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Menschenrechtsbildung: Auf der Suche nach der Jugend

Weiterbildung in der Natur: Der Pfad der Menschenrechte an der Korkenziehertrasse in Solingen.

Auf der Suche nach der Jugend

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In der Welt und vor Ort: Um engagierte Menschen für die Arbeit von Amnesty zu gewinnen, müssen sie zunächst einmal auf das Thema aufmerksam werden. Ein Beispiel dieser Bildungsarbeit ist der Menschenrechtspfad in Solingen. Von Nina Apin (Text) und Roland Geisheimer (Fotos)

Nass glänzend und schnurgerade liegt die Solinger Korkenziehertrasse im Regen –unterhalb rauscht der Straßenverkehr, auf die ehemalige Bahntrasse verirren sich an diesem grauen Tag nur wenige Fußgänger*innen und Radfahrer*innen. Bei schönem Wetter sehe das ganz anders aus, erzählt Daniela Tobias unter ihrer Regenkapuze: 2006 wurde die Strecke, die s-förmig durch die Stadt führt und nach 15 Kilometern in Wuppertal endet, im Rahmen des Strukturwandelprogramms »Regionale« im Bergischen Land für den nicht-motorisierten Verkehr umgebaut. »Seither hat der Solinger das Fahrradfahren entdeckt«, sagt Tobias, die selbst bevorzugt mit dem Rad unterwegs ist.

An den Wochenenden, wenn bei schönem Wetter die Menschen aus der Umgebung auf ihren E-Bikes, Hollandrädern oder Scootern durcheinanderflitzen, macht der eine oder die andere vielleicht am Menschenrechtspfad in der Nähe des Botanischen Gartens eine Pause. Auf knapp 200 Metern laden 13 mit auffälligen bunten Illustrationen versehene Stahltafeln dazu ein, stehen zu bleiben und die Kurztexte zu lesen: zur Arbeit von Amnesty International und zu den 30 Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. 2012, zum 40. Geburtstag der Solinger Amnesty-Gruppe, wurde der Menschenrechtspfad feierlich eingeweiht, mit viel Pathos, wie bei solchen Anlässen üblich. Der damalige konservative Oberbürgermeister Norbert Feith sprach über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, AltBundespräsident Walter Scheel ließ ein Grußwort in seine Heimatstadt übermitteln und prophezeite dem politischen Bildungsangebot in bester Stadtlage einen großen Erfolg. Bis zur Eröffnung hatte die Amnesty-Gruppe Solingen allerdings viel Nervenstärke und Beharrlichkeit gebraucht, wie sich Helmut Eckermann er-

»Unser Thema gehört in die Stadtmitte, unter die Leute.«

Helmut Eckermann, Amnesty-Aktivist

Die Gründungsgruppe des Solinger Pfades: Amnesty-Aktivist*innen Ursel Ullmann, Helmut Eckermann und Daniela Tobias (von links).

innert: »Die Stadt wollte unseren Pfad am liebsten irgendwo im Abseits haben«, erzählt der 72-Jährige und wirkt noch heute ehrlich empört. Eine stillgelegte Müllkippe habe man ihnen angeboten und einen Friedhof. »Aber unser Thema gehört doch in die Stadtmitte, unter die Leute!« 575 EMails, unzählige Telefongespräche und anderthalb Jahre dauerte es, bis die Aktivist*innen den Kampf gegen die Bürokratie und das politische Desinteresse gewonnen hatten und auf die Korkenziehertrasse durften – auch dank der guten Kontakte in die Lokalpolitik, die sie durch die Betreuung von Geflüchteten während der Balkankriege aufgebaut hatten.

Die direkte Nachbarschaft zum Schulzentrum Vogelsang, einem Komplex aus Realschule und Gymnasium, gehört zum Konzept. Der Pfad soll ein unkompliziertes Weiterbildungsangebot »für zwi schen durch« sein. Die fröhlichen, für Amnesty entworfenen Illustrationen der japanischen Künstlerin Yayo Kawamura sowie eine vereinfachte Textfassung der Menschenrechtsartikel sorgen für Zugänglichkeit, ebenso die aufwändige Gestaltung: Der knallige Farbdruck und die in Stahl geätzte Schrift wirken modern, jede Tafel wird von einer metallenen Bodenplatte mit dem Amnesty-Kerzenlogo flankiert, eine robuste Schicht schützt vor Graffiti. Aufgedruckte QR-Codes führen via Smart phone zu kleinen Audioclips, eingesprochen von Solinger Schüler*innen aus verschiedenen Herkunftsländern, die erzählen, was das jeweilige Menschenrecht mit (dabei seit 1993) und Bernhard Erkelenz (»fast Gründungsmitglied«). Mit der 45jährigen Daniela Tobias, die 2007 als Studentin mit einem Protestfilm gegen die anstehenden Olympischen Spiele in China dazugestoßen war, verliert die Gruppe ihr jüngstes aktives Mitglied: Als Vorsitzende der Bildungs- und Gedenkstätte Max-Leven-Zentrum widmet sie sich jetzt ganz der politischen Arbeit gegen Anti semitismus, unter anderem mit einer Ausstellung über den Solinger NS-Widerstand.

An engagierten Menschen fehlt es in Solingen eigentlich nicht: Das Entsetzen über den rassistischen Brandanschlag auf eine türkische Familie 1993 führte zu Ini tiativen wie dem Solinger Appell und dem Jugendstadtrat. Auch in der Flüchtlingsarbeit sind viele aktiv, bei der Bewegung »Seebrücke« oder dem Netzwerk »Solingen hilft«, das derzeit Spenden und Unterkünfte für Geflüchtete aus der Ukraine organisiert. Mit ihnen arbeitet die Amnesty-Gruppe immer wieder zusammen, aber zu einer dauerhaften Verstärkung und Verjüngung hat es bislang nicht gereicht – wohl auch, weil es in Solingen keine Universität gibt. »Sobald die jungen Leute das Abi in der Tasche haben, sind sie weg«, beobachtet Helmut Eckermann.

Hoffnung setzt die Gruppe nun auf Fridays For Future, deren Anhänger*innen in der Stadt ebenfalls sehr aktiv sind. Den jungen Leuten sei durchaus klar, wie eng Klimaschutz mit Menschenrechten zusammenhänge, es habe da zuletzt vielversprechende Kontakte gegeben, sagt Helmut Eckermann. »Wir müssen endlich ran an die Jugend!«, ruft Ursel Ullmann ungeduldig und lässt sich nur unwillig erklären, warum der gemeinsame Work shop, den man mit der Volkshochschule und Fridays For Future geplant hat, noch immer nicht zustande gekommen ist. Es stehen die Abschluss prüfungen an den Schulen an. Jetzt gilt es, die, die bleiben, an Amnesty zu binden – damit sie den Pfad und die Gruppe weiterentwickeln. ◆

ihrer eigenen (Flucht-)Geschichte zu tun hat. Daniela Tobias, von Beruf Grafik designerin, konzipierte ehrenamtlich die Gestaltung. Deren Umsetzung, erwähnt Helmut Eckermann, war nicht einmal teuer: Die rund 7.000 Euro wurden durch Spenden und Sponsorengelder eingeworben.

Amnesty-Nachwuchs ist erwünscht

Die Zusammenarbeit mit dem Schul zentrum, das sich ursprünglich zur Patenschaft für die 13 Tafeln verpflichtet hatte, schlief allerdings irgendwann ein: Griffen Schüler*innen anfangs sogar in Eigeninitiative zum Mikro, um einen Audioclip einzusprechen, fanden sich bald keine Freiwilligen mehr, um den Audioguide fertigzustellen, trotz des Angebots eines kostenlosen Sprechtrainings. Auch regelmäßige Führungen im Rahmen des Unterrichts oder als Teil von Wandertagen finden schon lange nicht mehr statt –es sei »unheimlich zäh«, die Schulgemeinde zur Beschäftigung mit dem Pfad zu animieren, der immerhin direkt vor dem Schultor liege, sagt Daniela Tobias.

Beim Treffen in einem Café im schmucklosen Stadtzentrum sprechen die Amnesty-Aktivist*innen über die Mühen, in Kontakt mit der jungen Generation zu kommen. Die Gruppe ist mit ihren Mitgliedern gealtert: Eckermann ist seit 1982 dabei und merkt, dass seine Energie in den vergangenen Jahren »merklich nachgelassen« hat. Ähnliches berichten seine Mitstreiter*innen Ursel Ullmann

Weitere Informationen: amnesty-solingen.de

UNERMÜDLICH OPTIMISTISCH

Zwischen Feminiziden und feministischem Frühling –Mexiko ist ein Land der Widersprüche. Edith Olivares Ferreto, Direktorin von Amnesty International, engagiert sich auch gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Von Anna Lena Glesinski und Johanna Wild

Lachend erscheint sie auf dem Bildschirm und entschuldigt sich für die Verspätung. Heiß sei es in Mexiko-Stadt, sagt sie, und fächelt sich mit den Händen Luft zu. Bei Edith Olivares Ferreto ist es zehn Uhr morgens. Sie kommt gerade aus einem Vorbereitungstermin für ein anstehendes Lobbygespräch zu einem Gesetz, über das bald im Parlament diskutiert werden soll. Im Anschluss an unser Gespräch steht sie der wohl bekanntesten mexikanischen Journalistin, Carmen Aristegui, Rede und Antwort.

Edith Olivares Ferreto ist Direktorin von Amnesty International Mexiko. Wir haben sie bereits in unterschiedlichen Situationen erlebt: in Gesprächen mit dem Auswärtigen Amt, als Gast einer Menschenrechtstagung oder als Expertin in einer von uns organisierten Veranstaltung. Angesichts der dramatischen Menschenrechtslage in Mexiko wirken ihr unermüdlicher Optimis mus und ihre Gelassenheit verblüffend.

Wenn die Soziologin Ferreto über die ausufernde Gewalt in Mexiko spricht, redet sie schnell und ohne Dramatisierung. Komplexe Zusammenhänge knapp und verständlich aufzuzeigen, gehört zu ihrem Tagesgeschäft: 100.000 Verschwundene, elf Frauenmorde pro Tag, schwerwiegende Defizite in der Strafverfolgung, nur zwei Prozent der Täter werden bestraft. In unserem Gespräch ist nichts von dem schnellen Takt zu spüren, den die Termine mit Regierungs-, Behörden- und Medienvertre ter*in nen vorgeben. Ferreto erzählt ausgelassen, wie sie als Jugendliche in ihrem Geburtsland Costa Rica ein von Amnesty organisiertes Musikfestival besuchte. Schon damals beeindruckte sie die Kraft der Menschenrechtsbewegung, die sie heute selbst verkörpert.

Seit Jahren ist der Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt Ferretos Arbeitsschwerpunkt und ihre Herzensangelegenheit: »Als ich vor 21 Jahren nach Mexiko kam, ein Land, in dem die Menschen für alles Mögliche auf die Straßen gehen, wunderte ich mich über die wenig ausgeprägten Frauenproteste. Aneinandergereiht streckten wir unsere Arme aus, um zu sehen, ob wir 100 Meter erreichen könnten«.

Heute organisieren sich Millionen von Frauen. Sie protestieren gemeinsam gegen die Gewalt und fordern effektive Schutzmaßnahmen. Und als wollte die Natur mitreden, öffnen die Jacaranda-Bäume in Mexiko-Stadt pünktlich zum Internationalen Frauentag am 8. März ihre lilafarbenen Blüten – es ist die Farbe des feministischen Protests. »Ich wirke wohl alt, wenn ich das sage. Aber niemals hätte ich mir erträumt, dass wir Frauen eine derartige Massenpräsenz in der Öffentlichkeit erreichen würden«, gibt Ferreto zu.

Wir wollen von ihr wissen, was die größte Stärke von Amnesty sei. Sie überlegt: »Wir sind eine sehr mächtige Bewegung. Und mit dieser Kraft müssen wir behutsam umgehen, denn sie kann auch überwältigend sein.« In der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen achtet sie darauf, den meist kleineren Partner*innen Gehör zu verschaffen: »Ich habe diesen Organisationen immer gesagt, ihr müsst entscheiden, wie ihr Amnesty nutzen wollt. Unser Ziel ist es nicht, die Dinge hier allein zu tun.«

Im Gespräch mit offiziellen Vertreter*innen ist ihre Strategie eine andere: »Auch die Behörden sind irritiert von unserer Größe. Sie glauben, dass wir Teil einer internationalen Institution mit verbindlichen Forderungen sind«. Und lachend fügt sie hinzu: »Bestreiten werde ich das nicht!« ◆

EU SCHÜTZT MENSCHENRECHTE ONLINE

Im April 2022 haben sich der Europäische Rat und das Europäische Parlament auf ein EU-Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) geeinigt. Es sieht erstmals grundsätzliche Verpflichtungen der digitalen Plattformbetreiber für ihre Angebote vor. Insbesondere sehr große Plattformen wie Facebook, Instagram oder YouTube müssen künftig die »systemischen Auswirkungen« ihrer Dienste auf Demokratien und Menschenrechte untersuchen und möglichen Schäden entgegenwirken. Außerdem erzwingt das bung oder die Möglichkeit, der Datenverarbeitung per Browsereinstellung grundsätzlich zuzustimmen oder sie abzulehnen, schafften es nicht in das Gesetz. Der DSA ist dennoch ein wichtiger Schritt hin zu einem Internet, in dem die Rechte auf Privatsphäre, Nichtdiskriminierung, Meinungs- und Informationsfreiheit besser geschützt werden. Die europäische Kommission und die Bundesregierung müssen das Gesetz konsequent umsetzen.

Gesetz mehr Transparenz: Politik, Wissenschaft und zivilgesellschaftliche Organisationen bekommen Einsicht in verwendete Daten. Auf Seiten der User*innen werden außerdem Autonomie und Datenschutz gestärkt. Werbung, die sich auf das weitreichende Sammeln von Daten stützt, wird eingeschränkt: Personalisierte Werbung wird verboten, wenn sie zum Beispiel auf Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung basiert.

Manche Chancen wurden nicht genutzt. Ein Verbot von Überwachungswer-

(»Und jetzt: Werbung! Und zwar für Regulierung«, Amnesty Journal 01/2022)

LEBENSLANGE HAFT FÜR OSMAN KAVALA

Ein türkisches Gericht hat am 26. April in Istanbul den Kulturförderer und Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala wegen angeblichen versuchten Staatsumsturzes zu »erschwerter lebenslanger Haft« verurteilt. Die türkische Justiz geht seit Jahren gegen Kavala vor. Im Sommer 2013 wurde er als angeblicher Verantwortlicher für die Gezi-Proteste angeklagt. Nachdem er in diesem Verfahren Anfang 2020 freigesprochen worden war, erhob die Staatsanwaltschaft eine neue Anklage wegen Beteiligung am Putschversuch von 2016 und wegen Spionage. Amnesty International bezeichnete die Verurteilung Kavalas als »willkürlich« und kritisierte, dass rechtsstaatliche Prinzipien nicht zählen. »Kavala muss sofort freigelassen werden«, fordert Amke Dietert, Türkei Expertin von Amnesty in Deutschland.

(»Osman Kavala weiter in Haft«, Amnesty Journal 01/2022)

Solidaritätsaktion für die Freilassung Kavalas, Istanbul im Mai 2022.

Foto: Serra Akcan/NarPhotos/laif

WENIGER LÄNDER MIT MEHR HINRICHTUNGEN

Ein neuer Bericht von Amnesty International zur weltweiten Anwendung der Todesstrafe zeigt für das Jahr 2021 eine Zunahme von Hinrichtungen und Todesurteilen. Die Menschenrechtsorganisation dokumentierte mindestens 579 Hinrichtungen und damit einen Anstieg um 20 Prozent gegenüber 2020. Nach der Aufhebung von Corona-Maßnahmen fällten die Gerichte in 18 Staaten wieder Amnesty geht aber von Tausenden Hinrichtungen allein in China aus. Trotz dieser Rückschritte weist 2021 insgesamt die zweitniedrigste Anzahl an dokumentierten Hinrichtungen weltweit seit 2010 auf.

mehr Todesurteile. So verzeichnete Amnesty im Iran die höchste Zahl an dokumentierten Exekutionen seit 2017. In Saudi-Arabien erhöhte sich die Zahl der Hinrichtungen von 27 im Jahr 2020 auf 65 im Jahr 2021. Wie bereits in den Vorjahren konnten keine Angaben zu China, Nordkorea und Vietnam gemacht werden. Die Regierungen dieser drei Staaten halten Angaben zur Todesstrafe unter Verschluss.

(»Datenbanken gegen Erschießungen«, Amnesty Journal 02/22)

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