Amnesty Journal: Ausgabe August/ September 2015

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AMNESTY JOURNAL

VERLETZTE SEELEN ÄRZTE UND PSYCHOLOGEN HELFEN TRAUMATISIERTEN OPFERN – UND SIND OFT SELBST AN FOLTER BETEILIGT

EIN FALL FÜR DIE JUSTIZ Der Export von G36Gewehren nach Mexiko

FALSCH ERFASST Rassistische Gewalt in Deutschland

MEISTERWERK Jafar Panahis Film »Taxi Teheran«

08/09

2015 AUGUST/ SEPTEMBER


INHALT

TITEL: FOLTER UND HEILBERUFE 16 Dr. Jekyll und Mr. Hyde Ärzte müssten Menschen eigentlich helfen, viele aber sind an Folter beteiligt. 20 Verschärfte Zusammenarbeit CIA-Psychologen sind mitverantwortlich für die Folter von Terrorverdächtigen. 25 Stimme der Verstummten Das Ulmer Behandlungszentrum für Folteropfer ist eine von wenigen Anlaufstellen für traumatisierte Flüchtlinge. 30 Zermürbte Seelen Gewalt, aber auch prekäre Verhältnisse nach der Flucht belasten Flüchtlinge. 32 »Wir haben es mit starken Menschen zu tun« Ein Arzt über die Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen in Deutschland. 34 Schreiben als Therapie In einem Buch erinnert sich ein Betroffener an die erlittene Folter. 36 »Gewalt setzt sich im Frieden fort« Ein Interview zur Arbeit mit traumatisierten Frauen in Konflikten.

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THEMEN

KULTUR

38 Wo nur die Steine wachsen Seit 40 Jahren hält Marokko die Westsahara völkerrechtswidrig besetzt.

62 Der genaue Blick Joshua Oppenheimers neuer Film zum indonesischen Massaker von 1965.

46 Zurück ins Leben Säureattentate sind in Kolumbien ein Phänomen, das von der Politik lange ignoriert wurde.

66 Mehr als eine Randnotiz Bücher der Kinder- und Jugendliteratur schildern Flucht individuell statt anonym.

50 Drei Brüder für Gerechtigkeit Folter hat in Mexiko System, das erfuhren drei Unbeteiligte am eigenen Leib.

68 Hüter ohne Haus Ein entlassener Direktor am russischen Filmmuseum arbeitet einfach weiter.

53 »Wir sind auf einem guten Weg« Interview mit Consuelo Morales Elizondo.

70 Dieses Kino ist Kunst »Taxi Teheran« ist ein Meisterwerk des Menschenrechtskinos.

54 Meister des Todes Wegen Waffenexporten nach Mexiko steht Heckler & Koch vor Gericht.

72 In The Ghetto Eine Studie zeigt, wie Armut in schwarzen US-Stadtteilen kriminalisiert wird.

56 Alter Rassismus, neue Opfer Wie adäquat erfassen Behörden rassistische Gewalt?

74 Eine andere Stimme aus Aserbaidschan Der Roman »Steinträume« als eine persönliche Sicht auf das Verhältnis zwischen Armeniern und Aserbaidschanern.

59 Menschenrechte gegen Rassismus Handlungsempfehlungen der UNO. 60 »Diese Sympathie ist eine unglaubliche Antriebskraft« Ein Interview mit Ensaf Haidar.

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77 Musik aus Ruinen Das arabische DJ-Kollektiv »Checkpoint 303« verhandelt im neuen Album »The Iqrit Files« viele Themen.

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OFT VERGEHT VIEL ZEIT … … bis von Folter betroffene, traumatisierte Flüchtlinge in Deutschland eine adäquate Behandlung erhalten. Dass es überhaupt professionelle Anlaufstellen gibt, ist vor allem zivilgesellschaftlichen Initiativen zu verdanken und engagierten Ärztinnen und Ärzten sowie Psychologinnen und Psychologen, die diese über Jahre hinweg aufgebaut haben. Unser Titelbild wurde gezeichnet von Lennart Gäbel.

RUBRIKEN 04 Weltkarte 05 Good News: Endlich gleich 06 Panorama 08 Interview: Alice Nkom 09 Nachrichten 11 Kolumne: Ruth Jüttner 12 Einsatz mit Erfolg 13 Selmin Çalışkan über Gesetze, die schützen 75 Rezensionen: Bücher 76 Rezensionen: Film & Musik 78 Briefe gegen das Vergessen 81 Aktiv für Amnesty 83 Impressum

Damit diese wichtige Arbeit fortgesetzt werden kann, bedarf es vor allem einer geregelten Finanzierung aus öffentlichen Mitteln – hier sieht Amnesty die deutsche Politik im Rahmen der »Stop Folter«-Kampagne eindeutig in der Pflicht. Wegen einer möglichen Pflichtverletzung bei Waffenexporten nach Mexiko muss sich das Rüstungsunternehmen Heckler & Koch nun vor Gericht verantworten. Die Sturmgewehre gingen aus dem Schwarzwald unter anderem in den für Menschenrechtsverletzungen bekannten mexikanischen Bundesstaat Guerrero, was nicht zuletzt Journalisten und Amnesty-Experten in langjährigen und intensiven Recherchen nachgewiesen haben. Im September strahlt die ARD nun einen fiktiven Spielfilm aus, der begleitet von einer Dokumentation, diese blutigen Konsequenzen deutscher Rüstungsexporte einem Millionenpublikum präsentieren wird (Seite 54). Dass sich Hartnäckigkeit und Einsatz auszahlen, zeigt sich auch mit Blick auf die »Briefe gegen das Vergessen«, mit denen sich Amnesty seit Jahren für das Schicksal einzelner verfolgter, bedrohter oder verschleppter Menschen einsetzt. Einer von ihnen ist der junge Nigerianer Moses Akatugba, der im Mai freikam. Im Alter von 16 Jahren war er verhaftet und später auf Grundlage eines unter Folter erzwungenen Geständnisses zum Tode verurteilt worden. In einem sehr persönlichen Text schildert er seine ersten Tage nach der Haft (Seite 12). Und auch bei anderen Fällen der »Briefe gegen das Vergessen« zeigen sich positive Entwicklungen bis hin zu Freilassungen (Seite 80). Solche Erfolge sind nur möglich durch die große Unterstützung vieler einzelner Menschen weltweit. Eine von ihnen ist die Punk-Rock-Legende Patti Smith, die den »Ambassador of Conscience Award« in Berlin im Namen von Amnesty an Joan Baez überreichte (Seite 82). Drehen sie doch einen ihrer Hits laut und genießen sie den Sommer in vollen Zügen.

Fotos Seite 2: Rita Leistner / Redux / laif | Amin Akhtar / laif | Marcus Reichmann | Bernd Weißbrod / dpa / pa | Drafthouse Films / Participant Media Foto Editorial: Amnesty

INHALT

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EDITORIAL

Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals.

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WELTKARTE

IRLAND Im Juni verabschiedete Irland eines der weltweit restriktivsten Abtreibungsgesetze: Schwangerschaftsabbrüche sind demnach auch dann verboten, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist oder schwere gesundheitliche Folgen für die Mutter nach sich ziehen kann. Das Gesetz zwingt Frauen, die ihre Schwangerschaft beenden wollen, dazu, ins Ausland zu gehen – täglich tun dies zehn bis zwölf Frauen. Nach einem illegalen Schwangerschaftsabbruch drohen bis zu 14 Jahre Haft. !

GRIECHENLAND Die Ägäis entwickelt sich zum Hauptfluchtweg über das Mittelmeer nach Europa. Aber Griechenland ist mit dieser Entwicklung überfordert. Es herrscht ein humanitärer Notstand, funktionierende Aufnahmestrukturen fehlen. Inseln der Nordägäis wie Lesbos, Samos oder Chios haben weder ausreichend räumliche Kapazitäten noch genügend Personal für die Registrierung und Versorgung der Menschen. Tausende Flüchtlinge campieren unter freiem Himmel, ohne sanitäre Einrichtungen und medizinische Versorgung. Ohne die Hilfe der anderen EU-Staaten ist das Leben der Schutzsuchenden gefährdet. "

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MEXIKO Amnesty International verlangt Aufklärung über einen mutmaßlichen Militärbefehl zur gezielten Tötung von Kriminellen. Vor einem Massaker in der Ortschaft Tlatlaya hatten die Streitkräfte nach Angaben von mexikanischen Menschenrechtsaktivisten den Soldaten einen Tötungsbefehl gegen Kriminelle erteilt. Die Truppen sollten ihre Einsätze vor allem in der Nacht durchführen und mutmaßliche Banditen in der Dunkelheit erschießen. Kurz nach dem Erlass des angeblichen Befehls waren am 11. Juli 2014 bei Gefechten zwischen Soldaten und mutmaßlichen Bandenmitgliedern in der Ortschaft 22 Menschen ums Leben gekommen.

BRASILIEN Schon bald könnten 16-Jährige in Brasilien nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden. Diese Verfassungsänderung wird derzeit im Kongress in Brasilia diskutiert. Damit würden 16- bis 18-Jährige bei Tötungsdelikten, schwerem Diebstahl und »schwerwiegenden Straftaten« so bestraft wie derzeit Erwachsene: Mit langjähriger Haft in Gefängnissen, die ihre Insassen erst recht zu Kriminellen machen. In Brasilien geschehen weltweit die meisten Tötungsdelikte. Die Gesetzesänderung ist eine Reaktion der Regierung auf die hohe Jugendkriminalität. Sie erntet viel Kritik, da sie gegen eine Reihe von nationalen und internationalen Gesetzen verstoßen würde.

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GAZA Beim Gaza-Krieg 2014 haben sowohl die israelischen Streitkräfte als auch bewaffnete palästinensische Gruppen internationale Rechte verletzt und wahrscheinlich Kriegsverbrechen begangen. Zu diesem Ergebnis kommt eine von den Vereinten Nationen eingesetzte Untersuchungskommission. So wurden auf beiden Seiten Zivilisten getötet und zivile Einrichtungen zerstört. Zeugenaussagen belegen den Angriff Israels auf Wohnhäuser, Krankenhäuser und medizinisches Personal sowie die gezielte Tötung von Zivilisten durch die Hamas und die Hinrichtung von 23 »Kollaborateuren« in Gaza.

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GOOD NEWS

Foto: Drew Angerer / UPI / laif

PAPUA-NEUGUINEA Hexenjagd in Form von Folter, Vergewaltigung, Genitalverstümmelung oder Mord wird noch immer in vielen Dörfern Papua-Neuguineas praktiziert. Obwohl seit 2013 die Hexenverfolgung verboten ist, wurden in diesem Jahr mindestens zwei Frauen, die der Hexerei bezichtigt wurden, in einer Hütte festgehalten, eine weitere wurde zu Tode gehackt. Häufig ist die unterstellte Hexerei nur ein Vorwand für Gewalt gegen die meist alleinstehenden Frauen. Die Reformen von 2013 brachten härtere Strafen, doch Polizei und Regierung unternehmen nur wenig, um die Gewalt gegen Frauen einzudämmen oder über Hexerei aufzuklären. +

»Freudiger Tag«. Das Weiße Haus im Regenbogenlicht, 26. Juni 2015.

ENDLICH GLEICH

#LoveWins hieß der Hashtag zum Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA, der am 26. Juni 2015 auf einen Schlag alle gleichgeschlechtlichen Ehen in den Vereinigten Staaten von Amerika legalisierte. #LoveWins steht auch für den dramatischen Kampf von Jim Obergefell, der seit 2013 um seinen Status als Witwer rang. Er wollte in der Todesurkunde seines verstorbenen Ehemanns John Arthur als Ehepartner eingetragen werden. Jetzt hat er es geschafft: Die Homo-Ehe hat in der Verfassung der USA nun die gleiche Wertigkeit wie die heterosexuelle Ehe. In den USA ist das Eherecht jedoch den einzelnen Bundesstaaten vorbehalten – mit dem Ergebnis, das bislang in nur 37 Bundesstaaten sowie im District of Columbia die gleichgeschlechtliche Ehe möglich ist. Im Jahr 2004 war Massachusetts der erste Staat, der homosexuelle Partnerschaften legalisierte. »Dies ist nicht nur ein freudiger Tag für Menschen, die sich in einer liebevollen und festen gleichgeschlechtlichen Partnerschaft befinden, sondern auch für jeden, der an Menschenrechte und Gleichheit für alle glaubt", erklärte Steven W. Hawkins, Direktor von Amnesty International in den USA zur Entscheidung des Gerichtshofs.« Die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wen man heiratet, sei ein durch internationale Abkommen geschütztes Menschenrecht, sagte er weiter. Ungeachtet des Kampfes um Gleichstellung versuchen viele Bundesstaaten, die Gesetze zu unterlaufen. Obwohl die Homo-Ehe nun formal gleichgestellt ist, können in 31 Staaten Schwule, Lesben und Transsexuelle weiterhin wegen ihrer sexuellen Orientierung gefeuert werden. Gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung erfahren sie nur in 19 Staaten. Kläger Jim Obergefell hat mit seinem Kampf schon viel erreicht. Dass US-Präsident Obama ihn anrief, um zu gratulieren, zeigt die Bedeutung des Urteils. Bis allerdings tatsächlich Gleichberechtigung herrscht, bedarf es weiterer Anstrengungen. »Es liegt noch immer viel Arbeit vor uns«, meinte Hawkins, »bis alle Formen der Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgeschlechtlichen ein für alle Mal Vergangenheit sein werden.« USA

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Ausgewählte Ereignisse vom 1. Mai bis 15. Juli 2015

WELTKARTE

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Foto: Narciso Contreras / Polaris / laif

INDIEN: STRAFLOSIGKEIT IN KASCHMIR

Angehörige der Sicherheitskräfte können im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir die Menschenrechte verletzen, ohne dafür belangt zu werden, wie ein kürzlich veröffentlichter Amnesty-Bericht belegt. Soldaten, Grenzschützer und Polizisten genießen dabei den Schutz eines speziellen Gesetzes, das die Gewaltanwendung im Namen der Terrorismusbekämpfung und der nationalen Einheit weitgehend straffrei zulässt. Von Sicherheitskräften begangene Menschenrechtsverletzungen wurden zwar in großer Zahl dokumentiert, aber kaum je geahndet. Amnesty spricht in dem Bericht von einem »Versagen Indiens gegenüber seinen internationalen Verpflichtungen und gegenüber seiner eigenen Verfassung«.

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PANORAMA

UNGARN: ZAUN GEGEN FLÜCHTLINGE

Das ungarische Parlament hat mit großer Mehrheit die Regierung ermächtigt, einen vier Meter hohen und 175 Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Serbien zu errichten. Außerdem sollen Bewegungssensoren, Infrarotkameras und intensive Patrouillen eingesetzt werden. Das Gesetz tritt am 1. August in Kraft. Ähnliche Anlagen gibt es bereits an den bulgarischen und griechischen Grenzen zur Türkei. Mit einer Reihe weiterer Gesetzesänderungen will die Regierung in Budapest Flüchtlinge zusätzlich abschrecken: Wer in Ungarn einen Asylantrag stellt, soll künftig selbst für Kost und Unterkunft während der Antragsbearbeitung aufkommen. Konkret heißt das, dass die Behörden Geld und Wertgegenstände von Migranten beschlagnahmen oder die Antragsteller zu gemeinnütziger Arbeit verpflichten können. Foto: Andrew Testa / The New York Times / Redux / laif

PANORAMA

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INTERVIEW ALICE NKOM RECHTSANWÄLTIN AUS KAMERUN

in einer Hochzeitsmesse, im Namen Gottes, noch dazu völlig anlasslos: Ich war enttäuscht.

Foto: Ralf Rebmann

Wie haben Sie reagiert? Ich bin aufgestanden und habe die Kirche wutentbrannt verlassen. Leider verlief die zweite Hochzeit ähnlich, ebenso ein Treffen mit hohen Vertretern der evangelischen Kirche. Ich war kurz davor, endgültig mit der Institution Kirche abzuschließen. Doch der Kirchentag hat mir neuen Mut gegeben. Dieses Gemeinschaftsgefühl, diese Demut: Da waren sie wieder, die Werte, die ich in jungen Jahren in meiner Kirche gelernt hatte. Es wäre feige, vor den Gewaltpredigern in meiner Heimat davonzulaufen. Ich glaube an die christlichen Werte, also werde ich sie verteidigen.

»DER WANDEL WIRD KOMMEN« Vom 3. bis 7. Juni fand in Stuttgart der Evangelische Kirchentag statt. Mit dabei war auf Einladung des Kirchentages die kamerunische Rechtsanwältin Alice Nkom. Die Trägerin des 7. Menschenrechtspreises der deutschen Sektion von Amnesty International setzt sich in ihrem Heimatland für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intersexuellen (LGBTI) ein – gegen großen Widerstand aus den Kirchen. Die katholische Kirche in Kamerun bezeichnet Homosexualität offen als Verstoß gegen die göttliche Ordnung. Wie positioniert sich ihr evangelisches Pendant? Die Frage habe ich mir auch gestellt, als ich von Amnesty International zum Kirchentag eingeladen wurde. Ich hatte bis dato nur wenig Kontakt zur evangelischen Kirche. Glücklicherweise ergab es sich, dass ich auf zwei evangelische Hochzeiten eingeladen wurde. Auf die erste freute ich mich besonders: Sie sollte von einer Pastorin gelesen werden. Für mich als Katholikin ein absolutes Novum! Jedenfalls erwartete ich eine bereichernde Hochzeitsfeier, ein Fest der Liebe… und wurde bitter enttäuscht. Die Predigt der Pastorin sprühte nur so vor Hass und Ausgrenzung. Homosexualität? Eine Sünde! Derartige Worte

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Glauben Sie, dass die Kirchen in Kamerun ihre ablehnende Haltung eines Tages ablegen werden? Die Kirchen, das sind zunächst einmal ihre Mitglieder. Es ist an uns, den längst überfälligen Wandel einzuleiten. Entwicklungen wie jüngst in Irland, aber auch die derzeitigen Diskussionen über die »Ehe für alle« in Deutschland stimmen mich hoffnungsfroh. Wir leben in einer globalisierten Welt, in der auch Fortschritt vor nationalen Grenzen keinen Halt macht. Auch nicht vor Kamerun! Was antworten Sie auf die Aussage der Kirchen, Homosexualität gefährde die Familie? In einer Beziehung geht es um die Liebe zwischen zwei Menschen, nicht um Sexualität oder Nachwuchs. Nicht ohne Grund hat Jesus die - wohlgemerkt asexuelle - Nächstenliebe zum höchsten Wert seiner Lehre erhoben. Er war ein kluger junger Mann, der übrigens ebenso kinderlos war wie die Ordensträger der katholischen Kirche – und dessen spiritueller Vater berühmter ist als sein leiblicher. Außerdem sind es doch Hasspredigten wie die des kamerunischen Kardinals Tumi, die unzählige Familien zerstören. Wie viele Mütter sollen denn noch mit ihren Kindern brechen – nur, weil ihre sexuelle Orientierung nicht den religiösen oder gesellschaftlichen Vorstellungen entspricht? Manchmal frage ich mich, was geschehen wäre, wenn Jesus sich geoutet hätte. Ginge es nach der kamerunischen Kirche, hätte Maria ihren Sohn verstoßen müssen. Das ist doch absurd! Keine Frage: Der Wandel wird kommen. Und weder die kamerunischen Kirchen noch die Regierung werden diesen Tag verhindern können. Fragen: Raphael Kreusch

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»Es ist unfassbar, dass zehn Frauen im Sudan ausgepeitscht werden könnten, nur weil sie einen Rock oder eine Hose getragen haben. Das Gesetz über die öffentliche Ordnung wird völlig unverhältnismäßig angewandt. Es verletzt in fundamentaler Weise die Frauenrechte. Ein Rocksaum ist kein Verbrechen.« SARAH JACKSON, STELLVERTRETENDE REGIONALDIREKTORIN FÜR OSTAFRIKA BEI AMNESTY INTERNATIONAL

Foto: una.knipsolina / photocase.de

AMNESTY IM VISIER BRITISCHER GEHEIMDIENSTE

Wer hört mit? »Ziel der Massenüberwachung.«

INTERVIEW

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NACHRICHTEN

Britische Regierungsbehörden haben das Internationale Sekretariat von Amnesty International in Großbritannien ausgespäht. Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty zeigte sich empört. Das Spezialgericht »Investigatory Powers Tribunal« (IPT), das die rechtsprechende Gewalt über die Geheimdienste in Großbritannien innehat, hat Ende Juni Amnesty International darüber informiert, dass britische Regierungsbehörden das Internationale Sekretariat der Menschenrechtsorganisation in London ausgespäht haben. Die Behörden haben demnach die Kommunikation von Amnesty abgefangen und gespeichert. »Nach 18 Monaten des Rechtsstreits und all den damit verbundenen Verleugnungen und Ausflüchten, wurde uns nun bestätigt, dass wir tatsächlich zum Ziel der Massenüberwachung durch die britische Regierung geworden sind. Es ist ungeheuerlich, dass etwas, das sonst oftmals tyrannischen Machthabern zugeschrieben wird, von der britischen Regierung ausgeht«, sagte Salil Shetty, internationaler Generalsekretär von Amnesty International. »Wie sollen wir unserer wichtigen Arbeit weltweit nachgehen, wenn Menschenrechtsverteidiger und Opfer von Menschenrechtsverletzungen nun davon ausgehen müssen, dass ihre vertrauliche Korrespondenz mit uns voraussichtlich in den Händen der Regierung landet?« In einer E-Mail informierte das IPT Amnesty International darüber, dass es bei der Entscheidung des Spezialgerichts vom 22. Juni zu einer Verwechslung gekommen sei: Das IPT war im Juni zu dem Schluss gekommen, dass die britische Regierung die ägyptische Organisation »Egyptian Initiative for Personal Rights« (EIPR) und das südafrikanische »Legal Resources Center« unrechtmäßig ausspioniert hatte. Tatsächlich, so gab das IPT bekannt, war neben der Organisation in Südafrika jedoch Amnesty International Ltd. und nicht die ägyptische EIPR ausgespäht worden. Die NGOs gehören zu insgesamt zehn Organisationen, die Klage gegen die mutmaßlich illegale Massenüberwachung ihrer Arbeit durch britische Geheimdienste eingereicht hatten. Das IPT teilte nicht mit, wann und warum Amnesty International ausgespäht wurde und zu welchem Zweck die gesammelten Informationen genutzt wurden. GROSSBRITANNIEN

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In keinem der 50 US-Bundesstaaten entsprechen die gesetzlichen Vorgaben zur Anwendung tödlicher Gewalt durch Polizisten bzw. andere Beamte mit Polizeiaufgaben den internationalen Menschenrechtsstandards. In einigen Bundesstaaten ist überhaupt nicht geregelt, wann Polizisten Schusswaffen einsetzen dürfen. Das belegt ein im Juni veröffentlichter AmnestyBericht. Amnesty-Ermittler überprüften und analysierten landesweit Gesetzesvorgaben, Polizeiberichte, relevante Gerichtsurteile und statistische Daten. Insgesamt 13 Bundesstaaten, darunter New York, Kalifornien, South Dakota und Missouri, erfüllen nicht einmal die Mindeststandards der US-amerikanischen Verfassung. Neun Bundesländer und der District of Columbia haben überhaupt keine Gesetze, die regulieren, unter welchen Umständen Polizisten und andere Beamte mit Polizeiaufgaben tödliche Gewalt anwenden dürfen. Staatliche Institutionen, die Fälle tödlicher Polizeigewalt umgehend, unabhängig und umfassend untersuchen, gibt es in keinem einzigen Bundesstaat. Auch umfassende nationale Statistiken über die Zahl der Opfer von Polizeigewalt gibt es nicht. Die wenigen vorhandenen offiziellen Daten legen nahe, dass Afroamerikaner unverhältnismäßig häufig Opfer tödlicher Polizeigewalt werden. Amnesty International fordert die USA auf, die entsprechen-

USA

30.000

MENSCHEN WERDEN JEDES JAHR IN DEN USA DURCH SCHUSSWAFFEN GETÖTET.

HINZU KOMMEN DURCHSCHNITTLICH 100.000 VERLETZTE.

57,5%

DER OPFER SIND AFROAMERIKANER, OBWOHL IHR BEVÖLKERUNGSANTEIL NUR BEI 13,2% LIEGT.

Quelle: Amnesty

SCHIESSEN OHNE REGELN

den Gesetze auf nationaler Ebene und in den Bundesstaaten internationalen Menschenrechtsstandards anzupassen. Polizeibeamte dürfen nur dann potenziell tödliche Waffen einsetzen oder mögliche todbringende körperliche Gewalt anwenden, wenn dies das einzige und letzte Mittel ist, um die Beamten oder andere Personen in unmittelbarer Lebensgefahr oder vor einer drohenden schwerwiegenden Körperverletzung zu schützen. Außerdem müssen Statistiken erstellt und Daten erfasst und veröffentlicht werden, die tödliche Gewalt durch Polizisten und andere Beamte mit Polizeibefugnissen umfassend dokumentieren.

DOMINIKANISCHE REPUBLIK WEIST MENSCHEN HAITIANISCHER ABSTAMMUNG AUS

Keine Papiere – keine Rechte. So lautet häufig das Los für Tausende Menschen haitianischer Abstammung, die in der Dominikanischen Republik leben. Obwohl sie dort geboren wurden, stellt man Personen mit haitianischen Wurzeln häufig keine Geburtsurkunden aus und spricht ihnen damit Menschenrechte ab: Sie haben keinen Zugang zu Bildungswesen, Arbeitsmarkt und Gesundheitssystem, dürfen nicht wählen und können wegen fehlender Papiere nicht heiraDOMINIKANISCHE REPUBLIK

ten und eine Familie gründen. Im Juni lief eine Frist zur Legalisierung des Aufenthaltsstatus von Ausländern in der Dominikanischen Republik ab – damit werden schätzungsweise eine Viertelmillion Menschen zu Staatenlosen. Zehntausende sind schon nach Haiti ausgewandert, in ein Land, das viele von ihnen nie betreten haben oder dessen Sprache sie nicht sprechen. Beobachter vermuten, dass sich Präsident Danilo Medina mit diesem Vorgehen für die Wahlen 2016 positionieren will.

REPRESSIONEN GEGEN MEDIEN

Die Behörden Myanmars verschärfen im Vorfeld der Wahlen im November die Repression gegen unabhängige Medien. Drohungen, Einschüchterungen und Verhaftungen nehmen zu, wie ein neuer Bericht von Amnesty dokumentiert. Darin wird aufgezeigt, wie die Behörden trotz der viel beschworenen

»Öffnung« alte und neue Methoden einsetzen, um unabhängige Medien einzuschüchtern und die freie Meinungsäußerung zu unterbinden. Zwar hat sich die Medienlandschaft seit 2011 deutlich verändert und in dem Land gibt es heute eine Vielzahl verschiedener Presse- und Medienerzeugnisse. Im vergangenen Jahr hat die Repression jedoch wieder deutlich zugenommen: Amnesty geht von mindestens zehn Journalisten aus, die wegen ihrer Berichterstattung als gewaltfreie politische Gefangene in Haft sitzen. Im Oktober 2014 wurde der freie Journalist Aung Kyaw Naing im Militärgewahrsam erschossen. Die Medien werden umfassend überwacht, Einschüchterungen sind alltäglich. Das repressive Klima führt nach Aussagen von Medienvertretern gegenüber Amnesty zu weitreichender Selbstzensur, insbesondere bei der Berichterstattung über sensible Themen wie das Militär, nationalistische Kreise oder die Situation der Weitreichende Selbstzensur. Unabhängige Medien spüren den Druck der Behörden. verfolgten Minderheit der Rohingya.

Foto: David Hogsholt / The New York Times / Redux / laif

MYANMAR

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Zeichnung: Oliver Grajewski

KOLUMNE RUTH JÜTTNER

GENERATION KNAST

Alle lokalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen sind sich in der Bewertung der aktuellen Lage in Ägypten einig: Das Land erlebt unter der Herrschaft von Präsident Abdel Fattah al-Sisi die schwerste Menschenrechtskrise in der modernen Geschichte des Landes. Und wie reagieren die Verantwortlichen in Ägypten? Die Existenz gewaltloser politischer Gefangener oder Folter in Gefängnissen wird schlicht geleugnet. Grundsätzlich weisen ägyptische Diplomaten jede Kritik an der Menschenrechtslage als »Einmischung in die inneren Angelegenheiten« zurück und rechtfertigen die Repression gegen Andersdenkende als notwendig im »Kampf gegen den Terrorismus«. Den jüngsten Amnesty-Bericht »Generation Jail – Egypt’s Youth go from Protest to Prison« bezeichnet das ägyptische Außenministerium als »Lüge« und unterstellt Amnesty International sogar eine Nähe zum Terrorismus. Doch was hat es mit dem »Kampf gegen Terrorismus« zu tun, wenn ein 18-jähriger Student festgenommen wird, weil er ein T-Shirt mit der Aufschrift »Land ohne Folter« trägt und seit mehr als 500 Tagen ohne Anklageerhebung unter katastrophalen Bedingungen gefangen gehalten wird? Er ist dabei nur einer unter vielen. Menschenrechtsorganisationen zählen mindestens 18 inhaftierte Journalisten, dokumentieren eine Rekordzahl von 289 Folterfällen in Gefängnissen in den vergangenen zwölf Monaten und zählen im Zeitraum von Juli 2013 bis Mai 2014 mehr als 41.000 Menschen, die festgenommen, angeklagt oder verurteilt wurden. Selbst der staatsnahe Nationale Menschenrechtsrat schlägt Alarm: Gefängnisse sind zu 160 Prozent überbelegt, Zellen der Polizei sogar zu 300 Prozent. Zudem wurden seit Juli 2013 mehr als 850 Todesurteile verhängt. Erinnern wir uns: Unter dem Eindruck der Aufstände in Nordafrika gelobten die westlichen Regierungen eine Abkehr von der bisherigen Unterstützung für repressive und autokratische Herrscher in der arabischen Welt, die sich gegenüber dem Westen als Partner und Garant für Stabilität darstellten. Doch nur viereinhalb Jahre später fallen die westlichen Staaten in alte Politikmuster zurück. Der Staatsbesuch von Präsident al-Sisi Anfang Juni in Berlin ist ein Beispiel dafür, dass die Verwirklichung der Rechte der ägyptischen Bevölkerung auf Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit für die deutsche Außenpolitik offenkundig eine untergeordnete Rolle spielen. Während für al-Sisi der rote Teppich ausgerollt wurde, wurde die Menschenrechtskrise in Ägypten unter den Teppich gekehrt. Dem Machthaber aus Kairo wurde die große Bühne geboten, um sich als Demokrat und Vollstrecker des ägyptischen Volkswillens zu präsentieren. Der schwache Hinweis von Bundeskanzlerin Angela Merkel, man habe in menschenrechtlichen Fragen unterschiedliche Ansichten, ist für ägyptische Menschenrechtverteidiger und Aktivisten ein Schlag ins Gesicht. Während sie sich unter existenziellen Bedrohungen für Menschenrechte und Freiheit einsetzen, muss die Bundesregierung im Bundestag offiziell eingestehen, dass es misslang, von al-Sisi konkrete Zusagen zur Verbesserung in Einzelfällen oder der Menschenrechtslage allgemein zu erhalten. Was bleibt, ist ein bitterer Nachgeschmack: Während die Bundesregierung hinsichtlich der Menschenrechte mit leeren Händen dasteht, erscheint die deutsche Wirtschaft nach dem Abschluss des Rekordauftrags für Siemens für Gaskraftwerke und Windparks in Höhe von acht Milliarden Euro als Gewinner. Mit Blick auf die politische Gewalt in Ägypten stehen düstere Zeiten bevor: Ende Juni 2015 fiel mit dem Generalstaatsanwalt Hisham Barakat ein ranghoher Vertreter der Justiz einem Attentat zum Opfer. Wenn die Sicherheitskräfte bislang mit harter Hand vorgegangen sind, steht nun zu befürchten, dass sie mit der eisernen Faust zuschlagen. Ruth Jüttner ist Expertin der deutschen Amnesty-Sektion für den Nahen und Mittleren Osten sowie für Nordafrika.

NACHRICHTEN

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KOLUMNE

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ÜBERWÄLTIGENDE FREUDE

Als ich meine Mutter aus dem Gefängnis anrief, um ihr zu sagen, dass ich nach zehn Jahren in Haft begnadigt worden war, fiel sie in Ohnmacht. Mir wurde erzählt, dass sie erst wieder zu sich kam, als man sie mit Wasser übergoss. Als sie mich dann zum ersten Mal nach all diesen Jahren sah, packte sie mich und hielt mich ganz fest. Sie ließ mich fast 15 Minuten lang nicht los. Dabei weinte sie die ganze Zeit über vor Freude. Auch ich war vor Freude überwältigt, als ich am 28. Mai um 16 Uhr von meiner Begnadigung erfuhr. Zuerst konnte ich gar nichts sagen, ich war so glücklich. Am nächsten Tag organisierte ich ein Fußballspiel zwischen den Gefangenen des Todestrakts und anderen Häftlingen, um zu feiern. Ich hatte während meiner Zeit in Haft die Fußballmannschaft des Todestrakts trainiert. Wir gewannen 3:0! Alle freuten sich über das Fußballspiel. An diesem Sonntag besuchte ich die Gefängniskirche. Ich teilte Fruchtsaft und Kekse mit anderen Häftlingen, und es wurde eine Ansage zu meiner Freilassung gemacht. Alle freuten sich. Ich hatte Freunde im Gefängnis. Ich brachte anderen Häftlingen Englisch und Mathe bei, und diejenigen, die Spaß daran hatten, wurden meine Freunde. Wenige Tage später wurde ich freigelassen. An meinem ersten Abend zu Hause hatte meine Mutter ein besonderes Essen vorbereitet – Okra-Suppe mit Rindfleisch. Die ganze Familie saß zusammen am Esstisch. Danach gab es eine Feier mit Freunden der Familie. Wir sangen Lieder, machten Musik und beteten. Wir beteten für all diejenigen, die sich für meine Freilassung eingesetzt hatten, für die Aktivisten von Amnesty

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Foto: HURSDEF / Amnesty

Der Nigerianer Moses Akatugba wurde im November 2005 im Alter von 16 Jahren festgenommen, massiv gefoltert und später zum Tode verurteilt – weil er angeblich Mobiltelefone gestohlen hatte. Amnesty International setzte sich mit weltweiten Kampagnen für ihn ein, unter anderem mit den »Briefen gegen das Vergessen« und dem Briefmarathon. Über 800.000 Briefe und Unterschriften wurden gesammelt – mit Erfolg: Im Mai 2015 wurde Moses Akatugba begnadigt und aus der Haft entlassen. In diesem Text beschreibt er seine ersten Tage in Freiheit.

»Ich werde mich als Menschenrechtsaktivist einsetzen.« Moses Akatugba.

International und Justine Ijeomah, den Leiter der nigerianischen Menschenrechtsorganisation »Human Rights Social Development and Environmental Foundation« (HURSDEF) und seine Frau, Goodness Justine. Alle Gäste teilten die Getränke miteinander. Die erste Nacht schlief ich in meinem neuen Bett. Ich schlief unglaublich gut. Was mich am meisten überraschte, war, dass ich um 5 Uhr morgens nicht den Weckton des Gefängnisses hörte. Ich wartete darauf und merkte schließlich, dass ich nicht träumte, sondern tatsächlich frei war. Als ich das begriffen hatte, fühlte ich mich tief in meiner Seele frei. Die Dinge hatten sich zum Guten gewandt. Ich machte die Augen wieder zu, genoss meinen »Freiheitsschlaf« in vollen Zügen und schlief bis 10 Uhr. Ich habe unglaublich gut geschlafen.

Jetzt, wo ich frei bin, will ich mich weiterbilden und das erreichen, wovon ich schon immer geträumt habe: Ich möchte Arzt werden, um die Wünsche meines verstorbenen Vaters zu erfüllen. Ich werde mich aber auch als Menschenrechtsaktivist einsetzen und Menschen helfen, die sich in der gleichen Lage befinden, in der ich mich befunden habe. Ich habe schon einen Antrag ausgefüllt und ein Passfoto gemacht – das sind Voraussetzungen für die Arbeit als ehrenamtlicher Aktivist bei der HURSDEF. Justine, der Leiter, begrüßte mich als »Kamerad Moses Akatugba«. Ich sagte ihm: »Justine, ich trete dem Kampf gegen Folter bei, damit andere nicht das gleiche Leid erfahren müssen wie ich.« Siehe auch Seite 80.

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2015


Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

VERBRAUCHERSCHÜTZER UND AKTIVISTIN WIEDER FREI

Ende Mai nahm der sudanesische Geheimdienst den Verbraucherschützer Yasir Mirghani Abdalrahman und die Aktivistin Nasreen Ali Mustafa fest. Yasir Mirghani Abdalrahman hatte Regierungsvertretern vorgeworfen, in Korruptionsfälle verwickelt zu sein. Nasreen Ali Mustafa hatte die vielen Fälle nicht gemeldeter sexueller Übergriffe in Schulbussen öffentlich kritisiert und an die betroffenen Familien appelliert, ihr Schweigen zu brechen. Der Geheimdienst zwang die Aktivistin, ihre Aussagen zu widerrufen. Beide kamen nach mehr als zweiwöchiger Haft frei, sie wurden nicht angeklagt.

SUDAN

BEGNADIGUNG FÜR GEFOLTERTEN ARZT

VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE Mahmood al-Jaidah wurde Ende Mai durch den Präsidenten des Landes begnadigt und flog noch am selben Tag in seine Heimat Katar. Er war im Februar 2013 ohne Haftbefehl am Flughafen von Dubai auf der Durchreise festgenommen und in ein Geheimgefängnis verschleppt worden. Bedienstete der Haftanstalt hatten ihn geschlagen, ihm den Schlaf entzogen und mit dem Tod gedroht, bis der Arzt ein vermeintliches Geständnis unterschrieb, auf dessen Grundlage er später zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Während des Gerichtsprozesses war zudem sein angereister Sohn kurzzeitig verschleppt und bedroht worden.

DANK NACH VORLÄUFIGER FREILASSUNG

GUINEA Wegen ihres schlechten Gesundheitszustands kamen der Unteroffizier Dogius Koly Théa und der Volkswirt Kala Honomou Mitte Juni frei. Sie waren Anfang Mai von der Gendarmerie festgenommen worden. Die erste Woche in Haft verbrachten sie in Zellen, die auch als Toiletten dienten und schliefen auf dem blanken Boden. Zunächst verweigerte man ihnen einen Anwalt. Außerdem erhielten sie keine angemessene Behandlung ihrer gesundheitlichen Probleme. Anklage wurde bisher nicht erhoben, die Ermittlungen gegen sie dauern aber auch nach der Freilassung an. Die beiden Familienväter sagten nach ihrer Freilassung: »Wir sind Amnesty International dankbar für alles, was die Organisation getan hat, um uns aus dieser schrecklichen Lage zu befreien.«

GEGEN KAUTION FREI

Wie Mitte Juni bekannt wurde, ist Mahdieh Golrou gegen Kaution aus der Haft entlassen worden. Die Frauenrechtlerin war von Oktober 2014 bis Januar 2015 inhaftiert, nachdem sie vor dem Parlament in Teheran friedlich gegen Gewalt an Frauen, insbesondere gegen eine Serie von Säureattentaten protestiert hatte. Sie saß zunächst in Einzelhaft ohne dass Anklage erhoben wurde. Die Iranerin war bereits 2009 zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt worden.

IRAN

EINSATZ MIT ERFOLG

SELMIN ÇALIŞKAN ÜBER

GESETZE, DIE SCHÜTZEN

Foto: Amnesty

EINSATZ MIT ERFOLG

Im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu, in der Nähe des Taksim-Platzes, steht ein unscheinbares, aber einzigartiges Haus. Ein Überlebensort für Menschen, die gewalttätige Übergriffe fürchten. Es sind Menschen, die den türkischen Staat stören und von der Gesellschaft verachtet werden – weil sie ihre sexuelle Identität nicht an der Zwei-Geschlechter-Norm ausrichten. Der gesellschaftliche Widerspruch in der Türkei ist frappierend: Im Fernsehen erfreut sich der Auftritt transsexueller und transvestitischer Künstler großer Beliebtheit. Aber wehe, man bekennt sich öffentlich zur Homo- oder Transsexualität. Die Menschenrechtsaktivistin Ebru Kırancı hat das Trans*Gästehaus 2013 in Istanbul gegründet. Im Juni konnte ich sie mit all ihrer Empathie, Klarheit und ihrem Humor kennenlernen. Sie erzählte, dass die Nachfrage die Kapazitäten bei weitem übertreffe: Der Ort ist zu einem Anlaufpunkt für LGBTIQ der Türkei, aus Syrien und dem Mittleren Osten geworden. Das liegt vor allem an »Ebru abla« (große Schwester Ebru), wie sie respektvoll genannt wird. Seit den neunziger Jahren hat sie zivilgesellschaftliche Strukturen in der Türkei mit aufgebaut: Durch die Mitgründung der NGO Lambda Istanbul, durch ihre Mitarbeit beim Menschenrechtsverein IHD Istanbul und der Gründung der ersten transsexuellen Organisation Istanbul LGBTT. Seit über zehn Jahren arbeitet sie mit Amnesty zusammen. Wegen dieses Engagements haben ihr Amnesty und der CSD e.V. am 27. Juni 2015 in Berlin den Soul of Stonewall Award in der Kategorie Widerstand verliehen. Der Preis ist eine Anerkennung ihrer Arbeit und längst überfällig. Er ist auch ein Signal an türkische Abgeordnete, den Schutz von Trans*Menschen gesetzlich zu verankern: Die Polizei muss Trans*Menschen vor gewalttätigen Übergriffen schützen, Hassverbrechen und Morde müssen vor Gericht konsequent geahndet werden. Der Wahlkampf der AKP habe erheblich zu Hassverbrechen beigetragen, wurde mir berichtet. Allein im Mai seien vier Trans*menschen ermordet worden. Auch deshalb lautete das Motto des diesjährigen CSD in Istanbul: »Bize bir yasa lazım!« – »Wir brauchen ein Gesetz!« Ein Gesetz, das schützt und nicht kriminalisiert. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.

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TITEL

Zur modernen Folter gehört ein Arzt. Oppositionelle in einem syrischen Gefängnis. Foto: Sergey Ponomarev / laif

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Folter und Heilberufe

Sie misshandeln statt zu behandeln, sie sind dabei, wenn gefoltert wird, oder sie foltern selbst: Ärztinnen und Ärzte sind häufig Täter. Viele Heilberufler sind aber auch aktive Menschenrechtler. Dank ihres Engagements sind spezialisierte Anlaufstellen entstanden, die für die Behandlung von Folteropfern unerlässlich sind. 15


»Ihr könnt weitermachen.« Verhörraum der Freien Syrischen Armee. Foto: Abdalrhman Ismail / Reuters

Dr. Jekyll und Mr. Hyde Ärzte und andere Heilberufe genießen höchste gesellschaftliche Anerkennung. Ihr ethischer Kodex verpflichtet sie, den Menschen zu helfen, die sich ihnen anvertrauen. Doch zugleich gibt es kaum eine Berufsgruppe, die in zahlreichen Ländern so intensiv in Folterpraktiken involviert ist. Von Uta von Schrenk

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ch wurde peinlich genau von einem Arzt untersucht. Er hat mich über meine Familie befragt, über chronische oder akute Erkrankungen und darüber, ob Teile meines Körpers wegen vorheriger Erkrankungen empfindlich seien. Ich dachte, dass ich die Folter reduzieren könnte, wenn ich ihm diese Informationen gebe. Stunden später verstand ich den wirklichen Grund für das Interesse des Arztes: Ich hörte seine Stimme, ohne Zweifel, die sagte: ›Es ist alles in Ordnung, ihr könnt weitermachen.‹« Dies sind die zu Protokoll gegebenen Erinnerungen des Psychoanalytikers C. Chelala, der in Uruguay während der Militärdiktatur von 1976 bis 1985 gefoltert wurde. Ärzte assistieren bei Folter und Misshandlung oder legen selbst Hand an. Psychologen erarbeiten Methoden für die sogenannte »Weiße Folter«, die keine sichtbaren Spuren hinterlässt, oder »optimieren« grausame Verhörmethoden. Im Februar protestierte der Weltärztebund (WMA) in einem Brief an den saudi-arabischen König gegen die Auspeitschung des Bloggers Raif Badawi – und gegen die »Standardprozedur« in dem Land, wonach Ärzte die körperliche Fitness von Inhaftierten bescheinigen, bevor diese ausgepeitscht werden. Dies mache die Mediziner zu Komplizen von Folter, so die internationale Ärztevereinigung. Zwischen 2002 und 2007 wurden mindestens 119 Menschen in US-Geheimgefängnissen gefoltert. Psychologen haben Millionen Dollar damit verdient, Verhörmethoden für Militär und Geheimdienst auszuarbeiten und effektiver zu gestalten (mehr dazu Seite 20). Das bescheinigt der offizielle CIA-Folterreport des US-Senats. Und Ärzte und Pfleger haben bei Folter und grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung der USGefangenen »mitgewirkt«. So lautet der Vorwurf des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. In Syrien haben Ärzte und medizinisches Personal verletzte Oppositionelle, die sich gegen das Regime von Baschar al-Assad gestellt hatten, in staatlichen Krankenhäusern gefoltert. Das berichtete eine Amnesty-Delegation 2011. Die Krankenhäuser seien zu »Instrumenten der Unterdrückung« geworden, heißt es in dem Bericht. Ist Folter unter medizinischer Betreuung eine seltene Perversion innerhalb des Berufsbildes, die Tat weniger fehlgeleiteter Sadisten? Wohl eher nicht. Steven Miles, Professor für Medizinische Ethik an der Universität von Minnesota, schreibt in einem Beitrag für das Fachmagazin »The Lancet«, »die Beteiligung von Medizinern an Folterungen und Misshandlungen von Inhaftierten ist in den (…) Ländern, die Folter praktizieren, üblich«. In mehr als 140 Ländern wird nach Erkenntnissen von Amnesty auch heute noch gefoltert. Ärzte attestieren Inhaftierten die Tauglichkeit für Misshandlungen. Ärzte überwachen Vitalzeichen während der Folter. Ärzte geben das Signal, Misshandlungen zu intensivieren. Ärzte empfehlen und entwickeln Techniken, Narben auf ein Minimum zu reduzieren. »Etwa ein Drittel bis nahezu die Hälfte aller überlebenden Folteropfer berichtet von Ärzten, die die Misshandlungen überwacht haben«, so Steven Miles. Diese Zahlen umfassten allerdings weder Opfer, die keine beteiligten Ärzte sahen, noch jene, die an den Folterungen starben – und bei denen Ärzte eine natürliche Todesursache bescheinigten. Sein bitteres Fazit: »Es sind weitaus mehr Ärzte an Folterungen Inhaftierter beteiligt als in Programmen beschäftigt, die überlebende Folteropfer behandeln.« Welcher Systematik die Einbeziehung von Ärzten bei Folter folgt, erklärt der Medizinethiker Holger Furtmayr, der das Istan-

FOLTER UND HEILBERUFE

Besonders verletzlich Wenn staatliche Gewalt eskaliert oder Kriege wüten, ertragen Zivilisten das größte Leid. Sie geraten in die Schusslinie, werden als unfreiwillige Zeugen, Verdächtige oder Zugehörige einer gesellschaftlichen Gruppe inhaftiert, gefoltert und getötet – Überlebende müssen oft flüchten. Heilberufler wie Psychologen und Ärzte sind hier als Opfer, Täter, Helfende oder Experten beteiligt. Amnesty International dokumentiert schwerwiegende Verstrickungen von Menschen, die eigentlich heilen statt quälen sollen und fordert die Ahndung und Aufklärung von Folter und Vertreibung. Gleichzeitig finden sich unter den Heilberuflern besonders engagierte Menschenrechtler, die nicht selten wegen ihres Engagements verfolgt werden. In Deutschland begegnen wir einem Teil der schwersttraumatisierten Opfer von Menschenrechtsverletzungen als Asylsuchende und illegalisierte Flüchtlinge. Plötzlich sind die Überlebenden von Konflikt und Verfolgung unter uns. Sie stellen eine besonders schutzbedürftige und zu versorgende Gruppe in unserer Gesellschaft dar. Ihre Versorgung ist eine gesellschaftliche wie professionell zu bewältigende Aufgabe. Sie dürfen nicht in abgelegenen Industriebrachen sozial isoliert werden, sondern sollen am Leben in unserer Gesellschaft teilhaben können. Professionelle Hilfe kann nicht nur von schlecht oder gar nicht finanzierten Therapiezentren getragen werden, sondern muss langfristig in die deutsche Gesundheitsversorgung eingegliedert werden. Amnesty unterstützt die Psychosozialen Therapiezentren, die seit ihrer Gründung die Aufgabe der Versorgung von traumatisierten Geflüchteten übernehmen. Für ihr ganzheitliches Angebot aus spezialisierten psychosozialen und psychotherapeutischen Hilfen besteht jedoch keine verbindliche Finanzierungsgrundlage, eine flächendeckende Versorgung ist nicht möglich. Diese Initiativen müssen integraler Bestandteil eines sich öffnenden Gesundheitssystems mit umfassenden therapeutisch-psychosozialen Angeboten zur Traumabewältigung sein. Die Übernahme der therapeutischen Angebote wird mit Inkrafttreten des neu geregelten Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylBLG) im März 2015 nicht mehr vor allem durch die Ämter, sondern nach Krankenkassenleistungen geregelt. Diese erkennen die Psychotherapieleistungen der Therapiezentren nicht an. Für die anderen notwendigen psychosozialen Hilfen, Dolmetscherleistungen etc. bestehen keinerlei verbindliche Finanzierungsregelungen. Amnesty fordert schnelle Maßnahmen zur Beseitigung des eklatanten Mangels in der Versorgung dieser besonders verletzlichen Flüchtlinge. Das Ziel ist, dass kein Mensch auf der Welt mehr Opfer von Folter und Verfolgung wird oder zur Flucht gezwungen ist. Solange dies nicht erreicht ist, müssen wir uns um die betroffenen Menschen kümmern. Das Amnesty-Aktionsnetz Heilberufe

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»Es sind weitaus mehr Ärzte an Folterungen Inhaftierter beteiligt als in Programmen beschäftigt, die überlebende Folteropfer behandeln.« bul-Protokoll der UNO, das internationale Standards für die Untersuchung und Dokumentation von Folter festlegt, mit ins Deutsche übersetzt hat: »Es kommt vermutlich eher auf den Grad der ›Professionalisierung‹ der Folter an, ob in der Regel unter direkter ärztlicher oder psychologischer Beilhilfe gefoltert wird. Wenn zum Beispiel, was vor ein paar Jahren noch häufiger vorkam, jemand auf einem türkischen Polizeirevier gefoltert wurde, war sehr wahrscheinlich kein Arzt zugegen.« Zur modernen und gezielten Folter gehört ein Arzt, spontane Übergriffe und Brachialmethoden kommen ohne ihn aus. Doch wie kommt ausgerechnet eine Berufsgruppe, deren Tätigkeit ein hohes Maß an ethischer Kompetenz voraussetzt, dazu, ihren Verhaltenskodex zu verraten? Ärzten werden höchste gesellschaftliche Anerkennung und Vertrauen entgegengebracht. Der hippokratische Eid verpflichtet den Arzt, Menschen zu helfen und ihnen nicht Schaden oder Schmerzen zuzufügen. Auch von Psychologen erwartet man, dass sie in seelischer Not helfen und nicht das Gegenteil bewirken. Was macht Dr. Jekyll zu Mr. Hyde? »Sie haben hier sehr unterschiedliche Täterprofile«, sagt Thomas Wenzel, Professor für Sozialpsychiatrie und Experte zum Thema aus Wien. »Vielen Ärzten ist gar nicht bewusst, dass ihr Verhalten ethisch nicht haltbar ist – weil sie die internationalen Richtlinien gar nicht kennen.« So sei vielen etwa die »Declaration of Malta« nicht geläufig, die dem Arzt die Unterstützung von Zwangsernährung bei Hungerstreikenden untersagt. Auch sei vielen nicht klar, dass sie sich – juristisch betrachtet – an Folter indirekt beteiligen, sobald sie die gesundheitlichen Folgen von Folter und damit den Vorgang selbst nicht dokumentieren. »Es gibt aber auch Ärzte, die selbst bedroht werden, wenn sie Folter auch nur dokumentieren«, sagt Wenzel. Eine Gruppe also, die selbst Schutz braucht, damit sie andere schützen kann. »Und es gibt jene, die sehr wohl wissen, was sie tun und sich dennoch an den Taten beteiligen – siehe die Psychologen, die die Verhörmethoden für den US-Geheimdienst und das Militär im ›War on Terror‹ ausgearbeitet haben«, so Wenzel. Der Medizinethiker Holger Furtmayr weist darauf hin, dass Folter oft auch einen »ideologischen Überbau« habe, wie etwa bei der Beteiligung von Ärzten an der Folter in den lateinamerikanischen Militärdiktaturen: »Die Folterer wähnen sich auf der Seite des moralisch Richtigen«. Folter wird in die eigene Berufsethik integriert, das

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Quälen des Schutzbefohlenen wird zum Teil des Jobs – vor allem bei Militärärzten ist diese Gefahr groß. Und die Opfer? Die Dunkelziffer der Opfer ist bedrückend hoch. Etwa 80 Prozent der Folteropfer werden nicht als solche erkannt – das zeigt eine Studie aus den USA. »Das liegt auch daran, dass die Opfer nicht über die erlittene Folter sprechen«, sagt Sozialpsychiater Wenzel. Gründe seien unter anderem Scham, Schuldgefühle oder kulturelle Hintergründe – in vielen Ländern spricht man nicht über psychische Beeinträchtigungen, weil man dann gesellschaftlich stigmatisiert würde. Umso wichtiger ist es, Standards bei der Begutachtung und Behandlung von Folteropfern zu setzen – gerade in den Ländern, in denen die Opfer Asyl suchen. »Wir müssen es erst einmal schaffen, Folteropfer zu erkennen, zu schützen und zu behandeln«, sagt Wenzel. »Der nächste Schritt ist die Strafverfolgung der Täter.« Eine Traumatisierung durch Folter zu erkennen, ist nicht einfach. Die Symptome können vielfältig sein: Von massiven Angststörungen bis zu psychosomatischen Kopfschmerzen sind viele Krankheitsbilder möglich. Das macht auch den Umgang mit Folteropfern so schwierig. »Die Frage, die ich mir als Arzt stellen muss, ist: War dieser Patient, der da vor mir sitzt, einer Risikosituation ausgesetzt? Aus welchem Land kommt er? Aus welcher Region? War er im Gefängnis? Welche Symptome zeigt er?«, sagt Sozialpsychiater Wenzel. Die Foltertechniken unterscheiden sich von Land zu Land. Die Folgen psychischer Folter sind anderer Art als die Folgen körperlicher Gewalt: »Schläge auf Fußsohlen und Unterschenkel hinterlassen Narben und typische Schmerzen. Isolationshaft und sexuelle Erniedrigung hinterlassen seelische, aber keine sichtbaren Folgen.« Medizinisch betrachtet also ein schwieriges Terrain. Entsprechend schlecht ist die Versorgung. Auch in Deutschland. Statistiken zufolge muss Deutschland für das Jahr 2015 mit mehr als 150.000 traumatisierten Flüchtlingen rechnen – nicht alle sind Folteropfer, aber viele. Doch es fehlt an Früherkennung, an Diagnostik und an Therapieplätzen. Die psychosozialen Behandlungszentren, die sich auch durch das Engagement von Amnesty in Deutschland gegründet haben, können nur einen Bruchteil des Bedarfs decken, nach eigenen Angaben 15 Prozent (mehr dazu Seite 25). Amnesty fordert deshalb die Bundesregierung auf, für die

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»Grausame und erniedrigende Behandlung.« Festnahme eines Verdächtigen durch US-Soldaten im Irak. Foto: Rita Leistner / Redux / laif

nötige medizinische und psychologische Behandlung von durch Folter traumatisierten Asylsuchenden zu sorgen. Dazu ist sie auch verpflichtet laut der alten und der neuen EU-AufnahmeRichtlinie für Flüchtlinge, die bis spätestens Sommer 2015 umgesetzt sein müsste. Müsste. Es komme zu Verzögerungen, heißt es. Hans-Wolfgang Gierlichs, ehemals Leiter einer psychosomatischen Klinik und engagierter Gutachter für Traumafolgen, nimmt das erste Glied dieser bislang nicht funktionierenden Versorgungskette in den Blick: »Zuerst einmal muss sich die Politik zu einer Früherkennung durchringen.« Früherkennung aber bedeutet geschultes Personal – Sozialpädagogen, Ärzte, Psychologen –, das in den Erstaufnahmeeinrichtungen nach traumatisierten Menschen Ausschau hält, sie einer Behandlung zuführt und ihren Schutzstatus bestätigt. Denn Patienten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung, und da schließt sich der Kreis, dürfen nicht abgeschoben werden. Doch ein solches Modell setzt eine beherzte Wende der deutschen Asylpolitik voraus. »Leider ist der Abschreckungsgedanke immer noch sehr stark in der deutschen Politik«, so der Befund Gier-

FOLTER UND HEILBERUFE

LÜCKENHAFTE STRAFVERFOLGUNG Die Strafverfolgung von Ärzten, die an Folter beteiligt waren, ist lückenhaft. Bislang wurden nur vereinzelt Ärzte zur Rechenschaft gezogen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Griechenland das erste Land, in dem sich 1975 ein Arzt wegen Beteiligung an Folter vor einem Kriegsgericht verantworten musste. In den achtziger Jahren verhängten Gerichte in Argentinien, Chile und Uruguay Freiheitsstrafen wegen ärztlicher Mitwirkung an Folter in Zeiten der Militärdiktatur, teilweise wurden Approbationen von den Ärztekammern ausgesetzt oder zurückgezogen. Auch in Südafrika ging man in den achtziger Jahren juristisch gegen Ärzte vor. In den neunziger Jahren kamen Brasilien und Ruanda dazu. Seit 2000 haben Guyana, Pakistan, Sri Lanka und Großbritannien Ärzte für die Mitwirkung an Folter bestraft. Internationale Gerichte verurteilten serbische Ärzte wegen Kriegsverbrechen.

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lichs. Es werde befürchtet, dass noch mehr Flüchtlinge kommen würden, wenn sie hier eine angemessene Behandlung ihrer Traumafolgestörungen erwarten könnten. Amnesty geht jedoch noch einen Schritt weiter: Die Bundesregierung müsse dafür sorgen, »dass Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland in die Lage versetzt werden, Traumatisierungen bei Asylsuchenden zu identifizieren und die Patienten entsprechend zu behandeln oder an spezialisierte Stellen zu verweisen«. Zu viele Fälle blieben sonst unerkannt. Dabei gibt es seit langem bewährte Standards im Umgang mit Folteropfern. Grundlegend ist das Istanbul-Protokoll der Vereinten Nationen, das 1999 veröffentlicht und 2001 als Handbuch herausgegeben wurde. Darin sind Richtlinien für eine rechtliche und medizinische Untersuchung von Folter und Misshandlungen festgelegt. Dazu gehören etwa Fragetechniken im Gespräch mit Folteropfern, Vorgaben für forensische Untersu-

chungen, für strafrechtliche Ermittlungen, die Sicherung von Beweisen oder psychiatrische und psychologische Begutachtungen. Die entsprechenden Standards fristen jedoch trotz ihres langjährigen Bestehens »weitgehend ein Schattendasein« in Ärztekreisen, wie es auf der Homepage der Professur für Ethik in der Medizin an der Universität Erlangen-Nürnberg heißt. Zwar hat die Bundesärztekammer das Curriculum »Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren« in ihr Fortbildungsangebot aufgenommen und den Landesärztekammern auch empfohlen. Allerdings bieten nicht alle Ärztekammern die Fortbildung an. Und das Thema ist nicht beliebt. »Leider gibt es eine sehr geringe Kompetenz und Bereitschaft unter Ärzten, sich mit Traumafolgen zu beschäftigen«, sagt Gierlichs, der das Curriculum vor 14 Jahren mitentwickelte. Dementsprechend bescheiden fällt die Liste der zertifizierten Gutachter für Traumafolgen aus. Nur Bayern, Ba-

Verschärfte Zusammenarbeit Zwei Militärpsychologen der CIA sind mitverantwortlich für die US-Folter von Terrorverdächtigen. Auch der amerikanische Psychologenverband steht unter Verdacht, das Folterprogramm indirekt unterstützt zu haben. Von Maik Söhler

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er mit Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, an das Thema Psychologie und Folter herangeht, kann zu einem schlichten Befund kommen: Bei der Folter von Terrorverdächtigen in diversen von der CIA illegal errichteten Gefangenenlagern hat während der Jahre 2002 bis 2007 das »Ich« versagt« und das »Es« gewonnen. Freud kennzeichnete in seinem dreigliedrigen Modell der menschlichen Psyche das »Ich« als Kontrollzentrum des kritischen Verstandes, das vom »Über-Ich« und vom »Es« beeinflusst werde. Während das »Über-Ich« als moralische Instanz über Ge- und Verbote wache, folge das »Es« dem Lustprinzip und damit auch dem Zerstörungstrieb. Freuds Modell ist hier in mehrerlei Hinsicht interessant, weil das CIA-Folterprogramm unter der Aufsicht der US-Regierung entstand – einer Regierung, der die Gesetzgebung und damit die Deutungshoheit über Ge- und Verbote obliegt. Die Durchführung des Folterprogramms wiederum wurde von der CIA mit dem Wissen ebenjener Regierung an zwei Militärpsychologen vergeben, die im »Offiziellen Bericht des US-Senats zum Internierungs- und Verhörprogramm der CIA«, der Ende 2014 veröffentlicht wurde, nur »Dr. Grayson Swigert« und »Dr. Hammond Dunbar« genannt werden. Die richtigen Namen der Psychologen lauten James Mitchell und Bruce Jessen. Sie haben den überwiegenden Teil der systematischen Misshandlung und Folter von Terrorverdächtigen in

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mindestens 119 Fällen zu verantworten. Und sie haben gut daran verdient: 2005 gründeten sie das Unternehmen »Mitchell Jessen & Associates«, mehr als 82 Millionen US-Dollar waren am Ende der Lohn für ihre Expertise bezüglich Waterboardings, Schlafentzugs, Kälte- und Lärmfolter, Schlägen und Würgegriffen. Man kann also sagen, um ein letztes Mal zur Psychoanalyse zurückzukehren, dass im Fall der US-Folter alle drei Glieder des Freud’schen Modells im negativen Sinne zusammenwirkten: Die Regierung als »Über-Ich« bannte Folter nicht, sondern suchte im Gegenteil neue Begründungen und Legitimationen für die »verschärften Verhörmethoden«, denen Gefangene ausgesetzt wurden. Die CIA und andere ausführende Organe bekamen die Freigabe, als »Es« so destruktiv wie möglich in den Grenzen des Erlaubten zu handeln. »Dr. Grayson Swigert« und »Dr. Hammond Dunbar« schließlich verbanden »Über-Ich« und »Es« und schritten zur Ausführung. Das Ergebnis der Arbeit von Swigert und Dunbar fasste Dianne Feinstein, die Vorsitzende des Geheimdienstausschusses des US-Senats, die den CIA-Folterbericht verantwortet und herausgegeben hat, im Herbst 2014 so zusammen: »Die Haftbedingungen und die Anwendung erlaubter und unerlaubter Verhörund Konditionierungsverfahren waren grausam, unmenschlich und entwürdigend.« Über zig Seiten ist im offiziell freigegebenen Auszug des CIAFolterberichts – ein wesentlich größerer Teil liegt nur der US-Re-

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den-Württemberg, Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen führen überhaupt jeweils bis zu einem Dutzend Ärzte auf, die eine Traumatisierung erkennen und behandeln können. »Misshandlungen zu erkennen, dafür werden wir Ärzte im Studium sensibilisiert – und insbesondere Orthopäden, Kinderund Frauenärzte, Psychiater, Psychotherapeuten, Allgemeinärzte und Chirurgen spezifizieren dies in ihrer Weiterbildungszeit zum Facharzt/zur Fachärztin. Die Folgen von Misshandlungen sind jedoch ein Stiefkind in der ärztlichen Fortbildung«, räumt Ulrich Clever, ehrenamtlicher Menschenrechtsbeauftragter der Bundesärztekammer, ein. Er sieht hierfür allerdings auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die nachgeordneten Erstaufnahmestellen für Flüchtlinge in der Verantwortung. »Die Behörden sind nicht gezwungen, unsere zertifizierten Ärzte, Psychiater und Psychologen, die das Curriculum absolviert haben, als Gutachter für Traumafolgen anzufordern.«

gierung vor und wird wohl unter Verschluss bleiben – von der Rolle Swigerts und Dunbars die Rede. Beide haben ihre Erkenntnisse wohl während ihrer Tätigkeit für ein Trainingsprogramm der US-Armee namens »SERE« (»Survival, Evasion, Resistance, Escape«) erworben, mit dem US-Soldaten, die in Gefangenschaft geraten, gegen mögliche Folter gewappnet werden sollen. Mehrfach beriefen sich Swigert und Dunbar, wie aus den vom Geheimdienstausschuss des US-Senats ausgewerteten Quellen – Protokollen, Telexen, E-Mails, Berichten, Plänen, Briefings etc. – hervorgeht, auf Mittel und Methoden des SERE-Programms, darunter auch solche, die selten (»Einpferchen in dunkle Kisten«) oder nach bisherigem Kenntnisstand nie (»Einsatz von Insekten«, »vorgetäuschte Begräbnisse«) zum Einsatz kamen. Bereits im Juli 2002, so der CIA-Folterbericht, war Swigert (der heute unter seinem richtigen Namen James Mitchell in Florida lebt) an Besprechungen in der CIA-Zentrale beteiligt und setzte sich dabei mit Erfolg für ein Engagement Dunbars ein, der daraufhin einen Vertrag erhielt. Beide Psychologen hatten nachweislich keinerlei Verhörerfahrung, wussten nichts über AlQaida und sprachen erst recht kein Arabisch. Umso diensteifriger gingen die beiden Psychologen anschließend ans Werk. Viele Verhöre in den »Black Sites« genannten Geheimgefängnissen hätten sie persönlich geführt und zwar mit einer Härte, die gestandene CIA-Mitarbeiter dazu brachte, erst Protestnoten einzureichen und schließlich um ihre Versetzung zu bitten. Den überwiegenden Teil des Waterboardings von Khalid Sheikh Mohammed, der mit dieser Methode mindestens 183 Mal gefoltert wurde, hätten Swigert und Dunbar selbst übernommen. Das lässt sich im CIA-Folterbericht nachlesen. In den USA ist die Debatte über Psychologen, die statt Folterund Misshandlungsopfern zu helfen selbst misshandeln und foltern, schon in die nächste Phase eingetreten. So steht die American Psychological Association (APA), der mächtige Dachverband der US-Psychologen, nun selbst in der Kritik. Nicht nur, dass kritische Psychologen Abgrenzungen des Verbands zu den Taten Swigerts und Dunbars vermissen, auch eine Verstrickung der APA in die Vorgänge gilt als erwiesen. Joseph Matarrazo etwa, ehemaliger Präsident der APA, war, wenn auch im kleinen Rahmen, finanziell an der Firma »Mitchell Jessen & Associates« beteiligt.

FOLTER UND HEILBERUFE

FOLTER IM DIENST DER WISSENSCHAFT Ärzte foltern nicht nur im Auftrag von Machthabern oder Staaten. Ärzte foltern auch, um zu forschen. In der Antike sezierten alexandrinische Ärzte Menschen bei lebendigem Leibe – dies war der grausame Beginn der modernen Anatomie. Deutsche Ärzte traktierten im Ersten Weltkrieg Menschen, neben denen Granaten eingeschlagen hatten, mit Elektroschocks. Sie wollten auf diese Weise die Reaktionen dieser sogenannten »Kriegshysteriker« testen. Nationalsozialistische Ärzte nahmen sadistische Untersuchungen an KZ-Häftlingen vor – im Dienste einer rassistischen Wissenschaft.

»Die Haftbedingungen und die Anwendung erlaubter und unerlaubter Verhör- und Konditionierungsverfahren waren grausam, unmenschlich und entwürdigend.« Andere APA-Mitglieder hätten sich an Verhören beteiligt, in denen die Foltermethoden »erzwungene Nacktheit«, »Lärm« und »permanente Beleuchtung« zur Anwendung gekommen seien. Die APA habe davon gewusst und ihre Ethikrichtlinie im Jahr 2002 bewusst gelockert. Wo zuvor nur die Ethikrichtlinie des Verbandes als Grundlage des psychologischen Handelns genannt wurde, sei hinzugefügt worden, dass durchaus auch einer gesetzlichen Anordnung Folge geleistet werden könne. In der »New York Times« bekräftigte der Pulitzer-Preisträger James Risen Ende April bereits zuvor von ihm erhobene Vorwürfe gegen die APA, diese habe enger mit der US-Regierung unter George W. Bush zusammengearbeitet als bisher bekannt gewesen sei. Die APA habe der Regierung bei juristischen und ethischen Formulierungen geholfen, um den Vorwurf der Folter gegenüber Kritikern zu entkräftigen und so die „»verschärften Verhörmethoden« als legitim erscheinen zu lassen. Ein im Juli veröffentlichter Bericht, den die APA zu ihrer eigenen Rolle im CIA-Folterskandal in Auftrag gegeben hat, kommt zu ähnlichen Schlüssen. Der ehemalige Ethikdirektor der APA, Stephen Behnke, habe im Geheimen Aussagen der APA zu den »verschärften Verhörmethoden« mit einem Militärpsychologen abgestimmt. Im Gegenzug erhielt er vom Pentagon einen Vertrag und durfte Verhörspezialisten trainieren. Die American Psychological Association hat sich erst nach Monaten der öffentlichen Kritik zur Selbstkritik durchringen können. Man bedauere zutiefst und entschuldige sich für das eigene Verhalten und die Konsequenzen. Es würden Vorschläge erarbeitet, um die Teilhabe von Psychologen an Verhören künftig zu unterbinden. Auch die Ethikrichtlinien des Verbandes sollen abermals überarbeitet werden. Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

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»Instrumente der Unterdrückung.« Gefängnis des Islamischen Staates in Syrien. Dort wurde auch der US-Fotograf James Foley, der später hingerichtet wurde, festgehalten. Foto: Jasper Juinen / The New York Times / Redux / laif

Dies bedeute für die Flüchtlinge, dass ein Großteil ihrer Gutachter nicht ausreichend geschult sei – und für die Ärzte fehle der Anreiz, sich entsprechend fortzubilden. »Ein sehr ärgerlicher Zustand«, so Clever. Alles in allem scheint die Forderung von Amnesty, die Richtlinien des Istanbul-Protokolls in die Lehrpläne der Ärzte- und Therapeutenausbildung zu integrieren und ausreichende Fortbildungen zu diesem Thema anzubieten, einen wunden Punkt in der Ärzteschaft zu berühren. Oder wie Gierlichs es formuliert: »Es gibt viel zu wenig Diagnostik im Bereich Traumatisierung. Dafür bräuchten wir ganz andere Zahlen von ausgebildeten Ärzten.« Doch es rumort auch in der internationalen Ärzteschaft ob der eigenen Rolle im Umgang mit Folter. Mitglieder des Weltärztebundes fordern seit mehreren Jahren eine Überarbeitung der 1975 verabschiedeten »Erklärung von Tokio«. Diese ist durchaus ein Meilenstein in der medizinischen Ethik: Sie verurteilt die Beteiligung von Medizinern an Folterungen, grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Vorgängen sowie jegliche Handlungen, die die Fähigkeit des Opfers herabsetzen,

derartiger Behandlung zu widerstehen. Sie dient vielen medizinischen Richtlinien als Mustervorlage. Und der Weltärztebund hat die Erklärung auch mehrfach überarbeitet, dennoch, so die Kritiker, zu denen auch der US-amerikanische Medizinethiker Miles gehört, müsse sie die Rolle und Verantwortung von Medizinern in den Folter praktizierenden Ländern deutlicher herausstellen – und Wege aufzeigen, wie diese beruflich und strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnten. Miles, der sich in seinem neuen Buch »Doctors who torture« mit der Straflosigkeit von an Folter beteiligten Ärzten beschäftigt, vermutet, »dass der Weltärztebund sich wohl nicht mit der Frage der Verantwortlichkeit auseinandersetzen will«. Die Autorin ist Journalistin und lebt in Berlin. Weitere Informationen: www.sbpm.de: Zertifizierte Traumafolgen-Ärzte/-Psychologen in Deutschland. http://doctorswhotorture.com: Internationale Dokumentation von Fällen, in denen Ärzte für die Beteiligung an Folter bestraft wurden.

»Wir müssen es erst einmal schaffen, Folteropfer zu erkennen, zu schützen und zu behandeln. Der nächste Schritt ist die Strafverfolgung der Täter.« 22

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MAROKKO: FREIHEIT FÜR WAFAE CHARAF UND OUSSAMA HOUSNE!

STOP FOLTER

VIELEN DANK!

Wafae Charaf und Oussama Housne, © Privat

Exzellenz, die 27-jährige Wafae Charaf und der 23-jährige Oussama Housne wurden 2014 nach eigenen Angaben nach friedlichen Protesten willkürlich festgenommen und gefoltert. Als sie dies öffentlich machten, wurden sie wegen »falscher Anschuldigung« und »Verleumdung der Polizei« zu zwei bzw. drei Jahren Haft verurteilt. Die beiden jungen marokkanischen Aktivist_innen sind Mitglieder der Menschenrechtsvereinigung Association Marocaine des Droits Humains (AMDH). Amnesty International betrachtet sie als gewaltlose politische Gefangene. Die Urteile senden eine unmissverständliche Botschaft: Wer in Marokko als Folteropfer gegen die Verantwortlichen Klage einreicht, läuft Gefahr, selbst hinter Gittern zu landen.

Amnesty International wird alle Unterschriften an den marokkanischen Justizminister weiterleiten. Bitte tragen Sie sich in der rechten Spalte ein, wenn Sie weitere Informationen zu unserer Arbeit und den Möglichkeiten der Unterstützung von Amnesty International möchten. Die Angabe dieser Daten ist freiwillig. Sie sind nicht Teil der Petition und werden von uns nicht an den Adressaten weitergegeben.

ICH FORDERE SIE DAHER AUF, ▪ dafür zu sorgen, dass Wafae Charaf und Oussama Housne unverzüglich und bedingungslos freigelassen werden; ▪ wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um Folteropfer und Zeug_innen vor Einschüchterung, Vergeltung und Gegenklagen zu schützen, und dafür die Bestimmung im Strafgesetz aufzuheben, welche Verleumdung und Beleidigung von Beamt_innen kriminalisiert; ▪ sicherzustellen, dass alle Berichte über Folter und Misshandlung unverzüglich, wirksam, unparteiisch und unabhängig untersucht werden. Bitte in Druckbuchstaben schreiben. Name

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EIN KAHLER RAUM SEIT TAGEN KEIN SCHLAF MÜDE KURZ VORM EINSCHLAFEN EIN SCHLAG INS GESICHT MÜDE KURZ VORM EINSCHLAFEN EIN SCHLAG INS GESICHT EIN SCHLAG INS GESICHT EIN SCHLAG INS GESICHT BIS DU WAS DAGEGEN TUST. AUF AMNESTY.DE/STOPFOLTER


Stimme der Verstummten Viele Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sind schwer traumatisiert. Die Behandlungszentren für Folteropfer sind oftmals die einzigen Einrichtungen, die therapeutische Hilfe anbieten. In Ulm entstand vor 20 Jahren eine der ersten Initiativen. Die wechselvolle Geschichte des Zentrums zeigt, mit welchen Schwierigkeiten die Aktivisten zu kämpfen haben – und wie wichtig ihr Einsatz ist. Von Urs M. Fiechtner

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in großes Verdienst vieler Amnesty-Kampagnen liegt oft darin, ein Menschenrechtsthema überhaupt erst in die Öffentlichkeit zu bringen und damit eine gesellschaftliche Entwicklung in Gang zu setzen, die ohne einen solchen Anstoß nicht denkbar gewesen wären. Schon die erste internationale Kampagne war ein Beispiel dafür: Am 10. Dezember 1972 startete Amnesty die »Campaign Against Torture« mit dem weitgreifenden Ziel, »die Folter so undenkbar zu machen wie die Sklaverei«, so der damalige Amnesty-Generalsekretär Sean McBride. Aufgrund dieser Analogie wurde das Kampagnenkürzel CAT häufig auch als »Campaign for the Abolition of Torture« ausgeschrieben. Die Resonanz in der Öffentlichkeit war enorm und schwankte zwischen Überraschung und Empörung, denn über die Existenz von Folter hatte es bisher kaum öffentliche Debatten gegeben. Für die meisten Menschen war der Begriff unklar, viele brachten ihn eher mit den Verliesen der Inquisition oder den Kerkern der Gestapo in Verbindung als mit einer Praxis der Gegenwart. In der geteilten Welt des Kalten Krieges machte man Folter – wenn überhaupt – nur der jeweils anderen Seite zum Vorwurf. Weit gefehlt: Der im Zuge der Kampagne veröffentlichte, sorgfältig recherchierte Amnesty-Bericht belegte die Existenz staatlich angeordneter und systematisch organisierter Folter in über 60 Ländern in Ost und West. Die Zeitungen waren voll davon, in der Bundesrepublik wurde der »Bericht über die Folter« (Fischer Taschenbuch Verlag) bald zum Bestseller. 1973 verabschiedete die UNO-Vollversammlung einstimmig eine Resolution gegen Folter, und nach jahrelanger Kampagnenarbeit von Amnesty und anderen Organisationen wurde 1984 endlich die UNO-Antifolterkonvention verabschiedet.

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Auch im Hinblick auf die praktische Hilfe für Folterüberlebende zeigte die Kampagnenarbeit ungeahnte Wirkung. Amnesty hatte Mediziner dazu aufgerufen, sich mit der Kampagne zu solidarisieren und sowohl Methoden zur wissenschaftlichen Erforschung von Folterfolgen wie auch zur therapeutischen Hilfe zu entwickeln. Innerhalb weniger Monate schlossen sich 4.000 Ärztinnen und Ärzte aus 34 Ländern zu einem internationalen Netzwerk (Amnesty Health Network, in Deutschland heute vertreten durch das Amnesty-Aktionsnetz Heilberufe) zusammen – vielleicht auch als Gegenreaktion auf die beschämende Nachricht, dass in vielen Ländern Angehörige von Heilberufen mit zu den Tätern gehörten. In einigen Ländern, darunter Schweden, Chile, Griechenland und Dänemark, begannen Mediziner mit der systematischen Analyse von Folterfolgen. In Dänemark entstand daraus 1978 eine Gruppe von Ärztinnen und Ärzten, die sich unter Leitung von Dr. Ines Genefke vor allem der physischen und psychischen Rehabilitation von Folterüberlebenden widmete. Die Arbeit der Gruppe war so erfolgreich, dass sie ab 1982 als eigenständige, unabhängige Organisation eine Abteilung im Nationalen Hospital Kopenhagen aufbauen konnte. Mit diesem nun förmlich etablierten Rehabilitation and Research Centre for Torture Victims (RCT, heute Dignity), das in den Medien häufig kurz als »AmnestyKlinik« bezeichnet wurde, war das weltweit erste Behandlungszentrum für Folteropfer entstanden. Kopenhagen wurde sehr rasch zum Vorbild. Die Gruppe um Ines Genefke hatte nicht nur wissenschaftlich belastbare Methoden für die Analyse und Behandlung von Folterfolgen entwickelt, sondern gleichzeitig auch bewiesen, dass aus einer kleinen Privatinitiative eine anerkannte medizinische Institution werden

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kann. Das Beispiel ging um die Welt: Unter dem Dach des aus dem RCT entstandenen International Rehabilitation Council for Torture Victims (IRCT) sind heute 145 Behandlungszentren in über 70 Ländern der Welt miteinander vernetzt. Auch in der Bundesrepublik entstanden Ende der siebziger und in den achtziger Jahren Initiativen für die Gründung von Behandlungszentren. Wie in Frankfurt am Main oder Düsseldorf gingen diese Initiativen jedoch meist nicht von der Ärzteschaft aus, sondern von Ehrenamtlichen aus Asylarbeitskreisen, Flüchtlingsräten und Amnesty-Gruppen. Sie reagierten damit auf die steigende Anzahl der Flüchtlinge, die aus Diktaturen und Kriegsgebieten nach Deutschland kamen und hier auf ein unzureichend vorbereitetes Gesundheitssystem stießen. Viele der Flüchtlinge litten unter einer schweren Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), ohne dass ihnen die niedergelassenen Psychiater und Psychotherapeuten wirksam hätten helfen können. Teils wegen des ohnehin eingeschränkten Zuganges von Flüchtlingen zum deutschen Gesundheitssystem, teils wegen der Sprachbarriere – die dolmetschergestützte Therapie war noch weitgehend unbekannt und die Krankenkassen weigerten sich damals wie heute, Dolmetscher zu finanzieren. Hinzu kam, zumindest in den Augen erfahrener AmnestyMitglieder, dass die erfolgreiche Therapie eines durch Folter und Gewalt gezeichneten Menschen besonderer Kenntnisse bedarf. Das knappe Überleben einer Naturkatastrophe oder eines

WAS MUSS BESSER WERDEN? e Amnesty fordert die Bundesregierung, die Länder und die Kommunen dazu auf, eine verbindliche, langfristige und nachhaltige (Teil-)Finanzierung der psychosozialen Behandlungszentren durch öffentliche Mittel zu beschließen, um ausreichende Behandlungsmöglichkeiten für alle durch Folter traumatisierten Flüchtlinge zu sichern. r Die Bundesregierung soll zudem, im Falle einer Bewilligungs- und Auszahlungsverschiebung der Fördermittel der EU, eine Zwischenfinanzierung der Zentren herstellen, so dass die fehlende Finanzierung nicht zu Lasten der Flüchtlinge und Asylsuchenden geht. t Sie soll dafür sorgen, dass die Leistungen der psychosozialen Behandlungszentren als »pauschalisierte Komplexleistungen« im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung anerkannt werden. Unter anderem soll der Einsatz von qualifizierten Dolmetschern von der Gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden. u Die Bundesregierung soll sich außerdem darum kümmern, dass behandlungsbedürftige traumatisierte Flüchtlinge auch schon während der ersten 15 Monate ihres Aufenthalts in Deutschland, in denen ihnen nur die Grundversorgung nach dem AsylbLG zusteht, die nötige Behandlung erhalten. i Das Gesundheitsministerium und die Bundesärztekammer sollten dazu beitragen, dass Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland in die Lage versetzt werden, Traumatisierungen bei Asylsuchenden zu identifizieren und die Patienten entsprechend zu behandeln oder an spezialisierte Stellen zu verweisen. Hierfür sollten die Richtlinien des Istanbul-Protokolls in die Lehrpläne der Ärzte- und Therapeutenausbildung integriert werden.

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schweren Unfalls und viele andere schreckliche Erfahrungen können einen Menschen über die Grenzen seiner seelischen Belastbarkeit stoßen – aber ein Erdbeben wird ihm nicht planvoll von anderen Menschen zugefügt. Mit den 1991 einsetzenden Kriegen im ehemaligen Jugoslawien stieg der Druck noch weiter an: Allein aufgrund des Bosnienkrieges kamen zwischen 1992 und 1995 rund 350.000 Menschen nach Deutschland, von denen ein hoher Prozentsatz traumatisiert war – unter ihnen insbesondere Frauen, die im Zuge »ethnischer Säuberungen« Opfer militärisch organisierter Massenvergewaltigungen geworden waren. In Süddeutschland war die Lage besonders desolat. Viele Folterüberlebende hätten lange Reisen auf sich nehmen müssen, um in einer anderen Stadt in therapeutische Behandlung zu kommen, und dies auch noch regelmäßig über Wochen und Monate hinweg, trotz unbezahlbarer Fahrtkosten und trotz der Residenzpflicht für Asylbewerber. Auch die große Region rund um Ulm gehörte dazu. Hier lebten damals rund 10.000 Flüchtlinge, von denen geschätzte 25 Prozent traumatisierte waren. Ein Behandlungszentrum musste her! Am Anfang bestand die Ulmer Initiative nur aus zwei Amnesty-Mitgliedern. Eine Lehrerin und ein Künstler – beides Berufe, die in der Regel weder mit übermäßigem gesellschaftspolitischen Einfluss noch unbegrenzten Geldmitteln verbunden sind. Was die beiden Initiatoren aber hatten, das war Amnesty: gute Argumente auf der Basis gesicherter Fakten, ein großes Netzwerk erfahrener Menschenrechtsaktivisten und -experten und einen guten Namen, der Türen öffnen kann. Innerhalb nur weniger Monate bildete sich ein Initiativkreis mit Unterstützern aus der Bürgerschaft, aus Kirchen und Parteien, von Amnesty und anderen Organisationen. Die Strategie war einfach: Es musste ein Träger gefunden werden, der in der Lage war, ein Behandlungszentrum institutionell aufzubauen. Und um ihn zu finden, musste das Thema so breit wie möglich in die Öffent-

Die Anzahl der Flüchtlinge, die aus Diktaturen und Kriegsgebieten nach Deutschland kamen, stieg an, sie stießen hier auf ein unzureichend vorbereitetes Gesundheitssystem. AMNESTY JOURNAL | 08-09/2015


Vorbild Dänemark. Das Rehabilitation and Research Centre for Torture Victims im Nationalen Hospital Kopenhagen, 1983. Foto: Peter Marlow / Magnum Photos / Agentur Focus

lichkeit getragen werden. Hunderte Veranstaltungen wurden organisiert, parallel dazu fanden Gespräche mit Einrichtungen des Gesundheitssystems und der Wohlfahrtsverbände statt. Wie so oft, wenn man in Deutschland ein sinnvolles Anliegen hat, stieß man allerorts auf offene Ohren, aber auf verschlossene Geldbeutel. Angesichts der restriktiven Regelungen des 1993 verabschiedeten Asylbewerberleistungsgesetzes waren die Sorgen groß, die Behandlung von Folteropfern finanziell nicht schultern zu können. Der Initiativkreis erhöhte den öffentlichen Druck und bekam zudem durch das Amnesty-Aktionsnetz Heilberufe kompetentes ehrenamtliches Personal in Aussicht gestellt. Schließlich fand sich ein Träger in Gestalt des REHA-Vereins für soziale Psychiatrie Donau-Alb. Im Januar 1995 nahm das Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm (BFU) seine Arbeit auf, zunächst mit dem ehrenamtlichen Einsatz von drei Aufnahmeärzten, rund 20 kooperierenden Ärzten und Ärztinnen, Therapeuten, Rechtsanwälten und Sozialarbeitern sowie Dolmetschern für die Region rund um die Stadt. Schon im ersten Jahr waren etwa 100 Klienten in Diagnostik und Therapie, viele von ihnen Kurden aus der Türkei (25 Pro-

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zent), Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien (20 Prozent), Flüchtlinge aus Pakistan, Indien und Sri Lanka (15 Prozent), dem Nahen Osten (10 Prozent) sowie aus den GUSStaaten, Afrika und dem Mittleren Osten (30 Prozent). Der ewige Kampf um die Finanzierung der Arbeit blieb dabei der ständige Begleiter des BFU wie auch fast aller anderen Behandlungszentren. Immer wieder mussten Krisen überstanden oder mit vereinten Kräften eine bevorstehende Schließung abgewendet werden. Dennoch war es möglich, vor allem mit der Hilfe von Amnesty und aus einem großen Unterstützerkreis, die Arbeit immer weiter auszubauen. Heute arbeiten über 30 Personen für das BFU, die überwiegende Mehrheit als Honorarkräfte auf Stundenbasis. Nach jahrelangen politischen Auseinandersetzungen gibt es nun einen Zuschuss des Landes Baden-Württemberg, der knapp ein Drittel der jährlichen Kosten auffängt. Hinzu kommen Kommunen, kirchliche Mittel, die Beiträge von Spendern und Förderern und die Unterstützung von Amnesty. Nachdem das BFU in den vergangenen 20 Jahren mehrere Male vor der Schließung stand, ist die finanzielle Not inzwischen etwas gelindert, die Therapieplätze für 100 bis 130 Klien-

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Grenzen der seelischen Belastbarkeit. Behandlungszentrum f端r Folteropfer in Berlin-Moabit. Foto: Amin Akhtar / laif

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ten pro Jahr sind halbwegs abgesichert. Aber die Warteliste derer, denen vorläufig aufgrund der begrenzten Kapazitäten keine Therapie angeboten werden kann, ist lang. Und sie wird länger werden, weil sich mit den steigenden Flüchtlingszahlen auch der Bedarf an Therapieplätzen erhöht. Deshalb müssten dringend neue Stellen geschaffen werden. Zurzeit werden Folter- und Gewaltüberlebende aus über 20 Ländern im BFU behandelt. Ein größerer Anteil kommt aus Afghanistan (15 Prozent), aus Nigeria (12 Prozent) und aus der Türkei (9 Prozent), gefolgt von Flüchtlingen aus den Balkanstaaten, Iran, Pakistan, Irak, Syrien, Tschetschenien, Russland, Georgien, Kongo, Togo, Uganda, Sierra Leone, Algerien, Gambia und Kolumbien. In gewisser Weise sind Behandlungszentren für Folter- und Gewalttraumatisierte ein Spiegel der Krisenherde unserer Zeit. Aber sie spiegeln die Situation nicht unmittelbar, sondern verzögert wider. Viele Traumatisierte benötigen Zeit, bis sie bereit sind, Hilfe anzunehmen. Oder bis sich ein Sozialarbeiter, Arzt, Freund oder ein ehrenamtlicher Helfer findet, der sie an ein Zentrum vermittelt. Und manchmal kann es Jahre dauern, bis jemand bereit ist, seine Geschichte zu erzählen. Es ist vielleicht die Tragik der in Deutschland immer wiederkehrenden Debatten über Flüchtlinge, dass zu wenig über deren Geschichten gesprochen wird. Manchmal, weil man ihnen nicht zuhören will oder kann, und manchmal, weil sie so Unaussprechliches erlebt haben, dass sie es nicht aussprechen können. Sehr wahrscheinlich wird jeder, der schon einmal praktische Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit gesammelt hat, irgendwann auf den Gedanken gekommen sein, dass es in Deutschland wohl viel weniger Ausländerfeindlichkeit gäbe und ganz gewiss keine Attacken auf Flüchtlingsunterkünfte, wenn die einen fähig wären zuzuhören und die anderen fähig wären zu erzählen. Auf Folter- und Gewaltüberlebende trifft dies ganz besonders zu: Wenn sie verstummen, muss jemand an ihrer Stelle sprechen. Das BFU hat daher seine Öffentlichkeitsarbeit immer stärker auf die Anliegen der Menschenrechtsbildung ausgerichtet. In Zusammenarbeit mit Amnesty im Bezirk Ulm werden jährlich bis zu 100 Veranstaltungen in der Jugend- und Erwachsenenbildung in ganz Süddeutschland vermittelt oder organisiert.

AKTIONSNETZ HEILBERUFE Das Amnesty-Aktionsnetz Heilberufe engagiert sich in vier Bereichen: Heilberufler/innen als Opfer, Täter, Helfende und Experten hinsichtlich schwerer Menschenrechtsverletzungen. Mitglieder dieser Gruppe engagieren sich schon seit Jahrzehnten in regionalen therapeutischpsychosozialen Zentren. Eine Gründung ist die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e.V). Die wesentlichen Schwerpunkte sind: a Menschenrechtsbildung innerhalb von Amnesty wie auch an Universitäten in der Öffentlichkeit a Interprofessionelle, fachliche Netzwerkarbeit zum schnellen Informationsaustausch und internationale politische Arbeit, a Inhaltliche Arbeit – aktuell zu den Themen Menschenrechte und psychiatrische Behandlung, therapeutische und psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen und Folteropfern weltweit, Rechte HIV-positiver Mütter in Südafrika, Umsetzung internationaler Normen bezüglich des Menschenrechts auf Gesundheit Weitere Infos unter E-Mail: interesse@amnesty-heilberufe.de

In diesem Jahr begeht das BFU den 20. Jahrestag seiner Gründung. Gefeiert wird aber nicht: Die Feier sparen wir uns auf für den Tag, an dem solche Einrichtungen überflüssig geworden sind, für den Tag, an dem Folter endlich so »undenkbar« geworden ist, wie es schon die erste Antifolterkampagne von Amnesty angestrebt hatte. Das wird noch eine Weile dauern. Aber es wird vielleicht etwas schneller gehen, wenn möglichst viele Menschen sich der »Stop Folter«-Kampagne von Amnesty anschließen und zusätzlich die Arbeit der Behandlungszentren für Folteropfer unterstützen. Der Autor ist Schriftsteller und Amnesty-Mitglied.

Es ist vielleicht die eigentliche Tragik der in Deutschland immer wiederkehrenden Debatten über Flüchtlinge, dass zu wenig über deren Geschichten gesprochen wird. FOLTER UND HEILBERUFE

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»Wir haben es mit starken Menschen zu tun« Ein Gespräch mit dem Arzt Ernst-Ludwig Iskenius über die Möglichkeiten, traumatisierte Flüchtlinge in Deutschland zu behandeln. Welche Erfahrungen haben Sie dazu geführt, traumatisierte Flüchtlinge zu behandeln? Zum ersten Mal wurde ich mit diesem Thema konfrontiert, als ich in Bosnien Flüchtlingslager als Freiwilliger unterstützt habe. Damals hatte ich mit Traumatisierung und der psychosozialen Situation von Flüchtlingen keine Erfahrung. In unserer Ausbildung kam dieses Thema nicht vor. Als ich 1995 nach Deutschland zurückkehrte, betreute ich zusammen mit anderen ehrenamtlich bosnische Flüchtlinge. Daraufhin haben wir 1998 ein kleines psychosoziales Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge in Villingen-Schwenningen gegründet. Das Zentrum habe ich 15 Jahre ärztlich geleitet. Wie erkennt man, dass jemand ein Folteropfer ist? Es steht den Menschen meist nicht auf die Stirn geschrieben, ob sie traumatisiert sind. Im Gegenteil: Sie versuchen, sich so normal wie möglich zu verhalten. Über das Trauma, vor allem wenn es mit Folter zu tun hat, wird nicht gesprochen, da es häufig mit viel Scham besetzt ist. Zum eigenen Schutz werden Erinnerungen an dieses schreckliche Leid vermieden. Zunächst muss man feststellen: Worunter leiden die Menschen? Welche Symptome haben sie? Vor allen Dingen muss man eine Beziehung aufbauen, sodass die Menschen das Gefühl haben: Hier ist jemand, der mich versteht. Wenn dies gelingt, können wir anfangen, systematisch die Lebensgeschichte aufzuarbeiten. Dabei knüpfen wir nicht an die schlechten, sondern an die guten Erlebnisse an, um die psychischen Ressourcen zu mobilisieren. Anschließend tasten wir uns langsam an die traumatischen Situationen heran. Wie haben Sie diese spezielle Therapie entwickelt? Wir haben uns zunächst gefragt, was die Menschen eigentlich brauchen. Das war zum einen Sicherheit, zum anderen Verlässlichkeit und einen Ansprechpartner, also jemanden, mit dem sie kommunizieren konnten. Deswegen haben wir von Anfang an mit Dolmetschern gearbeitet. Das ist natürlich eine andere Situation als in einer psychotherapeutischen Zweierbeziehung, aber wir haben gute Erfahrungen damit gemacht. Wie hoch sind die Chancen auf eine Heilung? Das kommt sehr stark auf drei Momente an: Das eine ist, wie viele Ressourcen die Menschen selbst haben – ob sie eine gute

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oder schlechte Kindheit hatten, spielt zum Beispiel eine sehr entscheidende Rolle. Wichtig ist, wie frühzeitig Bedingungen geschaffen werden, damit sie ihre eigenen inneren Selbstheilungskräfte mobilisieren können. Und natürlich kommt es auch auf die Schwere des Traumas an. Ein Folteropfer wird sicher immer irgendwelche seelischen Narben davontragen. Entscheidend ist, dass die Menschen so bald wie möglich wieder ein möglichst normales Leben führen können. Die Opfer völlig zu heilen und sie so wiederherzustellen, wie sie vor der Folter waren, ist meiner Erfahrung nach nicht möglich. Wie schwierig ist es für einen traumatisierten Flüchtling, eine Therapie zu bekommen? In der Versorgung dieser besonders verletzlichen Gruppe gibt es in Deutschland noch erhebliche Defizite. Es gibt nur wenige Institutionen und Therapeuten, die Erfahrung mit Folterüberlebenden haben. Außerdem gilt ja nach wie vor das Asylbewerberleistungsgesetz. Zumindest den Sozialämtern ist heute aber immerhin klar, dass Flüchtlinge ein Recht auf Behandlung haben, wenn bei ihnen eine Traumatisierung nachgewiesen wurde. Es gibt spezielle Ambulanzen, die sich damit beschäftigen – an den Universitätskliniken, aber auch an kleineren Krankenhäusern. Einige Psychiatrien haben spezielle Sprechstunden eingerichtet. Wenige Hausärzte beginnen ebenfalls, sich um diese Menschen zu kümmern. Allerdings ist das bisher nur auf das zufällige persönliche Engagement einzelner Personen zurückzuführen. Strukturelle Änderungen brauchen viel Zeit. Dabei ist in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel versäumt worden. Aber die wichtigsten Dinge sind zunächst gar nicht so sehr die entsprechenden Therapieangebote. Wichtig sind vor allem möglichst normale Wohnverhältnisse, Integration und Sprache, sodass sie sich eben auch selbst helfen können und aus den Abhängigkeiten herauskommen. Gerade Folteropfern, die extreme Ohnmacht und Abhängigkeiten erlebt haben, muss man die Möglichkeit geben, wieder an ihre früheren alten Ressourcen oder Fähigkeiten anzuknüpfen. Das würde vielen Leuten bereits helfen. Spielt der Ort der Unterbringung dabei eine Rolle? Es ist ein riesiges Problem, dass Flüchtlinge häufig an völlig abgelegenen Orten untergebracht werden, dass man sie regelrecht verstecken will. Darunter leiden Flüchtlinge und trauma-

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Warum hat das Thema Traumatisierung so lange Zeit keine Rolle gespielt? Flüchtlinge sollten stets abgewehrt und abgeschreckt werden. Wenn überhaupt, dann haben sich private Initiativen wie unsere um sie gekümmert. Am Anfang wurden wir von den Behörden, aber auch von der medizinischen Seite belächelt oder ausgegrenzt. Das hat sich aber im Laufe der Zeit geändert. Die Behörden sehen selbst, dass viele Konflikte, die durch die Traumatisierung bedingt sind, viel besser gelöst werden können, wenn man die Menschen frühzeitig behandelt. Letztlich ist es für sie billiger. Wie ist die Situation der Behandlungszentren? Dass die Behandlungszentren über so lange Jahre kontinuierlich arbeiten, ist ein großes Wunder und hat damit zu tun, dass viele Leute auch gerne in diesen Zentren arbeiten. Aber alle Zentren sind nach wie vor in einer finanziell prekären Situation. Die Leistungen, die sie erbringen, müssen endlich kostendeckend bezahlt werden. Dafür ist eigentlich die Gesetzliche Krankenversicherung zuständig. Die Palliativmedizin, also die Behandlung von Patienten, die unter großen Schmerzen leiden und nur noch eine geringe Lebenserwartung haben, könnte dabei als Beispiel dienen. Dort werden mittlerweile komplexe Leistungen von der Gesetzlichen Krankenversicherung finanziert. Es werden nicht nur die rein somatischen, medikamentösen Hilfsmittel und so weiter bezahlt, sondern auch die psychosoziale Betreuung. Ich denke, etwas Ähnliches müsste mit den psychosozialen Zentren und mit allen Strukturen, die sich mit traumatisieren Migranten und Flüchtlingen beschäftigen, auch möglich sein. Allerdings werden auch die Zentren keine flächendeckende Versorgung aller traumatisierten Flüchtlinge sicherstellen kön-

nen. Es muss ein abgestuftes Konzept zur Integration in das vorhandene Versorgungssystem erarbeitet werden. Das kann man aber nicht dem Innenministerium überlassen, sondern das Gesundheitsministerium sollte sich endlich darum kümmern. Die in der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossenen psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) können ihre jahrelangen Erfahrungen als spezialisierte Kompetenzzentren wirksam in ein solches Versorgungsnetz einbringen. Es bedarf nämlich einer »Alphabetisierung« im Umgang mit dieser höchst verletzlichen Personengruppe unter den Heilberuflern. Was gibt Ihnen die Energie, sich über so lange Zeit mit diesem doch sehr schwierigen Thema zu beschäftigen? Diese Frage wird mir sehr häufig gestellt und ich kann nur antworten: die Menschen selber. Wir haben es mit Menschen zu tun, die sehr stark sind, die starke Persönlichkeiten sind, die natürlich schlimmste Sachen erlebt, aber auch überlebt haben und sich bemühen, in die Normalität zurückzufinden. Ich muss sagen: Ich habe in dieser Arbeit sehr viel gelernt, nicht nur über mich selber, sondern auch über unsere Gesellschaft und habe von meinen Patienten viele Anregungen bekommen, wie man die Welt auch anders sehen könnte. Und das macht stark. Fragen: Anton Landgraf

INTERVIEW ERNST-LUDWIG ISKENIUS Foto: privat

tisierte Menschen sehr stark. Sie sind durch ihre Traumata schon in sich isoliert und haben Schwierigkeiten, Beziehungen wieder aufzubauen. Und dann werden sie noch irgendwo weit weg in den Wald hingesetzt. In großen Sammelunterkünften mit ihren besonderen Belastungen (Lärm, unterschiedliche Gerüche, Enge, Konflikte) sind Folteropfer psychisch völlig überfordert und werden durch die Umgebung ständig an ihre leidvollen Erfahrungen erinnert. Dadurch werden sie zusätzlich krank.

Ernst-Ludwig Iskenius ist Arzt und hat unter anderem mehrere Jahre in einer pädiatrischen Praxis mitgearbeitet, bevor er den Verein Refugio e.V. in Villingen-Schwenningen für traumatisierte Flüchtlinge aufgebaut und 15 Jahre ärztlich geleitet hat. Zur Zeit arbeitet er in der spezialisierten Palliativmedizin für Kinder und Jugendliche (SAPV) in Rostock.

»Ein Folteropfer wird sicher immer irgendwelche seelischen Narben davontragen. Entscheidend ist, dass die Menschen so bald wie möglich wieder ein möglichst normales Leben führen können.« FOLTER UND HEILBERUFE

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Entführt und vergewaltigt. Frau in einem Flüchtlingszentrum in Süd-Kivu, DR Kongo. Foto: Falvo Alfredo / contrasto / laif

»Gewalt setzt sich im Frieden fort« In der Demokratischen Republik Kongo werden Massenvergewaltigungen systematisch als Kriegswaffe eingesetzt. Ein Gespräch mit Alena Mehlau, Psychologin bei medica mondiale e.V., über ihre Arbeit mit traumatisierten Frauen. Wenn Frauen nach einer Vergewaltigung medizinische oder psychologische Unterstützung suchen, worauf kommt es dabei an? Ein Grundprinzip besteht darin, sichere Räume zu schaffen. Eine Vergewaltigung ist eine traumatische Erfahrung. Das Ziel unserer Projekte ist ein geduldiger Vertrauensaufbau, der auf langfristige Beziehungen hinwirkt. Gelingt es unseren Beraterinnen vor Ort, dabei auch das soziale Umfeld der betroffenen Frauen einzubeziehen, kann das wesentlich dazu beitragen, vor Posttraumatischen Belastungsstörungen zu schützen. Sind das die Leitlinien Ihrer Arbeit? Das Besondere ist, dass unser Ansatz, Vertrauen und langfristige Beziehungen aufzubauen, sehr niedrigschwellig ist: Er lässt sich nicht nur in beratenden oder therapeutischen Settings anwenden, sondern in jeder Form von Unterstützung für Frau-

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en, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Wir wissen, dass nur ein kleiner Teil der Frauen therapeutische Unterstützung braucht. Wesentlich sind andere Formen der Unterstützung, wie sozioökonomische Programme, Rechtshilfe und Gesundheitsprogramme in den Gemeinden, in denen die Frauen leben. Deswegen haben wir trauma-sensible Leitlinien entwickelt, die das Ziel verfolgen, eine ganzheitliche Unterstützung von Frauen sicherzustellen. Ist es überhaupt möglich, die betroffenen Frauen anzusprechen, wenn sexualisierte Gewalt tabuisiert ist? Die Dunkelziffer ist immens. Viele Frauen sprechen aufgrund der Stigmatisierung, Marginalisierung und der Tatsache, dass sie dann aus der Gesellschaft oder von ihren Partnern oder Ehemännern verstoßen werden, nicht darüber, dass sie sexualisierte Gewalt erfahren mussten. Wer dann tatsächlich Hilfe und

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Unterstützung sucht, wer den Mut hat, das Leid und die schmerzvolle Erfahrung anderen Menschen anzuvertrauen, erhält indes nur einen Bruchteil der tatsächlich angemessenen Unterstützung. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Kriege, Konflikte und auch andere Formen sexualisierter Gewalt in Regionen stattfinden, die teilweise immer noch sehr unsicher und nur extrem schwer erreichbar sind. Die Mitarbeiterinnen unserer Partnerorganisationen im Kongo, beispielsweise in Nord- und Süd-Kivu, müssen mitunter Tagesmärsche auf sich nehmen, um die Dörfer zu erreichen, in denen sie Frauen unterstützen wollen. Was meinen Sie genau, wenn Sie von sexualisierter Gewalt in Konflikten sprechen? Das fängt bei Massenvergewaltigungen an, die lange andauern, mit vielen Tätern im Kollektiv, geht über Genitalverstümmelungen, die häufig mit Vergewaltigung und anderen Formen von Folter verbunden sind, bis hin zu bewusster Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten wie HIV. Diese massive Brutalität ist sehr erschreckend. Hinzu kommen viele Formen von Gewalt im Familien- und Bekanntenkreis. In den Regionen im Kongo, in denen ich viel unterwegs bin, ist die Gewalt durch Mitglieder der Familie und Bekannte, wie etwa Nachbarn aus dem Dorf, das größte Problem. Dort fehlen oft auch die finanziellen Mittel, um gegen familiäre Gewalt oder Gewalt in den Communities vorzugehen. Was ist der Unterschied zwischen »sexualisierter« und »sexueller« Gewalt? Der Begriff der sexuellen Gewalt ist eine Unterkategorie von Gewalt. Wenn Sie aber von sexualisierter Gewalt sprechen, dann wird klar, dass die Sexualität selbst als Werkzeug dient, um Macht und Unterdrückung auszuüben. Das heißt, wir benutzen den Begriff, um deutlich zu machen, wie Sexualität instrumentalisiert wird. Sexualisierte Gewalt ist sicherlich nicht nur auf die Zeit von bewaffneten Konflikten beschränkt. Ja, die Gewalt dauert an und natürlich auch die patriarchale Geschlechterhierarchie. Je mehr Diskriminierung, je mehr Unterdrückung und je mehr Gewalt gegen Frauen bereits vor dem

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Krieg bestanden, desto effektiver ist sexualisierte Gewalt auch als Waffe in Kriegen und Konflikten. Genauso sehen wir auch, wie sich die Gewalt danach, wenn relativer Friede herrscht, fortsetzt. Sollten die Betroffenen nicht lieber in einem anderen Land behandelt werden? Das kommt durchaus vor, wenn Frauen beispielsweise in Deutschland aufgenommen und unterstützt werden. Die Frage ist dann aber: Was passiert, wenn die Frauen wieder zurück in ihre Heimat sollen? Wird an die Reintegration der Frauen gedacht? Hinzu kommt, dass eine Auswahl getroffen werden muss, die besonders problematisch ist. Wie kann man diesen Auswahlprozess so gestalten, dass er nicht stigmatisierend wirkt? Man kann ja nicht abfragen, ob jemand bestimmte Auswahlkriterien erfüllt, ob eine Frau tatsächlich jesidisch ist und vergewaltigt wurde, um es zugespitzt zu formulieren. So etwas wirkt absolut retraumatisierend. Aufgrund dieser Komplexität empfehle ich immer die Arbeit vor Ort, weil man dort mehr Frauen erreicht, als wenn eine Auswahl nach Deutschland oder in ein anderes Land reisen kann. Und sie ist auch nachhaltiger. Wenn zum Beispiel vor Ort Fachkräfte geschult und Strukturen aufgebaut werden, dann entsteht ein längerfristiger Nutzen, auch wenn die akute Krisensituation schon längst vorbei ist. Gibt es überhaupt eine Chance, traumatisierte Personen zu stabilisieren, wenn bewaffnete Konflikte über Jahrzehnte andauern? Ja, definitiv. Wichtig ist dabei die Frage, ob eine Chance besteht, langfristige Perspektiven zu schaffen. Ich erlebe immer wieder, wie Frauen, die mehrfach sexualisierte Gewalt erfahren haben, heute sagen: Ja, ich wurde massiv verletzt, aber ich lebe und ich gestalte mein Leben. Menschen können durch soziale Unterstützung und mithilfe neuer Lebensperspektiven so viel Kraft und Mut schöpfen, dass sie sich trotz andauernder traumatischer Erfahrungen stabilisieren. Diese Erfolge machen unsere Arbeit aus – und geben auch uns selbst neuen Mut. Fragen: Andreas Koob

Foto: medica mondiale

»Ich erlebe immer wieder, wie Frauen sagen: Ja, ich wurde massiv verletzt, aber ich lebe und ich gestalte mein Leben.«

INTERVIEW ALENA MEHLAU Alena Mehlau ist Diplom-Psychologin und Fachreferentin für TraumaArbeit bei medica mondiale, einer in Deutschland ansässigen, internationalen Nichtregierungsorganisation, die sich weltweit für Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten einsetzt. Sie begleitet und berät Partnerorganisationen bei der Umsetzung trauma-sensibler Unterstützungsangebote für Überlebende von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt mit Schwerpunkt auf der Region der Großen Seen in Afrika.

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Kampf um Aufmerksamkeit. Saharauischer Fl端chtling in der algerischen Provinzhauptstadt Tindouf.

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Wo nur die Steine wachsen Seit 40 Jahren hat Marokko die Westsahara völkerrechtswidrig besetzt, seit 25 Jahren verweigert das Königreich das UNO-Referendum über die Unabhängigkeit. In den Flüchtlingslagern in Algerien werden derweil die Rufe nach einem neuen Krieg lauter, in den besetzen Gebieten sind Menschenrechtsverletzungen alltäglich. Von York Schaefer (Text) und Marcus Reichmann (Fotos)

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Verurteilt zu lebenslanger Angst und Sehnsucht. Fl端chtlingslager Smara im S端den Algeriens (links oben). Guerilla-Training, Herstellung von Prothesen f端r Minenopfer (links unten). Hilfslieferungen werden abgeladen (rechts oben). Saharauische Frauen im Lager Dakhla (unten).

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Protest in der Todeszone. Drei Meter hoher Wall aus Feldstein und Sand.

Mohammed Salek ist ein furchtloser Mann. Mit zielstrebig sicherem Schritt marschiert der saharauische Aktivist in bloßen Sandalen über den steinigen Wüstenboden in Richtung eines kaum 1,50 Meter hohen Stacheldrahtzaunes. Nur in Wurfweite dahinter türmt sich ein etwa drei Meter hoher Wall aus Felsgestein und Sand mit militärischen Unterständen und Geschützbunkern auf. Ein marokkanischer Grenzsoldat beobachtet die Szenerie per Feldstecher, neben ihm schauen weitere Soldaten mit einer Mischung aus gespannter Aufmerksamkeit und betonter Gelassenheit zu. Mohammed weiß ungefähr, wo an dieser Stelle der Mauer zwischen der befreiten Westsahara und den seit 40 Jahren von Marokko besetzten Gebieten des Landes die Anti-Personen-Minen liegen. Sieben Millionen sollen es insgesamt sein entlang des mehr als 2.700 Kilometer langen Abwehrsystems mit Radaranlagen und 120.000 Mann Bewachung. Viele Minen sind längst entschärft oder mit Kreisen aus Steinen und roten Stoffblumen gekennzeichnet. Aber ganz sicher, wo genau sie liegen, ist sich Mohammed Salek nicht. Der 28-Jährige im blauen FC-BarcelonaSweater und mit lässig gewickeltem schwarzem Turban kennt die Gefahren – und er ignoriert sie. »Jeder Schritt kann dein letzter sein, aber wenigstens sterbe ich so für mein Land und für mein Recht«, sagt er, formt mit Zeige- und Mittelfinger vorne am Zaun das Victory-Zeichen, schreit den Grenzern »Sahara libre!« entgegen und schwenkt die saharauische Flagge. Protest in der Todeszone, in ehemaligem Kriegsgebiet. Ein Protest mit

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symbolischer Wirkung an einem Bollwerk der Macht, wo die Saharauis um mehr Aufmerksamkeit in der Weltöffentlichkeit kämpfen. 16 Jahre lang tobte hier der Guerillakampf der saharauischen Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario gegen die völkerrechtswidrige Annexion des Landes durch Marokko, das nach dem Abzug der spanischen Kolonialmacht 1975 im »Grünen Marsch« mit 350.000 Zivilisten und 30.000 Soldaten in die Westsahara einmarschierte. Der Polisario gelang es während des Krieges einen schmalen Streifen Land an der Grenze zu Algerien zu erobern. Nach einem 1991 von der UNO vermittelten Waffenstillstand sollte ein Referendum stattfinden, in dem das ehemalige Nomadenvolk über die politische Zukunft des beanspruchten Gebietes als autonome marokkanische Provinz oder für die staatliche Unabhängigkeit abstimmen sollte. Bis heute allerdings verweigert das Königreich Mohameds VI. das Recht der Saharauis auf Selbstbestimmung, eine Art Mindeststandard internationaler Politik seit der Gründung von UNO und Völkerbund. Man verweist auf die vermeintlich historische Zugehörigkeit der früheren spanischen Kolonie Westsahara zu Marokko. Auch geostrategische Interessen von Ländern wie der ehemaligen marokkanischen Protektoratsmacht Frankreich sowie die Ausbeutung der Bodenschätze wie Phosphat, der üppigen Fischgründe und Ölvorkommen entlang der Atlantikküste führen dazu, dass die Westsahara immer wieder als letzte Kolonie Afrikas bezeichnet wird.

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MAROKKO ALGERIEN Tindouf El Aaiun WEST SAHARA

»Berm«

MAURETANIEN

»Unser Ziel ist es, Aufmerksamkeit über die Mauer zu erregen, die unser Land in zwei Teile schneidet und seit fast 35 Jahren unsere Familien trennt.«

Normalerweise kommt Mohammed Salek nicht nur mit einer kleinen Gruppe von spanischen und italienischen Unterstützern hier in die Grenzregion, die etwa eine Autostunde von den saharauischen Flüchtlingslagern im äußersten Südwesten Algeriens entfernt liegt. Der Aktivist ist Mitbegründer der Organisation »Gritos contra el muro« (Schreie gegen die Mauer), die seit Anfang 2013 alle zwei Monate mit Dutzenden Anhängern in Pick-Ups über holprige Buckelpisten in das menschenleere Grenzgebiet fährt, um gegen den modernen Limes, auch Berm genannt, zu protestieren. Als sie bei der ersten Demonstration den Zaun durchschnitten, feuerten die Grenzsoldaten zur Warnung in die Luft. »Unser Ziel ist es, Aufmerksamkeit über die Mauer zu erregen, die unser Land in zwei Teile schneidet und seit fast 35 Jahren unsere Familien trennt«, sagt Mohammed nach der Tour in dem kleinen weißen Lehmhaus seiner Familie im Flüchtlingscamp Boujdour. Man sitzt gemeinsam auf einem sandigen Teppich, durch

»Es ist weite Leere, umgeben von Leere. Dort wachsen nur Steine. (…) Die Saharauis warten. Sie sind zu lebenslanger Angst und Sehnsucht verurteilt«, hatte der kürzlich verstorbene Antikolonialismus-Kämpfer Eduardo Galeano aus Uruguay einmal etwas pathetisch über die Trostlosigkeit der Lager in der Wüste gesagt. Etwa 120.000 Menschen leben dort in Zelten und Lehmhütten

Schreie gegen die Mauer. Mohammed Salek.

Die Geduld geht zu Ende. Mohammed Salem.

WESTSAHARA

die glaslosen Fenster in Kniehöhe strömt ein leichter Luftzug, von draußen hört man meckernde Ziegen. Auf einem kleinen eisernen Holzkohleofen köchelt das Teewasser, Mohammed Saleks Freund und Mitkämpfer bei den »Gritos«, Mohammed Salem, spült die Gläser. Die saharauische Teezeremonie kann je nach Anlass eine zeitaufwändige Angelegenheit sein, aber wenn die Menschen in den fünf riesigen Flüchtlingslagern nahe der algerischen Provinzhauptstadt Tindouf bei allem sonstigen Mangel von etwas mehr als genug haben, dann ist es Zeit.

Im Teufelsgarten

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»Krieg und Gewalt haben uns keine Lösung gebracht.«

»Jeder Schritt kann dein letzter sein.« Markierte Mine.

in einem unwirtlichen, kargen Niemandsland aus Sand, Geröll und Perspektivlosigkeit. Hammada heißt dieser Teil der Sahara, auch Teufelsgarten genannt. Im Sommer steigt das Thermometer auf bis zu 50 Grad, in den Winternächten fällt es bis auf den Gefrierpunkt. Bereits 1976 wurde die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) ausgerufen, die von der Polisario als Zentralregierung im Exil im Lager Rabouni vertreten und vor allem von afrikanischen und südamerikanischen Staaten anerkannt wird. Es gibt lokale Parlamente und Bürgerkomitees, Polizei und Gerichtsbarkeit sowie staatlich regulierte Medien und ein Gefängnis. In den Krankenhäusern arbeiten vorwiegend spanische und kubanische Ärzte. Auf Schulbildung haben die Saharauis immer großen Wert gelegt, die Alphabetisierungsrate liegt bei 90 Prozent, für ein Flüchtlingslager eine hohe Rate. Eine autonome saharauische Wirtschaft gibt es bis auf ein überschaubares Einzelhandel- und Dienstleistungsgewerbe allerdings nicht. Die Westsahara ist abhängig von internationalen Hilfslieferungen. Zwar hatte auch schon Al-Wali Mustafa Sayyid, 1973 Mitbegründer der Polisario und erster Präsident des Exilstaates, die Bevölkerung auf einen langen Unabhängigkeitskampf eingeschworen, doch die Geduld vor allem der jungen Leute geht langsam zu Ende. »Die ewigen Verhandlungen sind Zeitverschwendung. Marokko versucht die Besetzung zum Fait accompli zu machen und wir leiden. Nach dem Krieg haben wir unser Vertrauen in die internationale Gemeinschaft gesetzt und wurden Jahr für Jahr mit gebrochenen Versprechen hingehalten«, kritisiert Gritos-Mitglied Mohammed Salem die Politik der Polisario, die auch fast 25 Jahre nach dem Waffenstillstand weiter auf Verhandlungen setzt. Obwohl der 29-Jährige selbst noch nie gekämpft hat, sieht er, wie inzwischen viele vor allem junge Saharauis, den Krieg gegen Marokko als echte Option. »Das Warten ohne etwas zu tun, die Stagnation frustriert die Menschen. So lange es keinen Krieg gibt, wird uns niemand Aufmerksamkeit

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schenken«, glaubt Mohammed, der nebenbei den Blog »Saharawivoice« betreibt und für den der politische Kampf im Exil, wie bei vielen seiner Landsleute in den Flüchtlingscamps, eine nahezu alltägliche Beschäftigung, eine Sinngebung für ein Leben im Wartestand geworden ist. Allerdings gibt es auch moderatere Töne unter den Flüchtlingen, von denen zwei Drittel unter 25 Jahre alt sind und die in den Camps geboren wurden. »Krieg und Gewalt haben uns keine Lösung gebracht«, sagt die Menschenrechtsaktivistin Abida Mohamed Buzeid, die den Willen großer Teile der PolisarioJugend nach einem neuen Krieg ablehnt. Die 28-Jährige hat in Algier Biochemie studiert, spricht vier Sprachen und könnte sicherlich Karriere machen. Stattdessen ist sie zu ihrer Familie in das Camp Boujdour zurückgekehrt. Heute arbeitet Abida für Afapredesa, eine Nichtregierungsorganisation der Familien von saharauischen Gefangenen und Verschleppten mit Sitz im Lager Smara. An den Wänden und auf Schautafeln in den Räumen der NGO hängen Dutzende großformatig gerahmte Fotos von jungen Männern mit ernsten Gesichtern, die nach Angaben von Afapredesa Opfer von Übergriffen marokkanischer Sicherheitskräfte wurden.

»Lager der Würde« Vor allem den Ereignissen von Gdeim Izik wird hier viel Raum gegeben. In dem Vorort von El Aaiun, der potenziellen Hauptstadt eines Staates Westsahara an der Atlantikküste, hatten im Herbst 2010 um die 20.000 Saharauis mit 5.000 Zelten ein »Lager der Würde« aufgebaut, um für ihre politischen und sozioökonomischen Rechte zu demonstrieren: Meinungsfreiheit, Versammlungsrecht, das Recht auf Arbeit. Nach vier Wochen zumindest gefühlter Freiheit und Unabhängigkeit kam das jähe Ende. Am Morgen des 8. November gegen 6 Uhr überrollten marokkanische Sicherheitskräfte mit Bulldozern und Wasserwerfern das Camp. Über 150 Saharauis wurden inhaftiert, es

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Die wichtigste Stimme der Saharauis ist die Menschenrechtsaktivistin Aminatou Haidar, die aufgrund ihres Einsatzes schon häufig inhaftiert und misshandelt wurde. Bei einem internationalen Treffen zur Westsahara-Frage in Berlin Ende vergangenen Jahres verlas die zarte Frau mit dem bunten Malahfa-Umhang eine lange Liste des Grauens: willkürliche Razzien und Verhaftungen, Folter in Geheimgefängnissen, Vergewaltigungen, Vergiftungen des Viehs, die Verweigerung von Grundrechten wie Arbeit, Pressefreiheit und politische Aktivitäten. Seit inzwischen 28 Jahren setzt sich Haidar für die politische Selbstbestimmung ihrer Heimat ein, 2009 hat sie dafür bei einem Hungerstreik ihr Leben riskiert. Die marokkanische Regierung hatte ihr damals den Pass abgenommen und sie auf die spanische Kanaren-Insel Lanzarote abgeschoben. »Durch die Ungerechtigkeit, die ich und mein Volk erfahren, bin ich gezwungen, so lange zu kämpfen, bis die Freiheit meines Landes wiederhergestellt ist.«

Folter und Misshandlungen

Wichtigste Stimme der Saharauis. Abida Mohamed Buzeid (oben), T-Shirt mit einem Foto von Aminatou Haidar.

kam zu Straßenschlachten mit Toten und Verletzten auf beiden Seiten. 24 Aktivisten wurden nach jahrelanger Untersuchungshaft 2013 von marokkanischen Militärgerichten unter rechtlich zweifelhaften Bedingungen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Weil die Saharauis mit ihren traditionellen Zelten aus der architektonisch marokkanisierten Stadt El Aaiun ausgezogen sind, nimmt der Protest von Gdeim Izik seitdem einen wichtigen Platz im kollektiven Gedächtnis der Menschen ein. »In Gdeim Izik ging es darum, in Würde in unserem Heimatland leben zu können und zu zeigen: Wir sind die Bewohner von El Aaiun«, erzählt Omar, der uns durch die Flüchtlingslager begleitet und der seinen vollen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. Wegen seiner Beteiligung als Medienbeauftragter in Gdeim Izik musste der 33-jährige Familienvater nach der Auflösung des Protestcamps in die Flüchtlingslager in Algerien fliehen. »Im Gegensatz zu unseren Landsleuten in den besetzten Gebieten haben wir in den Camps zwar persönliche und politische Freiheiten, aber wir sind Flüchtlinge hier und die Lebensbedingungen in der Wüste und ohne Aussichten für die Zukunft sind sehr hart«, sagt Omar.

WESTSAHARA

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch oder das Robert F. Kennedy Center for Justice and Human Rights (RFK) prangern seit Jahren gravierende Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten der Westsahara an. »Die marokkanischen Ordnungskräfte unterdrücken weiterhin jedes Einstehen für das Recht der Saharauis auf Selbstbestimmung. Saharauische Aktivisten, Demonstranten und Journalisten sind Restriktionen bei der Meinungsund Versammlungsfreiheit ausgesetzt und werden verhaftet und gefoltert«, heißt es im Jahresbericht 2014/15 von Amnesty International. In einem kürzlich erschienenen AmnestyBericht schildern Saharauis, wie sie in Polizeifahrzeugen schwer misshandelt und anschließend in der Wüste ausgesetzt wurden. Andere wurde bei Verhören gefoltert, bevor sie formal angeklagt wurden. Der jüngste Report des RFK für die Zeit zwischen März und September 2014 berichtet von 90 Fällen von Menschenrechtsverletzungen, darunter Misshandlungen bei Demonstrationen und in Gefängnissen, in denen zurzeit mehr als 70 politische Gefangene einsitzen sollen. Ausländische Zeugen der Repressalien sieht Marokko nicht gerne. So wurden nach Informationen der Gesellschaft für bedrohte Völker seit April 2014 mindestens 59 ausländische Journalisten und Menschenrechtler aus der Westsahara ausgewiesen. Die UNO-Mission Minurso zur Überwachung des Waffenstillstandes und für die Abhaltung des Referendums ist zudem die einzige Friedensmission weltweit, die keinen Auftrag zur Überwachung der Menschenrechte hat. Der Autor ist freier Journalist und lebt in Bremen. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

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Foto: Luis Acosta / AFP / Getty Images

Extrem ätzende Schwefelsäure. Maria Cuervo

Zurück ins Leben Säureattentate sind in Kolumbien ein Phänomen, das von der Politik lange ignoriert wurde. Nur wenige Täter wurden verurteilt. Das könnte sich bald ändern, denn der Fall von Natalia Ponce de León hat landesweit für Schlagzeilen gesorgt. Nachdem sie Opfer eines Attentats wurde, wandte sich die junge Frau an die Öffentlichkeit und engagiert sich für die Rechte der Opfer. Von Knut Henkel Langsam zieht Natalia Ponce de León den Rollladen hoch und lässt Licht in das Wohnzimmer. Dann dreht sie langsam ihr Gesicht dem Fenster zu. Dabei achtet sie darauf, dass die Kamera nur ihr Profil erfassen kann. Mehr will sie nicht zeigen – noch nicht. Natalia Ponce de León, eine junge, schmale, sportliche Frau mit kurzen pechschwarzen Haaren, will ihr Leben zurück. Das hat der Attentäter zerstört. Jonathan Vega klingelte am 27. März 2014 in der 122. Straße in Bogotá an ihrer Haustür und bat den Portier, sie zu rufen. Dann kippte er Natalia Ponce de León Schwefelsäure ins Gesicht und über den Oberkörper. Über ein Drittel ihrer Haut, im Gesicht, am Oberkörper, an Armen und Beinen sind verätzt. »Die Verbrennungen sind alle dritten Grades und wir haben hier noch keinen so schweren Fall gehabt, der auf ein Säureattentat zurückgeht«, erklärt Dr. Jorge

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Luis Gaviria. Der plastische Chirurg arbeitet an der Klinik Simón Bolívar im Norden Bogotás und hat Anfang Mai die 16. Operation durchgeführt, um die von Säure zerfressenen Lippen von Natalia Ponce de León zu rekonstruieren. Die OP ist erfolgreich verlaufen. Für die Patientin ist es ein weiterer kleiner Schritt zurück ins Leben. Das ist das übergeordnete Ziel von Natalia Ponce de León – sie will ihr Leben wiederhaben, dem Attentäter nicht den Triumph lassen, es zerstört zu haben, auch wenn es nie wieder so sein wird wie früher. »Mich ohne Gesicht im Spiegel zu sehen, das war Folter«, sagt sie mit leiser Stimme auf dem Sofa im Wohnzimmer ihrer Mutter. Dann hebt sie den Kopf: »Aber die Ärzte haben Unglaubliches geleistet, es ist schon wieder ein Gesicht«, sagt sie optimistisch. Die Haut an den Wangenknochen ist narbig und fleckig, aber nicht wulstig, wie bei vielen anderen Opfern. Die Wimpern sind nur noch teilweise vorhanden, aber die Augen blieben unversehrt und auch die Nase hat ihre Form behalten. Die Narben überlappen nicht wie bei anderen Opfern die Nasenlöcher, lassen nicht die Augen verschwinden und verschließen keine natürliche Falte. Schwefelsäure ist extrem ätzend. Sie findet sich in jeder Autobatterie und zerstört binnen weniger Sekunden die Konsis-

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Drei Jahre und vierzig Operationen. Nubia Espitia.

tenz der Haut. »Rund drei Jahre und vierzig Operationen dauert es, um das Gesicht einer Patientin oder eines Patienten zu rekonstruieren«, erklärt Dr. Gaviria. Seit 20 Jahren operiert der 50jährige Chirurg am Simón Bolívar, der einzigen Klinik Kolumbiens für Brandopfer. Hierhin werden alle Patienten überwiesen, deren Verletzungen im Gesicht mit modernster plastischer Chirurgie therapiert werden – Brand- und Säureverletzungen, aber auch großflächige Brandwunden durch Gas- und Stromunfälle. Die Zahl der Säureanschläge in Kolumbien hat in den vergangenen zehn Jahren alarmierende Ausmaße angenommen. Laut den Statistiken der Gerichtsmedizin wurden in Kolumbien zwischen 2004 und März 2015 insgesamt 1.002 Fälle registriert, bei denen chemische Komponenten zu Verätzungen führten. Dabei handelt es sich um Unfälle mit beißenden Reinigungsmitteln und um Verletzungen durch Gas, ätzende Pulver oder Klebstoffe, wie Dr. Martha Isabel Delgado erklärt. Die Gerichtsmedizinerin in Bogotá ist gerade dabei, die Statistiken auszuwerten, denn seit 2013 werden die Angriffe mit Säure stärker wahrgenommen. »Das liegt vor allem daran, dass sich Opfer – meist sind es Frauen – organisiert haben und mehr politisches Handeln einklagen«, meint die Forensikerin. Delgado hat 155 Fälle aus der Statistik gefiltert, bei denen absichtlich Säure eingesetzt wurde: 80 davon sind Frauen und 75 Männer. Allerdings gibt es Unterschiede, denn während bei Männern die Säureverletzungen eher an Armen und Beinen und im Kontext von Raubüberfallen und Arbeitskonflikten registriert werden, ist bei Frauen fast immer das Gesicht betroffen. »Eifersucht, Ableh-

KOLUMBIEN

nung, gekränkte machistische Eitelkeit sind die Motive in einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft«, erläutert Dr. Delgado. Was man selbst nicht besitzen könne, solle auch kein anderer haben, laute die kranke Logik. Das war bei Natalia Ponce de León nicht anders. Der Attentäter soll ein ehemaliger Nachbar sein, der von ihr abgewiesen wurde. Doch der Fall markiert in Kolumbien einen Wendepunkt: Die Familie der 35-Jährigen machte das Attentat sofort publik und rief die Facebook-Seite »Alle mit Natalia Ponce de León« ins Leben, die in wenigen Wochen Zehntausende »Likes« erhielt. Zudem zeigen immer mehr Berichte das Leid der Opfer auf. Frauen, denen mutwillig Säure ins Gesicht geschüttet wurde, gibt es Dutzende in Bogotá, und Dr. Gaviria weiß von Patientinnen, die an einer Ampel oder Straßenecke stehen und um Almosen bitten. »Das ist eine fürchterliche Realität in Kolumbien«, kritisiert der Chirurg die unzureichende Hilfe für die Opfer.

Die Zahl der Säureanschläge in Kolumbien hat alarmierende Ausmaße angenommen. 47


Foto: Luis Acosta / AFP / Getty Images

Eifersucht, Ablehnung, machistische Eitelkeit. Gina Potes

Zwar ist seit Mitte 2013 die Übernahme der Behandlungskosten für Säureopfern gesetzlich geregelt, aber in der Praxis wird dieses Gesetz immer wieder unterlaufen. »Viele Patienten kommen aus einfachen Verhältnissen. Da fehlt es manchmal am Geld für den Bus, um zur Klinik zu kommen«, sagt Dr. Gaviria. Für spezielle Cremes, die Patienten selbst bezahlen müssen, oder den Anwalt, der die Rechte auf die notwendigen Operationen einklagt, ganz zu schweigen. Bei Natalia Ponce de León, das erste Opfer aus Bogotás gut situiertem Norden, ist das nicht der Fall. Auch wegen der medialen Präsenz hat die Krankenversicherung alle Kosten anstandslos übernommen. Bei vielen Opfern aus dem armen Süden der kolumbianischen Hauptstadt ist das anders, bestätigen die Ärzte der Klinik Simón Bolívar. »Sie müssen für ihre Behandlung kämpfen und eine staatliche Rente für Opfer von Säureanschlägen gibt es nicht«, kritisieren Dr. Gaviria und sein Vorgesetzter Dr. Rafael Jimenez Osorio unisono. Das bemängelt auch die Stiftung Natalia Ponce de León, die Ende April 2015 gegründet wurde und ein Anlaufpunkt für Opfer werden soll. »Mein Ziel ist es, eine Herberge für Opfer in der Nähe der Klinik Simón Bolívar zu eröffnen. Dort sollen sie Rechtshilfe und psychologische Betreuung erhalten«, erklärt die Gründerin. Sie hat das Projekt Mitte April vorgestellt und ein Buch veröffentlicht, das von ihrem eigenen Leid und ihrem Kampf für ein Leben nach dem Säureattentat handelt. Ein Schritt, der vom städtischen Gesundheitsamt Bogotás begrüßt und unterstützt wird. »Diese Angriffe sind eine lebenslange Folter für die Opfer, ihr Leben wird zerstört – doch sie müssen es weiter leben. Scharfe Gesetze und umfassende Hilfe sind nötig«,

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mahnt Mauricio Bustamente García, der Leiter des Amts. García gehört zur linken Stadtverwaltung von Bogotá und verweist auf die hohe Dunkelziffer der Fälle und auf die Tatsache, dass bisher erst eine Handvoll Täter verurteilt wurden. Neben der Kultur der Gewalt nach sechzig Jahren Bürgerkrieg ist die Straflosigkeit ein weiterer Faktor. Gerichtsmedizinerin Delgado zufolge könnten die kolumbianischen Zahlen in Relation zur Bevölkerungszahl sogar über denen liegen, die aus Bangladesch und Indien bekannt sind. »Genau lässt sich das nicht sagen, denn bei der Gerichtsmedizin gehen nur die Fälle ein, die ein juristisches Nachspiel haben«, erklärt Delgado. Das ist längst nicht immer der Fall, denn bisher fallen Säureattentate in die Kategorie der »persönlichen Angriffe«. Sie haben damit den gleichen Stellenwert wie Schläge, gelten nicht als Attentat auf das Leben und werden mit Haftstrafen von nur wenigen Jahren geahndet – wenn es denn überhaupt zum Prozess kommt. Das soll sich nun ändern. Anfang Mai passierte ein Gesetzesentwurf in erster Lesung das Parlament, der für Säureattentäter Haftstrafen nicht unter zwölf Jahren vorsieht. Ist das Gesicht betroffen, ein Auge oder die Nase zerstört, sind Haftstrafen von bis zu 45 Jahren möglich. Opfer wie Natalia Ponce de León begrüßen die Gesetzesvorlage. Doch die 35-jährige Frau mit der rauen Stimme weiß genau, dass es damit nicht getan ist. »Wir müssen endlich der Kultur der Gewalt entgegentreten, diesem Verlust von Werten, der Ignoranz und Ungleichheit«, fordert sie. Dafür will sie sich mit ihrer Stiftung engagieren. Der Autor ist Lateinamerika-Korrespondent.

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ERST MENSCHEN SCHÜTZEN, DANN GRENZEN Schluss mit der Abschottungspolitik. Für sichere Fluchtwege: www.amnesty.de/fluechtlinge


Meister des Todes Das Rüstungsunternehmen Heckler & Koch muss sich vor dem Stuttgarter Landgericht wegen Waffenexporten nach Mexiko verantworten. Die Ausfuhr der G36-Gewehre liefert auch den Stoff für einen Spielfilm und eine Dokumentation, die demnächst in der ARD zu sehen sind.

Foto: Bernd Weißbrod / dpa / pa

Von Wolf-Dieter Vogel

Den Anfang machte Jürgen Grässlin. Im April 2010 erstattete der Freiburger Friedensaktivist Anzeige gegen das Rüstungsunternehmen Heckler & Koch. Sein Vorwurf: Die Waffenbauer aus dem schwäbischen Oberndorf am Neckar haben Sturmgewehre vom Typ G36 an mexikanische Bundesstaaten geliefert, für die keine Exportgenehmigungen vorlagen. Sein Informant: ein Insider, der selbst lange Zeit bei der Schwarzwälder Firma beschäftigt war und in Mexiko Polizisten an der Waffe ausbildete. Nun gilt er als Kronzeuge in einem Verfahren, das demnächst vor dem Stuttgarter Landgericht beginnen könnte. Dass die Strafverfolger nach über fünf Jahren tatsächlich erwägen, Anklage zu erheben, ist vor allem dem Einsatz von Aktivisten wie Grässlin sowie einigen Journalistinnen und Journalisten zu verdanken. Ohne den ständigen öffentlichen Druck, so ist zu befürchten, wären die Ermittlungen im Sande verlaufen. Und so kommt auch das Amnesty-Journal ins Spiel. Denn Recherchen für das Magazin und damit ein auf die Menschenrechte gerichteter Blick spielten bei der Verfolgung des Falls eine bedeutende Rolle. Der 12. Dezember 2011: Studenten der pädagogischen Fachschule Ayotzinapa blockieren eine Autobahn im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero. Die als rebellisch bekannten Kommilitonen fordern bessere Studienbedingungen. Polizisten greifen ein und versuchen, die jungen Männer in der Landeshauptstadt Chilpancingo von der Straße zu räumen. Eine Tankstelle geht in Flammen auf, Steine fliegen. Plötzlich fallen Schüsse. Wenig später liegen zwei der Studenten tot auf dem Asphalt, erschossen von Polizeibeamten in Uniform oder in Zivil. Genau weiß das niemand, denn die Schützen werden nie juristisch zur

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Verantwortung gezogen. Wie bei 98 Prozent der Verbrechen in Mexiko bleiben die Täter auch in diesem Fall straflos. Amnesty beobachtet schon lange die schwierigen Verhältnisse in dem Bundesstaat. Bereits in den siebziger Jahren verschwanden in Guerrero Oppositionelle und auch heute werden dort regimekritische Menschen verfolgt, gefoltert und getötet. Söldner der Mafia, Polizisten und Soldaten gehen gegen Bauern und Indigene vor, die ihnen im Wege stehen. Den staatlichen Behörden vertraut kaum jemand, fast niemand erstattet Anzeige. Schließlich könnte der Beamte, der die Klage entgegennimmt, im Sold jener Kriminellen stehen, die hinter dem Angriff stecken. Für viele sind Organisationen wie das Menschenrechtszentrum Tlachinollan in Guerrero deshalb der einzige Anlaufpunkt, um ihr Recht einzuklagen. Ein halbes Jahr vor dem tödlichen Polizeieinsatz von Chilpancingo würdigt die deutsche Amnesty-Sektion diesen Einsatz und verleiht Abel Barrera, dem Leiter und Gründer des Zentrums, den Menschenrechtspreis. Auch das Amnesty-Journal bleibt dran. Im Rahmen der Kampagne »Hände hoch für Waffenkontrolle« zur Unterstützung der Verhandlungen über den UNO-Waffenkontrollvertrag »Arms Trade Treaty« (ATT) recherchieren Journalisten und AmnestyExperten die Hintergründe der Polizeiaktion. Das Ergebnis: An jenem 12. Dezember 2011 waren auch Sturmgewehre vom Typ G36 im Einsatz. Nach Angaben in den Ermittlungsakten hätten mindestens zwölf Polizisten die deutschen Waffen getragen, erklärt der Tlachinollan-Anwalt Vidulfo Rosales dem AmnestyJournal. Einige Monate später bestätigt eine Liste des mexikanischen Verteidigungsministeriums: 1.924 der Gewehre sind in

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Blutige Konsequenzen. Sturmgewehr G36

Guerrero gelandet, obwohl der Bundesstaat zu jenen vier Regionen zählt, für die die Exportbehörden wegen der schwierigen Menschenrechtslage keine Ausfuhrgenehmigung erteilt hatten. Insgesamt gelangten laut dem Dokument etwa die Hälfte von 9.652 gelieferten Schusswaffen in die »verbotenen« Bundesländer. »Besonders beunruhigend ist es, dass lokale Polizeibeamte diese gefährlichen Gewehre tragen«, reagierte Abel Barrera auf die Waffenlieferungen. Die Befürchtungen sollten sich ein weiteres Mal bestätigen. Auch beim Angriff von Kriminellen und Lokalpolizisten auf Studenten der Ayotzinapa-Fachschule am 26. September 2014 in der Stadt Iguala trugen Polizisten die schwäbischen Schusswaffen. Sechs Menschen starben vor Ort, 43 Studenten wurden verschleppt und wahrscheinlich ermordet. Vieles spricht dafür, dass die Beamten und die Killer der Mafia mit dem G36 auf ihre Opfer schossen. Mindestens 38 der Sturmgewehre wurden am Morgen nach dem Einsatz dort gefunden, wo sie nie hätten landen dürfen: im Polizeirevier von Iguala. Nach Angaben des Rechtsanwalts Alejandro Ramos Gallegos sitzen sechs Polizisten, die das G36 trugen, wegen des Massakers in Haft. Eine Überprüfung der Seriennummern durch das Bundeswirtschaftsministerium legte offen, dass die Gewehre laut Exportpapieren in acht Bundesstaaten gingen, nicht aber nach Guerrero. Diese Papiere, mit denen die Mexikaner und Heckler & Koch gegenüber dem Bundesausfuhramt (BAfA) den rechtlich einwandfreien Verbleib der Waffen bestätigen, müssen also »geschönt« worden sein. Welche Rolle dabei die Schwarzwälder Firma spielte, müssen die Strafverfolger klären. Offen-

MEXIKO

kundig ist aber, dass kein Bafa-Beamter und auch keine Vertreterin der deutschen Botschaft jemals kontrolliert hat, wo die G36 wirklich gelandet sind. Das betrifft nicht nur Mexiko: Ob in Saudi-Arabien, Pakistan oder Libyen, niemand verfolgt, was mit exportierten deutschen Kleinwaffen, also etwa Pistolen, Gewehren oder Granaten, passiert. Die Bundesregierung will nun Kontrollen vor Ort einführen. »Wirksame Vor-Ort-Kontrollen für deutsche Waffenexporte einführen!«, forderten auch schon am 30. Juni 2015 AmnestyAktivistinnen und Aktivisten auf dem Münchner Filmfest. Dort stellte der Regisseur Daniel Harrich einen Politkrimi vor, der auch von Amnesty begleitet wird. Der fiktiv gehaltene Spielfilm »Meister des Todes« handelt von einem baden-württembergischen Rüstungsunternehmen, dessen Sturmgewehr illegal nach Mexiko geliefert wurde. Der Protagonist, ein exzellenter Schütze, sieht mit eigenen Augen, wie von ihm an der Waffe angelernte Polizisten in Guerrero zwei Studenten mit dem Gewehr erschießen. Dann wendet er sich an einen Friedensbewegten und wird zum Kronzeugen gegen seine ehemaligen Arbeitgeber. Im September strahlt die ARD den Spielfilm zusammen mit einer Dokumentation über den realen Fall im Abendprogramm aus. Über fünf Jahre nach der Anzeige des Pazifisten Grässlin und drei Jahre nach den Recherchen des Amnesty Journals erfährt damit ein Millionenpublikum neue Hintergründe eines Falls, der beispielhaft für die blutigen Konsequenzen der deutschen Rüstungsexportpolitik steht. Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

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Alter Rassismus, neue Opfer Unabhängige Wissenschaftler überprüften im Auftrag des Landes Brandenburg die Zahl der dortigen Todesopfer rechter und rassistischer Gewalt – ein für Deutschland bislang beispielloser Vorgang. Statt den offiziell anerkannten neun Toten seit 1990 zählen sie mindestens 18. Damit stellt sich die Frage, wie adäquat Behörden rassistische Gewalt erfassen. Von Andreas Koob Andrzej Fratczak war am Abend feiern, am Morgen liegt er tot auf dem Rasen neben der Disco. Es hatte Streit gegeben in der Nacht, eine Rangelei, bevor drei junge Deutsche den 36-jährigen Polen verprügelten. Mehrmals hatten sie auf den am Boden Liegenden eingetreten, waren auf ihn gesprungen, bevor er schließlich durch einen Messerstich getötet wurde. Für die Schlägerei wurden die Täter verurteilt, der tödliche Messerstich ließ sich jedoch niemandem nachweisen. Von einem politischen Tatmotiv war nie die Rede. Dabei trug einer der Täter in jener Nacht ein T-Shirt mit Adolf-Hitler-Aufdruck und bezeichnete sich selbst als den »Chef von Auschwitz«.

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Was den Behörden ebenso bekannt war wie andere Äußerungen der Täter wie diese: Den Polen müsse man ein bisschen ausbluten lassen oder »Wir haben ein Polenschwein« und »Das Schwein stech’ ich ab«. Das Gericht aber sprach später lediglich von einer verbalen Auseinandersetzung an jenem 7. Oktober 1990 in der beschaulichen brandenburgischen Kleinstadt Lübbenau. Manche Details jener Tat werden erst jetzt nach fast 25 Jahren öffentlich. Denn der gewaltsame Tod von Andrzej Fratczak gehört zu den insgesamt 24 Fällen, die der am Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ) tätige Politologe Christoph Kopke gemeinsam mit seinem Kollegen Gebhard Schultz erneut auf eine politische Motivation überprüft hat. Nach der Selbstenttarnung der rechtsextremen Terrorgruppierung NSU und der damit verbundenen Erkenntnis über die bislang zehn bekannten, durch sie verübten Morde hatte das Bundeskriminalamt (BKA) die Länder angewiesen, die bisherigen Zahlen der Todesopfer rechter und rassistischer Gewalt erneut zu überprüfen, auch wenn alle diese Verfahren aus juristischer Sicht bereits abgeschlossen waren.

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»Die Taten werden völlig entpolitisiert.« Rostock-Lichtenhagen, August 1992.

Unterschätztes Ausmaß rassistischer Gewalt

Foto: Christian Jungeblodt / laif

Indem es die Wissenschaftler des MMZ beauftragte, wählte das Land Brandenburg einen Sonderweg. Es ließ die bisherigen Statistiken und damit auch die frühere Arbeit von Polizei und Justiz durch das Wissenschaftler-Duo Kopke und Schultz extern überprüfen. Das Ergebnis ist eindeutig: Nach mehr als zwei Jahren Arbeit identifizieren die Wissenschaftler neun politisch motivierte Tötungsdelikte, die bisher nicht als solche galten. Auch der Fall Fratczak gehört dazu. Damit verdoppelt sich die Zahl: Mit den bereits erfassten Gewalttaten sind es in Brandenburg nun 18 offiziell anerkannte Opfer. Die Behörden hatten das Ausmaß rechter und rassistischer Gewalt seinerzeit also drastisch unterschätzt. Vier Tage erst gehörten die neuen Bundesländer dem wiedervereinten Deutschland an, als Fratczak starb. In der Folgezeit nahm die massive rassistische Gewalt flächendeckend zu und prägte die Stimmung im Land. Unabhängige Initiativen, darunter vor allem Opfer- und Betroffenenberatungen sowie die Journalisten Heike Kleffner und Frank Jansen, die bis heute im Auftrag unter anderem von »Zeit« und »Tagesspiegel« zu rechten und rassistischen Tötungsdelikten recherchieren, untersuchten die Vorkommnisse und listeten die Todesopfer dieser Taten auf. Fratczaks Name findet sich an erster Stelle dieses Monitorings. Auf seine Tötung folgten viele weitere, mit denen die Schere zwischen offiziellen und zivilgesellschaftlichen Zahlen immer weiter auseinanderging. Bis heute sind bundesweit nur 64 Tötungsdelikte anerkannt, während die Amadeu-AntonioStiftung 184 zählt. Also gibt es 120 Tote, bei denen staatliche Stellen bestreiten, dass sie Opfer rassistischer Gewalt geworden sind. Dass die neun von den Wissenschaftlern neu bewerteten Fälle auch offiziell als politisch rechts motivierte Taten gewertet werden, kündigte Brandenburgs Innenminister Karl-Heinz Schröter nach der Veröffentlichung der Studienergebnisse bereits an. Konkret heißt das, dass sie dem BKA nachgemeldet und rückwirkend auch in die Statistik politisch motivierter Kriminalität (PMK) aufgenommen werden. Neben Fratczak sind unter den neun Personen vor allem Punks, Obdachlose und andere Menschen, die die Täter ausgehend von ihrem rassistischen und rechten Feindbild verfolgten und töteten, weil sie sie »so eklig wie Ausländer« fanden, wie einer der Täter in den Akten zitiert wird. Die Studie veröffentlicht viele sehr schockierende Details zu diesen menschenfeindlichen Einstellungen der Täter und zu den Taten selbst. In nahezu allen Fällen prügelten und traten die Täter wahllos auf die Opfer ein, misshandelten diese, teils urinierten sie auf sie, teils quälten sie sie über Stunden, manchmal auch im Beisein von Zeuginnen und Zeugen, die nicht oder nicht entschieden genug intervenierten. Einige prahlten und brüsteten sich öffentlich mit der Tötung ihrer Opfer. Manche der Täter waren zudem äußerst jung, einer war sogar erst 13 Jahre alt. Manche Fälle ließen sich gut rekonstruieren, andere nicht mehr, auch weil die Behörden die Unterlagen bereits vernichtet hatten.

DEUTSCHLAND

Bis heute sind nur 64 Tötungsdelikte anerkannt, während die AmadeuAntonio-Stiftung 184 zählt. Außergewöhnliche Zusammenarbeit Kopke sichtete, was es noch zu sichten gab. Mit seinem Kollegen arbeitete er sich durch insgesamt vier sogenannte Aktenmeter, was knapp 50 gefüllten Leitz-Ordnern entspricht. Gemeinsam mit einem Arbeitskreis aus Expertinnen und Experten unter anderem von Polizei, Innenministerium, der Landesintegrationsbeauftragten, einer Opferberatung sowie weiterer zivilgesellschaftlicher Initiativen wurden die Taten aus sehr verschiedenen Perspektiven auch gemeinsam diskutiert. Alle Beteiligten lobten ausdrücklich diese sehr außergewöhnliche Zusammenarbeit und appellierten an die anderen Bundesländer, ihre Altfälle in ähnlicher Weise unabhängig überprüfen zu lassen. Die Studie habe offengelegt, dass das Ausmaß tödlicher rechter Gewalt in Brandenburg von staatlichen Stellen falsch beurteilt wurde, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der brandenburgischen Betroffenenberatung »Opferperspektive« und der Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung. Auf Nachfrage betonen die beiden Initiativen, die in jenem Arbeitskreis auch selbst vertreten waren, aber, dass sie mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden seien. Sie hätten für die Anerkennung von mindestens vier weiteren Todesopfern plädiert. Einer von ihnen ist Kajrat Batesov, der – wie Fratczak – feiern ging und danach nicht mehr zurückkam. Batesov war Deutschrusse. An jenem Abend im Jahr 2002 besucht er gemeinsam mit einem Freund eine Disco in der Kleinstadt Wittstock im Nordwesten Brandenburgs. Sie bleiben dort lange an diesem Abend, aber nicht, um zu feiern, sondern weil sie sich irgendwann nicht mehr trauen, sich auf den Heimweg zu machen. »Russische Scheiße« hatte jemand geschrien, sie werden beim Tanzen beschimpft und bedrängt. Als sie später doch aufbrechen, kommt es vor der Disco zu einer Schlägerei. Batesov und sein Freund liegen schnell am Boden, während vier Männer

RECHTE UND RASSISTISCHE GEWALT 782 rechtsmotivierte Gewalttaten erfassten die Beratungsstellen allein in Ostdeutschland und Berlin im Jahr 2014, von denen sie 457, also mehr als die Hälfte, als rassistisch motiviert einstuften. Damit ist jener Anteil im Vergleich zum Jahr 2013 um mehr als 30 Prozent angestiegen. Das Innenministerium erfasste im selben Zeitraum für das gesamte Bundesgebiet 1.029 Delikte, was einen Anstieg rechter politisch motivierter Gewalt von 22,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr bedeutet. Niemand muss eine rassistische Gewalttat hinnehmen – praktische Informationen für Betroffene oder Zeuginnen und Zeugen gibt es hier: www.opferperspektive.de/sie-wurden-angriffen#1

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um sie herumstehen und drei von ihnen auf sie eintreten. »Bleib endlich liegen, Scheißrusse«, sagt einer der Täter. Auch andere Bemerkungen fallen. Die Täter treten weiter auf die wehrlos am Boden Liegenden ein, bis schließlich einer der Männer einen mehr als 17 Kilogramm schweren Feldstein auf Batesovs Brustkorb fallen lässt. Zweieinhalb Wochen später stirbt der 24-jährige Vater an den Folgen der Tat.

Politische Motive unberücksichtigt Subjektiv habe diese Tat, wie es die MMZ-Studie formuliert, »einen fremdenfeindlichen Eindruck hinterlassen«, was sich aber objektiv nicht feststellen ließ, sodass ein »politisches Motiv nicht nachweisbar« war. An anderer Stelle verweisen die beiden Wissenschaftler allerdings auf die Problematik, »politisch motiviert« angemessen zu definieren. Insgesamt orientiert sich die Studie aber weitgehend an der Richtschnur der PMK-Kriterien, einem System, das aus Sicht der Wissenschaftler allein genommen »nur bedingt geeignet ist, das Rechtsextremismusproblem und sein reales gesellschaftliches Ausmaß adäquat abzubilden«. Da verblüfft es nicht, dass es andere Einschätzungen zum Fall Batesov gibt: »Diese Tat war klar politisch motiviert«, sagt etwa Joschka Fröschner von der »Opferperspektive« und begründet es ganz schlicht und einfach: »Sie ist erst wegen des Rassismus derart eskaliert.« Was an dieser fehlenden Anerkennung der politischen Motivation besonders sprachlos macht, ist folgender Umstand: Batesov selbst hatte sich schon vor der Gewalttat bei der Betroffenenberatung gemeldet und Hilfe gesucht. Flaschen seien nach ihm geworfen worden, die Aggressionen in Wittstock gegen ihn und seine Familie seien offen spürbar gewesen. Dieses Problem beschränkt sich keinesfalls auf Batesovs Fall. Die PMK-Systematisierung weise grundsätzlich Mängel auf, sagt Anna Brausam von der Amadeu-Antonio-Stiftung: »Taten, bei denen ein sozialdarwinistisches oder rassistisches Motiv mindestens eine tatbegleitende bis -eskalierende Rolle spielen, werden bisher nicht in der PMK-Statistik erfasst und damit von staatlicher Seite völlig entpolitisiert.« Dadurch würden auch im Fall Batesov die tödlichen Folgen rassistischer Gewalt verharmlost, so Brausam. »Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse des MMZ, dass bei nachweislich rechten Tätern den politischen Motiven durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht nicht oder nicht ausreichend nachgegangen wurde. Sie sind somit sukzessive entpolitisiert worden und zwar von einer Instanz zur nächsten«, sagt Fröschners Kollegin Judith Porath. Diese Einschätzung

teilen auch andere, die sich mit dem Thema beschäftigen, so etwa Joshua Kwesi Aikins, der vor allem auch Staatsanwaltschaften und Gerichte kritisiert. Aikins, der an der Universität Kassel arbeitet, hatte im Zusammenhang mit der Prüfung Deutschlands durch den UNO-Antirassismus-Ausschuss (CERD) einen Schattenbericht zu rassistischer Diskriminierung in Deutschland koordiniert und im Juni 2015 veröffentlicht (siehe auch folgende Seite). Für einen Aussiebeffekt rassistischer oder rechter Motive im Verfahrensverlauf nennt er konkrete Zahlen: Eine Studie aus Baden-Württemberg belegt für die Jahre 2004 bis 2008, dass bei nur 13 Prozent der von der Polizei aufgeklärten Fälle von Hasskriminalität auch vor Gericht ausdrücklich die Vorurteilsmotivation benannt und strafverschärfend einbezogen wurde. Zudem gibt er vergleichbare Ergebnisse einer Studie aus Sachsen wieder. Es bestünden deshalb in Bezug auf den behördlichen Umgang mit vorurteilsmotivierten Straftaten »eklatante Fehlstellen sowohl in den statistischen und gesetzlichen Grundlagen als auch in der Funktionsfähigkeit der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte selbst«, so ein Fazit des Berichts. Im Fall Batesov versagte vermutlich bereits die Polizei, die möglichen politischen Motiven bei ihrer Ermittlung nicht ausreichend nachging. »Grundsätzlich ist ein aktiveres polizeiliches Ermitteln gefragt, wie etwa in Großbritannien, wo es zunächst vor allem auf die Situationseinschätzung der Betroffenen ankommt«, sagt Fröschner. Er kritisiert, dass nicht nur in Batesovs Fall rassistische Motive nicht anerkannt wurden, sondern auch bei aktuellen, weniger schwerwiegenden Vorfällen. Fröschner weiß, wovon er spricht. Er berät und unterstützt Personen im nördlichen Brandenburg, die akuter Gewalt und Bedrohung ausgesetzt sind. Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals.

ANGRIFFE AUF FLÜCHTLINGE UND DEREN UNTERKÜNFTE Der Verfassungsschutzbericht zählte für das erste Halbjahr 2015 bereits 150 rechte, gegen Flüchtlingsunterkünfte gerichtete Straftaten. Im gesamten Jahr 2014 waren es 170. Schon zwischen 2013 und 2014 hatten sich die Delikte, zu denen auch Propagandadelikte und Sachbeschädigungen zählen, verdreifacht. Ausschließlich gewalttätige Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte hingegen zählten Pro Asyl und die Amadeu-Antonio-Stiftung: Für 2014 erfassten sie mindestens 247, bis Juni 2015 weitere 98 Gewalttaten. Insbesondere der Rassismus und mögliche Straftaten von Angehörigen der bürgerlichen Mitte dürften nicht ausgeblendet werden.

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Tödliche Folgen rassistischer Gewalt werden verharmlost.

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Menschenrechte gegen Rassismus Im Mai wurde Deutschlands Bericht vor dem UNOAntirassismus-Ausschuss (CERD) behandelt. Auch zivilgesellschaftliche Initiativen reichten Parallelberichte ein. Joshua Kwesi Aikins koordinierte einen dieser Berichte.

Foto: Tobias Ritz / Amnesty

Ein wichtiges, aber vernachlässigtes Instrument im Kampf gegen Rassismus, das überall da genutzt werden kann, wo Rassismus stattfindet und Menschen sich dagegen zur Wehr setzen, ist das Menschenrecht gegen Rassismus – mit dem sich Deutschland bereits 1969 verpflichtet hat, alle Menschen aktiv vor Rassismus zu schützen. Es basiert auf der UNO-Antirassismus-Konvention, deren Verpflichtungen und Schutzrechte allerdings wenig bekannt sind, sodass insbesondere von Rassismus betroffene Menschen sich äußerst selten darauf berufen. Der menschenrechtliche Schutz vor Rassismus muss in Deutschland stärker eingefordert werden. Die Konvention stellt eindeutig klar: Rassistische Diskriminierung ist eine Menschenrechtsverletzung. Und sie findet dann statt, wenn Menschen aufgrund ihrer zugeschriebenen oder vermeintlichen »Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum« eine »Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung« erfahren, »die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird«. Alle Vertragsstaaten sind in der Pflicht, ihre Bevölkerung vor rassistischer Diskriminierung zu schützen und zwar durch eine Politik, die Diskriminierung aktiv und ausgleichend entgegen-

Amnesty-Aktion in Dresden, 23. Mai 2015.

DEUTSCHLAND

wirkt. Mit der Formulierung »zum Ziel oder zur Folge haben« wird deutlich, dass auch institutionelle sowie nicht intentionale rassistische Diskriminierung zu berücksichtigen sind. Anders als in Deutschland häufig diskutiert, kommt es nicht darauf an, ob eine Äußerung oder Handlung rassistisch »gemeint« war – ausschließlich die rassistischen Folgen für die Diskriminierten sind maßgeblich. Obwohl Rassismus in Deutschland eine Tradition hat, die weit vor dem Nationalsozialismus zur Zeit der Versklavung begann und im deutschen Kolonialismus vertieft wurde, ist es bis heute schwierig, über rassistische Diskriminierung in Alltag, Gesetzen und Strukturen zu sprechen. Auch von Polizei, Behörden und der Regierung wird Rassismus bagatellisiert, relativiert oder abgestritten, was auch in absurden Begriffen wie »Fremdenfeindlichkeit« seinen Ausdruck findet. Ein unzureichendes Rassismusverständnis zeigt sich nicht zuletzt darin, dass auch im Menschenrechtskontext zu wenig unterschiedliche Rassismuserfahrungen und -expertisen einbezogen werden. Für ein tieferes Verständnis von Rassismus ist all das fatal. Dieses Jahr im Mai wurde Deutschlands Bericht turnusgemäß durch den UNO-Antirassismus-Ausschuss (CERD) behandelt. Zu dieser Überprüfung, die alle vier Jahre stattfindet, reichen auch zivilgesellschaftliche Initiativen Parallelberichte ein, die vor allem offiziell ausgeblendete Missstände aufzeigen. Dieses Jahr waren zum ersten Mal Selbstorganisationen von Menschen mit Rassismuserfahrung maßgeblich am Erstellen dieser Parallelberichte beteiligt, darunter vor allem Expertinnen und Experten, die entweder für Selbstorganisationen von Rassismuserfahrenen arbeiten oder sich durch individuelle wissenschaftliche oder zivilgesellschaftliche Expertise auszeichnen. Dieser Bericht weist dadurch konstruktiv über das vorherrschende, verengte Rassismusverständnis hinaus. Der CERD-Ausschuss hat die Einreichung der Parallelberichte ausdrücklich begrüßt – und viele Inhalte sowohl bei der Befragung der deutschen Delegation als auch in seinen Empfehlungen aufgegriffen. Deutschland komme seinen Verpflichtungen nicht nach. Dies reiche von ganz grundlegenden Problemen wie der mangelnden Umsetzung der Konvention in nationales Recht über die unzureichende Erfassung von Hassverbrechen bis hin zu rassistischer Diskriminierung im Bildungssystem oder durch »Racial Profiling«. All das bemängelte auch der Parallelbericht. Der Ausschuss folgte auch innovativen Interventionen des Parallelberichts wie der Analyse von rassistischer Diskriminierung von Frauen, die einen Hijab tragen, oder von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen, die gleichzeitig Gruppen angehören, die in Deutschland Rassismus erleben. Die Mehrfachdiskriminierung etwa dieser Personengruppen, sogenannte intersektionelle Diskriminierung, solle mehr beachtet werden. Wie es jetzt weitergeht, hängt auch davon ab, wie entschieden die deutsche Zivilgesellschaft die Umsetzung der Ausschussempfehlungen einfordert – Organisationen wie Amnesty International sind ebenso gefragt wie engagierte Einzelpersonen: Jede und jeder, ob im Parlament oder auf dem Schulhof kann einen Beitrag leisten. Der Autor arbeitet an der Universität Kassel und war zentraler Koordinator des Parallelberichts. Weitere Infos unter: rassismusbericht.de

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»Diese Sympathie ist eine unglaubliche Antriebskraft« 50 Stockschläge vor aller Augen: Der saudi-arabische Blogger Raif Badawi wurde Anfang des Jahres öffentlich geprügelt. Seither ist er permanent in Gefahr, weitere Schläge zu erhalten. Anfang Juni bestätigte der Oberste Gerichtshof das Urteil gegen ihn: 1.000 Stockschläge, zehn Jahre Haft und eine Geldstrafe von umgerechnet 240.000 Euro. Raif Badawis Ehefrau, Ensaf Haidar, ist mit ihren drei Kindern nach Kanada geflohen. Im Interview mit dem Amnesty Journal schildert sie ihren Weg ins Exil und ihren unermüdlichen Einsatz für die Freilassung ihres Mannes. Seit Sie sich 2008 von Raif Badawi verabschiedet haben, ist viel Zeit vergangen. Welche Gefühle haben Sie seither durchlebt? In dieser Zeit habe ich vieles durchgemacht. Ich erlebe bis heute ein ständiges Wechselbad der Gefühle. Manchmal bin ich optimistisch und glaube, dass die Dinge sich verändern und die Sache einen guten Ausgang nimmt. Manchmal bin ich traurig, verzweifelt und müde. Ich will das Negative nicht überbewerten, muss aber zugeben, dass es auch da ist. Vermissen Sie etwas, wenn Sie an Ihr Leben in Saudi-Arabien denken? Außer Raif vermisse ich nichts. Wenn er nach Kanada kommt, ist das Kapitel für mich abgeschlossen. Was es für mich nicht mehr gibt, ist so etwas wie Heimat, aber ich fühlte mich in Saudi-Arabien ohnehin nie als freier Mensch. Jeden Freitag besteht nach wie vor die Gefahr, dass Ihr Ehemann erneut öffentlich geprügelt wird. Was löst das bei Ihnen aus? Jeder Tag fühlt sich leer und traurig für mich an. Das alles lässt mich ohnehin nicht zur Ruhe kommen. Aber freitags gibt es diesen zusätzlichen Ballast, diese Tage fallen mir wirklich besonders schwer. Ihr Leben hat sich schlagartig verändert. Sie sind jetzt alleinerziehend und leben im Exil. Wie haben Sie sich damit arrangiert?

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Das Leben geht weiter. Die Kinder gehen in die Schule und ich habe Leute um mich, mit denen ich gerne Zeit verbringe. Und wenn ich Unterstützung brauche, sind sie da. Das funktioniert alles. Der Entschluss, ins Exil zu gehen, der fehlende Vater und die extrem schwierige Gesamtsituation – wie haben Sie das Ihren Kindern erklärt und wie gehen Sie damit um? Ich habe es ihnen nicht sofort gesagt. Nach einer kurzen Station in Ägypten lebten wir in Beirut. Wir verbrachten dort fast zwei Jahre, bevor wir nach Kanada gingen. Zunächst wollte ich den Kindern nicht zu viel erzählen, auch wenn sie ständig fragten und nachhakten, wo Raif sei und wann er zurückkomme. Ständig erwarteten sie ihn. Erst kurz vor der Prügelstrafe im Januar, kurz vor jenen ersten 50 Stockschlägen habe ich den Fragen nachgegeben. Ich hatte das Gefühl, dass ich es ihnen erklären muss, dass sie mehr wissen müssen. Das war gut für uns alle. Natürlich hatten sie viele neue Fragen, etwa zu Raifs Blog und warum er ihn betrieb. Insgesamt bringen die drei Kinder das ganz unterschiedlich zum Ausdruck. Aber sie warten auf ihn, auch wenn sie wissen, dass er im Gefängnis sitzt. Sie wollen ihren Vater bei sich haben. Sie telefonieren mit Raif Badawi. Wie frei können Sie reden, und worüber sprechen Sie mit ihm? Ich kann ihn nicht anrufen. Wenn wir telefonieren, ruft er mich an – unregelmäßig, etwa zwei bis drei Mal in der Woche. Das sind sehr kurze Telefonate. Er will nicht darüber sprechen, was mit ihm im Gefängnis geschieht und ich frage ihn auch nicht danach. Er will wissen, wie es mir und den Kindern geht und was wir machen. Ich frage ihn das gleiche. So haben wir uns arrangiert. Halten Sie es für möglich, dass die weltweite Öffentlichkeit die Angelegenheit negativ beeinflussen könnte? Nein, einen negativen Effekt kann ich mir nicht vorstellen. Im Gegenteil: Ich glaube fest an einen guten Ausgang. Die Sache braucht nur mehr Zeit.

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INTERVIEW ENSAF HAIDAR

Foto: Karen Veldkamp / Amnesty

Ensaf Haidar kämpft seit seiner Inhaftierung für die Freilassung ihres Mannes Raif Badawi. Im Mai reiste sie nach Europa, um an Veranstaltungen und Aktionen für Badawi teilzunehmen. Sie sprach dabei unter anderem in Dresden auf der Jahresversammlung der deutschen AmnestySektion. Ensaf Haidar lebt mittlerweile mit ihren drei Kindern östlich von Montreal in Kanada.

Raif Badawi startete als unbekannter Blogger, inzwischen ist er zu einer weltweit bekannten Ikone für Meinungsfreiheit geworden – weiß er, was außerhalb Saudi-Arabiens passiert? Er weiß immer, was los ist – ich versuche ihn so gut es geht auf dem Laufenden zu halten. Das hilft ihm und gibt ihm Energie. Wie haben Sie persönlich diesen Prozess wahrgenommen, als ihr Mann Tag für Tag bekannter wurde? Ich hatte zunächst Angst davor, was passieren würde. Und zugleich hatte ich die Hoffnung, dass der Kampf für Raif zum Erfolg führen könnte. Dank Ihres enormen Einsatzes wurden auch Sie weltweit bekannt. Sie und Ihre Familie stehen nun ebenfalls im Rampenlicht. Wie geht es Ihnen mit dieser Rolle? Es ist meine Pflicht als seine Frau, für ihn da zu sein, ihn zu verteidigen, ihm zu helfen. Das tue ich, weil die Kinder und ich ihn zurückwollen. Ich bin froh, dass ich nicht allein bin mit meiner Forderung, sondern dass wir alle gemeinsam dasselbe wollen. Die Resonanz ist riesengroß, vor allem in den sozialen Netzwerken. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie immer wieder all diese »Likes« auf Facebook sehen? Das macht mich glücklich und gibt mir Kraft, um weiterzumachen. Diese Sympathie ist eine unglaubliche Antriebskraft.

INTERVIEW

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ENSAF HAIDAR

Wissen Sie, warum Raif Badawi den Blog initiierte, gab es einen Auslöser? Er hatte die Absicht, eine Plattform zu schaffen, einen Raum zu schaffen, um über Menschenrechte und Probleme zu sprechen. Er wollte es den Leuten ermöglichen, frei ihre Meinung zu äußern. Raif denkt und handelt frei und er mag es, wenn Leute frei handeln, denken und entscheiden können – die Webseite sollte ein Anfang sein. Wusste er, dass er sich damit in Gefahr begab? Es war ihm von Anfang an bewusst, dass es eine heikle Angelegenheit war. Aber er hatte ganz und gar nicht mit einer derart harten Strafe gerechnet. Und bis jetzt kann er nicht glauben, dass er diese Strafe für das bekommt, was er eigentlich gemacht hat. Inzwischen sind seine Texte auch in einem Buch erschienen. Haben Sie das Vorhaben gemeinsam abgestimmt? Als der Vorschlag kam, entschieden wir uns einfach dafür. Alle Leute, die mit Raif sympathisieren, haben dadurch eine echte Chance, zu erfahren, was er denkt. Spätestens damit dürfte allen klar werden, dass sein Handeln und seine Strafe in keinen Zusammenhang zu bringen sind. Fragen: Andreas Koob

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KULTUR

Der genaue Blick

Unter die Lupe genommen. Szene aus Joshua Oppenheimers »The Look of Silence«.

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Mit »The Look of Silence« beschäftigt sich der US-amerikanische Filmemacher Joshua Oppenheimer erneut mit dem indonesischen Massaker von 1965 – diesmal aus der Perspektive der Opfer. Eine Werkschau von Georg Kasch

Foto: Drafthouse Films / Participant Media

»THE LOOK OF SILENCE«

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S

chönheit kann ziemlich irritierend wirken. Etwa dann, wenn von den grausamsten Menschenrechtsverbrechen die Rede ist – und sich dazu Naturpanoramen aufblättern, Menschen in aufwändigen Kostümen vor einem Wasserfall posieren, Autos und Menschen im nächtlichen Scheinwerferlicht eine geheimnisvolle Aura erhalten. Selbst die an sich eher unspektakuläre Arbeit eines Optikers wird zum ästhetischen Bilderrätsel: Zunächst sieht man nur eine Linse, die sich vor ein Auge schiebt. Erst allmählich begreift man, dass ein Brillenmacher bei seinem Kunden die Dioptrinstärke ermittelt. Zugleich sucht hier einer auch im übertragenen Sinn nach Klarheit. Denn Adi, der Brillenmacher im Film »The Look of Silence«, ist der jüngste Bruder von Ramli, einem der bekanntesten Opfer des Massakers in Indonesien 1965, mit dem die Diktatur von General Suharto begann. Damals wurden massenhaft »Kommunisten« ermordet, oft auf bestialische Weise. Schätzungen gehen von bis zu einer Million Opfer aus. In der offiziellen indonesischen Geschichtsschreibung werden die Taten bis heu-

Foto: Roy Tee / Hollandse Hoogte / laif

te zum heroischen Kampf verklärt, der das Land vor den Kommunisten schützte. Die Täter von damals gehören immer noch zur Elite, trotz des Demokratisierungsprozesses des Landes seit gut 15 Jahren. Mit den Tätern hatte sich der US-amerikanische Filmemacher Joshua Oppenheimer in seinem preisgekrönten Dokumentarfilm »The Act of Killing« 2012 auseinandergesetzt. In der Annahme, hier werde ein Film über ihre Heldentaten gedreht, spielen sie die Folterungen und Morde von einst nach, prahlen mit ihrer Grausamkeit. Immer wieder aber mischen sich auch Momente des Zweifelns hinein – weil sie natürlich wissen, dass sie Verbrechen begangen haben. So entstehen Momente der Uneindeutigkeit, auch für den Zuschauer. »Jeder Täter ist auch ein Mensch«, sagt Oppenheimer. »Sie sind keine Monster, sondern Spiegel. Da hineinzuschauen, schmerzt.« Für seinen Film erntete Oppenheimer viel Lob, unzählige Preise und eine Oscar-Nominierung. Aber es gab auch kritische Stimmen: Was ist mit den Opfern? Deren Perspektive vertritt nun Ramlis Familie in »The Look of Silence«, der am 1. Oktober in die Kinos kommt und zuvor beim Menschenrechtsfilmfestival in Nürnberg läuft. Vor allem Adi, der erst zwei Jahre nach Ramlis Tod geboren wurde. Er reist unter dem Vorwand zu den Tätern, ihnen eine neue Brille zu machen, und stellt dabei unangenehme Fragen – ruhig, aber genau nachhakend, als würde er seit Jahren als Journalist arbeiten. »Als ich jung war, wollte ich immer die Täter treffen«, sagt er heute – gemeinsam mit Oppenheimer hat er den Film in Deutschland vorgestellt. »Als Joshua kam und mit mir diesen Film machen wollte, ging ein Traum in Erfüllung. Ich hatte diese Fragen seit Jahrzehnten im Kopf und endlich konnte ich sie stellen.« Im Film sieht man Adi oft vor einem Fernseher mit dem Material zu »The Act of Killing« sitzen, mit ruhigem, konzentriertem Blick. Nur selten zeigt ein Schatten auf seinem Gesicht, eine Falte, ein Zusammenzucken, wie sehr ihn das bewegt, was er sieht: die Mörder seines großen Bruders. Mit Adi hat Oppenheimer den idealen Protagonisten gefunden, weil er trotz all des Leids, mit dem er sich auseinandersetzen muss, ruhig bleibt. »Wut ist sinnlos«, erklärt er. »Wenn ich wütend werden würde, wäre ich wie die Täter.« Auch wegen Adi ist »The Look of Silence« ein zutiefst bewegender Film, dem so etwas wie Rache fremd zu sein scheint. Mit seinen Fragen bringt er die Täter und ihre Familien vollkommen aus dem Konzept. Die Ausreden, in die sie sich flüchten, ihr Beschwichtigen und Mauern erinnert fatal an jene Reflexe, mit denen sich die Tätergeneration in Deutschland nach 1945 gewehrt hat. »Stellen Sie sich vor, die Nazis hätten den Krieg gewonnen – und würden jetzt von einem Opfer mit ihren Taten konfrontiert«, sagt Oppenheimer.

Sieht besonders genau hin. Regisseur Oppenheimer.

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»Stellen Sie sich vor, die Nazis hätten den Krieg gewonnen – und würden jetzt von einem Opfer mit ihren Taten konfrontiert.« AMNESTY JOURNAL | 08-09/2015


Foto: Drafthouse Films / Participant Media

Die Fragen des kleinen Bruders. Adi befragt Commander Amir Siahaan, einen der Verantwortlichen für den Tod seines älteren Bruders.

Der 40-jährige Regisseur und Filmwissenschaftler stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie – viele Verwandte seiner Großeltern wurden im Holocaust ermordet. Wie Adi ist auch er besonnen, freundlich, sanft. Immer wieder hinterfragt er sich und seine Methoden kritisch. »Ich interessiere mich dafür, wie wir Menschen in einer Art zusammenleben können, die Würde und Fürsorge fördert und in der es undenkbar wird, einander systematisch zu verletzen«, erklärt er seine Motivation, sich in seinen Filmen immer wieder mit den universalen Menschenrechten auseinanderzusetzen. Oft beginnen sie wie Rätsel. Erst allmählich begreift man die Zusammenhänge, setzen sich die Geschichten mosaikartig zusammen. So bleibt man als Zuschauer wach, denkt mit. Die Art und Weise, wie sich in »The Look of Silence« nach den vielen Worten der Abwehr und Verteidigung durch die Täter Momente der Stille aufspannen, lässt ihr Schweigen unangenehm nachhallen. Selten gelingt es Kunst, derart stark in die Realität hineinzuwirken wie in Oppenheimers Filmen: Während »The Act of Killing« in Indonesien vor allem heimlich gezeigt und übers Internet populär wurde, wurde »The Look of Silence« auch dank der Unterstützung durch die nationale Menschenrechtskommission zu einem landesweit diskutierten Film. Seitdem haben ihn vor allem junge Menschen gesehen, wie Adi berichtet. Zwar gibt es Versuche der Zensur, den Film zu unterdrücken. Aber auch das wurde medial kritisch aufgegriffen. Längst hat eine offizielle Diskussion über die Vergangenheit Indonesiens eingesetzt, die unaufhaltbar scheint. Nach Indonesien kam Oppenheimer zum ersten Mal 2001. Er war gefragt worden, ob er den Mitgliedern einer verbotenen Gewerkschaft helfen könne, einen Film über ihre Situation zu machen: »The Globalisation Tapes«. Auf der Suche danach, wer schuld an ihrem Leid ist, verfolgen die Arbeiter die Spuren der

»THE LOOK OF SILENCE«

Globalisierung, die sie bis zu den amoralischen Regeln der Welthandelsorganisation führt und zu den USA, die jahrzehntelang den wirtschaftsliberalen Diktator Suharto unterstützten. Auch wenn Oppenheimer bei der Entstehung dieses Wut- und Mutmachfilms als Berater und nicht als Regisseur wirkte, gibt es viele Momente, die seine Handschrift tragen. Besonders die der Verfremdung, etwa wenn eine Plantagenarbeiterin um einen Palmenbaum herum Gift versprüht und gut gelaunt davon singt, dass dieses Gift sie töten wird. Bis dahin wusste Oppenheimer nichts über Indonesien und dessen Geschichte. Während der gemeinsamen Arbeit lernte er, wie angstbehaftet dort der Versuch war, sich gewerkschaftlich zu organisieren, weil 1965 so viele Gewerkschafter unter den Opfern waren. Seine Erkenntnis: »Das stärkste Gift ist die Angst.« Deutlich wurde aber auch, wie sehr sein Heimatland in die Menschenrechtsverletzungen involviert war. Den USA hatte er schon 1996 in »These Places We’ve Learned to Call Home« auf den rechtsradikalen Zahn gefühlt: In schockierender Weise schneidet er düstere, experimentelle Bilder mit Telefongesprächen zusammen, die er mit Menschen vom rechten Rand geführt hat. Was da an wirren Verschwörungstheorien, an Rassismus, Antisemitismus und dreistesten Faktenverdrehungen aufscheint, hat an Aktualität nichts eingebüßt, wie die Morde an Schwarzen in den USA gerade auf erschreckende Weise demonstrieren. »Kunst ist wie das Kind in Andersens Märchen ›Des Kaisers neue Kleider‹«, sagt Oppenheimer. »Sie kann die Welt nicht verändern. Aber sie kann auf Dinge hinweisen, die die Menschen nicht sehen.« Seine Filme fordern dazu auf, besonders genau hinzusehen – und forschen letztlich nach einer Antwort auf die Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Der Autor arbeitet als freier Kulturjournalist in Berlin.

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Im Sommer 2014 entließ das Moskauer Kultusministerium den Direktor des russischen Filmmuseums, Naum Kleiman, und den größten Teil seines Stabes. Kleiman aber arbeitet weiter – am Nachlass von Sergej Eisenstein. Von Barbara Kerneck

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m Frühjahr 2015 ertönte Naum Kleimans Stimme leise aus einem Aufnahmegerät vor einem Berliner Fahrkartenschalter. Ich hatte meine Kopfhörer vergessen, wollte mir aber mein Interview mit Kleiman noch einmal anhören. Plötzlich mischte sich eine Wartende mit russischem Akzent von hinten ein: »Diese Stimme kenne ich! In meiner Jugend habe ich in Moskau im Kino ›Illusion‹ den Film ›Panzerkreuzer Potemkin‹ von Eisenstein gesehen. Dann hielt jemand einen Vortrag und diskutierte mit uns darüber. Furchtbar interessant! War das damals vielleicht der Mann, zu dem diese Stimme gehört?« Naum Kleiman, geboren 1937, hat unzählige Angehörige der verschiedensten sowjetischen Nationen mit ihrem eigenen Filmerbe vertraut gemacht. Als Direktor des russischen Filmmuseums (Musej Kino) baute der renommierte Filmhistoriker und Regisseur dieses ab 1988 mit seinen Mitarbeitern auf und rettete damit einen Schatz für die ganze Welt. Die Jüngeren aus dem postsowjetischen Raum sahen dort nicht nur alle seit der Oktoberrevolution populären Filmklassiker sondern auch bislang verbotene Filme. Im Ausland veranstaltete das Musej Kino russische Filmretrospektiven. Parallel dazu zeigte es in Moskau bislang dort unbekannte ausländische Filme aus verschiedenen historischen Perioden. Für seine besonderen Verdienste erhielt Kleiman, selbst Mitglied vieler Festivaljurys, 2015 die Berlinale Kamera. Dem stets bescheiden auftretenden Mann war die damit verbundene Würdigung seiner Mitarbeiter besonders wichtig. In seinem Berliner Hotelzimmer gab er geduldig ein Interview nach dem anderen, mal in fließendem Deutsch, mal auf Englisch. Sein Haar und Brillengestell glänzten dabei silbern um die Wette. Seit Sommer 2014 hat das Kultusministerium den größten Teil seines Stabes entlassen, auch ihn als Direktor. Dagegen protestierten Dutzende internationale Filmschaffende, wie Wim Wenders oder Tilda Swinton, in einem offenen Brief an den russischen Ministerpräsidenten Medwedjew. Unter Kleiman hatte das russische Filmmuseum für mehr

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Geschichtsbewusstsein geworben. Das Kino vereinte die Völker der ehemaligen Sowjetrepubliken untereinander. Es könne dies noch immer, meint er: »Wir bewahrten so viele kirgisische, tadschikische, armenische, georgische Filme in unserem Museum und haben sie in Moskau auch gezeigt«, berichtet er, »und die Kinder der zahlreichen dortigen Emigranten aus diesen Ländern kamen, um die Vergangenheit ihrer Eltern kennenzulernen.« Weil es lehre mitzufühlen und Verständnis für bestimmte historische Situationen wecke, könnte das Kino auch Russland helfen, seine bislang noch unverdaute Vergangenheit zu bewältigen und die Bevölkerung in mündige Bürger zu verwandeln, glaubt er. Denn bislang heiße es entweder »Wir haben nur Fehler begangen« oder »Früher war alles besser!«. Nuancen dazwischen gebe es nicht. In einer historischen Extremsituation sah Kleiman selbst seinen ersten Film. 1942, er war viereinhalb Jahre alt, hatte man seine Familie aus Moldawien vor den heranrückenden Deutschen evakuiert. Er erinnert sich: »1942 erreichten wir Usbekistan. Massen von Flüchtlingen trafen sich am Bahnhof von Taschkent. Plötzlich kam eine Frau auf uns zu und sagte: ›Flüchtlinge mit Kindern können ins Kino in den Park gehen und dort Kinderfilme anschauen.‹ Meine Mutter ging mit mir, sie stellte mich auf eine Bank, damit ich besser sehen konnte. Der Film war ›Der Dieb von Bagdad‹ von Michael Powell und Ludwig Berger. Ich schaute mit offenem Mund auf all diese Wunder und den fliegenden Teppich. Meine Mutter erzählte, ich hätte die Arme ausgebreitet, um zu fliegen.« Nach dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt, musste die Familie ihre Heimat 1949 noch einmal verlassen: Man deportierte die kleinen Handwerker nach Sibirien, als »klassenfremde Elemente«. »In Wahrheit hatten nur privilegierte Geheimdienstler ein Auge auf unser Haus geworfen und eigneten sich dieses dann an«, sagt Kleiman. Ein ähnlicher Vorfall brachte ihn im Jahre 2005 um sein geistiges Haus, das sechs Jahre zuvor extra für das Musej Kino

»Die Aufklärung setzt sich fort wie ein Fluss, der eine Weile unterirdisch verläuft.« AMNESTY JOURNAL | 08-09/2015

Foto: Wolfgang Borrs

Hüter ohne Haus


Arbeitet am russischen Filmgedächtnis. Naum Kleiman.

im Moskauer Stadtteil Krasnaja Presnja eröffnete »Kinozentrum«. Dieses unterstand damals noch dem Verband der Filmschaffenden. Dessen Vorsitzender, der weltberühmte Regisseur Nikita Michalkow, verkaufte das Gebäude kurzerhand. Der neue Besitzer unterhält dort heute ein Multiplexkino. Da die Öffentlichkeit dessen Namen noch immer nicht erfuhr, verstummen die Gerüchte nicht, es handele sich dabei um den Putin-Günstling Michalkow selbst. Seit zehn Jahren ist das Moskauer Kinomuseum nun ohne Ausstellungsräume und verwahrt seine mehr als 450.000 Requisiten, Kostüme, Dokumente und rund 3.000 Filme auf Zelluloid im Lager der Produktionsfirma Mosfilm. In Russland gibt es heute viele Fälle von sogenanntem »Rejderstwo«, ein Begriff, der sich vom englischen Wort für Plünderer (»raider«) ableitet: Unternehmen und Institutionen werden durch Erpressung und Gerichtsurteile zwangsenteignet und von Günstlingen hochgestellter Leute übernommen. Nach Auskunft des Moskauer Helsinki-Komitees haben in Zehntausenden von Fällen Gerichte bei den Enteignungen mitgespielt. »Aber sogenannte ›Günstlinge‹ wissen, dass sie nur für eine kurze Zeit über Macht verfügen«, sagt Kleiman. »Daher hassen sie die Beschäftigung mit der Geschichte. Jeder wissenschaftliche Beweis für bestimmte gesetzmäßige Weiterentwicklungen von der Industrie bis zur Kunst zeigt ja, wann es Fortschritte gab und lässt die anderen Leute in ihnen eine kranke Tendenz erkennen«. So erklärt sich Kleiman seine faktische Kaltstellung.

NAUM KLEIMAN

Doch Russlands Geschichte mache Sprünge wie ein Frosch, meint der Historiker gelassen. »Mit dem Tauwetter unter Chruschtschow begann eine Zeit der Aufklärung. Die brach bald wieder ab. Aber sie setzte sich fort wie ein Fluss, der eine Weile unterirdisch verläuft. Das habe ich einige Male erlebt. Solange aber der Fluss untergetaucht ist, finden dort unten natürliche Umgruppierungen statt. Ich bin in letzter Zeit viel in Russland herumgereist und treffe überall sehr viele arbeitsfreudige Menschen. Sie packen an, ohne zu klagen. In allen Himmelsrichtungen sehe ich Leute, die in den verschiedensten Projekten viel Eigeninitiative an den Tag legen.« Seine eigene Energie investiert Kleiman heute wieder in die einstige Keimzelle des Kinomuseums. Seine Tochter Vera und er treffen sich fast täglich im Eisenstein-Zentrum, in jener kleinen Wohnung, in der Pera, die Witwe des Regisseurs und Kinopioniers Sergej Eisenstein (1898–1948), Kleiman einst als jungem Mann Eisensteins gesamten Nachlass zur Auswertung anvertraute. Eisensteins in der Sowjetunion verbotenes Spätwerk zeige, dass dieser auch in Zeiten grausamer Repressionen eine »freie Persönlichkeit« geblieben sei, meint Kleiman und lässt keinen Zweifel an der eigenen Absicht, dem großen Regisseur darin nachzufolgen. Erst einmal bleibt er nicht ohne Hoffnung: »Es gibt überall ein paar vernünftige Leute, auch in unserem Kultusministerium.« Die Autorin arbeitet als freie Journalistin regelmäßig zu Themen aus Russland.

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Dieses Kino ist Kunst Er gewann die diesjährige Berlinale und das mit Recht: Jafar Panahis Film »Taxi Teheran« ist ein Meisterwerk des Menschenrechtskinos. Von Jürgen Kiontke

Bitte einsteigen. Panahis Taxi als Bühne für Teherans Geschichten.

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Illustration aus dem Plakat zum Film des französischen Verleihs: Pierre-Julien Fieux / Le Cercle Noir / Memento Films

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ch bin Filmemacher. Ich kann nichts anderes als Filmemachen. Mit Kino drücke ich mich aus, es ist mein Leben.« Der iranische Regisseur Jafar Panahi muss sich mehr als andere überlegen, welche Art Film er macht. Er wurde im Iran zu 20 Jahren Berufsverbot verurteilt und – fast könnte man sagen »nebenbei« – auch noch zu sechs Jahren Haft, allerdings ist die Gefängnisstrafe derzeit ausgesetzt. Das alles, weil er sich im Wahljahr 2009 aufseiten der Anhänger des Präsidentschaftskandidaten Mir Hossein Mussawi positionierte, der seinerseits bis heute unter Hausarrest steht. Am Filmemachen, das macht Panahi immer wieder klar, kann ihn nichts hindern. Und dieses »nichts« scheint eine besondere Qualität zu haben. Obwohl der zurückhaltend wirkende Künstler mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert ist, hat er nun seinen dritten Film nach der Verurteilung gedreht. Mit »Taxi« (derzeit mit dem Titel »Taxi Teheran« in den Kinos) gewann er im Februar den Goldenen Bären der Berliner Filmfestspiele. Das Werk soll der iranische Meisterregisseur auf die Berlinale geschmuggelt haben. »Taxi« kann als einer der gelungensten Filme der vergangenen Jahre im Wettbewerb des Festivals gelten. Mit seinem gut 80 Minuten langen Film hat der drangsalierte Regisseur ohne nennenswerte Mittel ein Meisterwerk von Weltrang geschaffen. Und es ist der recht kleine Weltkino-Verleih aus Leipzig, der ihn nun in die deutschen Kinos bringt. Der Weltvertrieb liegt beim französischen Verleih Celluloid Dreams, der auch den diesjährigen Gewinner der Goldenen Palme herausbringt: »Dheepan« handelt vom Schicksal tamilischer Flüchtlinge und wird in Deutschland ebenfalls in Kooperation mit Weltkino gezeigt. Was macht »Taxi« zu einem gelungenen Film, einem Kinoerlebnis? Jafar Panahi beherrscht die Kunst, in Schlüsselszenen über die Welt zu erzählen, und er wird darin immer besser. In seinem Werk »In Film Nist« (IRN 2011, deutscher Filmtitel »Dies ist kein Film«), das Panahi vor »Taxi« gedreht hat, werden zunächst Szenen aus der Wahlnacht in Teheran 2009 angedeutet. Später dann sitzt ein Hund vor dem Fernseher. Er schaut einen Bericht darüber, wie in der Stadt herrenlose Hunde eingefangen werden. Eine Metapher für die missglückte Revolte, für Unterdrückung und Unfreiheit. In »Taxi« konzentriert sich die Welt mit ihren Einschränkungen auf den engen Raum eines Autos. Panahi fährt selbst, Menschen steigen ein und aus. Der Subtext: Da der Regisseur Berufsverbot hat, verdingt er sich nun als Chauffeur. In Teheran funktioniert das Taxi eher wie ein Bus: Leute steigen ein, bis es voll ist. Das Innere ist Treffpunkt, Debattenzone, Ort der Unterhaltung. Draußen bewegt sich die Stadt vorbei, mit ihren Farben, ihrem Gerenne und Geschrei. Es gibt niemanden auf der Welt, der diese Situation nicht nachvollziehen könnte. Die Bewegung ist das zweite Strukturprinzip in »Taxi«. Sie bedeutet Freiheit, zumindest hier, im Gegensatz zu Hausarrest und Gefängnis. Die Bewegung verbindet die Geschichte mit dem Kern des Kinos – nicht Stillstand, sondern Fortschreiten ist das Prinzip des »Movie«. Und so ist es kein Wunder, dass sich die Gespräche im Auto zunehmend um Film drehen – Kino, der große Transmissionsriemen von gemeinsamer Identifikation, von Allgemeinverständnis und globaler Kommunikation, er treibt hier die Handlung an. Die Stadt Teheran, der heutige Iran, in diesem Film fließen

»TAXI TEHERAN«

sie außen vorbei, die Gegenwart rauscht durch. Panahi hat die Kameras so montiert, dass sie die Menschen, die im Auto sitzen, filmen. Links und rechts aber, durch die Fenster, strömt das Straßenbild herein. Bei jedem Passagierwechsel werden die Türen aufgerissen, jemand stürmt herein, wirft sich auf die Sitze: Zwei mit einem Goldfischglas; eine Frau mit ihrem bei einem Unfall verletzten Mann. »Filme mich mit der Handy-Kamera, ich sterbe und ich muss mein Testament machen.« »Aufhängen«, brüllt der Nächste. »Alle hinrichten.« Wer anderen etwas klaue, zum Beispiel Autoräder, der müsse sofort umgebracht werden. »Sagen Sie mal, was arbeiten Sie denn?«, fragt die Passagierin, die neben ihm sitzt. »Ich bin selbstständig tätig«, antwortet ihr der Mann. »Als Straßenräuber.« Dann kommt Film-Omid, der Raubkopie-Verkäufer. »Ich war schon bei ihnen, sie wollten alle Woody-Allen-Filme haben.« Mit dem manchmal doch leicht eitlen Regisseur am Steuer, so der windige Dealer, verkaufe sich »Vicky Christina Barcelona« gleich um einiges besser. Gemeinsam klappern sie die Kundschaft ab – Filmstudenten. Gespräche über Film ergeben sich dabei zwangsläufig. Ab jetzt diskutiert man in »Taxi« häufiger über das Kino – ein Präludium: Denn dann tritt die Hauptdarstellerin dieses wunderbaren Films auf: Hana, die zehnjährige Nichte Panahis. Sie muss von der Schule abgeholt werden, heute war Filmstunde. Das Kind weiß gleich und natürlich besser als der Profi, wie man Kino zu machen hat. Die Lehrerin habe doch gesagt, wie es geht! Halbdokumentarisches Kino, im Stil eines Pier Paolo Pasolini vielleicht, gekreuzt mit der Verve eines Kino-Nerds wie Quentin Tarantino. Aber Steigerung ist immer möglich – die Anwältin einer jungen Frau namens Ghoncheh Ghavami steigt ein. Die hatte einem Volleyballspiel der Männer zugeschaut, und das ist verboten. »Ich habe jetzt Berufsverbot«, sagt die Juristin. Wie beiläufig reiht sie sich ein als Fahrgast wie die anderen. »Erst beschuldigen ›sie‹ einen, für den Mossad oder die CIA zu spionieren, dann kommen die Vorwürfe moralischer Verfehlungen: Engste Freunde werden zu Feinden oder landen im Gefängnis.« Draußen sieht man zwei Gestalten auf einem Motorrad. Auf einfachste Weise, mit wenigen Dialogen und hervorragenden Darstellern gelingt es Panahi, ein Kino der Menschenrechte zu entwickeln, in dem er die Menschenrechte ins Kino bringt. Er entwickelt eine Bildsprache, deren Ästhetik wie beiläufig universell wirkt und die die Gegenwart mythisch abbildet: das verschleierte Kind mit der Kamera, die verschwommenen Verfolger. Panahi liebt sein Publikum. In gerade einmal 80 Minuten entwirft er ein Gesellschaftsbild der islamischen Republik Iran, vielleicht sogar ein sympathisches. Die Sprache dieses Kinos ist rudimentär und cool. Seine Struktur ist die des Selfies: eine Selbstbetrachtung des globalen Chaos. »Nichts kann mich am Filmemachen hindern«, sagt Panahi. Kino als Kunstform werde zu seinem Hauptanliegen, wenn er in die Ecke gedrängt werde. »Ich muss unter allen Umstanden weiter Filme machen, um der Kunst Respekt zu erweisen und mich lebendig zu fühlen.« Kino im Kino, genial. Ansehen. »Taxi Teheran«. IRN 2015. Regie: Jafar Panahi. Mit Hana Saeidi u.a. Kinostart: 23. Juli 2015

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In The Ghetto Arm ist schwarz. North Philadelphia.

Wer bei der anhaltenden Polizeigewalt in den USA nur mangelnde Kontrolle am Werk sieht, sollte Alice Goffmans Studie »On The Run« zur Kriminalisierung von Armut in schwarzen Stadtteilen lesen. Von Maik Söhler

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erguson, Charleston, Baltimore: Die Gewalt weißer Polizisten gegen Teile der schwarzen urbanen Bevölkerung scheint zu den USA zu gehören wie Hamburger, Hollywood und Bowling. Es vergeht kaum ein Monat ohne solche Schlagzeilen. Regelmäßig diskutiert wird dann darüber, ob die folgenden Proteste angemessen sind, ob Polizisten Schulterkameras tragen müssen und wie sich Bürger besser schützen können. Aus dem Blick gerät dabei oft, dass Polizeigewalt und Rassismus tief eingeschrieben sind in die Struktur des täglichen Lebens in bestimmten Vierteln kleinerer und größerer Städte der USA. Oder um es in den Worten der US-Soziologin Alice Goffman zu sagen: »In einer Nation, die sich offiziell befreit hat von einem rassistischen Klassensystem (…), wird zeitgleich eine große Menge von Strafjustizpersonal auf Kosten des Steuerzahlers beschäftigt, um ein drakonisches Regime gegen arme schwarze Männer und Frauen zu errichten, die in den ghettoisierten Vierteln unserer Städte leben.« Goffmans luzide Langzeitstudie »On The Run« ist jüngst auf Deutsch erschienen. Es handelt sich um ein Buch, das viel zum Verständnis von Polizeigewalt, Rassismus, Alltagsdiskriminie-

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rung und Verarmung beiträgt, weil es Wechselwirkungen schildert und vorschnelle Schuldzuweisungen vermeidet. Die Autorin hat jahrelang in einem Schwarzenviertel in Philadelphia gelebt, ihre Beobachtungen notiert und daraus eine Studie erarbeitet, die präzise und umfassend zugleich ist. Die Soziologin hat alle Namen und Merkmale von Personen sowie den Namen des Wohnviertels geändert, was weder ihrer Feldforschung noch ihrer Analyse schadet, denn das gewonnene Forschungsmaterial spricht für sich: 60 Prozent der schwarzen Männer, die nicht die Highschool abgeschlossen haben, waren mit Mitte 30 schon einmal im Gefängnis. Viele ihrer Lebensstile sind anschließend geprägt von Geheimhaltung, Misstrauen und Flucht. Es sei fast egal, schreibt Goffman, ob die Männer tatsächlich vor der Polizei und Justiz fliehen, weil ein Haftbefehl gegen sie vorliegt, oder ob sie sich nur überwacht und verfolgt wähnen: »Die offensichtliche Willkür des Strafjustizsystems, angefangen von der Polizeikontrolle bis zu dem Augenblick, da die Bewährungsstrafe endet, gibt einem jungen Mann das Gefühl, dass er sein Leben nicht selbst in der Hand hat.« Auf-der-Flucht-sein sei zur Metapher geworden, zur Metapher eines Lebens unter den wachsamen Augen von Judikative und Exekutive, und sie bedeute »in dauernder Bewegung zu sein, ohne jemals irgendwo anzukommen«.

2,2 Millionen Menschen in Haft Goffman lässt gleich anfangs durchblicken, wo sie eine Hauptursache des US-Problems sieht und wertet die Gefangenenstatistik des Landes aus: »2,2 Millionen Menschen befinden sich in Staats- oder Bezirksgefängnissen, hinzu kommen 4,8 Millionen,

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»Die offensichtliche Willkür des Strafjustizsystems gibt einem jungen Mann das Gefühl, dass er sein Leben nicht selbst in der Hand hat.«

Foto: Mark Makela / The New York Times / Redux / laif

raus und in diesen Scheißladen hier, wo sie zu mehreren in einem Bett schlafen müssen, kein Geld haben, keine Kleidung.«

deren Strafe auf Bewährung ausgesetzt ist oder die bedingt entlassen wurden. Eine Gefangenenquote dieser Höhe wurde in der Neuzeit sonst nur zur Zeit der Zwangsarbeiterlager in der ehemaligen Sowjetunion unter Stalin erreicht.« Und doch ist ihr klar, dass die Gefängnisse und die Beamten, die für steten Zufluss sorgen, nur Ausführungsorgane einer höheren Gewalt sind: »Die Polizei ist in einer unmöglichen Situation: Sie ist im Kern die einzige Instanz der Regierung, die sich mit den signifikanten sozialen Problemen der leistungsfähigen jungen Männer, die in einem Ghetto leben, befassen muss und keine anderen Mittel als die Macht zur Einschüchterung und zur Festnahme hat.« Spätestens hier sei klar, dass vorsätzlich eine bestimmte Sozialpolitik betrieben werde. Die Rolle des Gesetzesvollzugs habe sich seit der sogenannten »Crime-Bill« unter US-Präsident Clinton in den neunziger Jahren geändert, es gehe schon lange nicht mehr um den Schutz einer Gegend vor Straftätern, sondern darum, komplette Stadtviertel unter Beobachtung zu stellen, weil die Behörden von einem Generalverdacht ausgingen. Das Ausmaß von polizeilicher Überwachung und Inhaftierung in armen schwarzen Vierteln bringe ein Paradox der Verbrechensbekämpfung hervor: »Durch sie (die Überwachung) wird ein so großer Teil des täglichen Lebens kriminalisiert, dass am Ende weiter reichende illegale Aktivitäten gefördert werden, die die Menschen unternehmen, um die gegen sie ergriffenen Maßnahmen zu umgehen.« Denn es mangele an Alternativen, Mitteln und Ressourcen, um straffällig gewordenen schwarzen Männern den Einstieg in ein Leben ohne Kriminalität und Repression zu ermöglichen. Goffman zitiert den Wärter einer Resozialisierungseinrichtung: »Seit sie Kinder waren, waren sie eingesperrt. Dann kommen sie

»ON THE RUN«

Weitreichende Auswirkungen Goffman erweist sich als gute Soziologin, da ihre Forschungen nicht im Spannungsverhältnis von Gesetzesvollzug und Kriminalität enden. Sie bezieht auch andere Akteure ein, die betroffen sind, wo Staatsgewalt und (potenzielle) Delinquenz aufeinandertreffen: »Das schiere Ausmaß von Polizeiüberwachung und Inhaftierung in armen ghettoisierten Vierteln verändert das Gemeinschaftsleben einer Nachbarschaft auf tiefgreifende und dauerhafte Weise und dies betrifft nicht nur die jungen Männer, auf die die Maßnahmen abzielen, sondern auch deren Familienmitglieder, ihre Partnerschaften und Nachbarn.« Gegen Frauen von Tätern übe die Polizei körperliche Gewalt aus, sie verwüste Wohnungen, versuche das positive Bild des Mannes zu zerstören, drohe mit Beschlagnahmung, Zwangsräumung, Kindesentzug – all das, um an Informationen zu gelangen. Frauen stünden vor der Wahl zwischen eigener Sicherheit und der Freiheit des Mannes. Über Mütter schwarzer Männer schreibt sie: »Ihre Tage sind gekennzeichnet von den guten und schlechten Nachrichten, die sie über das Schicksal ihrer Kinder aus Gerichtssälen, Gefängnissen und von Bewährungsausschüssen bekommen.« Auch für viele Freunde und Verwandte gelte, dass »Urteilsverkündungen, Kautionsanhörungen und Freilassungen nach der Verbüßung langer Haftstrafen (…) in einer Weise zum Alltag gehören, dass sie die Funktion wichtiger sozialer Anlässe übernommen haben«. All dies stärke das Misstrauen in Polizei und Gerichte, aber auch in Orte wie Krankenhäuser und Friedhöfe, wo die Polizei bei bestimmten Anlässen darauf warte, per Haftbefehl Gesuchte festzunehmen. Goffman schließt: »Ein Mann mit Justizproblemen macht die Erfahrung, dass er es nicht mit Aufrichtigkeit und Anständigkeit schafft, dem Gefängnis fernzubleiben, sondern nur, wenn er eine zwielichtige Figur wird, zu der niemand mehr Vertrauen haben kann.« Protest, Kameras auf den Schultern von Polizisten und Selbstschutz der Gemeinden mögen naheliegende Antworten auf Polizeigewalt sein – ohne eine bessere Sozialpolitik könnten sie wirkungslos bleiben. Alice Goffman: On The Run. Die Kriminalisierung der Armen in Amerika. Aus dem Englischen von Noemi von Alemann, Gabriele Gockel und Thomas Wollermann. Verlag Antje Kunstmann, München 2015. 368 Seiten, 22,95 Euro.

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Irakisches Meisterstück

Islamische Friedensklänge

Hat meine Familie weltpolitische Ambitionen? Regisseur Samir, Schweizer mit irakischer Geschichte, hat sich diese Frage gestellt. Und als Antwort ein 3D-Meisterwerk gedreht, wie man es selten gesehen hat: Hundert Jahre irakische Geschichte werden mit den neuesten filmischen Animationsverfahren erzählt, im Vordergrund immer der Mensch. Die Familiensaga als eine über Generationen tradierte Poetik des Widerstands: Samir lässt seine Angehörigen zu Wort kommen, die in alle Welt verstreut sind, weil sie immer in der freiheitlichen Opposition waren: Russland, Schweiz, Australien. Die Familie besteht aus Akademikern, Schriftstellerinnen, Schustern – aber immer standen sie auf der Seite derer, die die Gesellschaft friedlich weiterentwickeln wollten. Den Aufstieg der Baath-Partei, die Entwicklung des arabischen Sozialismus und Kommunismus lässt der Film Revue passieren, anhand seltener Aufnahmen, teils aus den dreißiger Jahren, in denen das irakische Straßen- und Selbstbild oft moderner anmutet als heute. »Wann ist uns nur der Bildungsanspruch abhandengekommen?«, heißt es in aller Verzweiflung. Bilder von Haft, Folter, Flucht und Krieg durchsetzen die Erzählung. Der Regisseur will nun auch anderen ermöglichen, ihre Erinnerungen zu veröffentlichen. »Alle eure Geschichten ergeben zusammen die Geschichte des Irak. Es soll eine private, subjektive Geschichte werden, die zum Entdecken einlädt.« Dazu: www.iraqiodyssey.ch.

Wenn man seine Dreadlocks sieht, könnte man ihn für einen Rastafari halten. Doch Cheikh Lo stammt nicht aus Jamaika, sondern ist ein Anhänger des legendären westafrikanischen Sufi-Scheichs Amadou Bambi (1850–1927), dessen ikonisches Porträt sich im Senegal auf Häuserwänden, Taxifenstern und T-Shirts findet. Cheikh Lo gehört dem Baye-Fall-Zweig seiner Mouridiyya-Bruderschaft an, die mit ihren farbenprächtigen Patchwork-Gewändern und massiven Gebetsperlenketten auffallen und einen asketischen, einfachen Islam praktizieren. Ihr Ansatz verhält sich zum Steinzeit-Islam der afrikanischen Terrorsekte Boko Haram wie das Christentum eines Franz von Assisi zu dem eines Anders Breivik. In der MbalaxMusik des Senegal verschmelzen Latin-Einflüsse mit traditionellen Griot-Gesängen, die Sabar-Handtrommel gibt den Rhythmus vor. Auf »Balbalou« erweist sich der 60-jährige Cheikh Lo als wahrer Magier des Mbalax und wartet mit dezenten Sabar-Beats und Melodien auf, die er mit dem zarten Schmerz seiner zuckersüßen Stimme überzieht. Wie es sich für eine französische Produktion gehört, finden sich auf »Balbalou« gleich mehrere Kollaborationen mit Künstlern, die in Frankreich einen guten Namen haben, darunter die brasilianische Sängerin Flavia Coelho oder der Neo-Musette-Akkordeonist Fixi. Höhepunkt des Albums ist das Duett mit der Wassoulou-Sängerin Oumou Sangaré aus Mali: eine Anklage gegen all jene afrikanischen Staatschefs, die sich an die Macht putschen und ihre Länder ins Unglück stürzen.

»Iraqi Odyssey«. CH u.a. 2014. Regie: Samir. Kinostart: 24. September 2015.

Cheikh Lo: Balbalou (Chapter Two / Indigo)

Polit-Aktivisten in der Krise Autoritäten angreifen ist das Geschäft der »Yes Men« Andy Bichlbaum und Mike Bonanno. Als Sprecher von Dow Chemical getarnt, verkündeten die Aktivisten einst, das Unternehmen würde alle Hinterbliebenen der Chemie-Katastrophe im indischen Bhopal mit Milliarden entschädigen. Jetzt präsentieren sich die beiden Weltmarktführer der Anti-PR in ihrem mittlerweile dritten Film als in die Jahre gekommene Gerechtigkeitsaktivisten: Bonanno muss an die Familie denken – da wird man vorsichtiger. Und bei Bichlbaum lautet das Fazit: Jude, homosexuell, Beziehung kaputt. »Arbeit ist einfacher als Menschen«, sagt er nach beinahe zwei Jahrzehnten Guerilla-Aktivismus, mit dem die beiden Konzernen Dampf machten. Was macht das Leben mit einem, wenn man jahrelang ein weltweit agierender Polit-Clown war? Bichlbaums und Bonannos ergraute Schläfen leuchten beim Selbst-inder-Limousine-Fahren – die Ideale sind nicht mehr ganz so transparent. Und erstmals droht den Aktivisten ein Gerichtsverfahren, angestrengt von der US-amerikanischen Handelskammer, in deren Namen die beiden eine Kohlenstoffsteuer zur Rettung der Umwelt einführen wollten. Der Spuk war schnell enttarnt. Eine erneute spektakuläre Aktion soll die Protestwelt wieder ins Lot bringen … Ein Dokument des PolitAktivismus und eine Anregung, nach neuen Protestformen zu suchen. »The Yes Men – Jetzt wird’s persönlich«. Regie: Laura Nix,

Wüstenblues Zornig und rockig klingen Terakraft auf ihrem neuen Album »Alone«. Die Band gehört zu den prominentesten Vertretern des Wüstenblues, den die legendäre Tuareg-Rockband Tinariwen populär gemacht hat. Letztere entstand einst in Gaddafis Ausbildungslager in Libyen als musikalischer Arm der Rebellenbewegung, die für einen eigenen Staat im Norden Malis kämpfte. Dieser Traum schien Ende 2012 zum Greifen nah, als Malis Zentralregierung durch einen Putsch gestürzt wurde. Doch die Tuareg wurden am Ende aufgerieben zwischen den Islamistenmilizen und Malis Armee, die sich ausländische Truppen zur Unterstützung ins Land holte, um den Norden zurückzuerobern. Der Gitarrist Diara hat sich schon vor Jahren von Tinariwen abgespalten, um mit der Band Terakraft eigene Wege zu gehen. Mit seinem Neffen Sanou hat er eine Art Grunge-Spielart des Wüstenblues entwickelt, die klingt, als sei Neil Young in der Sahara gelandet, und der Monstergroove von Tracks wie »Karambai« (»Gemeinheit«) ist so erfrischend wie ein Schluck Wasser in der Wüste. Als Produzenten konnten sie den britischen Mali-Kenner Justin Adams gewinnen, der ihnen half, ihren Ärger und ihre Enttäuschung über die politische Entwicklung in Mali zu kanalisieren. Ihr Bandname bedeutet so viel wie »Karawane« und die Ansage ist klar: Der Krieg ist vorbei und die Karawane rockt weiter.

Andy Bichlbaum, Mike Bonanno. US u.a. 2014. Kinostart: 20. August

Terakraft: Alone (Outhere Records)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 76

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Foto: Jonas Opperskalski / laif

Relikt eines einst christlich-arabischen Dorfes. Die Kirche von Iqrit.

Musik aus Ruinen Das Album »The Iqrit Files« des arabischen DJ-Kollektivs »Checkpoint 303« beschäftigt sich mit der Flucht arabischer Bewohner vor der Staatsgründung Israels, mit gewaltlosem Widerstand und Menschenrechten. Von Daniel Bax

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as christliche Dorf Iqrit im Norden von Galiläa war eine von mehr als 360 arabischen Siedlungen, die im arabisch-israelischen Krieg von 1948 verlassen wurden. Mehr als eine halbe Million Menschen flohen damals in die Nachbarländer oder blieben, als Bürger zweiter Klasse, in Israel. Als »Nakba«, als »Katastrophe«, bezeichnen Palästinenser diese Fluchtbewegung vor der Staatsgründung Israels. Was der Grund für diesen Exodus war, darüber gehen die Ansichten auseinander. Während die offizielle israelische Version behauptet, die meisten Palästinenser hätten ihre Häuser freiwillig verlassen, weil sie auf einen Sieg der arabischen Armeen gehofft hätten, gehen die meisten unabhängigen Historiker heute davon aus, dass es einen gezielten Befehl zur Vertreibung der arabischen Bewohner gegeben habe. Das christliche Iqrit wurde am Weihnachtsabend 1951, trotz anderslautender Gerichtsbeschlüsse, auf Befehl der israelischen Armee dem Erdboden gleichgemacht. Einen Wiederaufbau ihres Dorfes wird seinen in Israel verbliebenen Bewohnern und deren Nachfahren bis heute verwehrt. Nur eine griechisch-katholische Kirche und ein Friedhof, auf dem sie bis heute ihre Toten begraben, existieren dort noch. Erst in den vergangenen Jahren haben sich junge palästinensische Aktivisten in einem Akt zivilen Ungehorsams zusammengetan und Dörfer wie Iqrit mit Protest-

FILM & MUSIK

camps besetzt, sie werden aber regelmäßig von der Polizei drangsaliert und vertrieben. In den Ruinen von Iqrit ist das Album »The Iqrit Files« entstanden. Das arabische DJ-Kollektiv »Checkpoint 303« hat aus traditionellen palästinensischen Weisen und aktueller Elektronik suggestive Klanglandschaften geschaffen. Die beiden Sängerinnen Wardeh Sbeid und Jihad Sbeid und der Musiker Jawaher Shofani tragen ihre Epen und rituellen Gesänge meist zu Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen vor. Der DJ Karim Jerbi alias SC Mocha und seine Koproduzentin Rim Banna haben sie mit Oud-Laute und Klavier unterlegt und mit dräuenden Dub-Effekten und fordernden Techno-Beats zu einer postmodernen Protestmusik vermischt. Hinzu kommen atmosphärische Aufnahmen und politische Statements: Samples von Eleanor Roosevelt, die aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorliest, von Albert Einstein, der auf Englisch über gewaltlosen Widerstand referiert, oder von Nelson Mandela, der 1990 nach seiner Entlassung aus der Haft in einer Rede auf das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung hinwies. Das Album erscheint auf dem norwegischen Label Kirkelig Kulturverksted, das sich um aktuelle arabische Avantgarde-Musik verdient macht. In einer Zeit, in der die rechts- bis ultranationalistische Regierungskoalition in Jerusalem Pläne schmiedet, wie sie kritische NGOs zum Schweigen bringen kann, und sogar erfolgreich im Ausland interveniert, um zu verhindern, dass eine Organisation von Ex-Soldaten wie »Breaking the Silence« über Menschenrechtsverletzungen der israelischen Armee berichten kann, schafft es damit ein notwendiges Stück Gegenöffentlichkeit. Checkpoint 303: The Iqrit Files. (Kirkelig Kulturverksted / Indigo)

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) 78

Foto: Amnesty

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

MEXIKO ÁNGEL COLÓN Der afro-honduranische Migrant Ángel Colón versuchte Anfang 2009 über Mexiko in die USA zu gelangen. Er hoffte, dort eine Arbeit zu finden, um die medizinische Behandlung seines krebskranken Sohnes bezahlen zu können. Im März 2009 wartete er in einem Haus in der mexikanischen Stadt Tijuana auf eine Möglichkeit, die Grenze überqueren zu können. Am 9. März 2009 stürmten bewaffnete Polizisten das Haus und nahmen Ángel Colón fest. In den folgenden Tagen wurde er gefoltert und anderweitig misshandelt. Man versetzte ihm Schläge, zwang ihn, sich auf seinen Knien fortzubewegen, und trat ihn. Man bedrohte ihn und stülpte ihm eine Plastiktüte über den Kopf, bis er fast erstickte. Er musste sich nackt ausziehen und die Schuhe anderer Häftlinge mit seiner Zunge putzen. Darüber hinaus wurde er immer wieder zum Opfer rassistisch motivierter Gewalt. Nachdem Ángel Colón 16 Stunden am Stück verhört worden war, zwang man ihn dazu, eine Erklärung zu unterzeichnen, auf deren Grundlage man ihm die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Bande vorwarf. Obwohl Ángel Colón dem Richter von der Folter berichtete und auch die Erklärung zurückzog, wurden keine Ermittlungen eingeleitet. Die Polizei verlegte Ángel Colón in ein abgelegenes Hochsicherheitsgefängnis. Dort blieb er inhaftiert, bis die Staatsanwaltschaft die Anklage gegen ihn im Oktober 2014 fallenließ und seine bedingungslose Freilassung veranlasste. Er hatte insgesamt mehr als fünf Jahre in Untersuchungshaft verbracht. Die Generalstaatsanwaltschaft leitete einige Untersuchungen ein, diese blieben jedoch zum Großteil wirkungslos. Ángel Colón hat von der mexikanischen Regierung noch immer keine Entschädigung für die erlittenen Menschenrechtsverletzungen erhalten. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an die Generalstaatsanwältin von Mexiko, in denen Sie sie darum bitten, unverzüglich eine umfassende und unabhängige Untersuchung zur Folterung von Ángel Colón durchzuführen, die Ergebnisse dieser Untersuchung zu veröffentlichen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Arely Gómez González, Procuradora General de la República Procuraduría General de la República (PGR) Reforma 211–213, Col. Cuauhtémoc, C.P. 06500 México D.F., MEXIKO Fax: 00 52 - 55 - 53 46 09 08 (Sagen Sie »Tono de fax«) E-Mail: ofproc@pgr.gob.mx, Twitter: @ArelyGomezGz (Anrede: Dear Attorney General / Estimada Señora Procuradora / Sehr geehrte Frau Generalstaatsanwältin) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Mexikanischen Staaten I.E. Patricia Espinosa Cantellano Klingelhöferstraße 3, 10785 Berlin Fax: 030 - 26 93 23 70 - 0 E-Mail: mail@mexale.de

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2015


Foto: Jean Pierre Aime

Foto: Sarah Eick

TÜRKEI HAKAN YAMAN

BURUNDI PIERRE CLAVER MBONIMPA

Am 3. Juni 2013 kam Hakan Yaman auf dem Heimweg von seiner Arbeit als Busfahrer am Gezi-Park vorbei, wo gerade eine Demonstration gegen Polizeigewalt stattfand. Eigenen Angaben zufolge wurde er nur wenige Augenblicke später brutal von Polizisten angegriffen: »Erst wurde ich von einem Wasserwerfer getroffen. Dann traf mich ein Tränengaskanister am Bauch und ich fiel zu Boden. Etwa fünf Polizisten kamen auf mich zu und schlugen immer wieder auf meinen Kopf ein. Einer von ihnen drückte mir einen harten Gegenstand ins Auge und quetschte mir damit das Auge aus. Ich lag auf dem Boden, ohne mich zu bewegen. Ich hörte, wie einer von ihnen sagte: ›Der ist fertig, wir sollten ihn endgültig erledigen.‹ Dann schleiften sie mich zehn oder 20 Meter über den Boden und warfen mich in ein Feuer. Danach gingen sie und ich schaffte es, mich aus den Flammen herauszurollen.« Ein Auge hat Hakan Yaman vollständig verloren und auf dem anderen verlor er 80 Prozent seines Sehvermögens. Zudem erlitt er einen Schädelbruch, weitere Knochenbrüche und Verbrennungen zweiten Grades. Auch zwei Jahre nach dem brutalen Angriff auf Hakan Yaman sind die verantwortlichen Polizisten weder identifiziert noch vor Gericht gestellt worden.

Der renommierte Menschenrechtsverteidiger Pierre Claver Mbonimpa wurde am 15. Mai 2014 festgenommen und anschließend vier Monate in Haft gehalten. Grund dafür waren Kommentare, die er zuvor im Radio abgegeben hatte. Darin hatte er erklärt, dass junge Männer Waffen und Uniformen erhalten und zur Militärausbildung in die benachbarte Demokratische Republik Kongo gebracht würden. Pierre Claver Mbonimpa wurde aus medizinischen Gründen im September 2014 wieder aus der Haft entlassen, darf jedoch seitdem die burundische Hauptstadt Bujumbura nicht verlassen. Da die Justizbehörden immer wieder die Termine für die Anhörungen verschieben, ist sein Verfahren noch immer anhängig. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von Burundi, in denen Sie ihn darum bitten, die gegen Pierre Claver Mbonimpa erhobenen Anklagen fallenzulassen, da sie lediglich auf der legitimen Ausübung seiner Arbeit gründen. Bitten Sie ihn außerdem, die Drangsalierung und Einschüchterung von Pierre Claver Mbonimpa und anderen Menschenrechtsverteidigern in Burundi zu beenden.

Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Staatsanwalt, in denen Sie ihre Sorge darüber zum Ausdruck bringen, dass die Untersuchungen zur Identifizierung der Polizisten, die für den brutalen Angriff auf Hakan Yaman verantwortlich waren, noch immer nicht abgeschlossen wurden und bisher ergebnislos blieben. In Verbindung mit den irreversiblen Verletzungen und der Traumatisierung, die Hakan Yaman davongetragen hat, ist die drohende Straflosigkeit seiner langfristigen Genesung abträglich. Fordern Sie den Staatsanwalt auf, sicherzustellen, dass die Verantwortlichen unverzüglich ausfindig gemacht und vor Gericht gestellt werden.

Schreiben Sie in gutem Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: President of Burundi Pierre Nkurunziza Office of the President, Boulevard de l’Uprona BP 1870, Bujumbura, BURUNDI Fax: 002 57 - 22 - 24 89 08 E-Mail: president@burundi.bi Twitter: @BdiPresidence (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)

Schreiben Sie in gutem Türkisch, Englisch oder auf Deutsch an: Memur Suçlari Sorușturma Bürosu Davut Dağ – Cumhuriyet Savcısı Istanbul Anadolu Adalet Sarayn Esentepe Mah. E-5 Yan yol Cad. No:39 Kartal / Istanbul, TÜRKEI Fax: 00 90 - 21 - 63 03 35 99 (Anrede: Dear Prosecutor / Sehr geehrter Herr Staatsanwalt) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Burundi S.E. Herrn Edouard Bizimana Berliner Straße 36, 10715 Berlin Fax: 030 - 23 45 67 20 E-Mail: info@burundi-embassy-berlin.com

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Türkei S. E. Herrn Hüseyin Avni Karslioğlu Tiergartenstraße 19–21, 10785 Berlin Fax: 030 - 27 59 09 15 E-Mail: botschaft.berlin@mfa.gov.tr

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

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In jedem Amnesty Journal werden drei Einzelschicksale mit dem Appell veröffentlicht, solche Menschenrechtsverletzungen zu beenden. In regelmäßigen Abständen werden wir künftig über die Entwicklung dieser Fälle berichten, soweit neue Informationen vorliegen. Wir starten mit Updates zu den »Briefen gegen das Vergessen« von Januar bis Juli 2015.

Update: Die ursprünglich für den 2. oder 3. März angesetzte Verhandlung gegen Irom Sharmila wurde auf Anfang Juni verschoben. Nachdem am 6. Juni eine Anhörung zu ihrem Fall stattfand, ist der nächste Termin auf den 11. August verschoben worden.

PHILIPPINEN – JERRYME CORRE (JANUAR 2015)

Rückblick: Dem Syrer Ali Özdemir ist im Mai 2014 in den Kopf geschossen worden, als er versuchte, die türkische Grenze zu überqueren. Der damals 14-Jährige überlebte, verlor jedoch das Augenlicht auf beiden Augen. Als er stabil genug war, erhielt Ali Özdemir ein Visum, um zu seiner Mutter nach Deutschland zu reisen. Update: Ali befindet sich nun zusammen mit seinen beiden Geschwistern und seinem Vater bei seiner Mutter in Deutschland. Laut seinem Vater gibt es jedoch weiterhin keine Fortschritte hinsichtlich einer Untersuchung des Falls.

TÜRKEI – ALI ÖZDEMIR (MÄRZ 2015)

Rückblick: Jerryme Corre wurde im Januar 2012 festgenommen und bezichtigt, einen Polizisten getötet zu haben. Als er sich weigerte, ein »Geständnis« abzulegen, wurde er gefoltert und mit dem Tode bedroht. Er und ein Vertreter der Dorfgemeinschaft sagten der Polizei, dass sie die falsche Person festgenommen habe. Schließlich wurde Jerryme Corre wegen Drogenbesitzes angeklagt. Er befindet sich weiterhin in Haft. Jerryme Corre. Update: Am 27. Mai übergab Amnesty International auf den Philippinen Unterschriften an die dortige Polizei, die im Rahmen des Briefmarathons für Jerryme Corre gesammelt worden waren. Nach der Übergabe gab die Polizei Jerryme Corre und seiner Familie bekannt, dass der Dienst für Innere Angelegenheiten der Nationalpolizei eine Untersuchung einleiten werde. Am 6. Juni fand die erste Anhörung zu dieser Untersuchung statt, bei der Delegierte von Amnesty, Jerryme Corre selbst und seine Rechtsbeistände anwesend waren. In der Anhörung hieß es, dass die Untersuchung infolge von Briefen »einer Menschenrechtsorganisation« initiiert wurde.

SWASILAND – BHEKITHEMBA MAKHUBU UND THULANI MASEKO (APRIL 2015) Rückblick: Bhekithemba Makhubu, Herausgeber eines Nachrichtenmagazins, und der Menschenrechtsanwalt Thulani Maseko wurden im März 2014 in Swasiland festgenommen. Anlass waren zwei Artikel, in denen sie Zweifel an der Unabhängigkeit und Integrität der Justiz in Swasiland äußerten. Beide wurden wegen »Missachtung des Gerichts« verurteilt, wogegen sie Rechtsmittel einlegten. Update: Im März wurde Thulani Maseko drei Wochen lang in Einzelhaft festgehalten, vermutlich wegen eines Briefes, der in seinem Namen veröffentlicht worden war und in dem er sich für die internationale Unterstützung bedankt hatte. Am 30. Juni fand eine Anhörung zu dem Rechtsmittel statt. Das Gericht ordnete daraufhin ihre sofortige Freilassung an.

DOMINIKANISCHE REPUBLIK – JUAN ALBERTO ANTUAN VILL, LILIANA NUEL UND YOLANDA ALCINO (APRIL 2015) Rückblick: Aufgrund ihrer haitianischen Abstammung wurden Juan Alberto Antuan Vill, Liliana Nuel und Yolanda Alcino von den dominikanischen Behörden viele Jahre lang ihre Ausweisdokumente vorenthalten. Update: Yolanda Alcino hat Ende April ihren Personalausweis und eine neue Geburtsurkunde erhalten. Sie wird nun versuchen, ihre beiden Kinder registrieren zu lassen. Auch Juan Alberto Antuan Vill hat eine Geburtsurkunde und anschließend einen Ausweis erhalten. Er will nun einen Reisepass beantragen und versuchen, ein Stipendium zu bekommen, um Erziehungswissenschaften zu studieren. Im Fall von Liliana Nuel hat es keine Veränderungen gegeben, sie hat noch immer keine Ausweisdokumente erhalten.

CHINA – ILHAM TOTHI (FEBRUAR 2015) Rückblick: Ilham Tohti wurde 2014 in China festgenommen und wegen »Separatismus« zu lebenslanger Haft verurteilt. Er hatte seit Jahren den Umgang der chinesischen Regierung mit der uigurischen Minderheit kritisiert. Im Dezember 2014 wurde Ilham Tohti in das Gefängnis Nr. 1 der Region Xinjiang verlegt. Dies macht es seiner Familie, die in Peking lebt, sehr schwer, ihn zu besuchen. Update: Der Rechtsbeistand von Ilham Tohti hat eine Verlegung seines Mandanten in ein Gefängnis in Peking beantragt. Seiner Familie soll es so leichter gemacht werden, ihn in der Haft zu besuchen.

INDIEN – IROM SHARMILA (MÄRZ 2015) Rückblick: Die Menschenrechtsaktivistin Irom Sharmila befindet sich seit Ende 2000 aus Protest gegen ein Sondergesetz im Hungerstreik. Kurz nach Beginn ihres Protestes wurde sie wegen »versuchten Suizids« angeklagt. Obwohl ein Gericht im Januar 2015 ihre Freilassung anordnete, weil »versuchter Suizid« in Indien nicht länger als Straftat betrachtet wird, wurde sie nur einen Tag später erneut festgenommen.

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ÄGYPTEN – ABRAR AL-ANANY, MENATALLA MOUSTAFA UND YOUSRA ELKHATEEB (MAI 2015) Foto: privat

Foto: Amnesty

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES

Al-Anany, Moustafa und Elkhateeb.

Rückblick: Im November 2013 kam es auf dem Campus der Mansoura-Universität zu Zusammenstößen zwischen Unterstützern und

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2015


Gegnern der inzwischen verbotenen Muslimbruderschaft. Wegen ihrer Beteiligung an den Protesten verurteilte man die beiden Studentinnen Abrar Al-Anany und Menatalla Moustafa zu je zwei Jahren und die Dozentin Yousra Elkhateeb zu sechs Jahren Haft. Berichten zufolge waren die drei Frauen jedoch nicht an den Zusammenstößen beteiligt. Update: Etwa zur Zeit der Veröffentlichung des Briefs gegen das Vergessen zum Fall der drei Frauen hat das oberste Gericht Ägyptens, das Kassationsgericht, ihre Urteile aufgehoben und eine Neuverhandlung angeordnet. Die Frauen befinden sich jedoch weiter in Haft.

Foto: Amnesty

INDONESIEN – FILEP KARMA (JUNI 2015)

Filep Karma.

Rückblick: Der ehemalige Beamte Filep Karma verbüßt derzeit eine 15-jährige Haftstrafe, weil er 2005 bei einer Zeremonie eine papuanische Unabhängigkeitsflagge hochgehalten haben soll. Er wurde in Haft misshandelt und wird als gewaltloser politischer Gefangener betrachtet.

Update: Filep Karma bedankt sich bei allen, die sich für ihn einsetzen. »Ich möchte meine Dankbarkeit gegenüber meinen Freunden bei Amnesty International und meinen Freunden, die diese Petition in zahlreichen Ländern unterzeichnet haben, zum Ausdruck bringen. Ich möchte euch von ganzem Herzen danken! Ich kenne euch nicht und ihr seid dennoch so besorgt um mich und um das, wofür ich stehe. Nochmals vielen Dank und ich bete für euch.«

CHINA – SU CHANGLAN (JULI 2015) Rückblick: Im Dezember 2014 wurde die Inhaftierung von Su Changlan offiziell registriert und Anklage gegen sie wegen »Anstiftung zum Umsturz« erhoben. Ihr droht eine lebenslange Haftstrafe. Scheinbar steht die gegen sie erhobene Anklage in Verbindung mit ihrem Einsatz als Frauenrechtlerin und mit Online-Beiträgen, in denen sie sich solidarisch mit den Protesten für mehr Demokratie in Hongkong gezeigt hatte. Update: Die Rechtsbeistände von Su Changlan erhielten erneut zweimal die Erlaubnis sie in Haft zu besuchen. Zudem gewährte man ihnen Einsicht in ihre Gerichtsakte. Darin befand sich auch ein Dokument, in dem es hieß, dass im Gefängnis mehr als 400 Briefe aus dem In- und Ausland für Su Changlan angekommen seien.

HEISSES WOCHENENDE FÜR DIE MENSCHENRECHTE 30.000 Besucher, bis zu 40 Grad im Schatten und Amnesty mittendrin – auf dem 30. Summerjam, Europas ältestem Reggaefestival, informierten am 3. und 4. Juli Amnesty-Aktivisten über das Thema Folter. Mit an Bord des Amnesty-Mobils: Die Stop-Folter-Ausstellung. Den zahlreichen Besuchern bot sie eine interessante, vielen zudem die erste Auseinandersetzung mit dieser gravierenden Verletzung von Menschenrechten. Draußen bemalten Interessierte Amnesty-Taschen und unterschrieben auf einer riesigen Postkarte gegen Folter in Usbekistan. In spektakulären Flashmobs mitten im Publikum stellten Aktionsteams die Folter mit Elektroschocks nach, diskutierten und sammelten Unterschriften. Groß, gelb und dank Amnesty-DJ James unüberhörbar, reihte sich am Sonntag der Amnesty-Doppeldecker in Europas größte CSD-Parade ein. Unter dem Motto »Vielfalt: Lehren. Lernen. Leben.« zogen 137 Gruppen vor gut 800.000 Besuchern durch Köln. Bereits ab 9 Uhr waren Amnesty-Teams mit Informationen und Petitionen zu Menschenrechts-Verletzungen an Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen (LGBTI) unterwegs, im Umzug verteilte die gut gelaunte Fußgruppe Material an Passanten und Janina von Queeramnesty hielt auf dem Straßenfest eine Rede. Das erfolgreiche Wochenend-Fazit: Tausenden wurden die Themen Stop Folter und LGBTI*-Rechte nahegebracht, zahllose Infomaterialien verteilt und über 2.000 Unterschriften gesammelt. Im nächsten Jahr sind wir wieder dabei!

AKTIV FÜR AMNESTY

Foto: Amnesty

Mit dem Amnesty-Mobil auf dem Kölner Festival Summerjam und der CSD-Parade unterwegs. Von Katrin Schwarz

Erfolgreicher Einsatz bei 40 Grad. Queeramnesty.

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Fotos: Henning Schacht / Amnesty

»SIE WAR UNSER DUNKLER SCHMETTERLING«

»Wir müssen wachsam sein.« Patti Smith und Joan Baez.

Die US-amerikanische Folkmusikerin Joan Baez wurde am 21. Mai zusammen mit dem chinesischen Künstler Ai Weiwei in Berlin mit dem »Ambassador of Conscience Award« von Amnesty International geehrt. Mit dem Preis würdigt die Organisation Aktivisten und Künstler, die sich durch ein herausragendes, langjähriges Engagement für die Menschenrechte auszeichnen. Die Punk-Rock-Legende Patti Smith hielt die Laudatio für Joan Baez, die wir im Folgenden dokumentieren. Sie hatte langes, schwarzes Haar, einen tiefen, eindringlichen Blick und ein Lächeln, das die Welt aufleuchten ließ. Die Kraft und die Ernsthaftigkeit ihrer kristallklaren Stimme rissen einen sofort mit. Im entschlossenen Alleingang betrat Joan Baez zu einer Zeit, in der die Nachkriegsgesellschaft nach den materiellen Annehmlichkeiten einer konformistischen, konsumorientierten Mittelschicht strebte, barfuß die US-amerikanische Szene. In den sechziger Jahren wurden junge Männer nach Vietnam geschickt, während die jungen Frauen einer Zukunft als Hausfrauen, Friseurinnen oder Sekretärinnen entgegensahen. In den Zimmern der Mädchen wurden Haare toupiert und Augen im Cleopatra-Stil geschminkt, und es gab keine politischen Gespräche. Diejenigen unter uns, die sich nicht anpassen wollten, besaßen keine Identifikationsfigur, keine freigeistige Seele, die uns versicherte, dass wir nicht allein waren. Während wir noch darum rangen, uns aus dem Verdrängungskokon der Gesellschaft zu befreien, hatte sie, unser dunkler Schmetterling, sich bereits aus eigener Kraft davon gelöst. Sie war plötzlich unter uns, ohne Führungsansprüche zu erheben, doch sie ging durch ihr Beispiel voran und führte uns auf einen neuen Weg des kreativen Ausdrucks, der gleichbedeutend war mit Engagement, Bürgerrechten und der Antikriegsbewegung. Das 15. Jahrhundert hatte seine Jeanne d‘Arc, und wir hatten unsere Joan Baez. Sie war unsere unprätentiöse Königin, und ich darf mich als eine ihrer Untergebenen bezeichnen. Meine persönliche Verwandlung zu erklären, würde ewig dauern. Einfach formuliert würde ich sagen, ich schlief und wurde geweckt. Ich fand mich selbst. Und ich war umgeben von Tausenden. Legionen junger Leute. Junger Frauen. Junger Männer. Die aufrecht gingen. Sich selbst fanden. Es war eine Zeit voller Gefahren und voller Möglichkeiten, und Joan Baez sprach uns unmittelbar an. Wir wurden von ihrer

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Stimme geleitet. Die Lieder, die sie sang, belehrten uns über unser Erbe, erneuerten aber unseren Blick darauf. Ein Vermächtnis von Widerstandskraft und Haltung, aber auch von schwerem sozialem Unrecht, Diskriminierung und Armut. Wir wurden geleitet von ihrem Einsatz, der kühn und doch von Demut geprägt war. Sie war die Wildblume an der Seite des mächtigen Felsens. Joan Baez marschierte an der Seite von Martin Luther King. Dieses hitzige junge Mädchen, das in der zweiten Klasse die schnellste Läuferin war und sang wie ein Renaissanceengel. Ein Mädchen, das Bewusstsein im Handumdrehen in Taten ummünzte und ihre Stimme der Tatkraft als Geschenk darbrachte. »Singen heißt lieben«, schrieb sie 1968 in ihrem Buch »Tagesanbruch«. »Und bejahen, fliegen und hoch aufsteigen, um in die Herzen der Menschen, die zuhören, zu schweben und ihnen zu sagen, dass Leben leben heißt. Dass Liebe fair ist. Dass nichts ein Versprechen ist. Aber dass Schönheit existiert und gejagt und gefunden werden muss.« Das waren ihre Worte als junge Frau. Und wir Menschen müssen die Jäger sein, wir müssen die Raubtiere zur Strecke bringen. Wir müssen wachsam sein, uns zusammenschließen, um Veränderung allein durch die Macht unserer Masse zu bewirken. Sie hat solche Gedanken initiiert, inspiriert und animiert. Sie stand nicht schweigend da, sondern hat gewaltfrei, aber hartnäckig, Widerstand geleistet und ist dafür ins Gefängnis gewandert. Sie hat ihre Bekanntheit als Vehikel für sozialen Protest eingesetzt, jedoch ebenso als Trost und Hoffnungsstrahl für die Menschen. Sie wurde bereits mit zahlreichen Ehrungen bedacht. Aber ich bin sicher, diese spezielle Auszeichnung von Amnesty International, der Organisation, zu deren Gründung sie beigetragen hat, sticht besonders hervor. Denn Joan Baez ist für sie Samen, Gärtnerin und Blume zugleich. Als Gandhi gebeten wurde, seine Überzeugung zu definieren, sagte er: »Ich habe einfach versucht, die ewigen Wahrheiten auf meine eigene Weise auf unser alltägliches Leben und unsere Probleme zu übertragen.« Und so zog er in die Welt hinaus. Bewaffnet mit denselben Wahrheiten, dient Joan Baez den Menschen seit über einem halben Jahrhundert mit ihrer Stimme, ihrem Humor und ihrer Bereitschaft, etwas zu riskieren. Mit den Opfern, die sie gebracht hat. Und vor allem mit ihrer Liebe. Es ist mir eine Ehre, Joan Baez den »Ambassador of Conscience Award« von Amnesty International zu überreichen.

Großer Einsatz. Der Sohn von Ai Weiwei bei der Preisverleihung.

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2015


KLARE AUFGABEN Über die vielen Menschen, die sich für ihren Mann, den saudischen Blogger Raif Badawi eingesetzt haben, weiß Ensaf Haidar genau Bescheid. Jetzt aber stehen mehr als 400 Amnesty-Mitglieder wirklich hinter ihr, stärken der kleinen, zierlichen Frau den Rücken, die in der ersten Reihe steht, als alle ihre Plakate in die Höhe halten: Freiheit für Raif und seinen Anwalt Waleed, für Meinungsfreiheit und gegen Folter. Und auch über Badawi hinaus diskutierte die Jahresversammlung über Meinungsfreiheit im Digitalen Zeitalter. Eine Resolution appellierte für den Schutz von Journalistinnen und Journalisten sowie Bloggerinnen und Bloggern in Bangladesch, die wegen ihres Glaubens oder wegen ihres Atheismus verfolgt, bedroht und zuletzt auch getötet wurden. Thema war zudem auch der allgemeine Schutz der Menschenrechte im Internet angesichts von Massenüberwachung und Onlinezensur. Thomas Drake, ehemaliger Mitarbeiter des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA, und Annie Machon, ehemalige Mitarbeiterin des britischen MI5 – beide üben inzwischen dezidiert Kritik –, lieferten spannende Einblicke in den Themenkomplex Massenüberwachung. Einig waren sich die Mitglieder auch bei einem klaren und expliziten: »Nein zu Rassismus«. Die Delegierten appellierten, Rassismus, egal, ob in gewalttätiger, subtiler oder ausgrenzender Form, entgegenzutreten und sich mit Betroffenen zu solidarisieren. Ein öffentlicher Beschluss äußert große Besorgnis darüber, dass »Menschen in Deutschland rassistisch bedroht, angepöbelt und angegriffen werden, dass angesichts von Aufmärschen Asylsuchende und People of Color Angst auf der Straße haben oder sich in Wohnungen und Unterküften einschließen.« Gerade auch der tagtägliche und subtile Rassismus sei ein großes Problem, da er die Akzeptanz für rassistische Gewalt herstelle, sagte Marie Piper, Mitglied in der Themenkoordinationsgruppe Antirassismus. Um auch ein nach außen sichtbares Zeichen zu setzen, verließen die Amnesty-Mitglieder am Samstagmittag das Tagungsgelände an der Messe und bildeten auf dem Dresdner Theater-

platz zusammen den Schriftzug »#NORACISM«. Amnesty-Generalsekratärin Selmin Çalışkan dankte in ihrer Ansprache für dieses Engagement. „Rassismus ist nicht nur am rechten Rand der Gesellschaft verbreitet«, sagte Gabriele Stein, die in Dresden neu gewählte Vorstandssprecherin und bekräftigte: »Für uns ist klar: Der Einsatz gegen Rassismus ist eine demokratische und menschenrechtliche Grundaufgabe.« Neben Stein wurden auch Jessica Böhner und Mathias John in den Vorstand gewählt. Ingrid Bausch-Gall, Martin Roger, Nadja Wenger und Roland Vogel wurden wiedergewählt.

Foto: Sarah Eick / Amnesty

Herausragende Gäste, spannende Diskussionen und wichtige Entscheidungen: Bei der diesjährigen Jahresversammlung kamen Amnesty-Mitglieder aus ganz Deutschland für drei Tage in Dresden zusammen. Von Andreas Koob

Nein zu Rassismus. Delegierte in Dresden.

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Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender

IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Markus N. Beeko, Jessica Böhner, Andreas Koob, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Katrin Schwarz

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Joshua Kwesi Aikins, Moses Akatugba, Birgit Albrecht, Daniel Bax, Leona Binz, Selmin Çalışkan, Urs M. Fiechtner, Jana Hauschild, Knut Henkel, Judith Hoffmann, Ruth Jüttner, Georg Kasch, Barbara Kerneck, Jürgen Kiontke, Raphael Kreusch, Ralf Rebmann, Wera Reusch, York Schaefer, Uta von Schrenk, Katrin Schwarz, Patti Smith, Maik Söhler, WolfDieter Vogel, Kathrin Zeiske, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin

Bankverbindung: Amnesty International, Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100, BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 2199-4587

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MENSCHENRECHTE BRAUCHEN AUSDAUER Sie möchten Ihre sportlichen Aktivitäten mit einem guten Zweck verbinden? Dann bitten Sie doch Verwandte und Bekannte bei Ihrem nächsten Wettkampf um eine Spende zugunsten von Amnesty International. www.amnesty-in-bewegung.de


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