ich wieder vor Ort in Capitol Hill sein kann.
Foto: Amnesty USA Die Auswirkungen der Corona-Krise sind weltweit unterschiedlich. Während die einen wieder in den Alltag zurückkehren wollen, sorgen sich andere um ihre Gesundheit. Das gilt auch für Südafrika, berichtet Shenilla Mohamed (57), Direktorin der dortigen Amnesty-Sektion.
Wie viele andere Menschen arbeite ich seit dem öffentlichen Lockdown im Homeoffice. Das erschwert meine Arbeit, denn eine Organisation wie Amnesty dokumentiert Menschenrechtsverletzungen vor Ort, um zuverlässige Berichte zu erstellen. Die besonderen Umstände haben aber auch ihre positiven Seiten, denn sie ermöglichen uns einen anderen Blick auf unsere Arbeit. Die Pandemie fordert uns heraus, vorhandene Kanäle noch effektiver zu nutzen und neue Wege einzuschlagen.
Da wir jetzt nicht mehr den Dialog mit unseren Unterstützerinnen und Unterstützern auf der Straße suchen können, sind wir vermehrt online aktiv. Unsere zehn Hochschulgruppen haben besonders engagiert reagiert. Wir veranstalten Webinare und digitale Aktionen in den sozialen Medien, um unsere Community weiterhin zu erreichen. Unsere Online-Aktion »Turn on the tap« hat sehr großen Anklang gefunden. Sie hat darauf aufmerksam gemacht, dass ein Drittel der südafrikanischen Bevölkerung keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser hat und es überall an sanitärer Infrastruktur fehlt.
Covid-19 hat viele Probleme verschlimmert, die bereits zuvor existierten. Unsere Aufgabe ist es auch in diesen Zeiten, als Watchdog für Menschenrechte zu wirken. Wenn die Regierung also angibt, sie habe 200.000 Wasserbehälter in ärmere Gegenden geliefert, dann überprüfen wir das genau und üben auf diese Weise Druck auf die Behörden aus. Dieser Aspekt unserer Arbeit hat sich durch die Pandemie nicht geändert.
Nach Corona möchte ich öfter von zu Hause aus arbeiten. Ich weiß jetzt, dass man auch dort produktiv sein kann. Außerdem gibt uns das die Möglichkeit, mehr Zeit mit unseren Liebsten zu verbringen und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Seit meine Kolleginnen, Kollegen und ich uns nicht mehr im Büro sehen, nehmen wir uns mehr Zeit, um über die Geschehnisse der Woche zu reflektieren und nach dem Befinden der anderen zu fragen. Ich würde mir wünschen, dass uns der gestärkte Sinn für Solidarität erhalten bleibt und wir als bessere Gesellschaft aus der Krise hervorgehen.
Trotz Ausgangssperre kämpfen Von der Regierung im Stich gelassen
In Indien hat sich die Menschenrechtslage durch Corona verschlechtert. Schon vor der Pandemie ging die Regierung gegen menschenrechtliches Engagement vor. Wie Amnesty trotz erschwerter Bedingungen weitermacht, erzählt Abhirr Velandy Palat (37). Was die Zahl der Corona-Fälle betrifft, liegt Brasilien weltweit an zweiter Stelle, hinter den USA. Doch anstatt Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus zu ergreifen, verharmlost der Präsident die Pandemie, beobachtet Thiago Camara (35), Amnesty-Pressesprecher in Brasilien.
Als ich im November 2014 anfing, bei Amnesty Indien zu arbeiten, wusste ich, dass dies mit Herausforderungen verbunden sein würde. Denn die indische Regierung geht schon seit vielen Jahren mit Einschüchterungen und Schikanen gegen Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler vor. Als politisch unabhängige Organisation kritisieren wir die Regierung, wenn sie Menschenrechte missachtet und nicht ausreichend schützt. Deshalb sind auch wir zur Zielscheibe des Staates geworden. Nachdem die Behörden im Dezember 2018 unsere Bankkonten eingefroren haben, mussten wir die Hälfte unseres Personals entlassen.
Leider sind die Herausforderungen seit Beginn der Gesundheitskrise noch größer geworden, vor allem was unsere Finanzierung angeht. Bisher haben wir einen Großteil unserer Spenden dadurch erhalten, dass wir Menschen auf der Straße angesprochen haben. Wegen der landesweiten Ausgangssperre können wir jedoch auf diesem Weg keine Unterstützerinnen und Unterstützer mehr gewinnen.
Somit sind wir digitaler geworden: So veranstalten wir zum Beispiel Instagram-Lives, zu denen wir Expertinnen und Experten einladen. Interessierte können die Gespräche mitverfolgen und Fragen stellen. Die Online-Netzwerke ermöglichen uns außerdem eine Vernetzung mit Menschen überall auf der Welt. Vor Kurzem haben sich zwei deutsche Politiker zum Fall von Safoora Zargar geäußert. Sie wurde Anfang Mai festgenommen, als sie friedlich gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz (Citizen - ship Amendment Act – CAA) demonstrierte. Amnesty startete daraufhin eine Urgent Action für die im dritten Monat schwangere Aktivistin. Es sind Aktionen wie diese, die einen weltweiten Impuls auslösen können.
Als das diskriminierende Gesetz im Dezember 2019 verabschiedet wurde, gab es landesweit breite Proteste. Wegen der internationalen Berichterstattung geriet der Staat zunehmend unter Druck. Der Ausbruch der Pandemie kam der Regierung daher gerade recht: Sie rief den Lockdown aus, und seither sind alle Proteste verboten.
Kritisch ist die Situation für Millionen von Wanderarbeiterinnen und -arbeitern, die von der Regierung vernachlässigt werden. Weil sie durch die Ausgangssperre ihre Arbeit verloren und der Zugverkehr eingestellt wurde, mussten sie teilweise Hunderte von Kilometern zu Fuß in ihre Heimatorte zurücklaufen. Die Regierung hat keinen Plan, um bedrohte Menschen zu schützen. Nun stellt sich die Frage, wie wir wirksam dagegen protestieren können, denn die Menschenrechte gelten auch während einer Pandemie.
Foto: privat Schon wenige Wochen nach meinem ersten Arbeitstag bei Amnesty begann unsere Zeit im Homeoffice. Obwohl ich erst einige Monate dabei bin, habe ich schon viel erlebt. Wenn der Präsident des eigenen Landes täglich neue Wege sucht, um die Grenzen unserer Demokratie und unserer Menschenrechte auszutesten, dann haben wir als Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler einfach keine Pause.
Mit der Pandemie hat sich das leider nicht verbessert. Viele Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und zu sanitärer Infrastruktur. Die Krankenhäuser sind schon lange überfüllt, worunter vor allem die Marginalisierten und die Indigenen leiden. In der Pandemie verschlimmert sich, was schon seit geraumer Zeit zu beobachten war: Jair Bolsonaro und seine Regierung vertiefen bestehende Ungleichheiten und verletzen unsere Rechte, eines nach dem anderen. Derzeit betrifft das vor allem unser Recht auf Gesundheit. Mitten in der Krise stand Brasilien plötzlich ohne Gesundheitsminister da, angemessene Maßnahmen gegen das Virus gibt es immer noch nicht.
Das zeigt, mit welcher Sorglosigkeit Bolsonaro der Krise begegnet. Es scheint ihm gleichgültig zu sein, wie viele Menschen dem Virus zum Opfer fallen. Statt auf Expertinnen und Experten zu hören, verbreitet er falsche Informationen. Dabei sind gerade jetzt akkurate Informationen unentbehrlich, und die Menschen müssen sich auf Medien verlassen können, die die Angaben der Regierung überprüfen. Auch auf diesem Weg kann die Regierung zur Verantwortung gezogen werden.
Für meine Arbeit bei Amnesty gilt das auch. Wir kritisieren die politisch Verantwortlichen und üben Druck aus, wenn sie unsere Rechte missachten. Auch vom Homeoffice aus geben wir unser Bestes, um die Regierung an ihre Pflichten zu erinnern. Wir können zwar vorerst nicht auf die Straße, doch davon lassen wir uns nicht abhalten. Dank der sozialen Medien sind wir vernetzter denn je und nutzen das, um landesweit zu mobilisieren. Mit unserer neuen Kampagne »Nossas Vidas Importam« (»Unsere Leben zählen«) rufen wir zusammen mit 35 weiteren Organisationen die Regierung auf, für den Schutz aller Brasilianerinnen und Brasilianer zu sorgen und niemanden zurückzulassen.
Diese Zusammenarbeit und die solidarischen Reaktionen unserer Unterstützerinnen und Unterstützer geben mir Hoffnung, dass wir diese Krise überstehen werden. Wir befinden uns in einem entscheidenden Moment im Hinblick auf unsere Menschenrechte, und ich will mir nicht ausmalen, wie düster es ohne Organisationen wie Amnesty International aus - sähe.
Protokolle: Parastu Sherafatian