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Kolumbien: Die Toten von Siloé klagen an

Die Toten von Siloé klagen an

Die kolumbianische Stadt Cali war im Frühjahr 2021 das Zentrum anhaltender Proteste gegen die Regierung. In einem Stadtteil ging die Polizei besonders repressiv gegen Protestierende vor. Es gab Tote. Das hat nun ein Nachspiel. Von Knut Henkel

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Gegen das Vergessen: Studierende stellen die Tötung in Siloé nach, Cali, Mai 2021.

Foto: Luis Robayo/AFP/Getty Images

David Gómez läuft am Kreisverkehr La Glorieta de Siloé entlang. Einige Autos passieren den Kreisel, der mehrere Stadtteile der kolumbianischen Metropole Cali verbindet und von dem auch eine Straße ins Innere des Stadtteils Siloé führt. »Hier war eine Blockade und weiter unten auch. Dazwischen sammelten sich am späten Nachmittag des 3. Mai 2021 Tausende Menschen zu einer Protestkundgebung«, erzählt Gómez, ein kleiner, quirliger Mann mit Hut, und deutet auf den einige hundert Meter langen Straßenabschnitt. »Hier starben wenige Stunden später drei Jugendliche durch Polizeikugeln.«

Der 59-Jährige gehört zu einer Gruppe von Stadtteilaktivist*innen, die aufklären wollen, was damals passiert ist. Siloé, eingezwängt zwischen mehrspurigen Verbindungsstraßen und einer Bergkette, ist ein kleines Viertel im Westen von Cali. Die drittgrößte Stadt Kolumbiens war ab dem 28. April 2021, als ein nationaler Streik begann, das Epizentrum meist friedlicher und von Straßenblockaden begleiteter sozialer Proteste. Sie dauerten bis Mitte Juli und zählen damit zu den längsten in der kolumbianischen Geschichte. Anlass war eine Steuerreform der Regierung von Präsident Ivan Duque und dessen Blockade des Friedensprozesses zwischen dem Staat und der FARCGuerilla. Polizei, Armee und Paramilitärs schlugen die landesweiten Demonstrationen blutig nieder. Dabei wurden mehr als 80 Menschen getötet, mehr als 300 verschwanden nach ihrer Festnahme, es gab Dutzende von Vergewaltigungen, und mindestens 90 Personen erlitten schwere Augenverletzungen. »Mindestens elf Tote haben wir allein in Siloé dokumentiert«, sagt Dicter Zúñiga Pardo, der ebenfalls zu den Stadtteil aktivist*innen gehört. »Rund um die Glorieta de Siloé sah es aus wie auf einem Schlachtfeld«, erinnert sich der Rechts anwalt.

Stockende Ermittlungen

Das bestätigt auch der Amnesty-Bericht »Cali: Epizentrum der Repression«, in dem ein Kapitel der »Operación Siloé« vom 3. Mai gewidmet ist. Er belegt anhand von Zeug*innenaussagen und nach Auswertung Hunderter Videos, Fotos und Audioaufnahmen, dass das Vorgehen der Polizei gegen die friedlich Demonstrierenden einem Einsatz gegen bewaffnete Akteure glich: Aus zwei Hubschraubern, die über La Glorieta de Siloé kreisten, wurde gegen 21 Uhr mit Tränengasgranaten auf die Demonstration geschossen. transportierte, stellt fest: »Die Pandemie und der Protest haben die Menschen in Siloé enger zusammenrücken lassen. Hier sind Bildungseinrichtungen von unten und Kollektive entstanden. Wir treten für unsere Rechte, für Aufklärung und Erinnerung ein.«

Um die Kundgebung auseinanderzutreiben, kamen auch gepanzerte Polizeifahrzeuge zum Einsatz, aus denen mit Tränen- oder Reizgas sowie Blendmunition gefüllte Kartuschen verschossen wurden.

Unstrittig ist laut dem Amnesty-Bericht auch, dass die Polizei gezielt aus Gewehren der Marke Tavor TAR-21 schoss, Kaliber 5,56 mal 45 Millimeter. Kevin Agudelo, Hárold Rodríguez und José Ambuila seien so getötet worden, kritisiert Erika Guevara-Rosas, Amerika-Expertin von Amnesty International. Das bestätigte Jorge Iván Ospina, der Bürgermeister von Cali. Er räumte ein, dass die Polizei scharf geschossen habe. Der Fall müsse aufgeklärt werden, zur Not vor dem Internationalen Strafgerichtshof, sagte Ospina nach der blutigen Nacht von Siloé.

Doch die Ermittlungen gegen die dort eingesetzten Sicherheitskräfte stocken. Das kritisiert nicht nur Anwalt Pardo, sondern auch Natalia González, die Menschenrechtsbeauftragte der Stadtverwaltung von Cali. »Ballistische Tests der eingesetzten Waffen wurden zum Teil erst Monate später gemacht, internationale Ermittlungsstandards nicht eingehalten«, moniert sie. Die Stadtteilgruppe um Gómez und Pardo begann deshalb selbst, Spuren zu sichern. Dabei laufen viele Stränge im Museo Popular de Siloé zusammen, von Gómez vor mehr als 20 Jahren gegründet. Das Museum stellt Relikte der Proteste von 2021 aus: Helme mit dem Schriftzug »Primera Linea« (Erste Reihe), Taucherbrillen, blutige Kleidungstücke, Patronenhülsen und halb verbrannte Autoreifen. »Wir wollten daran erinnern, was hier geschehen ist. Wir haben mit den Angehörigen gesprochen und mehr über die Menschen erfahren, die am 3. Mai von der Polizei erschossen wurden«, erklärt Gómez.

Daraus entwickelten sich schnell neue Ideen. Nicht weit vom Museum entfernt entstand ein Wandbild zur Erinnerung an die Opfer der Proteste. Graffiti-Künstler sprühten Porträts in leuchtenden Farben auf eine lange Mauer, dazwischen in dicken Lettern die Worte »Würde schafft Erinnerung«. Ein weiteres Mahnmal steht direkt vor dem Museum. Auf einem hellblauen Ölfass ist der Schriftzug »Siloé widersteht – und Sie?« zu lesen. Das Fass wurde auf einen Stapel ausrangierter Stühle montiert, daneben steht eine Gruppe bunter Figuren aus Pappmaché.

Zu den Stadtteilaktivist*innen, die all das organisieren, gehört auch Francia Trujillo. Die Mutter dreier Kinder, die während der Proteste wochenlang auf der Straße war, mit Anwälten telefonierte, Essen kochte und immer wieder Verletzte

»Wir treten für unsere Rechte, für Aufklärung und Erinnerung ein.«

Francia Trujillo, Aktivistin

Das Tribunal Popular en Siloé

Da von der Justiz wenig zu erwarten ist, initiierte die Stadtteilgruppe das Tribunal Popular en Siloé – einen öffentlichen Prozess mit Beweisaufnahme, Zeug*innenvernehmung und Urteilsverkündung. »Wir wollen ein Zeichen setzen und den kolumbianischen Staat wegen seines brutalen Vorgehens gegen die eigene Bevölkerung an den Pranger stellen«, sagt Gómez. Der symbolische Prozess unter dem Motto »Wahrheit und Gerechtigkeit« soll dafür sorgen, dass über Kolumbien hi naus bekannt wird, was in Siloé zwischen April und Juli 2021 geschah. Der Auftakt des Tribunals war am 3. Mai 2022, dem Jahrestag des Todes der drei Jugendlichen aus Siloé.

Elf international bekannte Sozialaktivist*innen gehören dem Tribunal an, aus Europa kommen der portugiesische Rechtssoziologe Boaventura de Sousa Santos und die ehemalige Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel. Und es gibt fünf Schirmherren und -frauen, darunter der Erzbischof von Cali, Darío de Jesús Monsalve, und der kolumbianische Richter Iván Velásquez. Velásquez, der einst die UN-Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala leitete, kritisiert schon länger, dass die kolumbianische Justiz ihre Unabhängigkeit verliere, und fordert Reformen bei Polizei und Militär. Das Tribunal von Siloé bietet sich seiner Ansicht nach an, um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Genau das will auch die Gruppe um David Gómez erreichen. Sie hofft, dass das für den 10. Dezember anstehende Urteil des Tribunals von der kolumbianischen Politik zumindest zur Kenntnis genommen wird. »Dann wird eine neue Regierung im Amt sein. Auf die setze ich meine Hoffnungen«, meint Gómez. Mit dieser Hoffnung ist er nicht allein. ◆

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