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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE
AMNESTY JOURNAL
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2017 DEZEMBER/ JANUAR
HAND IN HAND FREUNDSCHAFT, SOLIDARITÄT UND MENSCHENRECHTE
SCHREIB FÜR FREIHEIT! Zwölf Extraseiten zum Briefmarathon 2016
MARKUS N. BEEKO Der neue Generalsekretär von Amnesty Deutschland im Gespräch
PHILIPPINEN Präsident Dutertes Drogenkrieg
INHALT
TITEL: FREUNDSCHAFT Amnesty: Menschenrechte und Freundschaft
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Solidarität auf See: Unterwegs mit der »Sea Eye« im Mittelmeer, um Flüchtlinge zu retten
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Muamina und Ruth: Zweimal flohen Muamina und ihre Kinder aus Syrien in die Schweiz – mit der Hilfe von Ruth
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Gerald Hüther: »Man muss wieder Subjekt werden, damit man die Welt verändern kann«
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Gefährliche Freunde: Wie Islamisten Nachwuchs suchen
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Swetlana Gannuschkina: Internationale zivilgesellschaftliche Solidarität angesichts des Krieges in der Ostukraine 32
18 Zupackende Hilfe: Die Mannschaft der »Sea Eye« kreuzt in den Gewässern vor Libyen, um Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Unser Fotograf Raphaël Fournier hat ihre 13. Mission begleitet.
Gnadenloser Krieg: Der philippinische Präsident Rodrigo Duterte führt einen Vernichtungsfeldzug gegen die Drogenkriminalität in seinem Land.
THEMEN Philippinen: Grausamer Krieg gegen Drogen
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Türkei: »Es herrscht ein Klima der Angst«
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Türkei: Das Spiel mit der Todesstrafe
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DR Kongo: Die Aktivisten der »Lucha«-Bewegung wollen politische Veränderung
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»Ohne Freiheit ist Sicherheit nichts«: Ein Gespräch mit Markus N. Beeko, neuer Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland
50
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Guatemala: Aufklärung von Verbrechen aus dem Bürgerkrieg 53 Protokolle: Rassismus in Deutschland
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KULTUR »Der Rost in den Köpfen«: Choreograf Nacho Duato bringt in Berlin Folter und Terror auf die Bühne
Neuer Mann: Markus N. Beeko, seit September 2016 Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, über das Engagement für Menschenrechte unter schwierigen politischen Bedingungen.
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Menschenrechts-Filmpreis: Jurymitglied Pagonis Pagonakis über die Preisvergabe 62 Mohammed Abu Hajar: Rapper aus Syrien in Berlin
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Jaroslav Rudiš: Roman über Fremdenhass in Tschechien
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Vergewaltigung: Essay über Gefahren des Geschlechts
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Tamer Abu Ghazaleh: Underground-Musik zur Lage im Nahen Osten
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RUBRIKEN Weltkarte 04 Good News: Polen: Erfolg für Frauenrechte 05 Panorama 06 Interview: Abel Barrera 08 Nachrichten 09 Kolumne: Keno Verseck 11 Einsatz mit Erfolg 12 Markus N. Beeko über den Tag der Menschenrechte 13 Rezensionen: Bücher 69 Rezensionen: Film & Musik 70 Briefe gegen das Vergessen 72 Aktiv für Amnesty 75 Impressum 75
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Verzweifelter Rap: Der syrische Flüchtling Mohammed Abu Hajar rappt über die gescheiterte Revolution in seinem Land, seine Flucht und die teils unsäglichen Bedingungen für Flüchtlinge in Deutschland.
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FINDEN SIE …
Beste Freundinnen: Nach ihrer ersten Flucht aus Syrien in die Schweiz fand Muamina in Ruth eine neue Freundin. Sie sorgte dafür, dass die Syrerin mit ihrer Familie nach einer Abschiebung in die Schweiz zurückkehren konnte.
46 Frischer Wind: In der Demokratischen Republik Kongo engagieren sich die jungen Aktivisten der »Lucha«Bewegung für politische Veränderung. Aber wie verändert man einen Staat, der nur auf dem Papier funktioniert?
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Folter auf der Bühne: Die Choreografie »Herrumbre« von Nacho Duato, Intendant des Staatsballetts Berlin, ist keine leichte Kost. Ein Gespräch über Menschenrechtsverletzungen und Ästhetik.
Titelbild: Ein Flüchtling wird auf dem Meer zwischen der türkischen Küste und der Insel Lesbos von der griechischen Küstenwache gerettet. Februar 2016. Foto: Giorgos Moutafis / Reuters Fotos oben: Raphaël Fournier | Manuela Reimann Graf | Carlo Gabuco Lea Frehse | Sarah Eick | POP-EYE / sinissey / pa | Enrico Incerti Foto Editorial: Amnesty
INHALT
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EDITORIAL
… dass Begriffe wie Freundschaft und Solidarität abgedroschen und altbacken klingen? In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es, dass es wesentlich sei, »die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen Nationen zu fördern«. Dass solche Freundschaften auch ad absurdum geführt werden können, wissen wir spätestens seit dem Kalten Krieg. Und wenn wir derzeit auf die Welt blicken, sehen wir wenig Zeichen der Solidarität. Stattdessen nehmen Hassbotschaften zu, wie der US-Wahlkampf bewiesen hat. Die Folgen sind dramatisch: Auch in Deutschland ist die Zahl der Übergriffe auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte stark angestiegen. Statt der ausgestreckten Hand wird immer öfter die geballte Faust gezeigt. Dennoch gilt: Freundschaft ist ein ganz wesentlicher Pfeiler einer Gesellschaft, die für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden – ebenfalls Werte aus der Menschenrechtserklärung – einstehen will. »Es gibt Menschen nur in Verbundenheit«, sagt der Hirnforscher Gerald Hüther im Interview auf Seite 28. Und diese Verbundenheit macht unser Leben erst lebenswert. Der Einsatz für die Menschenrechte führt oft zu Freundschaften und bringt Solidarität in all ihren Facetten zum Ausdruck: Da sind die Amnesty-Mitglieder, die bei gemeinsamen Straßenaktionen zu engen Freunden werden. Oder die vielen Menschen, die einen Häftling in einem weit entfernten Land durch Briefe unterstützen, wie zum Beispiel bei unserem alljährlichen Briefmarathon im Dezember (siehe Beilage). Die Aktivisten, die auf dem Mittelmeer Flüchtlinge aus Seenot retten (siehe S. 18), oder die Menschenrechtler, die über Konfliktlinien hinweg zusammenarbeiten, wie Swetlana Gannuschkina von der russischen Organisation »Memorial« (siehe S. 32). Autoritäre Regierungen wissen und fürchten: Wenn Menschen sich verbinden, können sie viel erreichen. Auch diese Ausgabe des Journals ist ein Produkt grenzüberschreitender Freundschaft: Die deutsche, die österreichische und die Schweizer Sektion von Amnesty haben dafür zusammengearbeitet. Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und einen schönen Jahreswechsel. Anton Landgraf ist verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals.
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WELTKARTE
FRANKREICH Seit der Räumung des Lagers in Calais Ende Oktober sind rund 1.500 minderjährige Flüchtlinge in nahegelegene Wohncontainer oder andere Aufnahmezentren gebracht worden. Über den Umgang mit ihnen wird gestritten. Frankreich fordert von GroÃ&#x;britannien, mehr minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen und Familien zusammenzuführen. Die britische Regierung hat zuletzt zwar rund 300 unbegleitete Minderjährige ins Land gelassen, weigert sich aber, weitere aufzunehmen. Nach der Dublin-III-Verordnung sind beide Länder dazu verpflichtet, Minderjährige mit ihren Familien zusammenzuführen.
DEUTSCHLAND Die Zahl rechtsextremer Gewalttaten gegen Flüchtlinge und Ausländer ist im Jahr 2016 dramatisch angestiegen. Dies gab das Bundesinnenministerium bekannt. In den ersten neun Monaten des Jahres registrierte die Polizei demnach mehr als 1.800 Straftaten gegen Flüchtlinge und Asylbewerber. In den meisten Fällen ging es um Beleidigung und Volksverhetzung. In mehr als 170 Fällen handelte es sich aber um gefährliche Körperverletzung. Hinzu kamen im gleichen Zeitraum mehr als 800 Straftaten gegen Asylunterkünfte. Im gesamten Jahr 2015 lagen Straftaten dieser Art noch bei rund 1.000 Fällen.
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HONDURAS Menschenrechtsaktivisten sind in Honduras ihres Lebens nicht mehr sicher. Am 18. Oktober wurden der Präsident des Kleinbauernverbands MUCA, José Angel Flores, und der Aktivist Silmer Dionisio George nach einem Treffen bäuerlicher Gemeinschaften von Unbekannten erschossen. Flores hatte seit Langem von Drohungen gegen ihn berichtet. Im März war die indigene Menschenrechtsverteidigerin Berta Cáceres ermordet worden. Die Behörden zeigen sich bisher nicht gewillt, MaÃ&#x;nahmen zur Eindämmung der Gewalt gegen Menschenrechtsaktivisten zu ergreifen. 
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ÄTHIOPIEN Die Krise in Äthiopien verschärft sich weiter. Anfang Oktober rief die Regierung nach Protesten in den Regionen Oromia und Amhara den Ausnahmezustand aus. Den Sicherheitskräften wurde erlaubt, Verhaftungen ohne Haftbefehl vorzunehmen, Amnesty befürchtet eine Zunahme willkürlicher Festnahmen und die Verschleppung politischer Gegner. Mehrere Mitglieder der oppositionellen Semayawi-Partei wurden bereits inhaftiert. Die Proteste begannen im November 2015 und richteten sich zunächst gegen die drohende Vertreibung von Landwirten. Seither wurden etwa 800 Menschen getötet. 
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MYANMAR Sicherheitskräfte gehen in der Provinz Rakhaing brutal gegen die Rohingya-Minderheit vor. Amnesty International liegen Berichte über Exekutionen, willkürliche Festnahmen und sexuelle Gewalt vor. AuÃ&#x;erdem werden Hilfslieferungen in die Region verhindert, und unabhängigen Journalisten wird der Zugang verwehrt. Anlass war ein Angriff auf drei Polizeistationen im Norden Rakhaings Anfang Oktober. Seit Jahren leidet die muslimische Rohingya-Minderheit unter starken Repressalien, Hunderttausende Menschen haben das Land bereits verlassen.
AMNESTY JOURNAL | 01/2017
IRAK Wohin sollen wir gehen? Das fragen sich Hunderte Sunniten aus Kirkuk und dem Umland, die von kurdischen BehÜrden und Peshmerga-Kämpfern vertrieben worden sind. Seitdem die Terrormiliz Islamischer Staat am 21. Oktober Kirkuk ßberraschend angegriffen hat, gehen die kurdischen Kräfte hart gegen Sunniten vor. Sie fordern sie auf, die Region zu verlassen, nehmen ihnen ihre Pässe ab und zerstÜren ihre Häuser. Obwohl viele der Sunniten selbst vor dem Krieg im Land geflohen sind, unterstellen ihnen die kurdischen BehÜrden, den IS zu unterstßtzen. 
GOOD NEWS
Foto: Czarek Sokolowski / AP / pa
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Oktober 2016 in Warschau. Frauenproteste gegen Abtreibungsverbot.
ERFOLG FĂœR FRAUENRECHTE IN POLEN
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Ausgewählte Ereignisse von  Mitte September bis Ende Oktober 2016
WELTKARTE
POLEN Mit dieser Masse an Demonstrierenden hatte in Polen niemand gerechnet. Zehntausende von Aktivistinnen und Aktivisten setzten sich wochenlang gegen ein fast vollständiges Abtreibungsverbot ein. Ein Gesetzentwurf der regierenden nationalkonservativen Partei (PiS) sah vor, Abtreibungen zu verbieten, wenn sie nicht fĂźr das Ăœberleben der Mutter notwendig sind. Nachdem am 6. Oktober mehr als 30.000 Menschen auf die StraĂ&#x;e gingen, musste die PiS klein beigeben: Das Parlament stimmte mit Ăźberwältigender Mehrheit gegen den Gesetzesentwurf. ÂťFrauen in Polen haben heute Geschichte geschrieben. Dies ist ein groĂ&#x;er Erfolg fĂźr Millionen Frauen und Mädchen, die auf die StraĂ&#x;e gegangen sind, ihrer Wut Ausdruck verliehen haben und damit erfolgreich ein Gesetz verhindert haben, das ihre Rechte mit FĂźĂ&#x;en getreten und ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt hätteÂŤ, sagt Gauri van Gulik, stellvertretende Leiterin des Europa-Programms von Amnesty International. ÂťEine Frau, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen muss, ist keine Kriminelle, und Entscheidungen Ăźber ihren KĂśrper und ihre Gesundheit dĂźrfen niemals in die Hände der Politik gelegt werden.ÂŤ Polens Abtreibungsgesetz ist bereits jetzt eines der restriktivsten in Europa. Jedes Jahr treiben Tausende von Frauen illegal oder im Ausland ab. Doch einen Protest wie diesen hat es bisher nicht gegeben. ÂťEs ist, als wären die polnischen Frauen aus einem langen Traum erwachtÂŤ, schreibt die Feministin Krystyna Kacpura. Seit Beginn der Debatte Ăźber das neue Gesetz hätten sich mehr Frauen fĂźr ihre Organisation interessiert als je zuvor. Auf europäischer und internationaler Ebene solidarisierten sich viele NGOs und Einzelpersonen mit dem Kampf der polnischen Frauen. Auch zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten der polnischen Amnesty-Sektion beteiligten sich an den Protesten. Der Erfolg hat gezeigt, was eine starke Zivilgesellschaft bewirken kann. Da die PiS an einer Verschärfung des Abtreibungsrechts festhält, gingen die Proteste Ende Oktober weiter.
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Foto: Ammar Abdullah / Reuters
SYRIEN: VERTREIBUNG DURCH BOMBEN
Die Lage der Menschen in Aleppo wird immer unerträglicher. Regierungstruppen haben in den vergangenen Wochen mit russischer Unterstützung rücksichtslos Wohnhäuser, medizinische Einrichtungen, Schulen, Märkte und Moscheen angegriffen. Dies berichten Bewohner der Stadt, mit denen Amnesty International gesprochen hat. Satellitenbilder vom Ostteil Aleppos zeigen das Ausmaß der Zerstörungen. So wurden allein zwischen dem 18. September und dem 1. Oktober 2016 mehr als 110 zivile Gebäude beschädigt oder zerstört. Die Häuser befanden sich allesamt nicht in der Nähe militärischer Ziele. Überdies gibt es Hinweise, dass trotz internationalem Verbot Streumunition russischer Herkunft zum Einsatz kommt. Im Westen Aleppos wurden zivile Gebäude offenbar von bewaffneten Aufständischen bombardiert.
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AMNESTY JOURNAL | 01/2017
ITALIEN: ÜBERGRIFFE IN DEN HOTSPOTS
In den italienischen Registrierzentren – den sogenannten Hotspots – ist es mehrfach zu Übergriffen von Polizisten auf Flüchtlinge gekommen. Dies zeigt ein Bericht, den Amnesty International am 3. November veröffentlicht hat und für den 170 Flüchtlinge befragt wurden. Demnach wurden Flüchtlinge von Polizisten mit Schlägen, Elektroschocks und sexueller Erniedrigung gezwungen, ihre Fingerabdrücke abzugeben, um sich registrieren zu lassen. Insgesamt dokumentiert der Bericht 24 Fälle von Misshandlungen, in einigen davon kann von Folter gesprochen werden. Außerdem kommt es zu willkürlichen Festnahmen und kollektiven Abschiebungen. Nach Ansicht von Amnesty hat der Druck, den die EU auf Italien ausübt, um die Zahl der Flüchtlinge zu senken, zu den katastrophalen Zuständen in den Hotspots geführt. Foto: Francesco Zizola / Noor / laif
PANORAMA
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INTERVIEW ABEL BARRERA
Abel Barrera ist Leiter des mexikanischen Menschenrechtszentrums Tlachinollan in Tlapa im Bundesstaat Guerrero. 2011 erhielt der Anthropologe den Menschenrechtspreis von Amnesty International Deutschland.
Foto: Henning Schacht / Amnesty
die Deponie verschleppt hat, aber nicht alle. Jetzt gilt es, die Spur der Handys genau zu verfolgen. Mindestens sieben Mobiltelefone der Verschleppten wurden noch nach Mitternacht des Folgetages benutzt. Laut Staatsanwaltschaft wurden sie aber verbrannt. Auch die Handys der Täter müssen überprüft werden, um Bewegungsbilder zu bekommen. Die GIEI empfahl zudem, bei der Suche nach den Verschwundenen hochtechnologische Geräte einzusetzen, die den Untergrund des Bodens analysieren können. Schließlich existieren Indizien, wo die Studenten hingebracht worden sein könnten.
»TÄGLICH DREI MORDE« Die Ermordung und das Verschwindenlassen von Studenten der mexikanischen Stadt Iguala ist trotz Bemühungen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission immer noch nicht aufgeklärt. Abel Barrera, Leiter des mexikanischen Menschenrechtszentrums Tlachinollan, über eine mögliche Beteiligung des Militärs und die Politik des Vertuschens. Interview: Wolf-Dieter Vogel
Am 26. September 2014 wurden in Iguala Studenten von Kriminellen und Polizisten angegriffen. Sechs Menschen wurden getötet, 43 verschleppt. Weiß man heute mehr über die Verschwundenen? Dank der Recherchen der Expertengruppe GIEI, die von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ernannt wurde, sind wir etwas weiter. Die Generalstaatsanwaltschaft ging bei ihren Ermittlungen nur von der These aus, alle Studenten seien auf einer Mülldeponie verbrannt worden. Das ist nach Analysen der GIEI wissenschaftlich nicht haltbar. Die Gruppe hält es für nötig, Ermittlungen in andere Richtungen zu vertiefen. Für die Angehörigen der Opfer ist das angesichts der Blockadehaltung der Regierung sehr wichtig. Wo müssen neue Ermittlungen ansetzen? Mittlerweile ist klar, dass nicht alle Studenten an denselben Ort gebracht wurden. Es gibt Beweise dafür, dass man einige in
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Weiß man mehr über eine mögliche Beteiligung des Militärs? Nein. Angehörige und die GIEI haben gefordert, dass Soldaten, die in der Nacht vor Ort waren, als Zeugen vernommen werden. Das Militär weigert sich jedoch und auch zivile Behörden wollen das nicht. Das wiederum macht die Eltern der Verschwundenen skeptisch. Die Armee hat in der Nacht genau verfolgt, was passierte. Da muss man sich natürlich fragen, warum sie nicht eingegriffen hat. Sind die Fälle von Verschwindenlassen seit dem Angriff von Iguala zurückgegangen? Leider nicht. Sie haben zugenommen, seit die Regierung 2006 mit dem Krieg gegen die Mafia begann. Heute sprechen wir von 28.000 Fällen, ein Ende ist nicht in Sicht. Die Regierung verfügt über keine neue Strategie gegen das organisierte Verbrechen, in das, wie die GIEI herausgearbeitet hat, lokale und bundesstaatliche Politiker sowie Militärs eingebunden sind. Die Armee ist in Iguala stationiert und wusste genau, wie die Banden dort organisiert sind. Sie machten sogar Geschäfte mit dem Bürgermeister, der jetzt als maßgeblich Verantwortlicher des Angriffs im Gefängnis sitzt. Solange man solche strukturellen Probleme nicht untersucht, wird sich die Lage weiter verschlechtern. Derzeit werden in Iguala täglich drei Menschen umgebracht. Die organisierte Kriminalität hat die Kontrolle in der Stadt übernommen. Was unternimmt die mexikanische Regierung? Bereits vor einem Jahr sollte ein Gesetz zur Bekämpfung des Verschwindenlassens im Parlament verabschiedet werden. Am Entwurf waren viele beteiligt: mexikanische NGOs ebenso wie die GIEI und der UNO-Sonderbeauftragte für Menschenrechte. Doch dieses Gesetz gibt es bis heute nicht. Wir hätten erwartet, dass Präsident Enrique Peña Nieto das zu seiner Priorität macht. Aber innerhalb der Regierung gibt es offensichtlich Streit. Einige wollen, dass die Wahrheit ans Licht kommt, andere möchten das verhindern, um Straflosigkeit und Korruption im Justizsystem zu vertuschen.
AMNESTY JOURNAL | 01/2017
»Die Tatsache, dass eine Mehrheit der Wähler ›Nein‹ zu dem Friedensabkommen gesagt hat, heißt nicht zwingend, dass der Friedensprozess gestorben ist. Das Referendum war keine Abstimmung für oder gegen Frieden.« DAS NORWEGISCHE NOBELKOMITEE ZUM FRIEDENSNOBELPREIS FÜR DEN KOLUMBIANISCHEN PRÄSIDENTEN JUAN MANUEL SANTOS.
KOLUMBIEN: FRIEDEN AUF EIS
7,9 MILLIONEN MENSCHEN WURDEN BIS HEUTE OPFER DES BEWAFFNETEN KONFLIKTS IN KOLUMBIEN, BEINAHE DIE HÄLFTE DAVON SIND FRAUEN.
(Quelle: Unidad para la Atención y Reparación Integral a las Víctimas, UARIV, September 2016)
8.022 KINDERSOLDATEN
WURDEN VON PARAMILITÄRS UND GUERRILLAGRUPPEN EINGESETZT. (Quelle: UARIV)
Foto: Carlos Villalon / Redux / laif
2015 WURDEN
Nach dem »Nein«. Friedensdemonstration in Bogotá. KOLUMBIEN Die Entscheidung ist ein An-
sporn für alle, die Frieden wollen: Am 7. Oktober gab das Nobelpreiskomitee in Oslo bekannt, dass der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos für seine Anstrengungen, den mehr als 50 Jahre andauernden Bürgerkrieg in seinem Land zu beenden, den Friedensnobelpreis erhält. Dabei hatte bei einem Referendum am 2. Oktober eine knappe Mehrheit der Teilnehmer gegen den Vertrag gestimmt, den die Regierung mit der Farc-Guerilla ausgehandelt hatte. Kritiker hatten be-
INTERVIEW
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NACHRICHTEN
mängelt, die Zugeständnisse an die Guerilla seien zu groß. Die Entscheidung des Nobelkomitees dürfte den Anhängern des Abkommens nun wieder Mut machen. Zehntausende hatten nach dem Referendum in Bogotá und an anderen Orten für den Friedensvertrag demonstriert. Und tatsächlich gibt es noch Hoffnung: Die Farc ist weiterhin bereit, ihre Waffen abzugeben, der Waffenstillstand wurde von Seiten der Regierung bis Ende des Jahres verlängert, und die Verhandlungen wurden wieder aufgenommen.
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MENSCHENRECHTSVERTEIDIGER
GETÖTET, DARUNTER SPRECHER VON INDIGENEN, AFROKOLUMBIANERN UND KLEINBAUERN.
VON JANUAR BIS ENDE SEPTEMBER 2016 WURDEN
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MENSCHENRECHTSVERTEIDIGER
(Quelle: We Are Defenders Programme)
GETÖTET.
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CHEMIEWAFFEN EINGESETZT
Foto: Mohamed Nureldin Abdallah / Reuters
SUDAN Regierungstruppen begehen in der Region Darfur offenbar schwere Kriegsverbrechen. Bei etwa 30 Angriffen auf Rebellengebiete seit Januar 2016 wurden allem Anschein nach chemische Waffen eingesetzt. Dies zeigt ein Bericht von Amnesty International, für den Satellitenaufnahmen und Fotos von Opfern analysiert und 200 Interviews mit Überlebenden geführt wurden. »Die von uns gesichteten Bilder und Videoaufnahmen sind einfach nur schockierend«, sagte Tirana Hassan, Leiterin der Abteilung Krisen- und Konfliktgebiete von Amnesty International. Sie zeigen unter Schmerzen sterbende Kleinkinder mit Verletzungen und Blasen auf der Haut. Rund 200 bis 250 Menschen sollen an den Folgen der Angriffe gestorben sein, die meisten davon Kinder. Die Substanzen werden offenbar mit Bomben aus Flugzeugen abgeworfen, Experten vermuten, dass es sich dabei um Senfgas oder ähnliche Stoffe handelt. Die Angriffe finden im Rahmen einer Militäroffensive in Jebel Marra statt, die sich gegen die »Sudanesische Befreiungsarmee Abdul Wahid« richtet.
Krisengebiet Darfur. Vertriebene in der Ziegelei eines Lagers in Al Fashir.
Burundi, Südafrika und Gambia haben ihren Austritt aus dem Internationalen Strafgerichtshof angekündigt. Sie werfen dem Gericht Neokolonialismus vor. Im Oktober unterzeichnete der Präsident Burundis, Pierre Nkurunziza, ein entsprechendes Gesetz. Im Frühjahr hatte das Gericht Vorermittlungen wegen Menschenrechtsverletzungen in dem Land aufgenommen. Auch Südafrika wendet sich vom Strafgerichtshof ab. Hintergrund ist ein Streit über den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir, der wegen Kriegsverbrechen in Darfur mit internationalem Haftbefehl gesucht wird. Als Baschir 2015 Südafrika besuchte, hätten die Behörden des Landes ihn verhaften müssen, taten dies aber nicht. Gambia wirft dem Gericht in Den Haag »einseitige Verfolgung von Menschen mit dunkler Hautfarbe« vor. Dabei stammt die Chefanklägerin des Strafgerichtshofs, Fatou Bensouda, selbst aus Gambia. Hintergrund für den Austritt dürften Menschenrechtsverletzungen sein, die dem Präsidenten Gambias, Yahya Jammeh, zur Last gelegt werden. Russland und die Philippinen haben ebenfalls ihren Rückzug angekündigt.
»MEMORIAL«-MITARBEITER GELTEN ALS AGENTEN RUSSLAND Am 4. Oktober 2016 wurde
bekannt, dass das russische Justizministerium mit der »Internationalen Gesellschaft Memorial« erstmals eine nicht-russische NGO in das sogenannte Agentenregister eingetragen hat. Dort sind aufgrund eines 2012 in Kraft getretenen Gesetzes Organisationen verzeichnet, die finanzielle Unterstützung aus dem Aus-
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Foto: Michael Zumstein / VU / laif
ABKEHR VOM INTERNATIONALEN STRAFGERICHTSHOF
Glückwunsch. Gambias umstrittener Machthaber Yahya Jammeh.
land erhalten und nach Auffassung der Behörden »politisch« tätig sind. Der Vorsitzende von »Memorial«, Arsenij Roginskij, wies darauf hin, dass die Eintragung schon aus formalen Gründen rechtswidrig ist: »Memorial ist eine internationale Organisation und nach einem Urteil des Verfassungsgerichts bezieht sich das Gesetz nicht auf internationale
Organisationen. Also werden wir gegen die Entscheidung klagen.« Ende Oktober wurde den Verantwortlichen von »Memorial« zudem zur Last gelegt, die Organisation nicht selbst registriert zu haben. Wegen ähnlicher Vorwürfe laufen derzeit gegen Walentina Tscherewatenko von der NGO »Frauen vom Don« strafrechtliche Ermittlungen.
AMNESTY JOURNAL | 01/2017
KOLUMNE KENO VERSECK
Noch vor einigen Jahren galt Ungarns Regierungschef Viktor Orbán unter Europapolitikern als zwar unangenehmer, aber nicht allzu bedeutender Problemfall. Die Flüchtlingskrise änderte dies. Seit ihrem Beginn hat Orbán sich zu einem der mächtigsten europaskeptischen Politiker des Kontinents entwickelt und entscheidend mit dazu beigetragen, die Europäische Union in ihren Grundfesten zu erschüttern.
Zeichnung: Oliver Grajewski
Schon seit Jahren arbeitet er konsequent darauf hin. Bereits vor seinem Machtantritt im Jahr 2010, als seine Partei Fidesz einen Zwei-Drittel-Wahlsieg einfuhr, erklärte er in seinen Reden, wie er sich Ungarn und Europa vorstellt. Seither gab es nur Akzentverschiebungen – hin zur Flüchtlings- und Einwanderungspolitik.
MAXIMALER SCHRECKEN
Das Narrativ geht so: Indem Ungarn seine Schengen-Grenze mit Zäunen abriegele und Flüchtlinge dort stoppe, schütze es nicht nur sich selbst vor Wirtschaftsmigranten und potenziellen Terroristen, sondern auch die Freiheit, Sicherheit und christliche Kultur Europas. Das sei Ungarns Beitrag zur Lösung der Flüchtlingskrise und zur Zukunft Europas. Insofern sei es ungerecht und heuchlerisch, dem Land vorzuwerfen, es kassiere EU-Milliarden, sei aber nicht zu Solidarität in der Flüchtlingsfrage bereit. Im Übrigen halte sich in der Flüchtlingspolitik allein Ungarn an die Dublin-Regeln, also an EU-Recht. Die Zugkraft des Themas entdeckte Orbán Anfang 2015, als er und seine Regierung in einem politischen Tief steckten und die Flüchtlingszahlen in Ungarn sprunghaft anstiegen. Seitdem jagt eine Kampagne gegen Flüchtlinge die nächste. Im Frühjahr 2015 überzog die Regierung das Land mit Plakaten, auf denen Flüchtlinge aufgefordert wurden, die Ungarn zu respektieren und ihnen nicht die Arbeitsplätze wegzunehmen. Es folgte eine Befragung zu »Einwanderung und Terrorismus«. Dann ließ die Regierung Grenzzäune errichten und schloss die Grenze für Flüchtlinge. Mit einem gigantischen finanziellen und propagandistischen Aufwand wurde das Anti-Flüchtlingsquoten-Referendum zur letzten Überlebenschance für Ungarn und Europa stilisiert. Zwar blieb das Referendum vom 3. Oktober 2016 wegen mangelnder Beteiligung ungültig, doch sprachen sich 3,2 Millionen Wähler für ein Nein zur EU-Flüchtlingsquote aus – eine Million mehr als die Fidesz-Stammwählerschaft. Dieser Wählerwillen ist Orbáns Hauptargument gegen die »Zwangsansiedlung« von Flüchtlingen durch die EU. Zwischenzeitlich gelang es ihm auch, in der Frage der Quotenablehnung Polen, Tschechien und die Slowakei sowie teilweise Rumänien und Bulgarien hinter sich zu bringen. Nicht zuletzt wegen dieser Blockadehaltung wird es keinen Mechanismus zur Aufteilung von Flüchtlingen in Europa geben. Zugleich werden die wenigen in Ungarn ankommenden Flüchtlinge mit so viel Missachtung geltender Gesetze behandelt wie in kaum einem anderen Land der EU. In die sogenannten Transitzonen an den Grenzen werden täglich nur maximal 30 Menschen eingelassen. Im Inland aufgegriffene illegale Flüchtlinge werden umgehend an die serbische Grenze zurückgeschoben. Für straffällige Flüchtlinge hat Ungarn eine Schnelljustiz etabliert – vorbei am allgemeinen Rechtssystem. Und es mehren sich Berichte, dass Flüchtlinge von der Polizei systematisch misshandelt werden. Proteste von Menschenrechtsorganisationen oder EU-Gremien prallen an Orbán ab. Seine Regierung lässt die Grenzsperren weiter massiv ausbauen, Tausende sogenannte »Grenzjäger« werden rekrutiert. Aus den gleichgeschalteten Staatsmedien ertönt dazu das Dauertrommelfeuer von der Migrations- und Terrorismusgefahr. Die Hysterisierung und Militarisierung der Gesellschaft nützt Orbán innenpolitisch. Deswegen auch die maximale Abschreckung. Der Autor lebt als freier Journalist und Osteuropa-Spezialist in Berlin.
NACHRICHTEN
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KOLUMNE
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Foto: Amr Nabil / AP / pa
ZURÜCK AUS DEM NIRGENDWO
Protest. Angehörige von »Verschwundenen« in Kairo.
Nach Druck von Amnesty International und internationalem Protest kam der Ägypter Islam Khalil nach fast 200 Tagen Haft frei – der 27-Jährige wurde gefoltert und galt lange Zeit als »verschwunden«. Von Lena Khalifa »Gewöhnt euch nicht an die vielen Geschichten von Mord und Folter, von denen wir nun Tag und Nacht hören. Weist sie ab. Macht sie zu etwas Verachtenswertem, zu etwas Fremdartigem, damit ihr eure Menschlichkeit nicht völlig verliert. Vergesst nicht jene, die gestorben sind, die in den Medien niemals erwähnt wurden. Vergesst nicht die Opfer des Verschwindenlassens, denn ihr seid ihre einzige Hoffnung.« Diesen Appell schrieb der Ägypter Islam Khalil nach fast 200 Tagen Haft, von denen er 122 Tage »verschwunden« war. Amnesty International geht davon aus, dass in Ägypten jeden Tag mindestens drei oder vier Menschen »verschwinden«. Zahlreiche Aktivisten hatten sich zusammen mit Amnesty für Islam Khalil eingesetzt. Am 31. August 2016 wurde er endlich vom ägyptischen Geheimdienst freigelassen. Am 24. Mai 2015 hatten Sicherheitskräfte Islam Khalils Elternhaus nördlich von Kairo gestürmt und den 27-jährigen Verkaufsleiter gemeinsam mit seinem Va-
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ter und seinem Bruder verschleppt. Während sein Bruder, der Student und Menschenrechtsaktivist Nour Khalil, und sein Vater einige Tage später freikamen, wurde Islam Khalil mit verbundenen Augen an verschiedenen Orten festgehalten und gefoltert, zuletzt in der Zentrale der Sicherheitsbehörden in Kairo. »In dieser Hölle wartet nichts als Folter. Mal holen sie mich bei Nacht und hängen mich an Händen und Füßen auf, nackt. Mal stehe ich lange Zeit mit den Händen an einen Pfosten gefesselt. Oder sie holen mich vielleicht für eine Runde Elektroschocks ab. Ich höre nichts als Drohungen: Drohungen, vergewaltigt oder auf schlimmste Weise getötet zu werden. Dazu ununterbrochen Beleidigungen. Man träumt davon, diesen Ort zu überleben, es ins Gefängnis oder ins Grab zu schaffen.« Islam Khalil »schaffte es« ins Gefängnis. Nach 122 Tagen wurde er auf Grundlage von »Geständnissen«, die unter Folter zustande kamen, wegen »Zugehörigkeit zur verbotenen Muslimbruderschaft«, »Anstiftung zur Gewalt« und »Angriffen auf Sicherheitskräfte« angeklagt und ins Borg-al-Arab-Gefängnis in Alexandria gebracht. Im Falle einer Verurteilung hätte ihm die Todesstrafe gedroht. Als er gegen die Haftbedingungen protestierte, wurde er brutal zusammengeschlagen und in
Einzelhaft verlegt. Weil er keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, frischer Luft oder Familienbesuchen erhielt, trat er in den Hungerstreik. Nach nationalen und internationalen Kampagnen wurden schließlich alle Anklagepunkte bis auf einen fallen gelassen. Doch auch nach Zahlung der geforderten Kaution von umgerechnet 5.000 Euro musste Islam Khalil weitere zehn Tage in einer Polizeiwache seiner Heimatstadt verbringen. Er wurde bewusstlos geschlagen und eines neuen Vergehens beschuldigt, bevor er endlich freikam. Sein Bruder Nour Khalil richtete nach der Freilassung folgende Nachricht an Amnesty International: »Vielen Dank für eure enormen Anstrengungen. Sie waren der wichtigste Grund für die heutige Freilassung meines Bruders. Islam wird weiterhin von den Sicherheitsbehörden bedroht und es besteht ein ernsthaftes Risiko, dass er erneut inhaftiert oder verletzt wird. Setzt euch bitte weiter für ihn ein und unterstützt ihn, bis man ihm alle seine Rechte gewährt und diejenigen zur Verantwortung gezogen hat, die Verbrechen an ihm begangen haben. Übt weiterhin Druck im Namen der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens aus – für alle Opfer des Verschwindenlassens und alle gewaltlosen politischen Gefangenen. Danke Amnesty.«
AMNESTY JOURNAL | 01/2017
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.
NACH HAFTSTRAFE FREI
MYANMAR Im Juli ist U Gambira aus einem Gefängnis in Rangun entlassen worden. Er war im Januar 2016 festgenommen und wegen »Einreise ohne Erlaubnis« zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt worden. Im Juni wurde er überdies wegen »Verursachen von Unheil« und Hausfriedensbruch angeklagt, ein Vorwurf, der wieder fallen gelassen wurde. Hintergrund ist sein Engagement für die Wiedereröffnung von Klöstern, die während der sogenannten Safran-Revolution geschlossen wurden. Im Jahr 2007 hatten buddhistische Mönche soziale Proteste angeführt, die sich zu einem Aufstand gegen die damalige Militärdiktatur ausweiteten.
MÄDCHEN AUF DEM WEG DER BESSERUNG
Solch gute Nachrichten aus Syrien sind selten: Die zehnjährige Ghina Ahmad Wadi hat eine Operation in einem Krankenhaus in Damaskus gut überstanden und befindet sich auf dem Weg der Besserung. Am 2. August hatten Scharfschützen sie bei einer Kontrolle in Madaya angeschossen, sie erlitt einen Knochenbruch und eine Verletzung der Nerven. Anschließend verhinderten Regierungssoldaten ihre Einlieferung in ein Krankenhaus. Am 13. August konnte sie dann doch in eine Klinik gebracht und operiert werden.
SYRIEN
VERFAHREN GEGEN ANWALT EINGESTELLT
Ein Gericht in der Provinz Cabinda hat im Juli die Anklagen gegen Arão Bula Tempo aus Mangel an Beweisen fallen gelassen. Der Anwalt war am 14. März 2015 wegen »versuchter Zusammenarbeit mit ausländischen Staatsangehörigen gegen die Interessen des angolanischen Staates« und »Rebellion« festgenommen worden. Er soll Journalisten aus der Republik Kongo nach Angola eingeladen haben, damit sie über Proteste gegen die Missstände in Cabinda berichten. Zwei Monate später kam er auf Bewährung frei. Während der Haft und des Verfahrens hatte sich sein Gesundheitszustand zunehmend verschlechtert.
ANGOLA
AUS PSYCHIATRIE ENTLASSEN
Konstantin Zadoya ist wieder frei. Am 7. Juli war der 20-Jährige nach einem Streit mit seinem Vater zwangsweise in eine psychiatrische Klinik in Nowosibirsk eingewiesen worden. Dort wurde er die ersten vier Tage ohne Gerichtsbeschluss festgehalten. Er wurde ans Bett fixiert und gezwungen, Medikamente einzunehmen. Nachdem Amnesty International und zahlreiche Aktivisten sich für ihn eingesetzt hatten, wurde er Anfang August entlassen. Allerdings musste er eine Erklärung unterzeichnen, nach der er der Einweisung zugestimmt habe und seine eingelegten Rechtsmittel gegen den Gerichtsbeschluss zurückziehe. Nach seiner Entlassung legte Zadoya erneut Rechtsmittel ein.
RUSSLAND
ERFOLGE
MARKUS N. BEEKO ÜBER DEN
TAG DER MENSCHENRECHTE Mit »O tempora, o mores!« (»Oh, was für Zeiten, oh, was für Sitten!«) beklagte der Römer Cicero um 70 vor Christus den Verfall von Werten und Sitten – wie Asterix-Fans und Latein-Schüler wissen. Fast 70 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 sehen Menschen fassungslos in diesen Tagen diese Werte unter Druck. Wir beobachten, wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit weltweit eingeschränkt werden. Nicht nur Journalisten oder Gewerkschafter – jeder Mensch, der seine Rechte einfordert, muss in einer zunehmenden Zahl von Staaten mit Repressalien rechnen. Die Tätigkeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen wird mittlerweile auch in zahlreichen rechtsstaatlichen Demokratien wie Indien systematisch behindert oder über spezielle Gesetze kriminalisiert. Der Handlungsspielraum für alle, die sich für Menschenrechte, Umweltschutz und gegen Diskriminierung oder Korruption einsetzen, wird kleiner. Hinzu kommt die parallele Zunahme menschenverachtender Herabsetzungen und Drohungen gegenüber Menschen, die anders aussehen, andere Lebensentwürfe haben, bestimmten Gruppen zugerechnet werden oder »nur« für andere Menschen eintreten. Zur Erklärung werden oft die beunruhigenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüche weltweit angeführt. Ja, vieles ist im Umbruch. Wie gehen wir mit Extremismus und Terror um? Wie wirken wir der wachsenden Kluft von Arm und Reich entgegen? Wie geraten beim Kampf um Ressourcen die verletzlichsten Menschen und unsere Umwelt nicht unter die Räder? In diesem Umbruch braucht es Orientierung. Der 10. Dezember ist hier nicht nur Erinnerung, sondern Ermunterung! Die Idee der »Menschenrechte für alle« formuliert ein gemeinsames Selbstverständnis, das gerade bei schwierigen politischen und gesellschaftlichen Fragen als Kompass dienen kann. Dies ist keine Antwort auf alle Fragen, aber eine Basis, auf der wir Antworten auf Fragen suchen. Nicht nur in Sonntagsreden oder Kolumnen. Sondern jeden Tag. Jetzt. Und hier. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.
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Foto: Bernd Hartung / Amnesty
EINSATZ MIT ERFOLG
TITEL
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Freundschaft
Auf den ersten Blick scheinen Freundschaft und Menschenrechte nur wenig miteinander zu tun zu haben. Doch ohne menschliche Empathie und Solidarität über Grenzen hinweg gäbe es weder private Flüchtlingshilfe noch den Einsatz vieler gegen die Todesstrafe oder gar die Zusammenarbeit von Menschenrechtlern verfeindeter Staaten.
Reich mir deine Hand. Flüchtling vor der türkischen Küste. Foto: The Coast Guard Aegean Sea Region Command / Anadolu Agency / Getty Images
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Aus Engagement wird Freundschaft Unzählige Leute setzen sich gemeinsam mit Amnesty International für andere ein: Für Menschen, die sie noch nie gesehen haben und die vielleicht Tausende Kilometer entfernt leben. Manchmal entstehen aus diesem Einsatz tiefe Freundschaften. Von Carole Scheidegger, Lynn Dudenhöefer (Texte) und Julia Krusch (Zeichnungen) Befreundet seit 35 Jahren »Ich hatte sie dreieinhalb Jahre im Herzen, als ich Briefe für sie schrieb. Und plötzlich stand ein Mensch aus Fleisch und Blut vor mir.« Ileana Heer erinnert sich noch genau an den Tag vor 35 Jahren, als sie Rosa* am Flughafen Zürich endlich umarmen durfte. Die gebürtige Tessinerin, die schon seit Langem in der Deutschschweiz lebt, hatte zuvor viele Briefe an die argentinische Militärjunta geschrieben. Darin forderte sie die Freilassung von Rosa, einer jungen Bolivianerin, die während der argentinischen Militärdiktatur in den siebziger Jahren inhaftiert wurde,
weil sie sich für die Menschenrechte eingesetzt hatte. »Ich war natürlich nicht allein in meinem Einsatz; meine ganze Amnesty-Gruppe schrieb Briefe. Auch die damalige Vizepräsidentin der Schweizer Amnesty-Sektion, Marta Fotsch, engagierte sich stark«, erinnert sich Ileana Heer. Endlich kam Rosa frei und es gelang, sie in die Schweiz zu holen. Von hier aus suchte die Bolivianerin nach ihrer kleinen Tochter Tamara, die während der Gefangenschaft der Mutter verschwunden war. Schließlich fand sie das Mädchen mit Hilfe der »Abuelas de Plaza de Mayo« in Buenos Aires – das sind jene Großmütter, die seit Jahrzehnten nach ihren während der Militärdiktatur verschwundenen Kindern und Enkelkindern suchen. Rosa konnte ihre Tochter mit in die Schweiz nehmen. Ileana Heer nahm an dieser bewegten Geschichte stetig Anteil, war Rosas Trauzeugin und wurde viele Jahre später auch zur Hochzeit der mittlerweile erwachsenen Tamara eingeladen. Manchmal lag ein langer Weg zwischen den beiden Frauen, denn Rosa zog zuerst nach Spanien, dann nach Bolivien und wieder zurück nach Spanien. Dennoch riss der Draht nie ab, erzählt Ileana Heer: »Zwischen uns gibt es eine Verbundenheit, die nicht endet, selbst wenn wir uns länger nicht sehen.« * Nachname der Redaktion bekannt
Befreit aus der Todeszelle Wie ein Kind vor Weihnachten: So fühlte sich Charles Perroud in den Tagen, bevor er endlich Hamid Ghassemi-Shall persönlich treffen konnte. Hamid war eben erst nach Kanada zurückgekehrt. Davor hatte er fünf Jahre lang im berüchtigten Evin-Gefängnis in der iranischen Hauptstadt Teheran gesessen. Der kanadisch-iranische Doppelbürger war im Mai 2008 festgenommen worden, als er seine Mutter im Iran besuchte. Auch sein älterer Bruder wurde verhaftet. In einem unfairen Verfahren verurteilte ein Gericht beide Männer wegen »Spionage« zum Tode. Hamids Bruder Alborz starb im Januar 2010 im Gefängnis. Die Todesursache ist unklar. Antonella Mega, die in Kanada lebende Frau von Hamid Ghassemi-Shall, hörte eineinhalb Jahre lang nichts von ihrem Mann, der in Einzelhaft saß. Irgendwann erhielt sie die Nachricht von einer drohenden Hinrichtung. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich im Februar 2011 an Amnesty International Kanada. So lernte sie Charles Perroud kennen. Er war damals als Akti-
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vismus-Koordinator angestellt, nebenbei war er auch als ehrenamtlicher Fachmann für das Thema Todesstrafe und für Aktionen zum Iran bei Amnesty tätig. Charles Perroud organisierte diverse Aktionen zum Fall Ghassemi-Shall, eine davon in Montreals Innenstadt: Amnesty-Mitglieder bauten aus Holz eine Gefängniszelle nach, in der Charles Perroud 24 Stunden lang trotz kanadischen Winterwetters ausharrte. Die Aktionen zeigten Wirkung, die Medien und die Politik begannen sich schließlich für Hamid Ghassemi-Shall zu interessieren. »Ich habe mich schon für viele Gefangene eingesetzt, aber so berührt wie dieser hat mich kein Fall«, sagt Charles Perroud. Als schließlich 2013 die erlösende Nachricht von der Freilassung kam, übte er zuerst Zurückhaltung: »Ich wollte sicher sein, dass die Sache stimmt – schließlich wäre es nicht die erste Falschmeldung aus dem Iran.« Aber doch, es war wahr, und Hamid Ghassemi-Shall kehrte am 10. Oktober 2013 nach Kanada zurück. Drei Wochen später konnte Charles Perroud den Mann, für den er sich so intensiv eingesetzt hatte, endlich in die Arme schließen. Noch heute haben die beiden Kontakt. Da 600 Kilometer zwischen ihren Wohnorten Quebec und Toronto liegen, sehen sie sich nicht so oft, wie sie das gern hätten. Aber die Verbindung bleibt. Auch mit Antonella Mega ist Charles Perroud befreundet. Schließlich arbeiteten sie so lange Seite an Seite für Hamids Freilassung – eine prägende Erfahrung.
rige Amnesty-Unterstützerin. Sie lebt in Upper Hutt in Neuseeland. Zwischen den beiden liegen mehr als 10.000 Kilometer. Dennoch unterhalten sie eine einmalige Freundschaft. Kate Orange hörte erstmals von Kevin Cooper, als sie mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Kalifornien lebte. Das war 1992. Sie begann, ihm Briefe zu schreiben. Aus Briefen wurden Besuche. Kate Orange beschreibt Kevin Cooper als starke Persönlichkeit. Er lese und informiere sich über »die Welt draußen«. Deshalb schickt die Ärztin dem Gefangenen regelmäßig Fotos. Er hat in seiner Zelle keinen Stuhl oder Schreibtisch. Wenn er schreibt, sitzt er auf einem Eimer. Trotz zahlreicher Besuche im San-Quentin-Gefängnis kann sich Kate Orange nicht an die Umgebung gewöhnen, in der Kevin Cooper seine Tage verbringt: Mehr als 700 Männer leben in käfigähnlichen Zellen. »Es ist schwer zu beschreiben, was ich nach einem Gefängnisbesuch fühle«, erzählt Kate Orange. »Ich bekomme meinen Pass zurück und man wünscht mir ›einen schönen Tag‹. Ich bringe dann immer keine Antwort heraus und kann nur nicken.« Im Februar 2004 wurde Kevin Cooper beinahe hingerichtet. Nur vier Stunden vor der Hinrichtung wurde diese aufgeschoben. Kate Orange kann diesen Tag nicht vergessen: »Wie soll man verstehen, dass einem Freund ein Termin gesetzt wurde, an dem er sterben soll?« Heute haben Kate Orange und Kevin Cooper beide die Hoffnung, dass sein Todesurteil in eine Haftstrafe umgewandelt werden könnte. »Als Kevin kurz vor der Hinrichtung stand, wollte er, dass seine Asche in Neuseeland verstreut wird, weil er auf meinen Fotos gesehen hat, wie es hier aussieht«, sagt Kate Orange. »Zum Glück kam es nie so weit. Jetzt sprechen wir darüber, dass seine Asche nach Neuseeland geschickt wird, wenn er als alter Mann stirbt – hoffentlich in Freiheit.« Mehr Informationen: http://savekevincooper.org/
Die Hoffnung bleibt Kevin Cooper wurde 1985 wegen vierfachen Mordes zum Tode verurteilt. Mehr als 30 Jahre später sitzt er immer noch in der Todeszelle im San-Quentin-Gefängnis in Kalifornien. Er hat stets betont, dass er unschuldig sei. Kate Orange ist Ärztin und langjäh-
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Rückkehr von der Rettungsmission. Am 16. Oktober nimmt die »Sea Eye« nach elf Tagen im Einsatz Kurs auf Malta.
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Solidarität auf See Die Mannschaft der »Sea Eye« patrouilliert in den Gewässern vor Libyen, um Flüchtlinge auf See zu retten. Vor etwa einem Jahr wurde der Verein von einer Gruppe von Freunden gegründet. Unser Fotograf Raphaël Fournier hat die 13. Mission begleitet.
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Die Crew: Hannes (Kapitän und Skipper), Manuela, Ingo, Robin (»Sea Eye«-Mitarbeiter in Malta), Hilde, Karsten, Jens, Dieter, Thomas (v. l. n. r.).
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ie Zeit auf der »Sea Eye« war eine großartige Erfahrung, hart und einzigartig. Besonders interessant war es, die Situation auf dem Mittelmeer mit eigenen Augen zu sehen, ohne die üblichen Filter der Medien, und Teil des Geschehens zu sein. Natürlich war unsere Mission 13 nicht die schlimmste ihrer Art, wir haben keine Menschen ertrinken sehen und keine Leichen in Schlauchbooten gesichtet. Aber selbst dabei gewesen zu sein, führt einem die Realität besser vor Augen. Und ich habe dabei verschiedene Dinge begriffen. Ich habe gesehen, wie die NGOs vor Ort arbeiten. Manchmal arbeiten sie zusammen und helfen einander; manchmal tun sie das nicht, denn sie brauchen auch Resultate: Sie müssen ihren Spendern erklären, wie viele Leben sie gerettet haben – nicht, wie viele Leben insgesamt gerettet wurden. Eine andere Sache, an die ich mich aus dieser Zwei-Wochen-Mission erinnern werde, ist die Schwierigkeit, eine Gruppe zu werden, wenn man sich vorher nicht kennt und zwei Wochen lang so eng auf einem kleinen Boot zusammen ist und nicht weg kann. Auch wenn es über den Tag viel freie Zeit gibt, sind das keine Ferien, es gibt viele angespannte Situationen. In unserer Gruppe gab es Konflikte, besonders zwischen zwei Personen, aber wir haben es geschafft, die Probleme zu überwinden. Aus unserer Gruppe wurde eine Einheit und ich kann sagen, dass wir uns sehr nahe kamen. Und zuletzt ist da das Gefühl, dass wir alle »Action« brauchen. Es ist ein widersprüchliches Gefühl, denn »Action« bedeutet Flüchtlingsboote, und das bedeutet normalerweise, dass Menschen ertrinken und sterben. Obwohl wir alle das wussten, haben wir ständig nach Booten Ausschau gehalten, um eine Rettungsaktion starten zu können. Es ist ein merkwürdiges Gefühl – eine Mischung aus Wettbewerb mit anderen Organisationen und dem tiefen Wunsch zu helfen. Text: Raphaël Fournier
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»SEA EYE« Die gemeinnützige Seerettungsorganisation »Sea Eye« wurde 2015 von einer Gruppe von Freunden in Deutschland gegründet, um Flüchtlinge im Mittelmeer vor der libyschen Küste zu retten. Da die Schlepper die Flüchtlinge mit Schlauchbooten oder Holzschiffen ausstatten, die nicht dazu geeignet sind, das Meer zu überqueren, geraten sie auf der Reise in Seenot. Alle Boote würden ohne Hilfe kentern. Für ihre Rettungsmissionen hat die Organisation ein altes Fischerboot gekauft, renoviert und für die Seerettung ausgerüstet. Die 59 Jahre alte »Sea Eye« ist nicht ideal für diese Aufgabe, denn ihre Maschine ist launisch und braucht viel Aufmerksamkeit. Seit April 2016 gehen wechselnde Mannschaften aus Freiwilligen auf jeweils zweiwöchige Rettungsmissionen. Sie suchen nach Flüchtlingsbooten, bekommen Notrufe von anderen Rettungsbooten oder vom »Maritime Rescue Coordination Centre« in Rom. Wenn ein Flüchtlingsboot gesichtet wurde, besteht die Aufgabe der Crew darin, die Flüchtlinge mit Rettungswesten und Wasser zu versorgen, bis sie von der Marine oder größeren NGO-Schiffen aufgenommen werden. Wegen ihrer geringen Größe nimmt die »Sea Eye« normalerweise keine Menschen an Bord. In dem Gebiet vor der libyschen Küste laufen etwa ein Dutzend weitere Missionen anderer NGOs, sodass dort immer vier bis acht Schiffe im Einsatz sind. Die Mission Nummer 13 war im Oktober 2016 elf Tage lang auf See.
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5. bis 7. Oktober: Vorbereitung für die Mission in Malta. Psychologen vom Roten Kreuz bereiten die Mannschaft auf das vor, was sie erwarten könnte: Gewalt, Verletzungen, Tote, aber auch mögliche Konflikte innerhalb der Crew. Übergabe des Schiffes an die neue Mannschaft, Probefahrten und Sicherheitstraining. Die wichtigsten Manöver werden geübt, wie das Bergen von Leichen, Kommunikation mit den Flüchtlingen, Versorgung mit Schwimmwesten, Verständigung per Funk, Bedienung des Beiboots. Wir treffen uns mit den Mannschaften anderer NGO-Schiffe, die auch hier ankern, und tauschen uns mit ihnen aus. Proviant wird besorgt und im Schiff verstaut, wir nehmen Wasser und Treibstoff auf. Alkohol ist an Bord verboten, stattdessen laden wir Dutzende alkoholfreie Biere. 8. Oktober: Der erste Tag auf See. Die Fahrt zum Einsatzgebiet dauert fast 36 Stunden. Wir versorgen Schiffe von anderen Organisationen mit Versorgungsgütern aus Malta. Die Vorwoche war für alle Boote in der Gegend sehr anstrengend. An einem Tag, dem 3. Oktober, kamen 6.000 Flüchtlinge. Allein die »Sea Eye« hatte elf Einsätze an diesem Tag.
9. und 10. Oktober: Wir treffen uns mit zwei anderen Schiffen. Für die »Sea Watch 2« haben wir Ersatzteile und Rettungswesten aus Malta dabei, der »Juventa« bringen wir Proviant und Decken. Wir tauschen uns mit den Mannschaften aus, beide Schiffe kommen aus Deutschland. Weitere Treffen mit der »Aquarius« von Ärzte ohne Grenzen und der »Astral« von einer spanischen Organisation.
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11. Oktober: Wir treffen uns mit der »Vos Hestia«, einem Lazarettschiff von Save The Children, die uns Rettungswesten zurückgeben. Das »Maritime Rescue Coordination Centre« in Rom schickt beide Schiffe Richtung Osten, um ein Boot auf dem Weg nach Lampedusa zu retten. Als wir nach vier Stunden eintreffen, hat die »Vos Hestia« schon mit der Bergung begonnen. Es ist ein Fischerboot mit 300 Flüchtlingen an Bord. Wir bringen die Flüchtlinge auf die »Vos Hestia«. Um 23 Uhr ist unsere erste Rettungsoperation beendet.
12. Oktober: Wir treffen die »Sea Watch 2« und übergeben Rettungswesten. Trotz Windstärke 7 hat die »Juventa« in der Nacht innerhalb der Zwölf-Meilen-Zone ein Schlauchboot gerettet. Es sind definitiv keine guten Bedingungen, um in See zu stechen: Wind, Wellen, Nacht. Aber die Schlepper und die Flüchtlinge wissen, dass es nur noch wenige Wochen bis zum Winter sind. Am Abend trifft sich die Crew, um zu diskutieren, ob auch die »Sea Eye« innerhalb der Zwölf-Meilen-Zone operieren soll – mit dem Risiko, von der libyschen Küstenwache aufgebracht zu werden. Da es zu keinem einstimmigen Votum kommt, entscheiden wir uns dagegen.
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13. Oktober: Patrouille an der Zwölf-Meilen-Zone, Übungen mit dem Kran und dem Beiboot.
14. Oktober: Ein kräftiger Wind aus Süd-Südwest begünstigt die Abfahrt von der libyschen Küste. Es sind mehrere Schiffe in der Gegend, als ein Notruf zwei Flüchtlingsboote in unserem Bereich meldet. Als wir eines am Horizont entdecken, schicken wir das Beiboot mit 40 Rettungswesten voraus. Das Boot stellt sich als kleines libysches Fischerboot ohne Flüchtlinge heraus. Ein paar Minuten später und nur einige Meilen entfernt rettet die »Juventa« ein Schlauchboot und ein Fischerboot mit Flüchtlingen. Obwohl alle in Sicherheit gebracht werden können, ist unsere Crew etwas frustriert: Wenn man als Rettungsteam darauf vorbereitet ist, zu retten, dann will man auch retten. Ob man nun benötigt wird oder nicht.
15. Oktober: Die See sieht aus wie Öl heute Morgen. Die Wetteraussichten für die nächsten Tage sind nicht die besten: Nördliche Winde erschweren das Ablegen von libyschen Stränden. Aber wir hoffen, dass wir heute endlich wieder helfen können. Am Vortag waren die Bedingungen noch gut. Boote, die gestern Nacht gestartet sind, sollten bis zum Mittag an der Zwölf-Meilen-Linie sein. Wir treffen zwar auf die libysche Küstenwache, aber nicht auf Flüchtlingsboote. Abends erreicht uns die schlechte Nachricht: Der Trinkwassertank ist leer. Wir beschließen, früher als geplant nach Malta zurückzukehren, wo wir am 17. Oktober eintreffen.
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Erprobte Freundschaft. Muamina und Ruth, Itingen 2016.
Muamina und Ruth Zwei Mal flohen Muamina und ihre Kinder aus Syrien in die Schweiz. Aber erst beim zweiten Mal konnten sie auch bleiben. Eine ganz wesentliche Rolle spielte dabei Ruth, die Muamina 2008 in der Asylunterkunft kennengelernt hatte und die seither immer für sie da ist. Von Manuela Reimann Graf
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Foto: Manuela Reimann Graf
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ebruar 2013. Istanbul. Endlich, endlich kam der langersehnte Anruf: »Ruth, hier Muamina. Wir sind da, in Istanbul.« Muamina hatte die Flucht aus Syrien geschafft – mit Bussen, in Autos von Helfern und langen Strecken zu Fuß, im Regen. Allein, mit ihren fünf Kindern zwischen zwei und zehn Jahren. Sie waren irgendwo am Stadtrand von Istanbul angekommen. Die syrische Kurdin hatte keine Ahnung, wie sie zu ihrem Ziel, der Schweizer Botschaft im Stadtzentrum, gelangen sollte. Sie konnte kein Türkisch. Alle hatten Hunger. Und immer noch große Angst. Sie liefen einfach los. Liefen und liefen. »Glücklicherweise stieß ich auf eine Frau, die auch kurdisch sprach und die uns bei sich aufnahm. Endlich konnte ich Ruth anrufen.« Am anderen Ende des Drahtes, weit weg in der Schweiz, nahm Ruth Zimmermann das Telefon ab. »Am Anfang dieses Gesprächs konnten wir beide nur weinen. Vor Erleichterung«, erzählt Ruth. »Doch dann sofort die bange Frage: Und jetzt, wie weiter?« Ruth hatte Muamina zur Flucht nach Istanbul gedrängt, um dort auf der Schweizer Botschaft Asyl zu beantragen. Denn in Syrien war Krieg ausgebrochen. Die syrische Regierung ging immer härter gegen die Bevölkerung vor, die Lage wurde immer gefährlicher, gerade für Kurden. »Ich wusste, ich musste alles versuchen, um Muamina aus Syrien herauszuholen. Schon wegen der Kinder.« Irgendwie überzeugte Ruth ihre Freundin also, zur Schweizer Botschaft in die Türkei zu reisen. »Aber ob sie eine so gefährliche Reise allein schaffen würde?« Es folgten viele lange Telefonate mit Muamina, deren Handy immer wieder teuer aufgeladen werden musste. Sehr langsam, in einfachstem Deutsch, erklärte Ruth ihr jeweils die nächsten Schritte. Ruth musste außerdem wegen Schwangerschaftsbeschwerden die Gespräche immer wieder unterbrechen. »Endlich hatte ich Muamina am Draht und ausgerechnet dann wurde mir wieder schlecht und ich musste davonrennen.« Muamina war diesmal mit den Kindern allein aus Syrien geflohen. Ohne ihren Mann Muhammad. Dieser war bereits zuvor geflüchtet, nachdem er in Damaskus längere Zeit im Untergrund gelebt hatte. Mitglieder seiner und Muaminas Familie waren von syrischen Sicherheitsleuten immer wieder drangsaliert und nach seinem Aufenthaltsort befragt worden. Muamina wusste aber nicht, wo ihr Mann sich versteckte. Er hatte ihr seinen Aufenthaltsort wohlweislich nicht verraten, auch wenn sie deswegen in großer Sorge um ihn war. Bevor Muamina mit den Kindern selber Damaskus verließ, hatte sie von ihrem Mann drei angstvolle Monate nichts mehr gehört. Doch dann hatte Ruth angerufen und gesagt: »Muamina, Muhammad lebt! Es geht ihm gut.« Er hatte Ruth kontaktiert, nicht seine Frau, weil er immer noch Angst hatte, dass deren Telefon überwacht würde. So stellte die Schweizerin den indirekten Kontakt zwischen dem Ehepaar her. Muhammad war irgendwo unterwegs in Europa, Muamina allein mit den Kindern in Syrien. Und Ruth telefonierte abwechselnd mit beiden. Muhammad gelangte an die Schweizer Grenze und stellte einen Asylantrag, dem diesmal stattgeben wurde – nicht so wie 2007, als sein Antrag abgelehnt worden war. Ruth sah nun die Möglichkeit, auch für Muamina und die Kinder ein Asylgesuch zu stellen und sie im Rahmen einer Familienzusammenführung in die Schweiz zu holen. Sie hatte die notwendigen Vollmachten dazu, Muaminas Vertrauen sowieso. Doch musste Muamina zuerst einmal aus Syrien heraus und irgendwo in eine Schweizer Botschaft gelangen. Jordanien? Türkei? Die beiden Frauen entschieden sich für die Türkei. Als es die zierliche Kurdin mit den
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fünf Kindern nach Istanbul geschafft hatte, wurde sie auf der Botschaft zunächst nicht vorgelassen. »Ruth hatte mir am Telefon erklärt, dass ich mich keinesfalls abwimmeln lassen dürfe. Also weigerte ich mich, das Schweizer Botschaftsgebäude zu verlassen, bis ich einen neuen Termin erhielt.« Wieder setzte Ruth alle Hebel in Bewegung. Alarmierte die Amnesty-Asylbeauftragte Denise Graf, die mit dem AmnestyBüro in der Türkei Kontakt aufnahm. In der Zwischenzeit wurde Muhammads Asylgesuch stattgegeben. Daraufhin klappte es auch mit der Einreisebewilligung für Muamina und die Kinder. Schon tauchte das nächste Problem auf: Die türkischen Behörden wollten sie nicht ausreisen lassen, weil sie sich illegal in der Türkei aufhielt. Muamina solle mit den Kindern in ein türkisches Flüchtlingslager gebracht werden, hieß es. Was genau schließlich dazu führte, dass Muamina und die Kinder doch ausreisen durften, weiß bis heute niemand. Nach drei Monaten kam eines abends um zehn Uhr endlich der erlösende Anruf von einem Amnesty-Vertreter in Istanbul. »Ich müsse um vier Uhr nachts mit den Kindern am Flughafen sein«, sagt Muamina. »Die Kinder mussten beim Packen unserer Habseligkeiten helfen, so nervös war ich.« Nun ging es wieder in die Schweiz, in das Land, in dem Muamina von 2007 bis 2010 gelebt hatte. Das Land, an das sie nicht nur gute Erinnerungen hatte. Wo sie aber auch viel Hilfe von Privatpersonen erhalten hatte. Vor allem von Ruth, die sie damals in einem kleinen Bergdorf kennengelernt hatte.
Juli 2010. Chur – Damaskus »Muamina, wo bist du?« Ruth war gerade von einem Urlaub im Ausland in die Schweiz zurückgekehrt und rief als erstes ihre syrische Freundin an. Voller Angst, niemanden zu erreichen. Noch immer geschockt von dem, was während ihrer Ferien geschehen war. Sie hatte eben erfahren, dass Muamina mit der ganzen Familie abgeschoben wurde, zurück nach Syrien. Zum Glück hatte Muamina das Prepaid-Handy, das Ruth ihr gegeben hatte, mitgenommen. Zum Glück konnte sich Muamina an Ruths Nummer erinnern, die diese der Analphabetin beigebracht hatte. Denn nur bei Ruths Nummer wagte Muamina, den Anruf anzunehmen. »Warum, warum nur haben sie das getan?«, weinte Muamina. »Warum haben sie uns zurückgeschickt?« »Wäre ich doch damals nicht in den Urlaub gefahren, vielleicht hätte ich etwas gegen den Horror tun können.« Ruth plagt sich noch heute mit Selbstvorwürfen. Muamina war während Ruths Urlaub allein von dem Abschiebeheim »Flüeli« bei Valzeina in den Bergen Graubündens, das ihr und den Kindern zugewiesen worden war, mit dem Bus nach Chur gefahren. Sonst hatte meistens Ruth sie zum Gefängnis gebracht, in dem Muhammad in Abschiebehaft saß. Doch die Schweizer Fremdenpolizei hatte Muamina aufgefordert, ins Gefängnis zu kommen. »Nach einer Stunde Gespräch mit Muhammad kamen plötzlich Polizisten herein. Muhammad und mir wurden Handschellen angelegt«, erzählt Muamina. Gemeinsam mit ihrem Mann und den Kindern wurde sie schon am nächsten Tag nach Damaskus geflogen. Gefesselt. Sie konnte die weinenden Kinder nicht trösten. Hatte Panik. Die brutale Abschiebung der gesamten Familie sorgte für einigen Wirbel in der Schweiz. Ein Untersuchungsbericht entlastete die zuständigen Behörden und stellte die Abwicklung der Abschiebung als korrekt und für die Familie zumutbar dar. Die Medien berichteten, Amnesty protestierte und verlangte erfolglos weitere Abklärungen. Aber Muamina und ihre Familie waren längst in Damaskus.
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Muhammad war aus Angst vor Verhaftung sofort untergetaucht. Seine Frau und die Kinder waren bei Verwandten untergekommen, mussten den Aufenthaltsort aber immer wieder wechseln. Und dann verlor Muamina bei einem erneuten, überstürzten Unterkunftswechsel das Handy. »Das war furchtbar«, erinnert sich Ruth. »Tagelang versuchte ich Muamina zu erreichen, doch niemand nahm ab. Ich machte mir große Sorgen.« Irgendwie gelang es Muamina, sich ein neues Handy zu besorgen. Sie wusste Ruths Nummer auswendig und konnte in die Schweiz telefonieren. Doch Ruth war keineswegs beruhigt: »Zwar erfuhr ich, dass in der Zwischenzeit nichts Schlimmes passiert war. Aber die Nachrichten über die Situation in Syrien wurden immer schrecklicher. Sie mussten raus aus Syrien, das war klar.« Und so kam Muamina mit den Kindern via Istanbul zum zweiten Mal in die Schweiz. Diesmal mit dem guten Gefühl, willkommen zu sein und bleiben zu können.
2009. Valzeina Damals, als sie hochschwanger mit Mann und drei Kindern das erste Mal in die Schweiz gekommen war, war das noch ganz anders. Das Asylgesuch, das sie 2007 gestellt hatte, wurde abgelehnt, obwohl bekannt war, dass Kurden und Kurdinnen in Syrien kaum Rechte hatten und diskriminiert wurden. Sie durften die eigene Sprache nicht sprechen, ihre eigene Kultur nicht leben. Amnesty hatte längst über Folter und Misshandlung nach Protesten der kurdischen Opposition berichtet. Auch die Beschwerde zum Asylablehnungsentscheid wurde abgewiesen. Muhammad wurde in Chur in Abschiebehaft genommen. Muamina, die inzwischen Fatima geboren hatte, wurde mit den nun vier Kindern ins »Flüeli« gebracht. Ohne Ehemann fühlte sie sich als einzige Frau in dem Heim nicht sicher. Sie verstand kaum etwas, konnte die schriftlichen Anweisungen nicht lesen. Auch als später eine weitere Frau ins Flüeli kam, war Muamina nicht wohler. Das Zimmer, das sie mit ihren Kindern bewohnte, ließ sich nicht abschließen. Die Dusche musste sie sich mit den Männern teilen. Dazu kam die nicht unbedingt freundliche Behandlung durch einige Dorfbewohner, die sich über die Einrichtung eines Asylheims in ihrer Gemeinde nicht gefreut hatten. Aber auch die Heimleitung sei nicht gerade zuvorkommend gewesen, erzählt Muamina: »Man gab mir nicht genug Milch für die Kinder. Nicht genug Windeln für das Baby.« Aber es gab auch die anderen Menschen aus der Nachbarschaft. Leute, die sich zusammengetan hatten, um den Asylsuchenden im Flüeli zu helfen. Sie hatten den »Verein Miteinander Valzeina« gegründet und setzen sich bis heute vielfältig für die Flüeli-Bewohner ein. Sei es mit dem Kaffeekränzchen am Mittwochnachmittag, um etwas Ablenkung und Kontakt herzustellen. Sei es mit Spielsachen, Unterstützung bei Behördengängen
»Ich wusste, ich musste alles versuchen, um Muamina aus Syrien herauszuholen. Schon wegen der Kinder.« 26
oder anderem mehr. Als man der ältesten Tochter Hadiya den Schulbesuch verweigert hatte, setzten sich die Vereinsmitglieder für das Mädchen ein. Schließlich wurde Hadiya erlaubt, den Kindergarten im Nachbardorf zu besuchen. Ruth hatte als Amnesty-Aktivistin auf einer Kundgebung den »Verein Miteinander Valzeina« kennengelernt und begann, sich für die Asylsuchenden in Valzeina zu engagieren. Als Muamina und die Kinder 2009 ins Flüeli kamen, war es Hadil, das dritte Kind von Muamina, das die beiden Frauen zusammenbrachte. »Die Kleine kam direkt auf mich zu und klebte dann richtig an mir. So kam ich in Kontakt mit der schüchternen Muamina. Wir hatten sofort einen Draht zueinander.« Immer häufiger engagierte sich Ruth für Muamina und die Kinder, nahm an Aktivitäten des Vereins teil. Sie fuhr Muamina regelmäßig zum Gefängnis und begleitete Mutter und Kind zum Arzt. Sie unterstützte die junge Mutter, wo sie nur konnte. »Muamina konnte noch kaum Deutsch«, erzählt Ruth. »Aber irgendwie verstanden wir uns, mit Hand und Fuß. Oder dann mit Hilfe von Mitgliedern des kurdischen Kulturvereins in Chur, die für uns übersetzten.« Mit der Zeit begann Hadiya, die deutsche Sprache besser zu verstehen und half der Mutter mit Erklärungen in Kurdisch. Doch bevor das Mädchen in die Schule gekommen wäre und besser Deutsch gelernt hätte, wurde sie mit den Eltern und Geschwistern abgeschoben.
Herbst 2016. Itingen, Baselland In Muaminas Wohnung in Itingen ist es eng. Etwa zehn Kinder unterschiedlichsten Alters rennen herum. Die Familie eines Schwagers aus Deutschland ist zu Gast. Zu Besuch sind auch Andrea und Monika aus Graubünden, die Muamina damals im Flüeli kennengelernt hatten. Sie halfen finanziell, als es darum ging, die Familie in Syrien zu unterstützen. Nun konnten sie Muamina endlich wiedersehen. Und Ruth, endlich ist Ruth wieder einmal da! Die Kinder freuen sich riesig, behandeln Ruths dreijährigen Sohn wie einen kleinen Bruder. Großzügig tischt Muamina Speisen aus ihrer Heimat auf. Die beiden Frauen besprechen die wichtigsten Neuigkeiten. »Ihr müsst den Kinderarzt wechseln, hat der Gemeindevertreter vorhin gesagt. Ich kann den neuen Arzt anrufen und ihm von Hadils Schulterproblemen erzählen. Soll ich auch gleich einen Termin vereinbaren?« Ruth und Muamina haben sich einige Zeit nicht gesehen, denn die Entfernung ist zu groß für regelmäßige Besuche. Doch wird wöchentlich telefoniert. Oder gechattet – »vor allem mit den Girls«, wie Ruth lachend erzählt. Hadil hängt noch immer sehr an ihr, kommt regelmäßig zu ihr in den Ferien. Ein älteres Ehepaar, das Hadiya vom Flüeli täglich zum Kindergarten begleitet hatte, nimmt die anderen Kinder regelmäßig zu sich in den Ferien, fungiert als Großeltern. »Es gibt viele Menschen, die Muamina und ihrer Familie helfen, nicht nur ich«, erzählt Ruth, die sich keineswegs für ihren Einsatz loben lassen will. »Die wahre Heldin ist Muamina. Sie ist so stark, sie hat so viel geschafft. Und schafft es weiterhin. Ich bin sehr stolz auf sie«, sagt Ruth und umarmt Muamina. »Ich sehe mich am ehesten als eine große Schwester.« Muamina widerspricht. »Sie ist mehr als das für mich. Mehr als eine große Schwester. Ohne sie würden ich und meine Kinder wohl nicht mehr leben.« Die Autorin ist Redakteurin des Schweizer Amnesty Magazins. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
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Foto: Tomas Wüthrich
Asylheim Flüeli, 2009. Muamina mit vier ihrer Kinder.
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Foto: Markus Hintzen / laif
»Man muss wieder Subjekt werden, damit man die Welt verändern kann.« Gerald Hüther ist wohl der bekannteste Hirnforscher Deutschlands. Er ist Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung, schrieb zahlreiche Sachbücher und arbeitet als Berater für Politik und Wirtschaft. Ein Gespräch über Freundschaft und Menschenrechte. Interview: Christine Newald
Was ist aus Ihrer Perspektive als Hirnforscher das Verbindende zwischen Menschen? Ich erlebe im Augenblick eine faszinierende Entwicklung: Wir fangen an zu begreifen, dass es den Menschen, und damit auch ein einzelnes Hirn, in seiner Singularität gar nicht gibt. Das ist ein Konstrukt. Es gibt Menschen nur in Verbundenheit. Alles, was ein Mensch Zeit seines Lebens lernt, lernt er von anderen. Nehmen wir das Erlernen der Sprache: Spracherwerb kann nur mit und durch andere passieren. Das gilt auch für Fahrradfahren oder das aufrechte Gehen. Wir sind in viel höherem Maße soziale Wesen, als wir uns das bisher eingestehen wollen.
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Welche Rolle spielt dabei die Empathie? Diese Fähigkeit, zu fühlen, was ein anderer Mensch fühlt, ist wesentlich für unsere Menschwerdung. Denn ohne Einfühlungsvermögen können wir auch keine sozialen Bindungen entwickeln. Aber Empathie per se ist noch keine Qualität, sondern eine Fähigkeit, die manche Menschen auch nutzen, um andere übers Ohr zu hauen. Korrupte Investmentbanker sind extrem gut darin, sich in die Gefühlswelt ihrer Kunden hineinzuversetzen, strategisch Handlungen zu planen oder vernetzt zu denken. Auch moderne Werbestrategen müssen viel von Empathie verstehen. Empathie, Kreativität, Zusammenarbeit – das sind offenbar per se noch keine Fähigkeiten, die uns zu Menschen machen.
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Funktionieren auch die Methoden des IS, Menschen zu rekrutieren, nach dem Muster, das Sie beschreiben? Ja, die arbeiten besonders geschickt mit den Gefühlen. Es ist deshalb wichtig zu verstehen, dass wir nicht dadurch menschlich werden, weil wir empathiefähig sind. Wir werden auch nicht zum Menschen, weil wir kreativ sind. Wir werden dann zu Menschen, wenn wir aufhören, andere Menschen als Objekt unserer Gedanken und unserer Absichten zu benutzen. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das andere Menschen zum Objekt seiner eigenen Absichten, Vorstellungen, Bewertungen und Maßnahmen machen kann. Diese bemerkenswerte Fähigkeit ist uns nicht angeboren, sie ist eine Kulturleistung. Erworben haben wir sie, weil es in der Menschheitsgeschichte immer wieder notwendig war, sich gegen Bedrohung und Krieg zu wehren und hierarchische Strukturen auszubilden. Ein Kriegsfürst muss seine Soldaten wie Objekte einsetzen, um seine Ziele durchzusetzen. So machen es auch Wirtschaftsbosse oder Politiker.
schen, die zu Objekten gemacht wurden, als Subjekte emanzipiert, zum Beispiel in den Montagsdemonstrationen. Man muss wieder Subjekt werden, damit man die Welt verändern kann.
Das heißt, jemanden als Objekt zu betrachten, würde der Idee von Freundschaft widersprechen? Ich kann niemandem ein Freund sein, den ich zugleich bewerte und manipuliere. In Freundschaften kann man sich nur auf Subjektebene begegnen. Das ist der Zauber der Freundschaft.
Könnte man nicht auch die Menschenrechte als System sehen, das Halt gibt in einer zerteilten Welt? Das ist es, was wir gerne glauben. Aber ich fürchte, Menschenrechte reichen nicht aus. Vertrauen können Sie nicht über ein rechtsstaatliches System erzeugen. Auch nicht mit einer Menschenrechtscharta. Was es braucht, ist ein Gefühl des Vertrauens. Vertrauen kann aber nur wachsen, wenn Menschen lernen, aufeinander zuzugehen. Das kann man nicht per Menschenrechtscharta einfordern oder gar anordnen. Die Menschenrechte wurden eingefordert und formuliert, um Menschen aus alten Herrschaftsstrukturen zu befreien. Die Frage, die sich heute stellt, ist aber nicht nur, wovon wir frei werden wollen, sondern wofür. Und diese Frage beantworten die Menschenrechte nicht.
Wie merke ich den Unterschied? Wenn jemand Sie zum Objekt macht, dann fühlt sich das so an, als ob Sie in eine Schachtel eingesperrt werden. Wenn der Papa Unternehmer ist, und von Ihnen erwartet, auch Unternehmer zu werden, macht er Sie zum Objekt seiner Erwartungen. Ich kann auch jemanden zum Objekt von Bewertungen machen, wenn ich ihn bewerte und mit Zensuren benote; ich kann jemanden zum Objekt von Absichten und Zielen machen, indem ich ihn dazu bringe, Dinge zu tun, die meinen eigenen Absichten dienlich sind: Wenn ich jemanden belehre, unterrichte, kluge Ratschläge erteile. Im Krieg ist das in Ordnung, aber in der heutigen Welt ist das wohl nicht mehr die adäquate Art, mit einander umzugehen. Man könnte es auch umgekehrt sagen: Sie sind dann Subjekt, wenn Sie jemandem auf Augenhöhe begegnen. Das Subjekt erlebt sich als Gestalter seines Lebens. Der Vorschlag, andere Menschen nicht mehr als Objekte zu betrachten, ist ein sehr grundsätzlicher Ansatz, der fast alles in Frage stellt, was wir in unserer westlichen Gesellschaft leben. Und darauf sind Sie in Ihren Forschungen gestoßen? In dem Augenblick, in dem ein Mensch nicht mehr dazugehören darf, wenn er gemobbt oder gedisst wird, wie das heute heißt, reagiert das Gehirn darauf genauso wie bei körperlichen Schmerzen. Deshalb ist es äußerst schmerzhaft, wenn man nicht so, wie man ist, angenommen wird. Was wären denn Beispiele für Menschen, die sich und andere als Subjekt erleben? Nelson Mandela und Gandhi. Menschen, die wir bewundern, weil sie von Machthabern zu Objekten gemacht wurden und doch Mensch geblieben sind. Offenbar können Menschen aus dieser Rolle aussteigen und auch unter widrigen Umständen Subjekt bleiben. Das sind Menschen, die aufstehen, die sich als Persönlichkeit zeigen, auch in ihrer Verletzlichkeit. Menschen, die sich denken: »Macht ihr das ruhig alle so, ich mache nicht mit.« Totalitäre Systeme brauchen Objekte, sonst funktionieren sie nicht. Nehmen Sie die ehemalige DDR: Da haben sich Men-
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Gibt es in Ihrem Verständnis die Kraft der Solidarität? Die Kraft der Solidarität ist etwas Wunderbares und geht wohl auch damit einher, andere Menschen eher als Subjekte zu sehen. Totalitäre Systeme leben in erster Linie von der Angst. Und gegen Angst hilft nur eines: Vertrauen. Vertrauensbildung passiert auf drei Ebenen: Ich muss erstens das Vertrauen wieder finden, dass ich etwas tun kann, dass ich die Welt gestalten kann. Ich muss zweitens das Vertrauen zurückgewinnen, dass es andere gibt, die mir helfen – das ist die Solidarität. Und dann gibt es noch die dritte Stufe und das ist die Schwierigste: das Vertrauen, dass es wieder gut wird. Auf einer spirituellen Ebene würde das so viel bedeuten wie das Vertrauen, dass wir in dieser Welt gehalten werden.
Was unterscheidet Menschen, die sich als volle Persönlichkeiten entwickeln und sich in allen Facetten zeigen? Die Resilienzforschung kommt da zu einer klaren Aussage. Man muss als Mensch zumindest einmal bedingungslos geliebt worden sein. Man muss einen Menschen getroffen haben, der wirklich an einen glaubt. Man könnte auch sagen: Man muss einmal einen Freund gefunden haben. Alle Menschen haben die gleichen Grundbedürfnisse und die gleichen Sehnsüchte. Wir wollen auch alle das Gleiche: dazugehören und verbunden sein einerseits, wachsen dürfen und frei werden andererseits. Es hat lange gedauert, bis wir das erkannt haben. Nun käme es darauf an, unser Zusammenleben so zu gestalten, dass beides möglich wird, dass wir uns in unserer Einzigartigkeit individuell entwickeln können, weil – nicht obwohl – wir als Mitglieder menschlicher Gemeinschaften miteinander verbunden sind.
»Wir werden dann zu Menschen, wenn wir aufhören, andere Menschen als Objekt zu benutzen.« 29
Der freundliche Islamist von nebenan. Der zum Islam konvertierte deutsche Prediger Pierre Vogel nach einer Veranstaltung im Publikum, Hannover 2014 .
Gefährliche Freunde Freundschaft ist nicht immer im Sinne der Menschenrechte. So bieten sich Islamisten Jugendlichen als vermeintliche Freunde an – um diese für ihre menschenverachtenden Ideen zu benutzen. Von Uta von Schrenk
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b Deso Dogg tot ist, weiß man nicht so genau. Im Netz kursieren Gerüchte. Das Pentagon erklärte den deutschen Rapper 2015 für tot, die Propagandaabteilung der Terrormiliz IS im April 2016 für lebendig, die deutschen Sicherheitskräfte im Juni dann für möglicherweise verletzt, ein syrischer Journalist im Juli wiederum für tot. Wie auch immer. Seiner Legendenbildung ist das Hin und Her sicherlich dienlich. Was nützt einem Islamisten mehr als ein gewaltiger Nimbus? Schließlich geht es darum, Anhänger zu finden und zu binden. Ein Rapper wie Deso Dogg hatte oder hat hier eine besondere Strahlkraft. Seine Songs bedienen das gerade bei sozial abge-
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hängten Jugendlichen beliebte Underdog-Image, seine maximal provokanten Botschaften wie »Wir wollen euer Blut, es schmeckt so wunderbar« sind für den IS videotauglich und seine Biografie als ehemals deutscher Gangsta-Rapper, der als Vorkämpfer eines islamischen »Gottesstaates« zu sterben bereit ist, bietet der Szene den größtmöglichen Phönix-Effekt – den Aufstieg aus der Asche der Ungläubigen. Islamismus bzw. Salafismus in Deutschland wie in Westeuropa ist eine Szene Jugendlicher und junger Erwachsener, heißt es bei der Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. »Im Schnitt sind die Jugendlichen, die sich radikalen Salafisten anschließen, 18 bis 19 Jahre alt. In
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Foto: Kristoffer Finn / laif
etwas mehr als einem Viertel der Fälle sind es Mädchen, auch hier ist die Tendenz steigend.« Die Experten der Beratungsstelle betonen, dass es sich um ein »gesamtgesellschaftliches Phänomen« handele – muslimische Familien sind ebenso betroffen wie christliche, Akademikerfamilien ebenso wie sozial schwache. Es ist eine bittere Erkenntnis: Ganz offensichtlich füllen die Islamisten mit ihren Angeboten eine Lücke: Sie bieten sich Jugendlichen an, die auf der Suche nach Halt und Orientierung sind. Eine gefährliche Freundschaft, die auf recht unterschiedlichen Wegen angebahnt wird. In der islamistischen Szene gibt es regelrechte Stars wie den tot geglaubten Deso Dogg, den Ex-Boxer Pierre Vogel oder Sven Lau, gegen den derzeit am Oberlandesgericht Düsseldorf ein Prozess wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung läuft. Die Anziehungskraft der Szene versucht Jochen Müller von »ufuq.de«, einer Beratungsstelle zu Islam in Jugendkulturen und politischer Bildung, so zu erklären: »Jugendliche sind auf der Suche – und dann kommt ein Pierre Vogel und rappt ihnen den Islam in 30 Sekunden. Das hat dann nichts mit Manipulation zu tun, Pierre Vogel bedient in diesem Moment auf sehr einfache Weise bestimmte Bedürfnisse nach Orientierung und Gemeinschaft.« Die Ansprache erfolgt überall dort, wo Jugendliche sind: auf der Straße, in Shisha-Bars und vor allem über das Internet. »Das Internet erreicht viel mehr Jugendliche als eine Moschee oder eine Kirche. Die Eltern haben oft keine Ahnung in religiösen Fragen oder sie sind zu traditionell und herkunftsbezogen für ihre hier geborenen Kinder. Und der Imam in der Moschee fällt auch oft aus, weil er sich in den Lebenswelten der Jugendlichen auf Facebook oder in Shoppingmalls nicht auskennt. Was machen die Jugendlichen? Sie suchen im Internet nach Antworten – wo sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf Prediger wie Pierre Vogel stoßen.« Letzterer hat auf Facebook immerhin mehr als 200.000 Mal »Gefällt mir« gesammelt. Und »Dabiq«, das Online-Magazin der Terrormiliz IS mit Links zu ihren martialischen Propagandavideos, erscheint inzwischen auch auf Englisch und Deutsch – Zielgruppe Westeuropas Jugend. Die Motivation, sich dem Salafismus zuzuwenden oder zu konvertieren, ist nach der Erfahrung der »ufuq«-Mitarbeiter, die an Schulen und in Jugendeinrichtungen Beratungsarbeit leisten, ähnlich gelagert wie etwa bei der Zuwendung zum Rechtsextremismus – Ideologie ist Ideologie. »Da ist die Suche nach Gerechtigkeit, Zugehörigkeit und Anerkennung, nach Identität wenn man so will. Oft spielen Familiengeschichten eine Rolle. Sehr oft auch das Gefühl, als Muslim diskriminiert oder benachteiligt zu werden. Salafisten können da andocken und sagen: ›Sie werden euch immer diskriminieren. Bei uns gehört ihr dazu, gemeinsam sind wir stark‹«, so Müller. Jugendliche, die sich in Familie, Schule oder Freizeit als abgehängt oder unterlegen empfinden, erfahren plötzlich Aufmerksamkeit – endlich nimmt sie jemand wahr, endlich sind sie wer. »Das weist letztlich alles auf ganz normale Bedürfnisse von jungen Menschen, die offenbar woanders unbefriedigt oder unbeantwortet bleiben«, sagt Müller. Dem Düsseldorfer Islamwissenschaftler Michael Kiefer zufolge ist die gezielte Ansprache »das wichtigste Rekrutierungsformat, das auch in den sozialen Netzwerken läuft«. Da berichten ausgereiste Frauen über ihre Whats-App-Gruppen von ihrem Allah-gefälligen Leben beim IS. Oder Syrien-Rückkehrer sprechen gezielt Jugendliche an, von denen sie vermuten, dass sie rekrutierbar sind. Diese Anwerbung läuft auch über das Netz,
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»Wenn ich die gefährlichen Freunde nicht will, muss ich selbst ein guter Freund sein .« auf Facebook lächelt da der IS-Kämpfer vom Foto und ermuntert, Fragen zu stellen – dein Freund, der Dschihadist. Das Einschwören auf die salafistische Gruppe erfolgt dann über die Abwertung anderer Menschen, über antipluralistische und freiheitsfeindliche Positionen. Verabreicht wird ein so süffiger wie gefährlicher Cocktail aus absolutem Wahrheitsanspruch, klaren Orientierungen, einfachen Welt- und Feindbildern, aus vermeintlichem »Wissen« über die Religion. Dennoch warnt Müller davor, das Vorgehen der Salafisten als Propaganda, Brainwashing oder Manipulation abzutun. »Wenn es die unbefriedigten Bedürfnisse von Jugendlichen nicht gäbe, könnten die Antworten der Salafisten nicht auf fruchtbaren Boden fallen.« Am Ende dieser gefährlichen Freundschaft zwischen orientierungssuchenden Jugendlichen und sendungsbewussten Salafisten steht im Extremfall die Radikalisierung. Immer wieder werden junge Deutsche wegen Mitgliedschaft in der Terrormiliz IS verurteilt. Besonders krass ist ein Fall aus Hannover: Wegen versuchten Mordes an einem Bundespolizisten und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung muss sich die zur Tatzeit 15-jährige Safia S. seit Ende Oktober 2016 vor dem Oberlandesgericht Celle verantworten. Die Messerattacke sei eine »Märtyreroperation« für den IS gewesen, lautet die Anklage. Dennoch betont Müller, dass es nur einige sind, die in den Dschihad, in den »Heiligen Krieg«, ziehen oder bereit sind, anderswo Menschen für ihre Ideologie zu töten. Der Verfassungsschutz ordnet rund 1.100 Menschen in Deutschland dem »islamistisch-terroristischen« Spektrum zu. Rund 800 radikale Islamisten aus Deutschland seien bislang in das Kampfgebiet nach Syrien und in den Irak ausgereist – ein Drittel von ihnen ist jedoch inzwischen wieder zurückgekehrt. Jene, die es Islamisten wie Deso Dogg gleichtun wollen, sind aus Müllers Sicht Amoktäter. »Was hier einige fasziniert, ist vielleicht die Chance und die Legitimation, einmal im Leben obenauf zu sein, es anderen zu zeigen, einmal andere zu erniedrigen statt – so die Selbstwahrnehmung – immer von anderen getreten zu werden.« Angesichts von Millionen Menschen, die ihren muslimischen Glauben friedlich in Deutschland ausüben, erscheint Müller die Angst vor Terror und Gewalt trotz aller Risiken im öffentlichen Diskurs überdimensional. »Das Extreme finden einige Jugendliche cool – den allermeisten muslimischen Jugendlichen ist einer wie Vogel voll peinlich.« Wer nicht wolle, dass sich Jugendliche radikalisieren, müsse ihre Suche nach Orientierung und Identität ernst nehmen – und demokratische Alternativen bieten. »Wenn ich die gefährlichen Freunde nicht will, muss ich selbst ein guter Freund sein«, so Müller. Beratungsstelle Deradikalisierung Hayat: http://hayat-deutschland.de Beratungsstelle Islam und politische Bildung: www.ufuq.de
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»Trennlinien verlaufen nicht mehr entlang von Grenzen« Swetlana Gannuschkina, prominente russische Menschenrechtsverteidigerin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises, über die Bedeutung von internationaler zivilgesellschaftlicher Solidarität – angesichts des Krieges in der Ostukraine und der Repression gegen die russische Zivilgesellschaft. Interview: Peter Franck
Sie setzen sich in der Russischen Föderation seit Jahrzehnten für geflüchtete Menschen ein und leisten bei der Organisation »Memorial« Menschenrechtsarbeit vor allem zum Nordkaukasus. Was bedeutet die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine für Ihre Arbeit? Wir konnten als Menschenrechtler weder die Annexion der Krim noch den Einmarsch in die Ostukraine verhindern. So wenig wie jetzt den Krieg in Syrien. Aber es gibt ein Tätigkeitsfeld, das hängt allein von uns ab: die Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft über die Grenzen der Konfliktparteien hinweg aufrechtzuerhalten. Und so sehr die Machthaber auch versuchen, das zu unterbinden, ist das unsere Pflicht. Darauf kam es schon in den beiden Tschetschenienkriegen an. Damals ist kein einziger Tag vergangen, an dem nicht russische und tschetschenische Aktivisten Seite an Seite Versammlungen abgehalten hätten. Auf Demonstrationen und Mahnwachen waren immer beide Seiten präsent. Und wir waren erfolgreich, denn wir konnten verhindern, dass aus den Kriegen ein interethnischer Konflikt wurde. Ist dies heute ähnlich? So sahen und sehen wir unsere Aufgabe auch auf der Krim und in der Ostukraine. Große Teile auch der russischen Zivilgesellschaft stehen der russischen Politik sehr kritisch gegenüber. Dabei ist die Zusammenarbeit mit unseren ukrainischen Kollegen nicht immer einfach. Natürlich betrachten beide Seiten die Konflikte aus unterschiedlichen Blickwinkeln. So gab es auf der ukrainischen Seite viel Wut und Enttäuschung und anfangs keine Bereitschaft, auch Fehlverhalten der eigenen Regierung zu kritisieren. Das verstehe ich gut, denn die Aggression ging von Russland aus und in einer solchen Drucksituation kommt es darauf an, die eigenen Reihen zu schließen. Da stellt man Konflikte, die man mit der eigenen Regierung hat, zurück. Eine schwierige Lage … Trotz dieser Ausgangssituation haben wir alles versucht, die Zusammenarbeit mit unseren ukrainischen Kollegen aufrechtzuerhalten und auch von der ukrainischen Bevölkerung gehört zu werden. Ukrainische Medienanfragen beantworte ich zum
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Beispiel noch heute vorrangig, denn es ist wichtig, dass die Leute wissen, dass es in Russland Stimmen gibt, die kritisch zur Politik der Regierung stehen. Und trotzdem schrieb man mir auf Facebook: »So sehr Sie die Russen auch kritisieren, so hassen wir euch Russen doch alle zusammen.« Aber ich bin meinen ukrainischen Freunden und Kollegen sehr dankbar dafür, dass die Konflikte es nicht vermocht haben, gute und persönliche Beziehungen, die vorher bestanden, zu beeinträchtigen. Sie bestehen alle nach wie vor. Und ich verstehe, dass das für die Leute nicht einfach ist. So konnten wir auf dem Höhepunkt des Konflikts gemeinsam erreichen, dass ukrainische Kollegen usbekische Flüchtlinge aufnahmen, die aus Russland nach Usbekistan abgeschoben werden sollten, wo ihnen Folter und Tod drohten. Eine wunderbare zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit unter extremsten Bedingungen! Und auf der Krim? Dort ist die Menschenrechtsarbeit kompliziert. Die ukrainischen Kollegen haben unterschiedlich auf unser Angebot reagiert, dort zu arbeiten. Denn natürlich ist es nicht falsch, wenn gesagt wird, dass wir mit einer Rechtshilfearbeit, die sich nach Lage der Dinge am russischen Recht orientiert, die Annexion ein Stück weit akzeptieren. Das kann man vielleicht als Verrat empfinden. Man kann aber den Menschen dort schlecht sagen, dass man sich mit ihren Problemen erst befassen könne, wenn der Status der Krim geklärt sei. Denn die Probleme gibt es heute. Zwar hat eine absolute Mehrheit der auf der Krim lebenden Bevölkerung inzwischen russische Pässe. Aber für eine Minderheit, die das abgelehnt hat, gilt das nicht. Sie ist jetzt im eigenen Land zu Ausländern geworden. Andere wollten russische Pässe, scheiterten aber daran, dass sie nicht auf der Krim registriert waren, was nach ukrainischem Recht ja auch nicht erforderlich war. Für die Menschen ergeben sich daraus viele Probleme. Wie helfen Sie? Wir haben jetzt Juristen vor Ort, die die Leute beraten. Wir haben das aber erst nach Absprache mit einer ukrainischen Partnerorganisation getan, die in der Ukraine seit vielen Jahren für die Rechte von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen eintritt. Wir analysieren die Fälle gemeinsam nach russischem und ukrainischem Recht. Dabei stellen wir fest, dass Reformansätze,
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INTERVIEW SWETLANA GANNUSCHKINA Swetlana Gannuschkina (74), ehemalige Mathematikdozentin, gründete 1990 zusammen mit anderen die NGO »Zivile Unter stützung«, die sich in Russland für die Rechte von Flüchtlingen und Vertriebenen einsetzt. Für die Menschenrechtsorganisation »Memorial« baute sie ein landesweites Netzwerk mit Beratungs stellen für Vertriebene und Flüchtlinge auf, das sie noch heute leitet. Swetlana Gannuschkina ist Trägerin des Amnesty-Menschenrechtspreises 2003 und wurde 2016 mit dem Alternativen Nobelpreis der »Right Livelihood Award Foundation« ausgezeichnet.
die es in der Ukraine gibt, auf der Krim zurückgedreht werden. Anwälte sprechen davon, dass die Rechtsentwicklung um zehn Jahre zurückgeworfen wurde. Die Wiedereinführung der Registrierungspflicht am tatsächlichen Wohnort ist hierfür ein Beispiel. Es gibt auch andere Rückschritte: Die Gerichte fühlen sich wieder als Teil der Staatsanwaltschaft mit besonderen Funktionen, Ansätze zur Wahrnehmung einer Kontrollfunktion gegenüber der Staatsanwaltschaft sind verschüttet. Was bedeutet der Krieg für die Organisation »Memorial«? Insgesamt sind die Diskussionen mit ukrainischen Menschenrechtlern, die ja teilweise mit uns unter dem gemeinsamen Dach von »Memorial« zusammenarbeiten, schwierig. Und auch wenn die manchmal schmerzhaften Gespräche nicht immer zu gemeinsamen Einschätzungen führen, so sind sie doch unverzichtbar. Nur darüber lässt sich ein realistisches Bild der Lage gewinnen. Und wir stehen das durch. Die ukrainischen Kollegen haben »Memorial« nicht verlassen. Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit mit westlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen angesichts des UkraineKonflikts und der Verfolgung unabhängiger russischer Nichtregierungsorganisationen? Die Zusammenarbeit mit westlichen NGOs hat eine hohe Qualität erreicht. Die Kommunikation ist technisch unkompliziert geworden. Es gibt einen regelmäßigen Austausch, Grenzen haben an Bedeutung verloren. In zwei Stunden bin ich etwa in Berlin, wo ich von Freunden empfangen werde. Wir haben international eine gemeinsame Ebene gefunden, auf der wir uns gut verstehen. Ich fühle mich wohl als Teil einer internationalen Gesellschaft Gleichgesinnter, die zusammenhält. Trennlinien verlaufen nicht mehr entlang von Grenzen. Da sind wir unseren Regierungen weit voraus. Wir haben verstanden, dass es übergreifende Probleme gibt, die uns alle betreffen und die sich nur gemeinsam im Interesse der Menschheit lösen lassen. Und so fühle ich mich frei, deutsche Migrationsregeln da zu kritisieren, wo sie sich zu Lasten von Migranten auswirken. Wir müssen unsere Zusammenarbeit verteidigen und ausbauen – ungeachtet aller Versuche von Regierungen, unsere Spielräume zu begrenzen.
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Foto: Jean Paul Guilloteau / Express-REA / laif
Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung mit dem Alternativen Nobelpreis? Die Auszeichnung ist ein wunderbares Zeichen internationaler Solidarität in einer Zeit, in der unsere Regierung dabei ist, die unabhängige Zivilgesellschaft in unserem Land zu vernichten. Sie lenkt den Blick der internationalen Öffentlichkeit auf das, was wir tun. Hier wird verstanden, dass wir uns für geflüchtete Menschen einsetzen, die dieser Hilfe dringend bedürfen. Die Auszeichnung bestärkt uns in unserer Arbeit.
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DER AMNESTY-BRIEFMARATHON: GEMEINSAM FÜR DIE MENSCHENRECHTE
Morddrohungen, Folter, unfaire Prozesse, rechtswidrige Haft – Menschenrechtsverletzungen wie diese sind traurige Realität für Eren Keskin, Ilham Tohti, Annie Alfred und die anderen Menschen, für die Amnesty International rund um den Tag der Menschenrechte am 10. Dezember den Briefmarathon startet. Bei dieser weltweiten Aktion schreiben Hunderttausende Menschen in allen Teilen der Welt innerhalb weniger Tage Millionen Briefe. Sie drücken darin ihre Solidarität mit Menschen aus, deren Rechte verletzt werden, und sie appellieren an Regierungen, die Menschenrechte zu achten. Und manchmal kann schon ein einzelner Brief positive Veränderungen bringen. Werde aktiv und schreib für Freiheit! Um den diesjährigen Amnesty-Briefmarathon zu unterstützen, hat der chinesische Künstler und politische Aktivist Ai Weiwei zwölf eindrucksvolle Portraits aus Legosteinen geschaffen. Jedes einzelne zeigt Menschen oder Gruppen, die aktuell staatlicher Willkür ausgesetzt sind und deren Menschenrechte verletzt werden. Zeig auch du, dass dir die Menschenrechte wichtig sind.
BRIEFMARATHON 2.–18. DEZEMBER 2016 SEI DABEI!
THEMEN
Drogenkrieg in den Philippinen
»Man kann nicht alle töten«
Auf dem Schlachtfeld. Polizist an einem Drogen-Tatort, Manila.
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Der philippinische Präsident Rodrigo Duterte löst sein Wahlversprechen ein und führt Krieg gegen die Drogenkriminalität in seinem Land. Mehr als 3.500 Menschen wurden bislang von Polizisten und Todesschwadronen getötet. Von Carsten Stormer (Text) und Carlo Gabuco (Fotos) In den frühen Morgenstunden des 16. September 2016 treffen in einer dunklen Seitenstraße des Stadtteils Caloocan, am äußersten Rande der philippinischen Megametropole Manila, fünf Menschen aufeinander. Noch bevor die Sonne aufgeht, liegen drei von ihnen tot auf dem Asphalt. Diese tödliche Nacht beginnt, als der Fotograf und Künstler Carlo Gabuco gegen 22 Uhr zum dritten Mal in dieser Woche zum Hauptquartier der Polizei im Stadtteil Ermita fährt. Hier treffen sich jede Nacht ein Dutzend Lokaljournalisten zur »Grabschicht«. Sie nennen sich »Nightcrawler«, sie sind Schattengewächse der Medien, die Nacht für Nacht den Polizeifunk abhören und anschließend zu Tatorten fahren. Der 35-jährige Carlo Gabuco ist ein eleganter, feinsinniger Mann, der Lederschuhe und einen Errol-Flynn-Schnauzer trägt. Seit drei Monaten kommt er regelmäßig an diesen Ort, weil er verstehen möchte, was derzeit in seinem Land geschieht, weil er den Drogenkrieg verfolgt, der den Inselstaat seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten im Juni in Atem hält und täglich Dutzende neue Opfer fordert. Gabuco dokumentiert die Opfer dieses Krieges, fährt an die Tatorte, fotografiert Menschen, die von Polizisten oder Auftragsmördern erschossen wurden, besucht Hinterbliebene und Beerdigungen. Es ist eine heiße Nacht. Die Luft klebt. Carlo Gabuco sitzt auf einer Bank vor dem Hauptquartier und raucht. »Es ist ein sonderbares Gefühl. Ich warte darauf, dass jemand stirbt, damit ich meine Arbeit machen kann. Ein guter Tag für mich bedeutet, dass ein anderer einen extrem beschissenen Tag hat. Es fällt mir schwer, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen.« Dabei hat Gabuco Dutzende Leichen in den vergangenen Wochen fotografiert. Doch noch immer bereitet es ihm Probleme, auf den Auslöser zu drücken. »Ich bin schockiert, was zurzeit in meinem Land geschieht. Hunderte Menschen werden ohne Anklage, ohne Gerichtsverfahren getötet. Ich will dokumentieren, was passiert. Den Toten mit meinen Bildern ihre Menschlichkeit, etwas Würde zurückgeben«, sagt er und lädt die Bilder der vergangenen Nacht auf seinen Laptop: Ein Toter im Hinterhof eines Hotels nahe der Bucht von Manila. Eine Leiche auf einer Müllhalde in einem Slumviertel. Erschossen von Unbekannten. Bis zwei Uhr morgens bleibt der Polizeifunk still, die ersten packen ihre Kameras ein und wünschen eine gute Nacht. Gabuco bleibt. Während der Fotograf darauf wartet, dass irgendwo in seiner Stadt ein Mensch getötet wird, bereiten sich Polizeimajor Alan Apa und seine Einheit in Caloocan auf einen Routineeinsatz vor. Soeben hat Apa den Anruf eines Polizeispitzels erhalten, dass Jerson Matunar, ein per Haftbefehl gesuchter Drogendealer, mit einem Komplizen in einer Wellblechsiedlung aufgetaucht sei. Die Polizisten schieben Magazine in ihre Waffen und legen schusssichere Westen an. Dann fahren sie los, um den Mann festzunehmen. Romeo Mandapat, ein 23-jähriger Polizeioffizier, soll den Haftbefehl an Jerson Matunar übergeben.
PHILIPPINEN
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Gegen drei Uhr morgens erreichen die Polizisten ihren Zielort, sperren mögliche Fluchtwege ab und schleichen sich mit gezogenen Waffen an Hausmauern entlang. Im Polizeibericht wird später stehen, sie hätten Jerson Matunar und dessen Komplizen am Ende einer dunklen Sackgasse gestellt. Noch bevor die Polizisten etwas sagen können, beginnen die Verdächtigen zu schießen. Eine Kugel trifft den Polizisten Romeo Mandapat in den Unterleib. Einen anderen Polizeioffizier schützt seine Weste vor drei Kugeln. Die Polizisten schießen zurück. Jerson Matunar stirbt im Kugelhagel. Sein Komplize versucht zu fliehen, kommt aber nur ein paar Meter weit. Er verblutet vor den Treppenstufen einer ärmlichen Hütte. Der verletzte Polizist wird in ein Krankenhaus gefahren. Der Funkspruch, dass es in Caloocan Tote gegeben hat, reißt Carlo Gabuco im Polizeihauptquartier in Ermita aus dem Halbschlaf. Er schnappt sich seine Kameratasche und springt in sein Auto. 25 Minuten lang rast er mit Warnblinkanlage über leere Stadtautobahnen und über rote Ampeln. »Hoffentlich erreichen wir den Tatort, bevor die Polizei ihn absperrt«, sagt er. Dann steht Gabuco vor der Leiche von Jerson Matunar. Blut sickert den Asphalt hinab und gerinnt in einer Pfütze. Eine Hand umklammert noch immer die Pistole, mit der der Drogendealer auf die Polizisten schoss. Carlo Gabuco holt tief Luft, schüttelt sich kurz. Dann stellt er Blende und Verschlusszeit an seiner Kamera ein. Zwanzig Meter von Jerson Matunars Leiche entfernt steht Polizeimajor Alan Apa im Lichtkegel einer Straßenlaterne und versucht verzweifelt, seine Kollegen im Krankenhaus anzurufen. »Hallo? Hallo?«, immer wieder reißt die Verbindung ab. Er zündet sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an, raucht sie in wenigen Zügen auf, zündet sich an der Glut der Kippe eine neue an. Dann versucht er erneut, seine Kollegen zu erreichen. Keine Antwort.
Auf der Jagd.
Als Carlo Gabuco den Polizisten sieht, hört er auf zu fotografieren, geht auf den Mann zu und fragt leise: »Sir, sind Sie in Ordnung?« Apas Schultern beben, seine Stimme überschlägt sich. »Nein, ich bin nicht okay. Einer meiner Männer kämpft um sein Leben. Es ist hart. So hart.« Mit einer Hand wischt er die Tränen fort, atmet tief durch. »Das ist das Risiko unseres Berufes. Wenn wir das Haus verlassen, stehen wir schon mit einem Bein im Grab. Ich hoffe, dass mein Mann durchkommt.« Sekun-
Tatort Slum. Mitglied einer Sondereinheit (links), überfülltes Gefängnis, Manila.
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Polizeimajor Apa erkundigt sich nach seinem verletzten Kollegen (links). Fotografen und Journalisten warten vor dem Polizeihauptquartier auf die Toten der Nacht.
den darauf klingelt sein Mobiltelefon. »Dieser Hurensohn«, schreit Apa, stützt sich an einer Hauswand ab und beginnt wieder zu weinen. Romeo Mandapat ist noch auf dem Weg ins Krankenhaus verblutet. In dieser Nacht sterben allein in Manila 22 mutmaßliche Drogendealer und ein Polizist. Die Philippinen sind seit Jahren ein Eldorado für die internationale Drogenmafia. Kriminelle überschwemmen das Land mit der Billigdroge Chrystal Meth, die in den Philippinen »Schabu«
genannt wird, ein Aufputschmittel, das Hunger, Müdigkeit und Schmerzen unterdrückt. Mehr als vier Millionen Filipinos sollen der Droge verfallen sein. Vor allem die Armen versuchen, sich mit den Billigamphetaminen ihr Schicksal schön zu rauchen. In den Slums dämmern die Verlierer des Systems vor sich hin, vom Enkelkind bis zum Großvater, und zerbrechen an ihrer Sucht. »Schabu« ist neben Armut und Korruption die größte Geißel der philippinischen Gesellschaft. Vom Drogenhandel profitieren auch Senatoren, Kongressabgeordnete, Kleinstadtbürgermeister, Polizisten und Gemeindevorsteher – korrupte Staatsdiener, die ihre Hand aufhalten und Verbrecher schützen.
Sie nennen ihn den Bestrafer Seit dem Amtsantritt des Präsidenten Rodrigo Duterte soll damit Schluss sein. Mit seiner Vision einer drogenfreien Gesellschaft gewann er erdrutschartig die Wahl. Duterte war ein Underdog aus dem vernachlässigten Süden der Philippinen, jahrzehntelang Bürgermeister der Stadt Davao auf der Probleminsel Mindanao, auf der Todesschwadronen mehr als tausend Kleinkriminelle, Straßenkinder und Dealer mit Dutertes Duldung getötet haben sollen. Ein hemdsärmeliger 70-Jähriger, der Barack Obama einen »Hurensohn« nannte, eine vergewaltigte australische Nonne verhöhnte und behauptete, eigenhändig Verbrecher erschossen zu haben. »Tötet sie alle und beendet das Problem«, befahl er den Polizisten und versprach, 100.000 Leichen in die
»Wenn wir das Haus verlassen, stehen wir schon mit einem Bein im Grab.« PHILIPPINEN
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»In was für einem Land leben wir, in dem Menschen einfach so getötet werden können?« Bucht von Manila werfen zu lassen. In dem von Machtmissbrauch und Verbrechen gebeutelten Inselstaat, in dem die Eliten sich schamlos bereichern und die Armen vom Wirtschaftswachstum so gut wie ausgeschlossen sind, kam dies gut an. Viele Filipinos verehren Duterte wie einen Messias. Sie nennen ihn: »The Punisher«. Den Bestrafer. Wie die Heldenfigur aus einem gleichnamigen Comic. Die Wahl Dutertes ist ein Denkzettel der Zornigen und Enttäuschten an die Oligarchie, die seit Jahrzehnten das Volk mit leeren Wahlversprechen belügt, sich schamlos bereichert, Steuergelder in die eigenen Taschen stopft und in einem System völliger Straflosigkeit keine Konsequenzen fürchten muss. Die derzeitigen Menschenrechtsverletzungen, die täglichen Morde, die de facto Abschaffung des Rechtsstaats werden von der Mehrzahl der 102 Millionen Filipinos nicht befürwortet, aber hingenommen. Dutertes Säuberungsaktionen sind das verzerrte Echo des Schreis nach einem Land, in dem Gerechtigkeit, Gesetze und die Verteilung des Wohlstands für alle gelten. Seit dem Befehl des Präsidenten, die Philippinen innerhalb von drei bis sechs Monaten drogenfrei zu machen, ist ein brutaler Krieg entflammt, der täglich Dutzende Opfer fordert. Die bisherige Bilanz: Mehr als 15.000 Festnahmen und 3.500 Tote seit Ende Juni. Davon wurden mehr als tausend Menschen bei AntiDrogen-Einsätzen von Polizisten getötet, die Übrigen von unbekannten Killern. Die meisten Opfer sind Kleindealer. Der Großteil von ihnen wurde in sogenannten »buy bust operations« getötet; Polizeirazzien, die nach dem immer gleichen Muster ablaufen: Zivilfahnder stürmen eine vermeintliche Drogenhöhle, und am Ende liegen mehrere Männer von Kugeln durchsiebt am Boden. Die Opfer hätten die Polizisten mit einer Waffe bedroht, erklären die Beamten jedes Mal. Als Beweis präsentiert die Polizei anschließend Fotos, auf denen die Toten mit einer Pistole abgebildet sind, daneben Tütchen mit Chrystal Meth. Im Krieg des Staates gegen die »Drogen« heißt dabei oft der erste Zug »Oplan Tokhang«, klopfen und fragen. Bei den unangemeldeten Hausbesuchen werden die Personalien vermeintlicher Konsumenten und Dealer aufgenommen und Fingerabdrücke genommen. Anschließend müssen diese eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben, dass sie den Drogen von nun an abschwören. So landen ihre Namen auf der gefürchteten Liste mit Verdächtigen. Denjenigen, bei denen geklopft wird, bleibt keine Wahl: Wer unterschreibt, gibt seine Schuld zu – wer sich weigert, macht sich verdächtig. Unschuldsvermutung, Anwalt, Polizeiuntersuchung? Fehlanzeige. Viele Verdächtige, deren Namen auf der Liste stehen, werden kurze Zeit später von Unbekannten ermordet. Aus Angst, das gleiche Schicksal zu erleiden, ergaben sich innerhalb von zwei Monaten knapp 700.000 Verdächtige mehr oder weniger freiwillig und überschwemmen nun die ohnehin schon überfüllten Gefängnisse.
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Einer, der sich nicht stellen möchte, sitzt im Zimmer eines schäbigen Motels in einem Rotlichtbezirk. Vor dem Eingang buhlen Prostituierte in kurzen Röcken um Freier. Er nennt sich Juan, seinen richtigen Namen möchte er nicht nennen. Juan ist dürr, klein. Ein 32-Jähriger im Körper eines alten Mannes. Er trägt Baseballkappe und einen Kapuzenpullover, in dem er zu versinken scheint. Seine Füße stecken in Plastikschlappen. Vor zehn Jahren kam er von der Insel Cebu in die philippinische Hauptstadt. Ein Landflüchtiger, wie so viele, ohne Schulausbildung, ohne berufliche Qualifikation, aber mit jeder Menge Hoffnung im Gepäck. Einen Job fand er nicht, also begann er zu dealen. Die Nachfrage war groß, das Risiko gering, das Geld leicht verdient. Das Leben meinte es gut mit ihm, dachte Juan.
Die Drogen der Armen Inzwischen mache er sich große Sorgen, erzählt er, drei Kollegen wurden in den vergangenen Wochen erschossen. Von wem, das könne er nicht sagen. »Ich habe Angst zu sterben. Ich sehe die Bilder von getöteten Dealern im Fernsehen«, sagt er; aber was bleibe ihm schon übrig. Mit dem Verkauf von Chrystal Meth ernährt er seine Frau und fünf Kinder. Wenn es gut läuft, könne er so 500 bis 1.000 Pesos in drei Tagen verdienen, zehn bis zwanzig Euro. Wenn es schlecht läuft, verliert er sein Leben. Um seine Angst zu bekämpfen, raucht er manchmal ein bisschen was von dem Meth, das er verkaufen will. Denn seit dem Befehl von Präsident Duterte sei es nicht nur gefährlicher, sondern vor allem schwieriger geworden, Drogen zu verkaufen. »Ich bin vorsichtiger geworden. Die Käufer auch. Und die Drogen teurer. Jeder hat Angst, verraten zu werden oder in eine Polizeirazzia zu geraten.« Deshalb verkaufe er nur noch an Stammkunden. Doch das reiche inzwischen kaum noch, um die Familie über Wasser zu halten. »Manchmal gehen meine Kinder nicht zur Schule, weil sie arbeiten müssen.« Deshalb werde er weiter
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dealen und darauf hoffen, nicht getötet zu werden. Dann verabschiedet sich Juan, er müsse noch Geld verdienen, zieht die Baseballkappe ins Gesicht und verschwindet in der Nacht. Derweil geht die Jagd auf Menschen wie Juan weiter. Nicht nur Polizisten gehen gegen mutmaßliche Drogendealer, Konsumenten und Abhängige vor. 1.507 Menschen wurden seit Ende Juni von unbekannten Killerkommandos hingerichtet. Mörder auf Motorrädern fahren an ihr Opfer heran und erschießen es, anschließend verschwinden sie im Verkehrschaos. »Angels of Death«, Todesengel, hat die philippinische Presse diese Todesschwadronen getauft. Andere Killerkommandos entführen ihre Opfer, töten sie, wickeln die Köpfe der Toten in Mülltüten, fesseln ihnen die Hände mit Klebebändern auf den Rücken und hängen ihnen ein Pappschild um den Hals. Darauf steht: »Ich bin ein Drogendealer. Ahmt mich nicht nach.« Anschließend entsorgen sie die Leichen in dunklen Straßen wie Müll. Auch Prolly Bolo stand auf einer Todesliste . Am Nachmittag des 7. September saß der 42-jährige Gemeindevorsteher gemeinsam mit seiner Frau Jerilyn und fünf Freunden in einer Straßenbar in Manilas Stadtteil Caloocan. Sie tranken Bier, rissen Witze. Kurz darauf lag Prolly tot auf dem Boden, erschossen von Todesschwadronen. Eine Überwachungskamera hat die letzten Minuten seines Lebens aufgezeichnet. Auf dem Video ist zu sehen, wie um 15 Uhr 7 ein Polizeiwagen vor der Bar hält. Bolo, ein schwerer Mann in Shorts und T-Shirt geht zu dem Wagen und unterhält sich dreißig Sekunden mit den Polizisten. Als der Wagen davonfährt, salutiert er zum Abschied. Sieben Minuten später steigen vier Männer von zwei Motorrädern ab. Sie tragen Helme und trotz der Hitze Windjacken. Sie laufen auf die Trinkrunde zu, ziehen Pistolen aus ihren Jacken. Dann erschießen sie Bolo vor den Augen seiner Frau und seiner Freunde, springen auf ihre Mopeds und verschwinden im dichten Autoverkehr. Der Mord dauerte nicht länger als zehn Sekunden.
Vier Tage später sitzt Jerilyn Bolo am Sarg ihres Mannes und fragt sich, wer ihn getötet hat. Das National Bureau of Investigation (NBI), die philippinische Variante des Bundeskriminalamtes, vermute, dass ihr Mann auf der Abschussliste eines Drogenkartells stand, erzählt Jerilyn Bolo. »Mein Mann hat nichts mit Drogen zu tun gehabt«, beteuert die Witwe. Aber er habe dazu beigetragen, in seinem Viertel aufzuräumen, half mit, Dealer zu verhaften und schwärzte Konsumenten bei der Polizei an. Das, so glaubt sie, wurde ihm zum Verhängnis. »Ich habe Angst, dass die Männer, die meinen Mann getötet haben, zurückkommen.« Als der beliebte Gemeindevorsteher an einem drückend heißen Sonntag beerdigt wird, folgen Hunderte Menschen seinem Sarg. Sie tragen T-Shirts, auf denen sie Gerechtigkeit für Prolly Bolo fordern. Während der Beerdigung entlädt sich der Zorn der Trauernden. Bolo war der Vierte aus der Nachbarschaft, der von Todesschwadronen ermordet wurde. In der Nacht zuvor wurde ein Gemeindemitarbeiter entführt. »Wir fühlen uns nicht mehr sicher«, schreit eine Frau. »Die Polizei tut nichts, um uns zu beschützen. In was für einem Land leben wir, in dem Menschen einfach so getötet und entführt werden können?« Auch der Fotograf Garlo Gabuco ist vor Ort, um die Beerdigung zu dokumentieren. Die Nacht wird er wieder damit verbringen, Tote in den Straßen Manilas zu fotografieren. Noch am gleichen Tag verkündet Präsident Rodrigo Duterte auf einer Pressekonferenz in seiner Heimatstadt Davao, dass er seinen Krieg gegen die Drogen um sechs Monate verlängern werde. Das einzige Problem, sagt er: »Ich kann nicht alle töten.« Der Autor ist Auslandskorrespondent und lebt in Manila. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
Szenen einer Beerdigung. Jerilyn Bolo (links) auf der Beisetzung ihres ermordeten Mannes, des Gemeindevorstehers Prolly Bolo.
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Was übrig blieb. Die überwiegend von Kurden bewohnte südtürkische Stadt Cizre nach dem Einsatz des türkischen Militärs. März 2016.
»Es herrscht ein Klima der Angst« Die türkische Regierung geht weiterhin massiv gegen oppositionelle Stimmen im Land vor. Im Visier der Behörden stehen vor allem kritische Medien und die kurdische Bevölkerung. Ein Gespräch mit Andrew Gardner, Türkei-Researcher von Amnesty International. Interview: Ralf Rebmann
schaftlichen Bereichen wurden vorübergehend von ihrem Job suspendiert oder direkt entlassen. Andere müssen sich vor willkürlichen Festnahmen fürchten. Dies sind alles Gründe, die Menschen dazu bringen, das Land zu verlassen oder sogar Asyl zu suchen. Mit der massiven Fluchtbewegung, die nach dem Militärputsch im Jahr 1980 ausgelöst wurde, lässt sich die Situation jedoch nicht vergleichen.
Im November hat das Auswärtige Amt darauf hingewiesen, dass türkische Regierungskritiker auf Asyl in Deutschland hoffen können. Hat die Zahl derjenigen, die vor den Repressionen der türkischen Behörden fliehen, zugenommen? Angesichts der derzeitigen Situation erstaunt es nicht, dass viele über eine solche Entscheidung nachdenken. Aus den kurdischen Gebieten der Türkei haben bereits vor dem Putschversuch, im Zuge der Militäroperationen, einige Menschen das Land verlassen. Nach dem Putschversuch hat sich die Situation weiter zugespitzt. Etliche Personen aus verschiedenen gesell-
Wie reagieren die Menschen auf die zunehmende Repression? Sie haben Angst, sich kritisch zu äußern. Auch in den sozialen Netzwerken sind viele vorsichtig geworden, weil sie befürchten, durch bestimmte Aussagen in das Visier der Behörden zu geraten. Demonstrationen sind in der ganzen Türkei untersagt. Und wenn doch eine Demonstration organisiert wird, finden sich nur wenige Menschen, die das Risiko auf sich nehmen, auf die Straße zu gehen. Es ist keine Übertreibung, von einem Klima der Angst in der Türkei zu sprechen. Das betrifft nicht nur Journalistinnen und Journalisten, sondern auch die ganz normale Bevölkerung.
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Wie ist die Lage der kurdischen Bevölkerung im Südosten? Es ist ein Desaster. Anfang 2015 herrschte dort noch relativer Frieden. Die allgemeine Situation im Südosten war vergleichsweise entspannt, kurdische Medien konnten frei berichten. Heute sind wir in einer Situation, die an die schlimmsten Zeiten der neunziger Jahre erinnert: Ganze Städte und Stadtteile sind nach den Militäroperationen vor einem Jahr verwüstet, wie zum Beispiel Yüksekova, Şırnak oder Cizre. Die Behörden gingen mit massiver und unverhältnismäßiger Gewalt gegen die Bevölkerung vor, dabei wurden auch viele Unbeteiligte getötet. Etwa eine halbe Million Menschen wurden durch die Kämpfe aus ihren Städten vertrieben. Die türkische Regierung hat bisher nichts getan, um ihnen zu helfen oder sie zu versorgen. Wer ist für diese unverhältnismäßige Gewalt verantwortlich? Die sogenannten Anti-Terror-Operationen wurden von der türkischen Armee mit Unterstützung der Polizei, Militärpolizei und Spezialkräften durchgeführt. Trotz der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, die begangen wurden, überwiegt bis heute die Straflosigkeit. Diese mutmaßlichen Verbrechen müssen von der türkischen Justiz untersucht werden. Doch was wir bisher gesehen haben, ist ernüchternd: Die Staatsanwälte ließen nicht einmal die grundlegendsten Untersuchungen am Tatort durchführen. Es wurden keine Zeugen befragt oder Aussagen von Angehörigen der Opfer aufgenommen. Unter diesen Umständen ist keine Aufklärung möglich. Inwiefern ist die PKK für die Eskalation des Konflikts verantwortlich? Beide Seiten, sowohl die PKK als auch die türkischen Behörden, haben dazu beigetragen, dass der Konflikt eskaliert ist. Vor allem die Verlagerung der Auseinandersetzungen in die Städte und Stadtzentren hat dazu geführt, dass Unbeteiligte zu Schaden kamen. Der türkische Staat hat willkürlich Gewalt angewandt und Menschenrechtsverletzungen in Kauf genommen. Die PKK hat ihrerseits durch Anschläge auf Polizei und Militär zu dieser Entwicklung beigetragen. Die Leidtragenden sind unbeteiligte Bürgerinnen und Bürger. Hat die EU überhaupt noch Einfluss, um zu einer Verbesserung der Menschenrechtssituation beizutragen? Die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben einen deutlichen Einfluss auf die Türkei – sie haben sich aber entschieden, ihn nicht zu nutzen. Stattdessen sorgen sie sich darum, wie die Migration nach Europa eingedämmt werden kann. Der aktuelle
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»Die EU hat deutlichen Einfluss auf die Türkei. Sie hat aber entschieden, ihn nicht zu nutzen.« Fortschrittsbericht der EU-Kommission ist kritisch, er muss es aufgrund der aktuellen Situation auch sein, aber in manchen Punkten wird die Realität nicht wirklich erfasst. So konstatiert er zum Beispiel »Rückschläge« im Bereich der Unabhängigkeit der Justiz. Tatsache ist jedoch, dass mehr als ein Fünftel der Richter und Staatsanwälte entlassen oder sogar inhaftiert wurden. Auch beim Thema Folter ist der Bericht sehr zurückhaltend. So wurden Schutzvorkehrungen gegen Folter systematisch abgeschafft. Dazu gehören etwa die Verlängerung der Untersuchungshaft auf 30 Tage ohne Anklage oder die Verweigerung eines Rechtsbeistandes in Haft. Dies wird in dem Bericht nicht deutlich genug erwähnt. Der türkische Präsident könnte durch die Einführung eines Präsidialsystems seine Macht noch weiter ausbauen. Welche Konsequenzen hätte das für die Menschenrechtslage? De facto ist Recep Tayyip Erdoğan bereits jetzt der handelnde Präsident. Leider ist er auch derjenige, der eine unnachgiebige Haltung zeigt und bestimmte Themen, wie die Wiedereinführung der Todesstrafe oder verschärfte Anti-Terror-Maßnahmen auf die Agenda bringt. Angesichts der derzeitigen Machtverteilung, charakterisiert durch ein schwaches Parlament und den anhaltenden Ausnahmezustand, scheint die Einführung eines solchen Systems nicht unwahrscheinlich. Ist die Wiedereinführung der Todesstrafe zu befürchten? Im Moment sehe ich dafür keine echte Möglichkeit. Die Abschaffung der Todesstrafe im Jahr 2004 ist eine der bedeutendsten Verbesserungen des Menschenrechtsschutzes in der Türkei. Die Wiedereinführung hätte zur Folge, dass sowohl die Mitgliedschaft der Türkei im Europarat als auch die EU-Beitrittsgespräche suspendiert würden. Ich glaube auch nicht, dass die Mehrheit der türkischen Bevölkerung sich die Todesstrafe zurückwünscht. Es wird jedoch darüber geredet. Und dies ist äußerst schädlich für das gesellschaftliche Klima.
INTERVIEW ANDREW GARDNER Foto: Ralf Rebmann
Foto: Emrah Gurel / AP / pa
Gibt es überhaupt noch unabhängige Medien? Was die Schließung von kritischen Medien betrifft, sind wir gewissermaßen am Ende angelangt: Es gibt keine Zeitungen, Radio- oder TV-Sender mehr, die sich offen äußern, ohne Selbstzensur zu üben. Mehr als 160 Medien wurden mittlerweile geschlossen, 112 Journalistinnen und Journalisten sind seit dem Putschversuch inhaftiert. Dieser Feldzug gegen die Presse ist beispiellos. Vor allem im Südosten der Türkei mussten viele lokale Medien schließen – etwa die kurdischen Zeitungen »Azadiya Wela«, »Gündem« oder die Nachrichtenagentur »Dicle News Agency«. Im Mai 2016 besuchte ich zusammen mit Salil Shetty, dem Internationalen Generalsekretär von Amnesty, die kurdischen Gebiete, um mit Betroffenen der Militäroperationen und der Ausgangssperre zu sprechen. Von den Medien, die uns damals interviewten, existiert heute nur noch ein einziges.
Andrew Gardner arbeitet seit 2007 als Türkei-Experte im Internationalen Sekretariat von Amnesty International in London. Er beobachtet derzeit die Menschenrechtslage in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch. Gardner hat einen Master in Human Rights Law. Bevor er für Amnesty arbeitete, war er für NGOs in der Türkei und in anderen Ländern tätig.
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Seit dem verhinderten Putsch befördert Erdog˘an eine Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei. Von Jürgen Gottschlich Bereits in der Nacht des Putschversuches am 15. Juli, als eine aufgewühlte Menge den türkischen Präsidenten Erdoğan am Flughafen in Istanbul in Empfang nahm, wurden erstmals Rufe nach der Todesstrafe laut. »Wir wollen die Todesstrafe, wir wollen die Todesstrafe für Putschisten«, riefen plötzlich immer mehr Menschen. Wer eigentlich damit angefangen hatte, ob es wirklich Menschen aus »dem Volk« waren oder Claqueure aus den Reihen der Zivilpolizei, ist bis heute unklar. Klar ist jedoch, dass Erdoğan diese Rufe dankbar aufnahm und weiter befeuerte, indem er versprach, er werde sich dem Willen des Volkes nicht verschließen. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die Kampagne für die Wiedereinführung der Todesstrafe dann wenige Tage später. Bei einem Großdemonstrationszug zum Privathaus Erdoğans in Istanbul, der von der Regierungspartei AKP organisiert worden war, um dem Präsidenten für sein »heroisches Verhalten« in der Putschnacht zu danken, wurde immer wieder der Ruf nach der Todesstrafe laut. Anheizer gaben wie im Fußballstadion die Parole vor und die Menge machte mit. An diesem Abend, dem 18. Juli, drei Tage nach dem abgewehrten Putsch, wurde Erdoğan noch konkreter. In seiner Rede knüpfte er ausgerechnet an den perfiden Satz des Putschführers von 1980, General Kenan Evren, an. Dieser hatte damals Kritikern der Todesstrafe geantwortet: »Soll ich die Verbrecher etwa auch noch durchfüttern?« Erdoğan versprach der Menge, »wenn das Parlament die Wiedereinführung der Todesstrafe beschließen sollte, werde ich dem Gesetz sofort zustimmen«. Mittlerweile sind fast fünf Monate vergangen. Zwischenzeitlich war der Ruf nach der Todesstrafe etwas leiser geworden, doch Anfang November, im Zusammenhang mit der Diskussion um eine neue Verfassung, war die Todesstrafe plötzlich wieder in aller Munde. Hatten noch Ende August prominente Europapolitiker wie Elmar Brok (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen
Im kommenden Frühjahr soll eine Volksabstimmung über eine Präsidialverfassung mitsamt Todesstrafe entscheiden. 44
Ausschusses des Europaparlamentes, die Hoffnung geäußert, das Ganze sei wohl nur ein Propagandacoup Erdoğans gewesen, sieht es heute schon wieder ganz anders aus. Brok und andere hochrangige Europapolitiker hatten gehofft, dass die in seltener Einmütigkeit erfolgte Klarstellung der EU, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei die Beitrittsverhandlungen zur EU automatisch beenden würde, Wirkung zeigen würde. Doch es kam anders. Nach letzten Meldungen aus Ankara könnte die Wiedereinführung der Todesstrafe sogar die Basis für die Verabschiedung einer neuen Präsidialverfassung nach Erdoğans Vorstellungen werden. Die Todesstrafe wurde im Jahr 2004 nach einem fast einhelligen Votum des türkischen Parlaments aus der Verfassung gestrichen. Schon 2001 war sie in den Strafgesetzen abgeschafft worden. Das hatte damals auch mit der EU zu tun. Zwar war die Todesstrafe seit 1984 nicht mehr vollstreckt worden – nach einem starken Anstieg von Hinrichtungen im Anschluss an den Militärputsch 1980 – doch nach der Verhaftung des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Februar 1999 und seiner Verurteilung zum Tode im Sommer desselben Jahres gab es viele Türken, die Öcalan hängen sehen wollten. Ende 1999 hatte die EU auf einem Gipfel in Helsinki jedoch die Türkei erstmals offiziell zum Beitrittskandidaten erklärt. Erste Voraussetzung, um Beitrittsgespräche ins Auge zu fassen, war die Abschaffung der Todesstrafe. In der damaligen Regierung, einer Koalition der Sozialdemokraten unter Führung von Ministerpräsident Bülent Ecevit mit der konservativen ANAP und der ultrarechten MHP, gab es daraufhin heftige Debatten. Trotz massiven Widerstands in der MHP wurde die Strafe Öcalans letztlich in eine lebenslange, erschwerte Haft umgewandelt und die Todesstrafe 2001 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Diese damalige Niederlage will der Vorsitzende der ultrarechten MHP, Devlet Bahçeli, nun revidieren. Nach Gesprächen zwischen Bahçeli und Präsident Erdoğan Ende Oktober deutet sich ein verhängnisvoller Deal im türkischen Parlament an. Unter der Voraussetzung, dass im Entwurf für die von Erdoğan gewünschte Präsidialverfassung die Todesstrafe wieder verankert wird, würde die MHP der Verfassung zustimmen, sagte Bahçeli. Von den vier im Parlament vertretenen Parteien haben zwei, die sozialdemokratisch-kemalistische CHP und die kurdisch-linke HDP, von Beginn an erklärt, das eine Wiedereinführung der Todesstrafe mit ihnen nicht zu machen sei. Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu hatte das zuletzt Anfang Oktober noch einmal bekräftigt. Doch nach der Verhaftung der gesamten HDPFührung hat die Partei Anfang November erklärt, sich aus der parlamentarischen Arbeit zurückzuziehen. Weil die CHP auf einem kleinen Parteitag massiv gegen die Verhaftungen der HDPFührung protestierte und Erdoğan beschuldigte, einen »Zivilen Putsch« durchzuführen, hat Erdoğan die gesamte CHP-Fraktion wegen Beleidigung des Staatspräsidenten verklagt. Damit
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Foto: Nicole Tung / The New York Times / Redux / laif
Das Spiel mit dem Tod
Höhepunkt der Todesstrafen-Kampagne. »Ich will die Todesstrafe!«, skandieren Erdoğan-Anhänger in Ankara, 18. Juli 2016.
scheint das parlamentarische Aus der CHP auch nicht mehr weit. Die AKP will noch in diesem Jahr den Entwurf ihrer Präsidialverfassung ins Parlament einbringen und es könnte sein, dass dann nur noch ein Rumpfparlament darüber entscheidet. Im kommenden Frühjahr soll eine Volksabstimmung über eine Präsidialverfassung mitsamt Todesstrafe entscheiden. Präsident Recep Tayyip Erdoğan persönlich hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er die Wiedereinführung der Todesstrafe befürwortet. Immer wieder bei großen öffentlichen Auftritten wie in Gaziantep im August, nach einem Attentat auf eine kurdische Hochzeit, bei dem 54 Menschen ermordet wurden, machte er unmissverständlich deutlich, dass er sich diesen staatlich angeordneten Mord zurückwünsche. Das kann immer noch Propaganda sein, ein Ventil in der aufgeheizten Stimmung nach Putschversuch, Terroranschlägen und neuerdings noch direkter Kriegsbeteiligung in Syrien. Erdoğan kann es aber durchaus auch ernst meinen. Überall außerhalb Europas, sagte er, in den USA, in China, in Russland, werde die Todesstrafe praktiziert. »Will die EU all diese Länder verurteilen?« In der türkischen Bevölkerung ist die EU aufgrund ihrer
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immer größeren Ablehnung der Türkei sowieso mittlerweile so unbeliebt, dass ein Ende der Beitrittsverhandlungen eher Beifall als Kritik auslösen würde. Und die Kluft zwischen der Türkei und der EU nach dem Putschversuch und der anschließenden Repressions- und Säuberungswelle wird täglich größer. Daher ist die Drohung mit dem Ende des Beitrittsprozesses eine recht stumpfe Waffe. Im Kabinett wird nun vor allem darüber diskutiert, ob die Todesstrafe auch für verurteilte Putschisten und den inhaftierten PKK-Chef Öcalan rückwirkend gelten könnte. Die Hardliner argumentieren, der Putschversuch sei ja immer noch nicht abgeschlossen, weshalb es keine rückwirkende Verurteilung wäre, und wenn man Öcalan nachweisen könnte, dass er aus dem Gefängnis heraus Befehle an die PKK gegeben habe, sei auch für ihn ein Todesurteil möglich. Auch wenn die Türkei sich damit immer weiter aus der demokratischen, zivilisierten Staatengemeinschaft entfernen würde – es ist nicht ausgeschlossen, dass die Mehrheit der türkischen Bevölkerung für eine neue Verfassung inklusive Todesstrafe stimmen wird. Der Autor ist Auslandskorrespondent und lebt in Istanbul.
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Was ist schon eine Revolution
Wollen Veränderung. »Lucha«-Aktivisten bei einem Treffen in Kinshasa.
In der Demokratischen Republik Kongo wecken die jungen Aktivisten der »Lucha«-Bewegung Hoffnung auf politische Veränderung. Aber wie lehnt man sich auf gegen einen Staat, der nur auf dem Papier funktioniert? Von Lea Frehse Im berüchtigten Gefängnis eines berüchtigten Staates auf einem berüchtigten Kontinent sitzen zwei Revolutionäre auf Pritschen mit dünnen Matratzen und schwärmen vom Erhalt der Ordnung. »Der Präsident muss gehen«, sagt Yves. »Wir wollen einen starken Staat«, sagt Fred. An die Stahltür ihrer Zelle hat jemand mit schwarzer Farbe die Nummer 18 gepinselt. Die Tür steht offen. Bis vor 18 Monaten war Fred Bauma, 26, Jura-Student im zehnten Semester. Yves Makwambala, 32, Webdesigner, setzte sich noch bis vor einigen Jahren weg, wenn Freunde begannen, über Politik zu diskutieren. Dann trafen sie sich in Kinshasa
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beim Workshop einer Demokratie-Plattform, an dessen Ende beide von Spezialeinheiten der Geheimdienste abgeführt wurden. Das Staatsfernsehen zeigte ihr Bild in den Nachrichten, der Innenminister nannte sie »Terroristen« und die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch »politische Gefangene«. #freeFred und #freeYves wurden Hashtags auf Twitter. Fred und Yves säßen nicht hier, wenn ihre Regierung sie nicht fürchtete. Sie säßen nicht in Zelle 18, Block 1, verkörperten sie nicht eine Hoffnung. Die Hoffnung auf eine Jugend, mit der einmal alles anders wird. Der Weg zu den beiden Gefangenen führt durch knietiefe Schlaglöcher, vorbei an niedrigen Häusern aus Wellblech und billigem Beton bis an eine Mauer mit Stacheldraht, hinter der sich Makala befindet – das Zentralgefängnis von Kinshasa und das größte Gefängnis der Demokratischen Republik Kongo. Hier sitzen verurteilte Kriminelle neben so manchem, der festgenommen wurde, aber nie einen Anwalt gesehen hat. Und hier
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Foto: Eduardo Soteras Jalil
»Der Präsident muss gehen«, sagt Yves. »Wir wollen einen starken Staat«, sagt Fred.
sitzen diejenigen, in denen die politische Führung des Landes Angreifer sieht. Es sind mehr geworden in jüngster Zeit, denn die Regierung hat Anlass zur Nervosität. Im Dezember 2016 läuft die zweite Amtszeit von Präsident Joseph Kabila aus, es müsste Wahlen geben. Laut Verfassung dürfte Kabila dann nicht mehr antreten. Die Wahlen hat die Regierung bislang schlicht nicht organisiert. Mitte November hat Kabila die Bildung einer Einheitsregierung vorgeschlagen. Die Opposition lehnt dies jedoch ab. Eigentlich ist Makala der Name des staubigen Stadtteils, in dem das Gefängnis liegt. Doch die meisten Kongolesen schaudert es, wenn nur das Wort fällt. Makala steht für Anarchie und Elend. Makala klingt nach Jenseits. Dabei kann, wer sich davon nicht abschrecken lässt, Makala besuchen. Und dabei feststellen, dass das Jenseits und das Diesseits einander verblüffend ähnlich sehen. Zwischen Diesseits und Jenseits liegen drei Tore. Am ersten, einer unscheinbaren
DR KONGO
Tür in der Gefängnismauer, hält ein Polizist die Hand auf: »Wir haben Hunger«, sagt er. Er nimmt 1.000 Kongolesische Franc, umgerechnet etwa ein Euro, dann gibt er den Weg frei. Neben dem zweiten Tor, im Schatten eines Baumes, sitzt der Gefängnisdirektor und wacht über Frauen und Männer in Häftlingsuniform, die geschäftig die Taschen der Besucher durchwühlen. In der Schlange warten vor allem Frauen, in ihren Beuteln und Körben haben sie Essen für ihre Angehörigen. Nach der Kontrolle ist in jeder Tasche etwas weniger davon übrig. »Steuern«, sagen sie hier. Vor dem dritten Tor wachen nur noch junge Männer in den blau-gelben Leibchen der Häftlinge. Sie wollen 500 Franc. Dann ist man drinnen. Makala, sagen Menschenrechtler, sei wie ein Staat im Staate. Drinnen haben die kongolesischen Behörden nichts zu sagen, sämtliche Angelegenheiten regelt eine Hierarchie von Gefangenen. An der Spitze der Pyramide stehen die Stärksten, oft sind es inhaftierte Militärs. Sie teilen die Gefangenen in Zellen ein, verwalten die Lebensmittelrationen, können Häftlinge belohnen und bestrafen. Den Sockel der Pyramide bilden die Mittellosen. Es regiert das Geld. Wer keines hat, der teilt seine Zelle in Block 3 oder 5 oder 7 mit bis zu 150 Mitgefangenen. Er kauert sich mit angewinkelten Beinen auf den Boden aus nacktem Beton und legt zum Schlafen seinen Kopf auf den Rücken des Vordermanns, der in der gleichen Haltung hockt. Er isst Reisklumpen, die in einer Plastikwanne neben der Gittertür liegen. Vielleicht wird er nach einigen Monaten krank oder stirbt, vielleicht findet er Arbeit – Latrinenschaufeln zum Beispiel oder Wäsche waschen für andere Häftlinge. Dann kann er sich besseres Essen kaufen und einen Platz in einer Zelle mit weniger Menschen, vielleicht sogar mit einem Bett. Wer zahlen kann, der mietet sich eine Zelle in Block 1 oder 8, bis zu zehn Quadratmeter, mit Vollpension. Er kann einen anderen Gefangenen dafür entlohnen, seine Zelle sauber zu halten und seine Mahlzeiten zuzubereiten. Man kann das Ausbeutung nennen oder Umverteilung, es läuft halt so. »Wir haben auch einen Sklaven«, sagt Fred. Er lacht müde. Rund 370 Euro zahlen die Familien von Fred und Yves pro Kopf für die zwei Betten auf sieben Quadratmetern in Block 1 und für Marcel, der putzt und kocht. Das ist etwa viermal so viel, wie ein Lehrer in Kinshasa im Monat verdient. Marcel ist so alt wie Fred, seit drei Jahren ist er hier, angeblich ein kleiner Diebstahl, ein Verfahren hatte er nie. Fred, der Jurist, hat seine Akte durchgesehen und erreicht, dass Marcel einen Termin vor Gericht bekommt. Marcel ist von ihnen abhängig, Fred und Yves wissen das, doch ohne ihren Lohn wäre er mittellos. Wenn Gesetze nichts gelten und jeder irgendwie durchkommen muss, sind alle Teil des Systems.
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Kampf für Veränderung
März 2015: Auf Initiative von »Lucha« sprachen in der Hauptstadt Kinshasa Aktivisten aus Senegal und Burkina Faso, die in ihren Heimatländern mit Protesten die Regierungschefs dazu gezwungen hatten, ihre Ämter verfassungsgemäß aufzugeben. Der Vortrag endete mit mehr als 30 Festnahmen, darunter denen von Fred und Yves. Man kann sagen: Erst die Repression hat »Lucha« bekannt gemacht, auch international. Die Staatsanwaltschaft warf Fred und Yves »Planung terroristischer Aktivitäten« vor, beide wurden bisher nicht verurteilt, das Verfahren läuft. Amnesty International verfolgt ihren Fall und an Verhandlungstagen schicken Botschaften der EU und der USA Beobachter in den Gerichtssaal von Makala. Es ist, als hätten diese jungen Idealisten mit ihrer Behauptung, man könne die kongolesische Gesellschaft zum Besseren verändern, internationale Beobachter daran erinnert, dass auch in diesem Land, in dieser Weltregion nicht alles immer schlecht bleiben muss. Schließlich gab es gute Pläne. Joseph Kabila, den sie im Land nur »Kabila, den Sohn« nennen, weil er die Macht 2001 von seinem ermordeten Vater übernommen hatte, unterzeichnete 2005 eine neue, demokratische Verfassung und setzte so einen Schlussstrich unter den Krieg. 2006 und 2011 ging er als Sieger aus Wahlen hervor, die Beobachter als frei einstuften, und nun, 2016, im Jahr 56 der Unabhängigkeit von Belgien, sollte das Land zum ersten Mal in seiner Geschichte einen friedlichen Machtwechsel erleben. Doch Kabila will nicht gehen. Er hat sich vom Verfassungsgericht bestätigen lassen, dass er im Amt bleibt, solange kein neuer Präsident gewählt worden ist. Die Oppositionsparteien hat er eingeladen, sich an einem »Nationalen Dialog« zu beteiligen,
Foto: Federico Scoppa / AFP / Getty Images
Fred und Yves gehören zu einer Gruppe, die sich »Lucha« nennt, entstanden 2012 in der Stadt Goma im Osten des Landes, wo sich eine Handvoll junger Menschen zusammentaten, um in ihrer Nachbarschaft soziale Projekte anzustoßen und Politiker an ihre Pflichten zu erinnern. Einige brachten Frauen auf dem Land das Lesen und Schreiben bei, andere organisierten Demonstrationen für eine bessere Wasserversorgung. Sie waren mit dem Krieg aufgewachsen, der im Osten des Landes zwischen 1996 und 2008 etwa 5,4 Millionen Menschenleben kostete und der in der Region bis heute immer wieder aufflammt. In ihrer Jugend hatten sie aber auch erlebt, wie Dutzende internationaler Hilfsorganisationen Projekte umsetzten und eine Ahnung von der weiten Welt in den abgelegenen Landstrich brachten. Die Gruppe funktioniert als basisdemokratisches Kollektiv und gemeinsam entschieden sie sich für den Namen »Lucha«, die Abkürzung für »lutte pour le changement«, was in Kongos Amtssprache Französisch »Kampf für Veränderung« heißt. Auf Spanisch heißt »Lucha« Kampf, was nach Leidenschaft klingt »und nach Che Guevara, der schließlich auch einige Monate in dem Land verbracht hat«, sagt Yves. »Lucha« hat keine Mitglieder, sondern Aktivisten, und eine Satzung, deren Prinzipien im Wesentlichen soziale Arbeit für eine gerechtere Gesellschaft und die Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit umfassen. In einem Punkt ist »Lucha« strikt: »Wer in einer Partei aktiv ist, kann nicht gleichzeitig bei uns sein«, erklärt Fred. »Unabhängigkeit ist unser höchstes Gut.« Inzwischen umfasst »Lucha« ein Netzwerk von einigen Hundert Aktiven und hat 17.400 Follower bei Twitter. Außerhalb der Ostprovinzen kennt man »Lucha« vor allem seit jenem Tag im
Will, dass Regeln für alle gelten. »Lucha«-Aktivist Fred Bauma kurz vor seiner Festnahme.
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um den Frieden zu wahren. Wann und in welchem Rahmen dort über was gesprochen werden soll, wurde nicht bekanntgegeben. Am Ende, meinen Beobachter, könnte Kabila seine Kritiker mit Posten und Geld ruhigstellen, eine Praxis, wie sie unter Kongos Langzeitherrscher Mobutu üblich war. Ein Politikwissenschaftler der Universität von Kinshasa bezeichnet dies als »kongolesisches Elitenkarussell«. Kabilas Parteistrategen sprechen lieber von »glissement«, Übergang. Das soll sich sanft anhören und nach vorübergehend, doch Kritiker denken dabei eher an eine weitere Bedeutung des Wortes, nämlich schlittern. Laut Verfassung endet Kabilas Mandat im Dezember, drei Monate vorher hätte gewählt werden müssen. In diesen Wochen, fürchten hier viele, schlittert das Land auf einen neuen Abgrund zu. Am 19. September, dem verfassungsgemäß letztmöglichen Wahltermin, gingen im ganzen Land bereits Zehntausende auf die Straßen. Allein in der Hauptstadt Kinshasa wurden bei Protesten mindestens 50 Menschen getötet, viele von ihnen durch Kugeln der Polizei. Kabilas Bilanz ist verheerend. Zwar wuchs die Wirtschaft bis 2015 jährlich um rund sieben Prozent und die Inflation sank. Doch bei der Bevölkerung kam vom Aufschwung kaum etwas an. 2015 lebten nach Zahlen der Vereinten Nationen etwa 72 der 80 Millionen Kongolesen von weniger als 1,25 US-Dollar am Tag. 40 Prozent der Erwachsenen konnten nicht lesen und schreiben. Auf dem Index für menschliche Entwicklung, den das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen veröffentlicht, belegte der Kongo Platz 176 von 188. Dann brachen Ende 2015 die Rohstoffpreise auf den Weltmärkten ein. Die Regierung musste den Haushalt für 2016 um ein Drittel kürzen. Und die Mehrheit der Bevölkerung geriet noch tiefer in die Armut: Ein Sack Maniokmehl kostet heute doppelt so viel wie vor einem Jahr. Der Kongolesische Franc verlor in der ersten Jahreshälfte 2016 elf Prozent an Wert. Experten schätzen die Arbeitslosenquote auf mindestens 60 Prozent. Und die Perspektivlosigkeit trifft vor allem Jugendliche: Zwei Drittel der Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre. Man könnte meinen, die Zeit sei reif für eine Revolution. Aber so einfach ist das nicht.
Angst vor freiem Denken Tchangu, Kinshasa. Das Viertel trägt den Beinamen »Rote Zone«, Unruhen beginnen meist hier. In Seitenstraßen aus dreckigem Sand verkaufen junge Männer Handyguthaben oder Taschentücher und mustern Passanten ausdruckslos. »Se débrouiller«, sich durchschlagen, ist in der Demokratischen Republik Kongo so etwas wie eine Berufsbezeichnung. Es steht auch für ein Lebensgefühl, das sich eingeschlichen hat: die Resignation. Clément, 25, ist im Viertel bekannt als einer, der viel nachdenkt. »Wir sind eine Generation ohne Arbeit, ohne Idole, ohne Vision«, sagt der Student. Ein eigenes Geschäft aufzumachen, sei für junge Leute unerreichbar: »Wer oben keinen kennt, dem nehmen die echten und die selbsternannten Steuereintreiber jeden Gewinn ab«, sagt Clément. Seinen Nachnamen will er nicht nennen, denn einige junge Männer aus Tchangu sind in den vergangenen Monaten einfach verschwunden. Geheimdienstler holten sie nachts aus ihren Häusern. Wo sie nun sind, weiß keiner. »Es ist die Angst, die Leute davon abhält, frei zu denken oder sich zu organisieren«, sagt Clément. »Aber jetzt ist da dieses Gefühl, dass etwas passieren wird.« Die Wut ist alt, der Wahltermin aber gibt ihr einen Anlass. Für »Lucha« ist dies Gelegenheit, Mitstreiter zu gewinnen. Gloria Singha, 23, trägt ein Tuch um den Kopf und Creolen in
DR KONGO
»Sie haben uns willkürlich eingesperrt, jetzt lassen sie uns willkürlich frei. Eigentlich müssten wir sie verklagen.« den Ohrläppchen. Wäre da nicht der Geruch nach Fritten, man könnte meinen, sie nähme ihre Zuhörer gleich mit auf ein Piratenschiff. Siebzehn junge Leute sind zum ersten offenen Treffen von »Lucha« in ein Fast-Food-Restaurant in Kinshasa gekommen, fast alle sind Studierende. »Wir, die wir die Chance haben, uns zu bilden, müssen den Anfang machen«, sagt Gloria in die Runde. In Kinshasa war »Lucha« bisher nur in den sozialen Medien aktiv. Gloria will nun die erste »Zelle« in der Hauptstadt aufbauen. Die Jura-Studentin lernte Fred und Yves bei einer Hospitanz in Makala kennen. Sie, die kein Buch so gern gelesen hat wie Rousseaus »Gesellschaftsvertrag«, fasste Mut. »Dass da Leute sind, die so denken wie ich, hat die Angst verschwinden lassen«, sagt Gloria. Sie verkörpert jetzt für andere diese Faszination: Dass es Menschen gibt, die bereit sind, Gesicht zu zeigen. In Block 1 schließen sie die Zellen nicht ab, Fred und Yves vertreten sich die Beine in den Gängen des Gefängnisses. Erst in den schummrigen Gängen, sagt Fred, habe er sein Land Kongo verstanden. Die extreme Armut, die Willkür der Justiz. Tatsächlich haben Gefängnis und Staat einiges gemeinsam: Offiziell hat das Gefängnis Wärter und ein Budget für Verpflegung. Der Staat hat offiziell Schulen und unabhängige Gerichte. In der Praxis sind die Institutionen jedoch kaum mehr als Hüllen. Wärter und Lehrer werden so schlecht bezahlt, dass kein Gefangener essen und kein Kind die Schule besuchen kann, ohne zu bezahlen. Die Gesetze auf dem Papier bilden eine Ordnung, in der Realität beherrscht die Korruption das System. »Das kann man kaum Staat nennen«, sagt Fred. Kann man aber Revolution machen gegen keinen Staat? »Was ist schon eine Revolution?«, sagt Yves. »Es reicht nicht, eine Regierung zu stürzen, wenn die Bevölkerung nicht gebildet genug ist, um zu wissen, was ihr zusteht.« Draußen in den Straßen wirbt Präsident Kabila auf Bannern mit dem Wahlspruch: »La Révolution de la Modernité«. Bei »Lucha« bevorzugen sie eine nüchterne Sprache. »Ich mag die Idee, dass für alle die gleichen Regeln gelten«, sagt Fred. In Diskussionen zitieren die Aktivisten gern Ausschnitte der kongolesischen Verfassung. In ihrer Zelle haben sie ein Bücherregal aufgestellt, oben links steht Machiavellis »Der Fürst«, daneben »Die letzten Tage von Diktatoren«. Ende August lädt Kabila bei einem Besuch in Goma die dortigen Aktivisten von »Lucha« überraschend zum Gespräch. Später kündigt sein Innenminister an, man werde Fred, Yves und andere politische Gefangene freilassen. Zwei Wochen später nimmt Gloria die beiden draußen in Empfang. Fred ist froh und doch frustriert: »Sie haben uns willkürlich eingesperrt, jetzt lassen sie uns willkürlich frei. Eigentlich müssten wir sie verklagen.« Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Berlin.
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INTERVIEW MARKUS N. BEEKO
Foto: Sarah Eick
Der gebürtige Kölner ist seit September 2016 General sekretär von Amnesty International in Deutschland. Zuvor war er bereits zwölf Jahre in der Organisation aktiv. Vor seinem Wechsel zu Amnesty sammelte der 49-jährige Diplom-Kaufmann mit deutsch-ghanaischen Wurzeln Erfahrungen in der Schweizer Politik- und Wirtschafts beratung und der Kommunikationsbranche.
Der neue Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland. Markus N. Beeko.
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»Ohne Freiheit ist Sicherheit nichts« Ein Gespräch mit Markus N. Beeko, seit September 2016 Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, über die Menschenrechtsarbeit in Zeiten großer politischer Umbrüche.
listen und Anwälte kleiner. Sie werden schikaniert, ihre Arbeit wird behindert, sie werden als »ausländische Agenten« diffamiert, bedroht und gar umgebracht. Deshalb ist es wichtig, dass wir, solange es geht, vor Ort aktiv bleiben.
Interview: Anton Landgraf
Amnesty hat mittlerweile Büros in Schwellenländern wie Indien oder Brasilien eröffnet. Ein zu hohes Risiko? Klar gibt es Risiken, aber wir sind eine internationale Bewegung. Es war eine bewusste Entscheidung, auch vermehrt dort zu sein, wo Menschenrechtsverletzungen geschehen. Und weltweit mit Aktiven und Partnern vor Ort zu arbeiten.
Wann warst Du zum ersten Mal beim Briefmarathon dabei? Das war im Jahr 2006 – ich arbeitete im Internationalen Sekretariat in London. Dort erlebte ich, wie die Flure eines Tages mit den Fällen verfolgter Menschen aus dem Briefmarathon tapeziert wurden. Ich hatte zwar schon vom Briefmarathon gehört, aber die deutsche Sektion beteiligte sich damals noch nicht so aktiv daran wie heute. Das habe ich später oft erlebt: Bei Amnesty kann man immer wieder Neues entdecken, wie aktiv Menschen und Menschenrechte geschützt werden können – egal, wie lange man schon dabei ist.
Die Auswirkungen vieler Krisen sehen wir nicht nur in fernen Ländern, sondern direkt vor unserer Haustür. War Amnesty auf die aktuellen Flüchtlingsbewegungen vorbereitet? Die Folgen etwa des gescheiterten »Arabischen Frühlings« und der bewaffneten Konflikte im Nahen Osten waren vielleicht vorhersehbar, nicht jedoch das Ausmaß und die Dynamik. Die Frage, die sich heute den europäischen Regierungen und Gesellschaften stellt, ist auch nicht neu: Wie übernimmt die EU ihren Anteil, schutzsuchenden Menschen Zuflucht zu gewähren? Wie werden Staaten, die bislang den Großteil der weltweiten Flüchtlinge aufgenommen haben, stärker unterstützt? Es drängt seit langem, dass Europa sichere Zufluchtswege für verfolgte Menschen schafft. Es braucht ein solidarisches Verteilungssystem innerhalb der EU, damit nicht nur einige wenige Länder das schultern müssen. Die aktuelle Situation ist eine Herausforderung – und die EU bleibt gefordert, Lösungen zu finden, die sich an ihren Werten und menschenrechtlichen Verpflichtungen gegenüber schutzsuchenden Menschen orientieren.
Du hast Dein Amt als Generalsekretär in einer politisch schwierigen Zeit angetreten. Der kürzlich verstorbene deutschjüdische Historiker Fritz Stern hat sogar ein »Zeitalter der Angst« vorausgesagt. Schaut man in die Medien, auf Kinofilme oder wie ich jüngst mit meinen Kindern auf die Jugendbuchauslagen in Buchhandlungen, dann stößt man auf viele apokalyptische Bilder – dunkle Titel, Wettkampf ums Überleben. Die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüche verunsichern viele Menschen auf der Welt. Populistische, autoritäre Regierungen gewinnen an Einfluss. Ausgrenzung, Repressalien, Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit nehmen zu, sicher gewähnte Menschenrechtsstandards werden infrage gestellt. Aber wir haben in den vergangenen Jahrzehnten auch viel zum Schutz der Menschenrechte beitragen können. Tausenden bedrohten Menschen konnten wir helfen, und weltweit setzen sich inzwischen Millionen für die Wahrung der Menschenrechte ein. Wir haben im Menschenrechtsschutz große Fortschritte erzielt, ob mit der Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs oder mit internationalen Menschenrechtskonventionen wie den UNO-Pakten. Diese Standards und Institutionen gilt es nun zu stärken. Gerade in Zeiten von Umbrüchen ist es wichtig, Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen aktiv einzufordern, denn Frieden und Sicherheit beruhen auf ihrer Einhaltung. Wir sollten Regierungen daran erinnern, dass sie es in der Hand haben, der Verunsicherung etwas entgegenzusetzen.
Es geht aber auch um den Schutz dieser Menschen bei uns. Es macht einen fassungslos: Täglich kommt es in Deutschland zu Angriffen auf Menschen, nur weil sie anders aussehen oder einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zugerechnet werden. Menschen, die vor Krieg und Verfolgung hier Schutz suchen, haben Angst um ihre Familien. Dieses Jahr wurden bis Ende Oktober vom Bundesinnenministerium mehr als 1.800 Angriffe auf Flüchtlinge registriert sowie mehr als 800 Straftaten gegen ihre Unterkünfte. Hier sind Innenminister, Polizei und Strafverfolgungsbehörden gefragt: Diese »hassmotivierten«, rassistischen Übergriffe müssen konsequent verfolgt werden. Es fehlt ein bundesweites Schutzkonzept für Flüchtlingsunterkünfte. Hier ist der Rechtsstaat gefordert.
Die Schwierigkeiten sind für Amnesty sehr konkret: Das Büro in Moskau wurde kürzlich von den russischen Behörden versiegelt, in der Türkei ist die Arbeit kaum noch möglich. Weltweit werden die Handlungsspielräume für zivilgesellschaftliche Organisationen, Menschenrechtsaktivisten, Journa-
Gibt es zu wenig politischen Druck seitens der Zivilgesellschaft, die diesen Schutz einfordert? Das ist eine gute Frage. Wobei es ja angesichts der vielen Übergriffe eigentlich keines besonderen Druckes bedürfen müsste, um den Rechtsstaat zu mobilisieren. Der öffentliche
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Ein Grund für die polarisierte Stimmung ist die Angst vor Anschlägen. Ist mehr Sicherheit nur auf Kosten von Freiheit und Offenheit zu haben? Die Freiheit des Einzelnen, aber auch der Gesellschaft braucht Sicherheit – vor externen Bedrohungen, aber auch die Sicherheit, die eigenen Rechte wahrnehmen und gegebenenfalls einklagen zu können. Sicherheit dient demnach insbesondere dazu, einen Raum zu schaffen, in dem jeder ohne Schaden selbstbestimmt leben und seine Menschenrechte wahrnehmen kann. Also keine Freiheit ohne Sicherheit. Aber ohne die Freiheit, die eigenen Rechte wahrzunehmen, ist Sicherheit nichts. Weltweit wird immer wieder versucht, einen Gegensatz zwischen Freiheit und Sicherheit aufzumachen. Mit Besorgnis sehen wir zum Beispiel die Einschränkungen der Privatsphäre. Dass die Bundesregierung zusammen mit Brasilien zwei wichtige internationale UNO-Resolutionen zum Schutz des Menschenrechts auf Privatsphäre initiiert hat, ist hier positiv hervorzuheben. Damit wenig vereinbar bleibt das neue BND-Gesetz: Amnesty teilt die massive Kritik des UNO-Sonderberichterstatters für das Recht auf Privatsphäre an dem vor wenigen Wochen verabschiedeten Gesetz. Warum sollen sich junge Menschen bei Amnesty organisieren? Die gute Nachricht ist, dass weiterhin viele junge Menschen zu Amnesty kommen. Die Welt wächst zusammen, mit neuen Chancen, aber auch neuen Fragen: Globalisierung, digitale Transformation, Fragen der Sicherheit, Religion. Viele junge Menschen wollen diese Entwicklung aktiv mitgestalten. Junge Menschen schauen hin. Sie akzeptieren nicht, dass Schutzsuchende an Staatsgrenzen abgewiesen werden, dass unsere Privatsphäre Geheimdiensten zum Opfer fällt oder dass multinationale Konzerne ihre Geschäfte zwar global machen, sich aber lokal vor der Verantwortung drücken. Für eine Mitgliederbewegung bedeuten junge Menschen auch, dass Methoden und Themen immer wieder hinterfragt werden. Einer Bewegung tut Bewegung gut. Derzeit diskutieren wir, wie eine zeitgemäße Jugendvertretung bei Amnesty organisiert sein sollte. Eine wichtige Frage für Amnesty ist auch, wie wir trotz Wachstum unserem demokratischen Selbstverständnis treu bleiben. Und natürlich die Herausforderung, weltweit schnell und unbürokratisch auf Menschenrechtskrisen zu reagieren. Was ist für Dich das Besondere an Amnesty? Amnesty verbindet auf wunderbare Weise zwei große Ideen. Erstens die Idee der Menschenrechte: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Niemand darf
»Dass alle Menschen frei von Willkür und Fremdbestimmung leben können sollten, hat mich geprägt.« 52
wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft oder seiner sexuellen Orientierung benachteiligt oder verfolgt werden. Niemand darf in Sklaverei gehalten werden, niemand gefoltert werden. Wir sind frei zu entscheiden, wen wir heiraten wollen, frei zu entscheiden, an wen wir glauben. Eine großartige Idee, die uns allen ein selbstbestimmtes Leben in Würde zugesteht, uns Mensch sein lässt. Fast zu schön, um wahr zu sein, könnte man sagen. Was leider für die Mehrzahl der Menschen auf unserer Erde auch gilt – sie werden einer Vielzahl ihrer Rechte beraubt. Hier kommt die zweite tolle Idee zum Tragen: Amnesty International – eine weltweite Bewegung von Menschen, die sich solidarisch für die Menschenrechte aller einsetzen. Selbstlos, unabhängig von anderen Interessen und überzeugt, dass Menschen nicht hilflos und ohnmächtig gegenüber denen sein sollten, die mit Gewalt und Unterdrückung Menschenrechtsverletzungen begehen. Dies war, was Peter Benenson 1961 bei der Gründung von Amnesty bewegte – der eigenen Hilflosigkeit etwas entgegenzusetzen. Eine Bewegung, in der »gewöhnliche« Leute zusammen »Außergewöhnliches« leisten konnten. Und die seitdem Millionen inspiriert und motiviert hat, mitzumachen. Mich auch. Wie bist Du zu Amnesty gekommen? Freiheit und Gerechtigkeit spielten bereits in meiner Kindheit eine Rolle. Mein Vater, geboren 1933 in der damaligen britischen Kolonie Goldküste, gehörte zu der Generation junger Afrikaner, die mit Stolz und Hoffnung die Unabhängigkeit der noch jüngeren afrikanischen Staaten begleiteten. Intensiv beschäftigten mich damals auch die Anti-Apartheidbewegung und die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Die Vorstellung, dass alle Menschen frei von Willkür und Fremdbestimmung leben können sollten – das hat mich geprägt. Was hat Dich bei Amnesty besonders beeindruckt? Es sind die Menschen, die alle auf ihre Weise beeindruckend sind. Die Menschenrechtsverteidiger, die Unglaubliches in Kauf nehmen, um gegen Ungerechtigkeit aufzubegehren – und dabei positiv und hoffnungsvoll bleiben. Die große Familie der Amnesty-Mitglieder und Kolleginnen und Kollegen weltweit, alle sehr unterschiedlich und bunt, mit unterschiedlichsten Expertisen – und gleichzeitig geeint in ihrem unermüdlichen Einsatz. Aber auch die Hartnäckigkeit der Organisation, bedrohte Menschen und Menschenrechtsanliegen nie aus den Augen zu verlieren und nicht anderen Zielen unterzuordnen, ist mir wichtig. Bist Du wieder beim Briefmarathon dabei? Im vergangenen Jahr haben wir aus Deutschland mehr als 255.000 Briefe und E-Mails verschickt, weltweit waren es 3,7 Millionen. Mit Erfolg: Albert Woodfox aus den USA ist nach 44 Jahren Haft wieder frei, ebenso wie eine junge Aktivistin aus Myanmar, die wegen ihrer Rolle bei Studentenprotesten inhaftiert wurde. Erfolge gab es auch bei Fällen aus Griechenland und Mexiko. Jetzt sind wieder viele Aktionen bundesweit geplant. Ich freue mich, dass wir Özcan Kılıç, den Anwalt unserer Menschenrechtspreisträgerin Eren Keskin, zu Gast haben. Mit ihm gemeinsam werden wir uns weiter dafür einsetzen, eine Haftstrafe für Keskin in der Türkei zu verhindern. Gespannt bin ich auch auf den 24-Stunden-Marathon am 10. Dezember, den die Mitglieder des Berliner Amnesty-Bezirks organisieren. Wenn alle wieder mitmachen, können wir dieses Jahr noch mehr Druck erzeugen.
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Foto: Jorge Dan Lopez / Reuters
Aufschrei hält sich allerdings in Grenzen. Amnesty wird die Forderung nach einem bundesweiten Schutzkonzept weiter bei den Innenministern mit Nachdruck verfolgen.
Spurensuche. Ein Anthropologe arbeitet in einem Massengrab in der Militärbasis von Cobán.
Die Antastbaren Korruptionsermittlungen und Prozesse zur Aufklärung von Verbrechen aus dem Bürgerkrieg setzen die traditionellen Eliten Guatemalas unter Druck. Doch diese bedrängen ihrerseits die ermittelnden Juristen. Von Knut Henkel Abweisend blicken die jungen Soldaten am Eingang zum Militärstützpunkt »Creompaz« zu der Menschenmenge hinüber, die sich auf dem Platz vor der Offiziersmesse sammelt. Die Experten von der Stiftung für forensische Anthropologie (Fafg) sind mit ihren beschrifteten Westen schon von Weitem zu erkennen, ebenso wie die Ermittlungsbeamten der Staatsanwaltschaft, die sich um Richterin Claudette Domínguez scharen. Daneben stehen Anwälte und Vertreter von Opferorganisationen – zumeist Frauen. Sie alle sind an diesem Tag zur ehemaligen »Zona Militar 21« gekommen, um sich einen Eindruck von diesem Tatort zu verschaffen. Die Militärbasis am Rand der zentralguatemaltekischen Stadt Cobán ist eine der größten des Landes. Seit 2005 heißt sie
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»Creompaz«, an ihrem Eingang weht die Flagge der UNO. Sie dient heute als »regionales Trainingskommando für friedensstiftende Operationen«. Von hier aus sind Soldaten nach Haiti und in die Demokratische Republik Kongo gestartet. Ein krasser Widerspruch zur Vergangenheit – denn auf dem weitläufigen Gelände wurde in den achtziger Jahren gefoltert, vergewaltigt und gemordet. In den vergangenen drei Jahren wurden hier die sterblichen Überreste von 558 Menschen gefunden, die in 85 Gräbern verscharrt worden waren. »Zuerst wurde den Forensikern von den Militärs der Einlass verweigert, erst ein richterlicher Befehl machte den Weg frei«, erklärt der leitende Staatsanwalt für Menschenrechte Orlando López. Der 41-jährige Jurist hatte die Staatsanwaltschaft in dem Prozess gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt im Frühjahr 2013 vertreten und verfolgt nun die Beweisaufnahme im »Creompaz-Fall«, des zweiten für Guatemala so wichtigen Prozesses. »Creompaz« sorgt seit Januar 2016 für Schlagzeilen. Damals wurden 14 ranghohe Militärs, allesamt im Ruhestand, in Unter-
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suchungshaft genommen. Dies war ein politischer Paukenschlag, denn nur eine Woche später sollte Präsident Jimmy Morales vereidigt werden, dessen Partei, die Front der nationalen Annäherung (FCN), enge Kontakte zu den Verhafteten pflegt. Zu den zentralen Verdächtigen zählen Manuel Benedicto Lucas García, ehemals Generalstabschef, sowie Byron Humberto Barrientes Díaz, langjähriger Geheimdienstoffizier und späterer Innenminister Guatemalas. Auch die zwölf anderen hochrangigen Militärs waren in der »Zona Militar 21« zu Beginn der achtziger Jahre entweder stationiert oder trugen die Verantwortung für die zahllosen Gewalttaten, die dort zwischen 1981 und 1987 verübt wurden. Zu ihnen gehört auch Edgar Ovalle Maldonado. Er ist einer der Gründer der FCN, ein enger Vertrauter von Präsident Morales und Kongressabgeordneter. Bislang scheiterte die Staatsanwaltschaft allerdings mit ihrem Antrag, die Immunität des ehemaligen Armeeoberst, der in seiner Partei nur »Coronel« genannt wird, aufzuheben. Ovalle Maldonado gehört ebenso wie die anderen Verdächtigen zu dem politisch-militärischen Netzwerk, das Guatemala in den achtziger und neunziger Jahren beherrschte. »Sie waren das Gesicht der Repression, als ich aufwuchs«, sagt Claudia Samayoa, die Leiterin der Menschenrechtsorganisation »Udefegua«. Die 49-Jährige wird Menschenrechtsaktivisten und Zeugen während des Prozesses begleiten. Eine Zeugin ist Marta Macz. Die 64-Jährige gehört den Q’eqchí an, einer ethnischen Gruppe der Maya. Sie hat gemeinsam mit anderen Frauen aus der Region Cobán, allesamt Angehörige von Verschwundenen, eine Opferorganisation gegründet. Ihr Bruder, Otto Waldemar Macz Pacay, verschwand am 5. März 1983. »Er war damals 28 Jahre alt und hat als Agrartechniker rund um Cobán gearbeitet. Otto hat indigene Genossenschaften, aber auch kleine Bauernorganisationen beim Anbau von Mais, Bohnen und Kaffee beraten und war sehr beliebt«, erzählt Marta
Macz. Jahrelang hat die Familie nach ihm gesucht. »An der Militärbasis haben wir viele Male nach ihm gefragt, aber immer haben die Soldaten erwidert, dass sie Otto nicht hätten«, sagt sie. »Ich will wissen, warum sie unsere Familienangehörigen verschleppt haben, warum sie ihnen keinen fairen Prozess gewährt haben, so wie sie ihn jetzt bekommen werden«, sagt Marta Macz. Die sterblichen Überreste ihres Bruders haben die Forensiker der Fafg 2014 ausfindig gemacht und anhand eines DNA-Tests identifizieren können. Das gleiche gilt für 97 weitere Skelette, doch das Gros der menschlichen Überreste in »Creompaz« muss noch identifiziert werden. Marta Macz glaubt zu wissen, warum ihr Bruder damals zur Zielscheibe wurde. »Wer sich für die Armen engagierte, war für die Militärs schnell ein Kommunist. Wir wussten damals noch nicht einmal, was das Wort bedeutet«, sagt sie. Im August 2015 wurden ihr die sterblichen Überreste ihres Bruders ausgehändigt, die sie dann endlich in der Familiengruft neben ihren Eltern begraben konnte. Otto Waldemar Macz Pacay wurde schwer gefoltert. Dem in einem Einzelgrab gefundenen Leichnam fehlten die Finger, und auch das Gesicht war weitgehend zerstört, so der Bericht der Forensiker. Viele der Opfer wiesen Folterspuren auf, sie wurden vielfach mit gefesselten Händen und teilweise mit zertrümmerten Schädeln und Kiefern in den Gräbern gefunden. Marta Macz hat keine Erklärung für diese Grausamkeit. Für sie geht es nicht um Vergeltung, nicht um Rache. »Der Prozess soll endlich die Wahrheit ans Licht bringen«, sagt sie und hofft, dass bald die öffentlichen Gerichtsverhandlungen beginnen. Dies kann jedoch noch dauern. Zunächst müssten verschiedene Rechtsfragen geklärt werden, ist von den Menschenrechtsanwälten der Kanzlei »Bufete Juridico de Derechos Humanos« zu hören, die in nahezu allen großen Prozessen vertreten ist, in
Suchen nach Antworten. Zeugin Marta Macz, Anwalt Michael Mörth, Menschenrechtsaktivistin Claudia Samayoa (von li.).
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Fotos: Markus Dorfmüller
denen es um die Verbrechen der Bürgerkriegszeit (1960–1996) geht. Nicht nur der »Creompaz-Fall« sorgt in Guatemala für Schlagzeilen, sondern auch die Korruptionsermittlungen gegen den im September 2015 zurückgetretenen Präsidenten Otto Pérez Molina und das hinter ihm stehende Netzwerk. Auch sie erlauben einen tiefen Einblick in die jahrzehntelangen Herrschaftsstrukturen des mittelamerikanischen Landes. Dabei zeigten die Massendemonstrationen im Sommer 2015, die zum Rücktritt von Otto Pérez Molina führten, dass sich die guatemaltekische Gesellschaft wandelt. Der Wendepunkt hierfür sei der Prozess gegen Ex-Diktator Efrain Ríos Montt gewesen, sagt Edgar Pérez Archila, der Leiter der Menschenrechtskanzlei. »Erstmals klagten die Opfer ihren Platz im historischen Gedächtnis Guatemalas ein und beendeten eine Phase der kategorischen Leugnung historischer Fakten. Seither besteht erstmals die Chance, zu erklären und zu verstehen, was in diesem Land vor sich ging und geht«, so der 47-Jährige. Die unantastbaren Mitglieder des militärisch-politischen Netzwerks sind plötzlich antastbar, die Bürgerkriegsgeschichte mit rund 200.000 Toten und etwa 45.000 Verschwundenen ist nun Thema. Das zeigen auch die Plakate, die im Zentrum von Guatemala-Stadt an die Verschwundenen und die ungesühnten Verbrechen des Bürgerkriegs erinnern. Das öffentliche Interesse an den staatsanwaltlichen Ermittlungen zu Korruption und Verbrechen aus der Zeit des Bürgerkriegs ist deutlich gestiegen. So fand der »Sepur Zarco-Prozess« im Februar 2016 im größten Saal des Justizpalasts in Guatemala-Stadt statt. Angeklagt war Esteelmer Reyes Girón, der Kommandant des Militärstützpunktes »Sepur Zarco«, wegen Mordes, Vergewaltigung und sexueller Versklavung von fünfzehn Frauen der Q’eqchí. Sein Kollege, der Militärkommissar Heriberto Valdez Asig, musste sich wegen der gleichen Delikte und dem gewaltsamen Verschwindenlassen mehrerer Ehemänner der Frauen zu Beginn der achtziger Jahre verantworten. »Der Prozess war ein Präzedenzfall, denn erstmals wurden Militärs zu hohen Haftstrafen wegen der Vergewaltigung von Frauen und ihrer sexuellen Versklavung verurteilt. Neu war aber auch, dass die Aussagen der Frauen per Video eingespielt wurden. So mussten sie nicht vor Gericht aussagen und wurden nicht von Anwälten der Verteidigung befragt und gedemütigt, wie dies sonst oft der Fall ist«, sagt die Anwältin der Opfer Paula Barrios. Das Urteil fällte Richterin Yassmín Barrios, die vor drei Jahren auch im Prozess gegen Ríos Montt Recht sprach. Reyes Girón wurde zu 120 Jahren Haft, Valdez Asig zu 240 Jahren verurteilt. Für Frauenorganisation in ganz Lateinamerika ist das Urteil ein Hoffnungsschimmer, denn sexuelle Gewalt ist in der Region weit verbreitet und wird oft nicht geahndet. Den juristischen Erfolgen steht allerdings auch eine Zunahme von Übergriffen auf Rechtsanwälte und Staatsanwälte gegenüber. So machte Generalsstaatsanwältin Thelma Aldana im Juni 2016 auf massive Drohungen gegen ihre Person aufmerksam. Anfang August überflog eine Drohne ihr Haus. Mitte August stürmte ein paramilitärisches Kommando das Haus des Menschenrechtsanwalts Ramón Cadena Rámila, der für die Internationale Juristenkommission arbeitet. Menschenrechtsaktivisten bewerten die Aktion, bei der das Haus nach Dokumenten durchsucht wurde, als Warnung an Justiz und Menschenrechtsanwälte. »In den vergangenen Monaten hat es immer wieder Diffamierungen, Drohungen und auch Versuche der Kriminalisierung von Seiten einflussreicher konservativ-militärischer Kreise gegeben«, erklärt Michael Mörth. Der deutsche Anwalt lebt seit
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»Ich will wissen, warum sie unsere Angehörigen verschleppt haben, warum sie ihnen keinen fairen Prozess gewährt haben.« zwanzig Jahren in Guatemala und arbeitet ebenfalls in der Menschenrechtskanzlei »Bufete Jurídico de Derechos Humanos«. Mörth berichtet, dass bereits im Februar 2016 der deutsche und der US-amerikanische Botschafter die Juristen demonstrativ besucht und ihnen den Rücken gestärkt hätten. Internationale Unterstützung sei wichtig angesichts einer Regierung, die für die Kontinuität der engen Kontakte zwischen Militärs und den traditionellen Eliten steht. Diese Seilschaften hat die UNO-Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) ins Visier genommen. In den vergangenen Jahren konnte die Kommission unter Leitung des Kolumbianers Iván Velásquez Gómez erfolgreich gegen die ökonomische wie politische Elite des Landes ermitteln. »Das Ausmaß der Korruption und des Klientelismus hat für Empörung in Guatemala gesorgt«, sagt Mörth. Generalstaatsanwältin Thelma Aldana und CICIG-Leiter Iván Velásquez hätten seither Kultstatus. Doch der Erfolg ist fragil. Nach wie vor gibt es korrupte Richter, Auftragskiller und mächtige, mit der Drogenmafia verwobene Interessengruppen, die kein Interesse an einem Wandel und einer funktionierenden Justiz haben. Die Entwicklung »steht auf der Kippe«, warnt der Leiter der Menschenrechtskanzlei Pérez Archila. Der Autor ist Lateinamerika-Korrespondent.
GEGEN DIE STRAFLOSIGKEIT Die Kommission der Vereinten Nationalen gegen die Straflosigkeit in Guatemala (Comisión Internacional contra la Impunidad en Guatemala – CICIG) ermittelt seit Ende 2007 gegen organisierte Kriminalität. Der Kommission gehören rund 170 Experten an, darunter Kriminalisten, Abhörexperten, Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Sicherheitsexperten. Alle zwei Jahre muss das Mandat von der guatemaltekischen Regierung verlängert werden. Zuletzt ging der Antrag der Regierung Ende April 2015 bei den Vereinten Nationen ein. Damals hatten nicht nur die USA, sondern auch viele europäische Regierungen diplomatischen Druck auf die Regierung von Otto Pérez Molina ausgeübt. Am 2. September 2015, kurz vor den Präsidentschaftswahlen, musste Molina aufgrund der von der CICIG vorgelegten Beweise für Korruption seinen Rücktritt ein reichen. Sein Nachfolger, der nationalkonservative Jimmy Morales, hat im April 2016 die vorzeitige Verlängerung des CICIG-Mandats bis 2019 beantragt.
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»Mit den Papieren, die der da hat, lassen wir ihn laufen« Rassismus in Deutschland I: Der Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby will erreichen, dass »Racial Profiling« und verdachtsunabhängige Kontrollen verboten werden. Er wurde bereits selbst Opfer einer solchen Überprüfung.
Illustrationen: Susann Stefanizen
Ich kam aus Magdeburg zurück nach Halle. Ein anderer schwarzer Mann und ich stiegen aus dem Zug und liefen mit vielen anderen Pendlerinnen und Pendlern in die Bahnhofshalle. Dort stoppten zwei Polizisten uns beide. Ausschließlich uns beide. Einer der beiden Beamten fragte mich nach meinem Personalausweis. Den gab ich ihm. Daraufhin fragte er mich, wo ich wohne. »Die Adresse steht auf der Rückseite des Ausweises«, sagte ich: »Sie halten doch das modernste deutsche Ausweisdokument in der Hand – mitsamt meinen biometrischen Daten.« Verblüfft überlegte er, wie er mit mir verfahren soll. Eigentlich musste ich schon längst weiter zu einer Sitzung des Hallenser Ortsvereins
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der SPD, ausgerechnet zum Thema Kennzeichnungspflicht bei der Polizei. Die Situation wirkte wie bestellt. Ich komme äußerst ungern zu spät. Deshalb dachte ich, helfe ich dem Polizisten mal und gab ihm zusätzlich meinen Stadtratsausweis. Das wirkte für ihn dann noch verdächtiger. Ich hingegen dachte: Damit sind alle Rückfragen zu meinem Wohnort beantwortet. Denn in Deutschland wohnt ein Stadtrat in der Stadt, in der er Stadtrat ist. Jetzt aber musterte der Polizist mich noch eingehender. Ich hatte es immer eiliger, wollte meine Straßenbahn nicht verpassen und zückte meinen damaligen Dienstausweis des Sozialministeriums Sachsen-Anhalt. Dann drehte der Polizist alle drei Ausweise noch einmal hin und her. Und sagte zu seinem Kollegen wortwörtlich: »Mit den Papieren, die der da hat, lassen wir ihn laufen.« Sehr wütend hat mich das gemacht. Eigentlich fällt mir in solchen Situationen immer etwas ein – etwas Spontanes, etwas Humorvolles, etwas Nachdenkliches. Aber überrascht und wütend fiel mir nichts ein. Ich sagte: »Ich werde mich beim Stahlknecht beschweren.« »Was, wer ist denn das?«, fragte der Bundespolizist, dem der Name des Innenministers von SachsenAnhalt nicht bekannt war. »Das erkläre ich Ihnen jetzt nicht«, sagte ich im Weggehen. Ich habe die Möglichkeit, so eine Situation bekannt zu machen. Wer aber der deutschen Sprache nicht mächtig ist, einen unsicheren Aufenthaltsstatus hat oder in unsicheren sozialen Verhältnissen lebt oder, oder, oder: Derjenige wird schluckend weitergehen. Das darf in der Gesellschaft nicht so weitergehen, dass Menschen ausgegrenzt werden, in ihrem Alltag. Deshalb habe ich das Thema »Racial Profiling« auch im Deutschen Bundestag eingebracht. Mein langfristiges Ziel ist, dass das Polizeigesetz geändert wird und damit »Racial Profiling« und verdachtsunabhängige Kontrollen verboten werden. Auf der politischen Agenda erscheint die Thematik äußerst irrelevant. Oft heißt es gegenüber denjenigen, die »Racial Profiling« als Problem benennen, dass sie die Polizistinnen und Polizisten zu Rassistinnen und Rassisten machen. Mein Abgeordnetenkollege Bernd Fabritius warf mir vor, die Polizei unter »Kollektivverdacht« zu stellen. Ob ich denn sicher sei, dass die betreffenden Beamten keinen Grund für diese Kontrolle hätten, fragte er mich. Fünf Prozent der Abgeordneten im Bundestag haben einen Migrationshintergrund – im Unterschied zu 20 Prozent der Bevölkerung. Je mehr Menschen mit Migrationshintergrund in der Politik vertreten sind, desto höher ist die Sensibilität für bestimmte Themen. Das gilt auch für Verwaltung oder Schulen. Selbst an Schulen, auf die viele Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund gehen, ist der Anteil an Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund verschwindend gering. All das sind notwendige Maßnahmen, um die Gesellschaft zu sensibilisieren. Protokoll: Andreas Koob
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»Ich bin nur eine mehr, die dieser Hass trifft« Rassismus in Deutschland II: Lamya Kaddor, Lehrerin und Publizistin aus Duisburg, erhält nahezu täglich Diffamierungen und Drohungen per E-Mail. Sie wurde zur Zielscheibe von Rechtsextremen wie Islamisten, weil sie als Deutsche mit syrischen Wurzeln eine Integrationsleistung von Deutschen wie von Migranten fordert. Als ich im Oktober mein neuestes Buch auf der Frankfurter Buchmesse präsentierte, schützten mich fünf Polizisten. Öffentliche Auftritte in so einem Rahmen sind gegenwärtig nicht anders möglich. Ich werde deshalb auch zunächst nicht als Lehrerin weiterarbeiten können, weil ich sonst regelmäßig zur selben Zeit an einem bestimmten Ort anzutreffen wäre. Dauernd bekomme ich E-Mails: Die Leute drohen, einige wollen mich umbringen. Unter diesen Umständen zu unterrichten, kann ich gegenüber meinen Schutzbefohlenen nicht verantworten. Mit Vorabdrucken meines Buchs Mitte September ging alles los: Fortan bekam ich täglich zig Botschaften: »Irgendwann wird es dunkel und dann kommen wir dich holen.« »Du gehörst von hundert Afrikanern vergewaltigt.« »Du gehörst vergast, Heil Hitler.« Diffamierende und denunzierende Hassmails bringe ich bereits seit Jahren zur Anzeige. Ich werde schon lange angefeindet – von Rechten und von Islamisten. Aber der derzeitige Hass, die vielen Drohungen, übertreffen alles. Ich komme klar, ich muss ja damit klar kommen. Das, was ich erlebe, ist leider symptomatisch für unsere heutige Gesellschaft: Ich bin nur eine mehr, die dieser Hass trifft. Zu viele Menschen messen Minderheiten willkürlich Eigenschaften zu, um sie abzuwerten, um sich selbst aufzuwerten. Nur mal angenommen: Wir nehmen das, was die AfD und andere Rechtspopulisten möchten, ernst: Keine Flüchtlinge, keine Muslime und am liebsten gar keine Menschen mit Migrationshintergrund – vielleicht bis in die zehnte Generation. Welche Barbarei wäre wohl nötig, um das umzusetzen? Das völkische Denken eines Teils der Gesellschaft, das ich als »Deutschomanie« bezeichne, ist gefährlich. In diesen Kreisen wird nahezu wahnhaft fabuliert: »Deutsch, deutsch, deutsch. Wir müssen Deutschland verteidigen, homogen sein.« Wenn das so weitergeht, muss sich jeder fragen, wann er selbst nicht mehr in die Illusion dieser reklamierten Homogenität passt. Denn keiner weiß, was genau »deutsch« ist. Es geht nicht darum, irgendjemanden zu verdrängen. Das plurale Deutschland ist in der Hauptsache immer deutsch. Jeder soll an dem festhalten, was er als »deutsch« versteht. Man darf dieses »Deutschsein« nur nicht über Menschen stellen, die hier
RASSISMUS IN DEUTSCHLAND
in zweiter, dritter, vierter Generation leben. Auch das sind Deutsche mit exakt denselben Rechten und Pflichten. Ein wesentlicher Grund, warum ich so angegriffen werde, ist, dass ich von einer Bringschuld der Mehrheitsgesellschaft spreche. Sie besteht darin, Menschen, die willens sind, sich zu integrieren, zumindest die Chance zu geben, als gleichwertige Mitglieder dieser Gesellschaft anerkannt zu werden. Man kann ihnen nicht immer wieder sagen: »Ihr seid keine Deutschen«. Andernfalls entsteht zwangsläufig sozialer Sprengstoff. Natürlich haben Minderheiten auch eine Bringschuld: Sie müssen sich anpassen. Das ist völlig klar. Das wird aber schon seit Jahren zu Recht betont – anders als die Bringschuld der Mehrheitsgesellschaft. Ich kenne es selbst nur zu gut, obwohl ich davon – weiß Gott! – nicht am stärksten betroffen bin. Aber ich höre auch: »Du wirst nie deutsch. Du hast keine deutschen Eltern, in deinen Adern fließt kein deutsches Blut.« Jahrelang hat man uns zugerufen: »Integriert euch!« Jetzt integrieren wir uns, nun heißt es: »Haut ab!« Diese Rufe werden lauter. Muslime und Angehörige der einstigen »Gastarbeiter«, die längst Deutsche sind, werden zu Fremden gemacht. Dieses völkische Denken ein für alle Mal zu kappen, muss zum »neuen deutschen Wir« gehören. Ich unterrichte seit 13 Jahren – vor allem Kinder, die in der dritten Generation in Deutschland leben. Ich möchte ihnen nicht mehr erklären müssen, dass sie keine Fremden im eigenen Land sind! Das muss einfach selbstverständlich sein. Protokoll: Andreas Koob
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KULTUR
Guantánamo im Tanz. Szene aus »Herrumbre«, Staatsballett Berlin.
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»Herrumbre« in der Berliner Staatsoper
»Der Rost in den Köpfen«
Foto: POP-EYE / sinissey / pa
INTERVIEW
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NACHO DUATO
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Foto: Amin Akhtar / laif
Lässt Terror und Folter tanzen. Nacho Duato, Chef des Staatsballetts Berlin.
Interview: Georg Kasch
Wie ist »Herrumbre« entstanden? Ursprünglich wollte ich ein Stück nur über Folter machen. Mich hat das Thema gereizt, weil ich eine Ausstellung über die Inquisition gesehen habe, die mich fasziniert hat. Da gab es viele Folterinstrumente, die höchst aufwendig aus Silber gestaltet waren. Wunderschöne Gegenstände – mit entsetzlicher Wirkung. Aber dann ereigneten sich die Terroranschläge in Madrid, einer von ihnen in der Nähe meiner Wohnung. Deshalb habe ich beide Themen kombiniert. Am Ende sind keine konkreten Gegenstände, keine konkrete Handlung mehr in der Choreografie geblieben. Das ist auch der Grund, warum das Publikum den Abend aushält.
Angesichts der Anschläge von Brüssel, von Nizza, von München wirkt »Herrumbre« erstaunlich aktuell. Dabei ist die Choreografie schon zwölf Jahre alt. Ich habe »Herrumbre« 2004 choreografiert und für die Berliner Premiere im Februar 2016 auch nicht verändert, aber es wirkt, als hätte ich es erst gestern gemacht. Leider ist das ein Thema, das es schon immer gegeben hat. Vor allem Folter. Diese aktuelle Form des Terrorismus, der bis vor unsere Haustür kommt, ist das einzig Neue. Deshalb habe ich den Abend »Herrumbre« genannt, Rost. Es gibt Menschen, die im Kopf verrostet sind und deshalb solche Dinge tun. Etwa die Selbstmordattentäter: Hinter ihnen stehen Menschen, die diese Menschen bewusst haben verrosten lassen. Und es geht auch darum, dass andere Menschen so weit erniedrigt werden, dass sie ihre Würde verlieren, innerlich erodieren, verrosten.
Es gibt tatsächlich Tanzabende, die dem Publikum mehr zumuten. Meine Choreografien zeigen nie das Naheliegende. Ich habe schon Abende über Drogensucht und Erotik gemacht, doch am Ende sieht man keine expliziten Szenen. Ich will niemanden schockieren. Was ich erzähle, geschieht auf einem schmalen Grat zwischen Deutlichkeit und Abstraktion. Wenn man zu deutlich wird, besteht immer die Gefahr, dass es ins Lächerliche kippt, deshalb fasziniert mich diese Grenzlinie. Ich gebe den Menschen Bilder mit, die es ihnen erlauben, über den Tanz hinauszudenken, die in ihnen bestenfalls ein Bewusstsein für schwierige Themen wecken. Wir erzählen etwas Schreckliches, aber wir wollen das Publikum nicht quälen, sondern zu einer Auseinandersetzung mit den schrecklichen Zuständen in unserer Welt anregen.
In seiner Choreografie »Herrumbre« thematisiert Nacho Duato, Intendant des Staatsballetts Berlin, Terror und Folter. Ab Januar 2017 zeigt das Ensemble die Produktion erneut in der Berliner Staatsoper im Schillertheater. Ein Gespräch über Störgeräusche, Menschenrechte und Schönheit.
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»Es geht auch darum, dass andere Menschen so weit erniedrigt werden, dass sie ihre Würde verlieren, innerlich erodieren, verrosten.« Besonders verstörend wirkt die Klangkulisse, weil man die Geräusche nicht zuordnen kann. Klang ist etwas sehr Wichtiges in Bezug auf Folter. Ich habe mal eine Dokumentation über Folteropfer der Pinochet-Diktatur in Chile gesehen. Alle sagten, dass sie die Geräusche nicht vergessen konnten: das Geräusch des Elektroschocks, die Stiefelschritte im Korridor, das Quietschen der sich öffnenden Zellentür. Anders als die Bilder – oft hatten sie während der Folter die Augen geschlossen. Die Geräusche aber geistern immer noch durch ihre Träume. Es gibt immer wieder auch zärtliche Passagen, Paarbegegnungen zum Beispiel. Aber auch sie werden von diesen Störgeräuschen geprägt. Was die wenigsten erkennen: Die Geräusche beim ersten Pas-de-deux mit dem Cello sind fressende Schweine. Später gibt es Aufnahmen aus einer Fabrik, in der Holz gehäckselt wird. Diese Störgeräusche halten die Szene im Gleichgewicht, denn auch in den zärtlichen Szenen ist die Bedrohung allgegenwärtig. Ich wollte allerdings auch die Schönheit zeigen: Einige der schrecklichen Folterbilder sind wunderschön, man denke nur an Francisco de Goya, Matthias Grünewald oder Lucas Cranach. Außerdem wollte ich nicht nur die Opfer zeigen, sondern auch die Mütter, die Freundinnen, die Ehefrauen. Oft ist es so, dass auf der Bühne Tänzer, die eben noch Opfer waren, plötzlich Täter sind. Warum? Ich wollte keinen anekdotischen Abend choreografieren, sondern Mechanismen offenlegen. Es gibt keine Geschichte, nur Bilder. In »Herrumbre« spielt eine Wand aus Metallgittern eine wichtige Rolle. Ich wollte ein Objekt, das an den Zaun in Guantánamo erinnert, aber nicht die ganze Zeit. Deshalb gibt es jetzt dieses Objekt von Jaffar Chalabi, das sich auf sehr ästhetische Weise bewegt. Mal erinnert es an eine Waffe, dann wieder an ein Flugzeug, an eine Foltermaschine, einen Satelliten. Was bedeuten Ihnen Menschenrechte? Sie sind unabdingbar! Ich freue mich sehr, dass Amnesty International Deutschland mit uns kooperiert in einer Situation, in der es mit den Menschenrechten weltweit bergab geht, auch in Europa, sogar in Mitteleuropa. Ist es nicht wundervoll, wenn das Publikum, vor allem das konservative, in die Staatsoper kommt und die universellen Menschenrechte das Erste sind, was es im Programmheft liest? Woher kommt Ihr Bewusstsein für Menschenrechte? Ich komme aus Spanien und ich erinnere mich noch gut an die letzten Toten unter Franco. Und dann der ETA-Terror: In den
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NACHO DUATO
Neunzigern hatte man sich schon regelrecht an ihn gewöhnt, weil die Nachrichten voll davon waren. Außerdem bin ich mein halbes Leben lang schon ein Fremder, in Dänemark, den Niederlanden, Russland, jetzt Deutschland, und damit ein Bürger zweiter Klasse. Die Menschen sind meistens sehr freundlich zu mir, aber ich verstehe ihre Sprache nicht, muss ständig auf irgendwelche Ämter. Ich mag diese Situation sogar in gewisser Weise, aber für Flüchtlinge zum Beispiel, für die diese Situation existenziell ist, muss es furchtbar sein! Haben Sie mit Ihren Tänzern über das Thema Menschenrechte gesprochen? Ich bin ein Choreograf, der wenig über seine Arbeit spricht. Ich habe den Tänzern gesagt: Das ist das Thema, geht auf die Webseite von Amnesty International, informiert euch. Wichtig ist nicht, was ich über das Thema sage, sondern was man am Ende auf der Bühne sieht. Man kann das nicht tanzen, wenn man nicht innerlich beteiligt ist. Ich finde, das sieht ziemlich überzeugend aus, also muss es bei den Tänzern Klick gemacht haben. Das könnte auch daran liegen, dass im Staatsballett alle möglichen Nationen vertreten sind, von denen viele wiederum eine Geschichte der Folter haben. Viele? Alle! Menschen wissen oft nicht, wie viel Folter uns umgibt, dabei muss man nicht lange suchen. In Barcelona zum Beispiel, also im Herzen der EU, hat die Polizei einen Menschen ohne Papiere umgebracht, einen Rumänen, weil sie ihn zu hart schlugen. Das ist Folter! Und die ist unter keinen Umständen gerechtfertigt, nicht einmal, um Menschen zu retten.
INTERVIEW NACHO DUATO Nacho Duato, 1957 in Valencia/Spanien geboren, tanzte beim Cullberg Ballet in Stockholm und unter Jiří Kyliáns am Nederlands Dans Theater in Den Haag, wo er auch zu choreografieren begann. 1990 übernahm er die Leitung der Compañía Nacional de Danza in Madrid, 2011 die künstlerische Leitung des Mikhailovsky-Theaters in St. Petersburg. Seit 2014 ist er Chef des Staatsballetts Berlin. Die Choreografie »Herrumbre« (Rost), die Nacho Duato 2004 für die Compañía Nacional de Danza erarbeitete und die 2016 ihre Berlin-Premiere erlebte, thematisiert Folter und Terror. Dabei entsteht keine Erzählung. Stattdessen wechseln sich intime Paarmomente mit Massenszenen ab, die Bildern aus Guantánamo und Abu Ghraib nachempfunden sind.
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Gucken für die Menschenrechte. Filme, die Menschenrechtsverletzungen dokumentieren und Geschichten dazu erzählen, sind heute wichtiger denn je.
»Der Preis hat uns weitergebracht« Pagonis Pagonakis hat als Juror über die Vergabe des Deutschen Menschenrechts-Filmpreises entschieden, der dieses Jahr zum zehnten Mal vergeben wurde. Worauf es dabei ankommt, weiß er sehr genau: Er hat ihn selbst schon gewonnen. Interview: Jürgen Kiontke
Was ist ein guter Menschenrechtsfilm? Für mich ist wichtig: Da ist ein echtes Anliegen! Und dass ich das Gefühl habe, dass der Regisseur auch die richtigen filmischen Mittel gesucht hat. Wir suchen nach Filmen, die nicht nur inhaltlich, sondern auch qualitativ überzeugen – die optischen Mittel müssen optimal eingesetzt werden. Wir schauen, welcher Film am meisten Wirkung entfaltet und dabei auch noch gut recherchiert ist. Einfache Parteinahme propagandistischer Art ist
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schlecht. »Iran Elections« von Ali Samadi Ahadi, den Gewinner von 2010, fand ich gelungen: Ein Genre-Mix mit Handy-Videos, Straßenszenen, Animationen. Sie haben den Menschenrechts-Filmpreis selbst bekommen, und zwar für ihre Recherchen über den Tod von Oury Jalloh, der 2005 im Polizeigewahrsam in Dessau verbrannt ist. Welche Wirkung hatte die Verleihung? Dieser Film lief ein Jahr nach dem Tod Jallohs, damals gab es kaum noch Berichterstattung zu dem Fall. Die Ausstrahlung in der ARD hatte schon viel Gewicht; und als dann noch der Preis kam, hat das den Fall noch mal richtig aufgerollt. Der Richter regte sich darüber auf, dass die Menschenrechtsgruppen mit ihren Anfragen sein Fax blockierten. Man hatte das Gefühl, dass das Verfahren vor dem Landgericht in Dessau letztendlich nur auf vereinten Druck von Menschenrechtlern und Medien zustande kam. Da hat der Menschenrechts-Filmpreis eine ganz konkrete Wirkung gehabt.
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DER MENSCHENRECHTS-FILMPREIS
Ist Film ein besonderes Medium? Ja! Wenn ein Film gut gemacht ist, kann er mehr Druck entfalten als ein Artikel, wenn der auch noch so gut recherchiert ist. Denn die Bilder bleiben den Leuten im Kopf hängen. Ich erinnere mich, dass viele die Szenen in der Zelle, die Nachstellung der Abläufe in unserem Film nicht vergessen hatten. Dass man sich ganz konkret vorstellen konnte, da ist ein Mensch verbrannt, und zwar gefesselt an allen vier Gliedmaßen. Im Gedächtnis bleiben – das ist die Stärke, die Film entfalten kann, gerade zu Menschenrechtsthemen.
Der Deutsche Menschenrechts-Filmpreis wurde 1998, zum 50-jährigen Bestehen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, ins Leben gerufen. Er wird alle zwei Jahre in Nürnberg verliehen. »Der Deutsche Menschenrechts-Filmpreis ist mehr als ein Filmwettbewerb«, sagt Marko Junghänel, der für die Organisation verantwortlich ist. Er soll ein ganzheitliches Bildungskonzept zum Thema Menschenrechte sein. Dazu gibt es Zusatzveranstaltungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Diese Filmvorführungen mit anschließenden Gesprächen haben sich unter dem Titel »Lange Nacht des Menschenrechtsfilms« etabliert. Veranstaltet wird der Wettbewerb von Amnesty International und 17 weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen. Sie verantworten den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis inhaltlich, strukturell und natürlich auch finanziell. Sie sorgen zudem für eine Weiterverbreitung der filmischen Inhalte in ihrem jeweiligen Arbeitsfeld. »Menschenrechts-Filmfestivals wie der Deutsche MenschenrechtsFilmpreis würdigen das zuweilen sogar lebensgefährliche Engagement von Filmemachern. Filme, die Menschenrechtsverletzungen dokumentieren und Geschichten dazu erzählen, sind heute wichtiger denn je, und sie müssen überall auf dieser Welt ihr Publikum finden«, sagt Vorstandsmitglied Jessica Böhner von Amnesty International. Seit Beginn wurden ca. 2.500 Filmproduktionen eingereicht. Bislang wurden 58 Filmteams mit dem Deutschen Menschenrechts-Filmpreis in verschiedenen Kategorien geehrt. Infos und Termine: www.menschenrechts-filmpreis.de
Und? Als mein Kollege Marcel Kolvenbach und ich den Film gemacht haben, haben wir an so etwas natürlich nicht gedacht. Wir haben noch nie einen Film mit Hinblick auf irgendwelche Auszeichnungen gemacht. Was ist effektiver: Dass die Filme eher der Wahrheit verpflichtet sind? Oder doch eher der Massenkompatibilität, um möglichst große Aufmerksamkeit zu erreichen? Vorsicht: Wenn man nicht im Detail gegenrecherchiert hat, kann man sich ganz ungewollt angreifbar machen, was dem ganzen Film schaden kann. Wir hatten vor zwei Jahren den Film »Camp 14« über ein Straflager in Nordkorea, bei dem der Protagonist in einigen Punkten später eingeräumt hat, falsche Angaben zu seiner Lebensgeschichte gemacht zu haben. Zunächst war das eine heikle Situation für die Jury, da man das kaum überprüfen kann. Der Protagonist, der schwer traumatisiert war, hat sich dafür entschuldigt. Ihm war bewusst, dass das die ganze Geschichte in Misskredit bringen kann. Denn es stimmte zwar einiges nicht, aber das brutale Straflagersystem existiert ja. Eine heikle Situation ist dies auch, weil solche Unstimmigkeiten propagandistisch ausgenutzt werden können. Jedoch wurden die Angaben dann korrigiert. Ich finde, man darf im Film ruhig erzählen, dass man nicht alle Fragen beantworten kann. Leerstellen und Grauzonen sollte man ruhig benennen, denn die Realität ist selten Schwarz-Weiß. Was wünschen Sie sich für den Preis für die nächsten Jahre? Dass er weiter von engagierten Leuten getragen wird. Was mir in Nürnberg immer gefallen hat, ist, dass hier nicht unbedingt die mit allen Wassern gewaschenen Medienprofis gewinnen, sondern dass es auch den Amateurpreis gibt und den Hochschulpreis. Neben dem Profi-Filmemacher sitzt hier der Schüler. Dieses Prinzip sticht in der Preislandschaft richtig heraus. Denn das heißt auch: Hier kommen Leute, die machen das nicht, um Preise zu bekommen, Geld oder großes Publikum. Hier wird oft aus einer ehrlichen Empörung heraus gehandelt. Aber man kann nicht unbedingt vorher sagen, was kommt: Dieses Jahr hatten wir ein sehr starkes Wettbewerberfeld, zum Teil kinotaugliche Großproduktionen.
MENSCHENRECHTS-FILMPREIS
DIE PREISTRÄGER 2016 Der Deutsche Menschenrechts-Filmpreis wurde in sechs Kategorien vergeben, die Preisverleihung ist am 10. Dezember 2016 in Nürnberg. Langfilm: »Cahier africain« von Heidi Specogna, Kurzfilm: »Esperanza 43« von Oliver Stiller, Magazinbeitrag: »Künstler gegen das Verbrechen« von Alexander Bühler und Jens-Uwe Korsowsky, Hochschule: »Where to, Miss?« von Manuela Bastian, Amateure: »Morgenland« von Sonja Elena Schroeder, Luise Rist, Hans Kaul und Thomas Kirchberg, Bildung: »Durch den Vorhang« von Arkadij Khaet.
INTERVIEW PAGONIS PAGONAKIS Foto: privat
Foto: Martino Lombezzi / contrasto / laif
Man könnte sagen, die Organisationen haben damals mit der Filmauswahl auch ihr eigenes Thema gesetzt … Der Preis hat uns weitergebracht, keine Frage. Er lief dann sogar im Beweisaufnahmeverfahren des Gerichts. Auch im Ausland wurde man auf den Fall aufmerksam, bis nach Südafrika. Oury Jallohs Fall taucht im Menschenrechtsbericht des USAußenministeriums auf. Eine Reporterin fragte uns, ob wir den Film gemacht hätten, um den Film zu machen oder um den Preis zu bekommen.
Pagonis Pagonakis, 44, ist Mitglied in der Jury des Deutschen Menschenrechts-Filmpreises. 2006 erhielt der vielfach ausgezeichnete Filmemacher diesen Preis für seinen TV-Film »Tod in der Zelle – Warum starb Oury Jalloh?«.
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Der Mann, der das Zeug hätte
Für ein demokratisches Syrien. Mohammed Abu Hajar.
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Mohammed Abu Hajar rappt sich seinen Schmerz über die misslungene Revolution in Syrien, seine Flucht und die teils unsäglichen Bedingungen für Flüchtlinge in Deutschland von der Seele. Damit hat es der 29-jährige Syrer bis auf die Berlin-Biennale geschafft. Von Lena Reich
Foto: Enrico Incerti
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ackt steht der hagere Mann mit den dunklen Locken auf dem Dach eines Hauses. Im Hintergrund sind der berühmte Berliner Betonhimmel und die rot geklinkerte Fassade eines wilhelminischen Schulbaus zu sehen. Der Mann breitet die Arme aus und – rappt. In einem Wahnsinnstempo schildert er das Leben in seiner einstigen Heimatstadt Tortus, die er auf der Flucht vor Assads Folterstaat hinter sich lassen musste. Am Ende des Clips steht er am Rand des Daches, vor ihm der Abgrund – und breitet seine Arme aus. Mohammed Abu Hajar lächelt dieses feine Lächeln, stets zwei Gedanken weiter, im Mundwinkel klebt ein Zigarettenfilter. Der 29-Jährige kennt Zahlen zu Suiziden und Suizidversuchen in Flüchtlingsunterkünften. In Hamburg etwa seien im vergangenen Sommer binnen acht Wochen 13 Selbstmordversuche registriert worden. Auch er sei in seiner Massenunterkunft phasenweise schier verrückt geworden. »Die ersten drei Monate waren wie Gefängnis, nur ohne Folter«, erklärte er im Januar 2015 der deutschen Öffentlichkeit. Die Andeutung des Todessprungs in seinem Video bezieht sich jedoch vor allem auf die Kluft zwischen hier und dort, Inklusion und Exklusion: Das Dach, auf dem Abu Hajar rappt, gehört einer Genossenschaft in Berlin-Wedding, in der er ein WGZimmer bewohnt. Das rote Klinkergebäude gegenüber war früher eine Schule und ist jetzt eine Flüchtlingsunterkunft der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Abu Hajar wohnte sechs Monate in einer ebenfalls beschlagnahmten Schule, nur wenige Kilometer vom Drehort entfernt. Diese Unterkunft war am Tag seiner Ankunft geöffnet worden, es gab weder ausreichend Betten noch Toiletten. Sozialarbeiter rieten ihm, bei Freunden unterkommen, bis das Gröbste geregelt sei. Zwei Wochen später kam er wieder. Einiges machte ihn damals gleichermaßen depressiv wie aggressiv, vor allem das ewige Warten vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) – bei Minustemperaturen mit einem Schreiben aus umweltfreundlichem Papier in der Hand. Vor kurzem hat er nun erfahren, dass die Unterkunft geschlossen werden soll. Die Bewohner sind mittlerweile erstaunlich gut in die Nachbarschaft integriert. Ihre Verlegung in ein Containerdorf außerhalb der Stadt kann wohl kaum noch abgewendet werden. So laut und zornig der junge Mann über die menschenverachtende Politik der EU und des Assad-Regimes rappt, im Gespräch argumentiert er mit kluger Zurückhaltung, ganz ruhig. Wichtig ist ihm klarzustellen, woher er stammt und wohin er will: Syrien. Er hätte seine Heimat nie verlassen, hätten ihn Assads Soldaten nach zwei Monaten Haft wegen Kriegsdienstverweigerung und Teilnahme an Demonstrationen nicht erneut aufgesucht. Während seiner gesamten Kindheit war sein Vater als politischer Gefangener inhaftiert. Er selbst floh. »Ich wollte lieber sterben, als jemals wieder ins Gefängnis zu gehen und diese Folter zu ertragen.« Über Jordanien und den Libanon gelangte er nach Europa und konnte in Rom ein Master-
MOHAMMED ABU HAJAR
studium der Politischen Ökonomie abschließen, bevor er nach Deutschland ging. Wie er das alles geschafft hat? Abu Hajar weigert sich, seine Kraft oder seine Erfahrungen über die anderer Flüchtlinge oder Terroropfer zu stellen. Bis heute sind einige seiner Freunde aus dem »Arabischen Frühling« verschwunden. Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien vor fünf Jahren starben 18.000 Menschen in den Gefängnissen des Regimes, schätzt Amnesty International. Zeugen berichten von schwerer Folter und Misshandlungen in den Haftanstalten. Oppositionelle laufen stets Gefahr, auf offener Straße festgenommen zu werden. »Mit HipHop gebe ich all den Unsichtbaren eine Stimme«, sagt Abu Hajar. Gesänge gehörten auch zum »Arabischen Frühling« in Syrien, als er Straßenaktionen und oppositionelle Gruppen organisierte. »Als die Leute auf die Straßen gingen und zu singen begannen, da habe ich das erste Mal gespürt, dass wir es schaffen können, dieses Regime zu stürzen.« Vier Jahre später wurde Mohammed Abu Hajar in Deutschland als politischer Flüchtling anerkannt. Heute arbeitet er für die Berliner NGO »adopt a revolution« und kämpft für einen demokratischen Wiederaufbau Syriens. Aus der devoten Haltung, die die Politik den Geflohenen zuweist, hat er sich mit Trotz und Unterstützung eines stabilen Freundeskreises befreit. Abu Hajar hat die Organisation »Wedding hilft!« mitgegründet, Filmabende und Diskussionen über den syrischen Widerstand und die Flüchtlingslager im Libanon veranstaltet. Er hat seinen alten Freund Ahmad Niou nach Berlin geholt und mit ihm und dem Italiener Matteo Gugliemo die »Mazzaj Rap Band« gegründet. Die drei sind in Mailand, Duisburg und Basel aufgetreten mit ihrem »Sound der syrischen Diaspora«. Sie spielen klassische Instrumente zu Abu Hajars wuchtigem Sprechgesang: »If I live in humilitation and everyone leaves, or get used to killing, down with the homeland, if I live in fear, shot the Kalashnikov and throw a Molotov.« Die Möglichkeit, sich im Rap künstlerisch auszudrücken, hilft bei der Verarbeitung der Vergangenheit. Im Video zum Song »Ya Sham« sind Bilder der total zerstörten Stadt Homs zu sehen, dazu ertönt der Singsang eines Muezzins: »How did you add so much bitterness to my life?«, fragt Abu Hajar an dieser Stelle. Fast immer geht es auch um den schmerzvollen Abschied von seiner Heimat. Inzwischen ist auch die Kunstwelt auf Abu Hajar aufmerksam geworden. Im September wurde im Rahmen der 9. BerlinBiennale ein Film des türkisch-kurdischen Aktionskünstlers Halil Altindere gezeigt, in dem Abu Hajar über seine Flucht nach Europa und das Türkeiabkommen rappt. Der Mann, der rhetorisch das Zeug dazu hätte, jedes Parlament wachzurütteln, wartet derzeit auf eine Zulassung für seine Doktorarbeit. Die Autorin arbeitet als freie Kulturjournalistin in Berlin.
»Die ersten drei Monate in der Massenunterkunft waren wie Gefängnis, nur ohne Folter.« 65
Underdogs im Plattenbau »Nationalstraße«, der neue Roman des tschechischen Schriftstellers Jaroslav Rudiš, thematisiert den erstarkenden Nationalismus und Fremdenhass in seinem Heimatland. Von Tanja Dückers
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s gibt nicht viele Schriftsteller, die über Underdogs aus Plattenbausiedlungen schreiben. Über diejenigen, die in der Kneipe herumhängen, statt zu arbeiten, sich in Größenfantasien flüchten und Hass verbreiten – gegen »die da oben«, gegen Frauen, gegen Ausländer, eigentlich gegen alle. Man erfährt meist eher in den Medien über sie, über ihre politischen Gesinnungen, ihr Wahlverhalten. Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš, Jahrgang 1972, Autor zahlreicher Romane und Drehbücher, die seine Generation sowie das gegenwärtige Tschechien auf humorvoll-skurrile Weise beschreiben, hat das Experiment gewagt, solch einen Typen zur Hauptfigur seines neuen Buchs »Nationalstraße« zu küren. Rudiš selbst ist nicht gerade ein Elfenbeinturmbewohner: Kaum ein Schriftsteller seines Landes kennt die Prager Kneipen so gut wie er. Und für seinen Antihelden, der sich Vandam (nach dem Action-Schauspieler Jean-Claude Van Damme) nennt, für diesen muskelbepackten Verlierertyp mit großer Klappe, gibt es,
so der Autor im Nachwort, eine reale Vorlage: Ein Typ mit gebrochener Nase und vielen Schrammen im Gesicht – ein ehemaliger Polizist, der wegen Gewaltexzessen aus dem Dienst entlassen wurde – erzählte Rudiš bei einigen Bieren in einer Kneipe aus seinem Leben. Und nun erzählt Vandam, der böhmische Wendeverlierer, der die Welt nach 1989 nicht mehr richtig versteht und sich nicht in ihr zurechtfindet, dem Leser also von sich. Vor allem lässt er ihn seine Ansichten wissen. Gegen was und wen er alles ist. Was er schon immer wusste. Bisweilen kann man Vandams großspuriges, pathetisches Geschwätz kaum mehr ertragen, verspürt den Impuls, das Buch in die Ecke zu werfen. Kalt lässt einen »Nationalstraße« nicht. Vandam redet dummdreist über Dinge, von denen er nichts versteht, prügelt sich als einsamer Schläger durchs Leben und hebt im Fußballstadion regelmäßig die rechte Hand zum Hitlergruß. Dazu hat er markige Worte parat: »Ich bin ein Römer. Kein Nazi. Warum sollte man in Europa nicht mit dem römischen Gruß grüßen dürfen?« Nach abfälligen Tiraden über »Ökobiofeministinnen«, »Neger«, »Penner«, »Politiker« oder »Punks« – Vandam sieht in jedem einen Feind – folgen jedoch auch persönlichere Passagen. Vandam erzählt von seinen Eltern, vom Vater, der immer angedroht hatte, sich zu erhängen und dann am Ende »nur« vom heimischen Balkongeländer sprang. Von der Mut-
Prager Platte. Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš verortet in Plattenbausiedlungen wie dieser seinen böhmischen Wendeverlierer und Fremdenhasser.
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ter, die sich nach dem Freitod des Vaters von einem »Schatten« verfolgt fühlte, zunächst zu einem verängstigten Messie mutierte und die kleine Plattenbauwohnung mit Schnäppcheneinkäufen vollstopfte, dann, immer wirrer im Kopf, schließlich aus der Siedlung abhaute und, bis zum heutigen Tag, nicht mehr zurückkehrte. Rudiš gibt seinem Helden durchaus Facetten und Tiefe. Was noch Vandams Erfahrung und was schon Rudiš’ Erfindung ist, lässt sich zwar nicht sagen, aber das ist nebensächlich. »Nationalstraße« beschreibt einen jungen Tschechen, der repräsentativ ist für viele seiner Generation – für all die jungen Männer und Frauen, die das Leben nach der »Samtenen Revolution« (Vandam unterstützte diese) in einer weniger staatlich kontrollierten, sondern kapitalistisch ausgerichteten Gesellschaft als individualisierten Dauerkampf aufgefasst haben und nun überall Gefahr wittern. Was und wen der Hobbyboxer Vandam eigentlich ständig gegenüber wem genau »verteidigen« will, wird durch seine Tiraden nicht klar und ist ihm wohl auch selbst nicht bewusst. Die eigene Orientierungslosigkeit wird dabei gern mit großen bedeutungsschweren Begriffen kaschiert. »Ich kann nichts dafür. Ich will mich gar nicht raufen. Ich will bloß Gerechtigkeit. Und Anstand«, sagt der Schlägertyp aus dem Wohnblock. Seine Ängste vor den »Anderen« und den »Fremden« sind genauso irrational wie die der Bewohner kleiner Dörfer in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern vor Flüchtlingen, obwohl sich kaum ein Migrant dorthin verirrt. Wer nachvollziehen will, warum weite Teile Mittel-Osteuropas eine ablehnende Haltung gegenüber Flüchtlingen einnehmen, dem sei dieses Psychogramm eines Wendeverlierers Ost empfohlen. Der etwas monotone Monologstil kann allerdings ermüden. Es wäre wünschenswert gewesen, dass der Autor noch mehr Figuren aus der Nachbarschaft, dem Bekanntenkreis oder – in Rückblenden – aus der Familie von Vandam hätte auftreten lassen und das Milieu aus mehreren Perspektiven beleuchtet hätte.
»Ich kann gar nichts dafür. Ich will mich gar nicht raufen. Ich will bloß Gerechtigkeit.« Im Nachwort schreibt Jaroslav Rudiš: »Ich wollte ein Buch schreiben über unser Land, das zwar im Herzen Europas liegt, aber gern so tut, als passierte nichts um uns herum. Ich wollte ein Buch darüber schreiben, wie wir die Welt von unseren Kneipen aus betrachten und hoffen, alle Kriege und Krisen mögen an uns vorbeiziehen.« Und: »Ich wollte ein Buch schreiben über uns Tschechen, die wir (...) große Angst vor dem Fremden und vor den Fremden haben.« Auch wenn die Lektüre von »Nationalstraße« zum Teil die Nerven strapaziert und es schon lustigere Bücher von Rudiš gegeben hat: Es ist gelungen. Der Titel ist zudem gut gewählt, weil er einerseits auf die gleichnamige große Straße im Zentrum Prags rekurriert, andererseits aber auch das größere gesellschaftliche Hintergrundthema des Buchs anspricht – den verstärkten Nationalismus der Nachwende-Ära in Tschechien. Jaroslav Rudiš: Nationalstraße. Aus dem Tschechischen von Eva Profousova, Luchterhand Literaturverlag, München 2016. 166 Seiten, 14,99 Euro.
Foto: Libor Sojka / CTK / pa
»NATIONALSTRASSE«
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Gefahren des Geschlechts Vergewaltigung ist nicht nur eine verbrecherische Tat. Sie ist auch eine Drohung, aus der sich viel über Gesellschaft, Kultur und Kommunikation ablesen lässt. Mithu Sanyal legt ein kritisches und wichtiges Buch zum Thema vor. Von Maik Söhler
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Foto: Sara Vida Coumans / Amnesty
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s passiert nicht oft, dass eine Schriftstellerin die Leserschaft vor ihrem Buch warnt: »Achtung, dies ist ein Buch über Vergewaltigung. Es gibt darin zwar keine drastischen Beschreibungen von brutalen Details, allerdings werden Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt und die dahinterstehenden Konzepte eingehend diskutiert.« Mithu Sanyal, Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin des nun erschienenen Buchs »Vergewaltigung« nennt diese Worte eine Triggerwarnung, konventioneller gesprochen könnte man auch von einem warnenden Vorwort reden. Mit ihrer Warnung macht Sanyal von Anfang an alles richtig. Sie schreibt über Vergewaltigungen und sie schreibt weit darüber Gegen Vergewaltigung. Aktivistin der Amnesty-Kampagne »My body, my rights«. hinaus: Dass Vergewaltigung nicht nur eine Tat ist, ein Verbrechen, sondern auch eine Drohung an alle Frauen (und manchmal auch dämonisierung verweigerte und vielmehr Eichmann als Funkan Männer); eine Drohung, die Verhaltensweisen erzwingen tionär in einer Verwaltungsstruktur handeln sah, welche die sowie Autonomie, Freiheit und Selbstbewusstsein beschränken antisemitische Vernichtungsmaschinerie reibungslos laufen will. Dazu gehört auch die Warnung derer, die die Drohung ließ. Sanyal holt nun mit Arendts Verweis aufs Banale einen alernstnehmen: »Zieh dich anders an«, »verhalte dich unauffällig«, »mach dich nicht allein auf den Heimweg«. ten Kernsatz aus der Frauenbewegung zurück in die Gegenwart, Um es anders zu sagen: »Vergewaltigung« ist ein Buch, das wonach Vergewaltigung »nichts mit Sex zu tun habe, sondern die gesellschaftlichen, kulturellen und kommunikativen Grund- alles mit Gewalt«. Sie stellt den Kernsatz infrage, ohne eine klare lagen von Gesellschaften untersucht, in denen sich patriarchale Antwort zu geben, lädt aber zugleich ein, über juristische, gesellund genderdiskriminierende Denk- und Verhaltensweisen trotz schaftliche und emotionale Aspekte von Sexualität nachzudendes Kampfes um Emanzipation gehalten haben. Sanyal wählt ken und zu diskutieren. dabei einen Ansatz, der weder den Diskurs der alten FrauenbeEin wenig mehr Haltung wäre an manchen Stellen des Buwegung übernimmt noch den der neuen Feministinnen, sonches hilfreich. Und doch wird deutlich, wie viel Arbeit noch zu dern der beide Richtungen auf brauchbare Argumente und sinn- leisten ist, um Vergewaltigung in allen Teilen der Welt (und nicht volle Handlungen abklopft und sich damit individuellen wie nur in einigen Regionen) zu ächten, der permanenten Drohung kollektiven Strategien gegen Vergewaltigung und sexualisierte die Grundlage zu entziehen und Warnungen überflüssig zu maGewalt zuwendet. chen. Sanyals Buch kann als kleiner, aber wichtiger Es ist nicht immer leicht, ihr zu folgen. »In der Regel ist VerTeil dieser Arbeit verstanden werden. gewaltigung eben nicht das wirklich Böse, sondern das Banale«, schreibt sie in einer Passage über Geschlechterrollen, Sexualität Mithu M. Sanyal: Vergewaltigung. Aspekte eines und »Rape Culture« – ähnlich wie sich die Philosophin Hannah Verbrechens. Nautilus, Hamburg 2016. 240 Seiten, Arendt einst in »Eichmann in Jerusalem« einer einfachen Täter16 Euro.
Rechtsaußen in Europa
Was ist ein Terrorist?
Wenn der Blick von innen nicht weiterführt, kann manchmal ein Blick von außen helfen: Wie interpretieren europäische Journalisten den Aufstieg der AfD in Deutschland? Österreichische Journalisten um Roland Adrowitzer, Chefreporter der ORF-Fernsehsendung »Zeit im Bild« und Leiter des ORF-Korrespondentenbüros, legen mit »Rechts um! Wie Europa abgewählt wird« einen Sammelband zum Rechtsruck in Europa vor, in dem auch der Aufstieg der extremen Rechten in Deutschland thematisiert wird. Ebenfalls untersucht werden Großbritannien, Polen, Ungarn, Frankreich, die Niederlande und die Staaten Skandinaviens, außerdem die Schweiz und Russland, weil die beiden letztgenannten Länder, so die Begründung im Vorwort, mehr oder weniger eng mit der EU verbunden sind. Trotz aller Unterschiede zwischen den Parteien und Bewegungen der extremen Rechten gibt es nach Ansicht von Adrowitzer einen gemeinsamen Nenner: »Zwei Kernthemen machen sie stark und immer stärker: die Ablehnung der massiven Zuwanderung aus muslimischen Ländern und die schwere Kritik an der Europäischen Union«. Die Beiträge zu den einzelnen Staaten sind informativ, präzise recherchiert und facettenreich. Es mangelt stellenweise an einer Vertiefung, weil Widersprüche der rechtsextremen Ideologie, die von rechtsliberal bis offen faschistisch reichen kann, nur gestreift werden. Ein Fazit zum europäischen Vergleich fehlt. Dennoch: »Rechts um!« ist ein solides Whois-who der extremen Rechten in Europa.
Nach »Papa, was ist ein Fremder?« und »Papa, was ist der Islam?« legt der in Paris lebende marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun mit »Papa, was ist ein Terrorist?« einen dritten Band vor, in dem er eine Vater-Tochter-Fragestunde mit einem politischen Thema verbindet. Vom islamistischen Terror ist Ben Jelloun direkt betroffen, zwei seiner Freunde, die Zeichner Cabu und Wollinski, starben beim Terrorangriff auf die Satirezeitschrift »Charlie Hebdo«. Seine Großnichte Leila Alaoui, die im Januar 2016 als Fotografin für Amnesty International nach Ouagadougou, Burkina Faso, reiste, fiel dort dem Terror von Boko Haram zum Opfer. Sein neues Buch zerfällt in zwei Teile: Einen schwachen ersten, in dem dürftig erklärt und definiert wird, was Terror ist, wo er herkommt, wie Terroristen denken und handeln, und islamistische Propaganda erklärt wird. Und einen starken zweiten, in dem liberale Lesarten des Islam der islamistischen Deutung entgegengestellt werden. Es scheint, als richte sich »Papa, was ist ein Terrorist?« vor allem an Jugendliche aus arabisch-islamischen Familien, die in Europa leben. Jedenfalls kämpft Ben Jelloun explizit um diese Leserschaft. Seine Empfehlung zur Terrorismusprävention richtet sich aber an alle: »Bildung, tägliche Arbeit in der Schule, in den Familien, in den Medien, überall, wo wir die Lebenden heilen können, die von so viel Hass und Lügen beschädigt sind.«
Roland Adrowitzer: Rechts um! Wie Europa abgewählt wird. Styria, Wien/Graz/Klagenfurt 2016. 224 Seiten, 24,90 Euro.
Kämpfe in Kalkutta »Der Vergangenheit entrissen, über der Gegenwart schwebend, ist das Glück etwas, das immer in der Zukunft liegt« – ausgerechnet in Kalkutta formuliert die Ich-Erzählerin Trisha in Shumona Sinhas neuem Roman diese Definition des Glücks. Ausgerechnet? Ja, denn Kalkutta gilt als Stadt des Niedergangs und als sozialistische Hochburg. In »Kalkutta« erzählt die indische Autorin die Geschichte Trishas, die aus Paris in ihre Geburtsstadt zurückkehrt, um ihren Vater zu beerdigen, einen Mann, der sein Leben der Kommunistischen Partei Bengalens gewidmet hat. Nach der Beerdigung drängen sich ihr viele Erinnerungen auf und es beginnt eine Zeitreise durch das politische Indien von den siebziger Jahren bis ins erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. Dabei wird die Repression der Kongresspartei gegen kritische Oppositionelle deutlich und der Aufstieg des Hindu-Fundamentalismus, der Ängste vor Muslimen schürt. Nachdem Shumona Sinha 2011 in Frankreich ihren Roman »Erschlagt die Armen!« veröffentlicht hatte, in dem sie in literarischer Form mit den französischen Asylbehörden abrechnete, verlor sie ihren Job als Dolmetscherin beim Amt für Migration. Aus künstlerischer Sicht war dies kein Nachteil, wie ihr neuer Roman bestätigt. Shumona Sinha: Kalkutta. Aus dem Französischen von Lena Müller. Nautilus, Hamburg 2016. 192 Seiten, 19,90 Euro.
Tahar Ben Jelloun: Papa, was ist ein Terrorist? Aus dem Französischen von Christiane Kayser. Berlin Verlag, Berlin 2016. 128 Seiten, 14 Euro.
Suche nach Herkunft Schule, Disko, Pickel, Klamotten, Musik, Verliebtsein – Teenageralltag, wie ihn Mini zu Beginn ihrer Geschichte beschreibt. Doch dabei bleibt es nicht. Denn schon bald wird klar, dass Minis Geschichte keine federleichte Teenagerromanze ist. Die Sechzehnjährige, die eigentlich Minh Thi heißt, ist nicht nur mit den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens konfrontiert, sondern auch mit falschen Erwartungen, Vorurteilen und Alltagsrassismus, mit Armut und Ausgrenzung, Fragen des Andersseins und der (kulturellen) Identität. 1976 floh die Chinesin als Kleinkind mit ihrem Vater als Boatpeople aus Vietnam. Mini hat jedoch keine Erinnerung an ihre alte Heimat und die Flucht. Sie spricht besser Deutsch als Kantonesisch und hat nur deutsche und keine chinesischen Freunde. Sehr zum Unmut ihres chinesischen Onkels, der ausgerechnet in dem Moment aus Australien anreist, als Minis Vater mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus liegt und sie versucht, dessen China-Restaurant am Laufen zu halten. Für ihren Onkel ist Mini eine Banane – außen gelb, innen weiß. Und doch ist es gerade der Besuch des strengen, traditionsbewussten Onkels, der Veränderung bringt: Sie beginnt sich mit ihrer Herkunft, dem Vietnamkrieg und der damit verbundenen Geschichte ihres Vaters und der beiden Angestellten des Restaurants auseinanderzusetzen. Que Du Luu: Im Jahr des Affen. Königskinder Verlag, Hamburg 2016. 288 Seiten, 16,99 Euro. Ab 14 Jahren.
Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer BÜCHER
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Krieg von zu Hause aus
Politpop mit Patina
Heather arbeitet jetzt in der Kantine. Eine fröhliche junge Frau sieht anders aus. Kein Wunder: Jahrelang hat sie Menschen sterben sehen. Denn sie führte als Drohnenpilotin aus der amerikanischen Provinz Krieg in Afghanistan: »Oft war die Prognose falsch. Ehrlich gesagt: Ich habe keine Ahnung, wie viele Menschen ich getötet habe.« Schweigen will sie nicht mehr, Geheimhaltung ist ihr egal. Verzweifelte wie sie kommen in dem Dokumentarfilm »National Bird« zu Wort. Das Ziel des Drohnenprogramms umschreiben sie so: Jeden an jeder Stelle der Welt töten können. Grenzen spielen keine Rolle. Von 121.000 »Zielen« in zwei Jahren ist im Film die Rede. »Obama hat gesagt: Schont die Zivilisten«, sagt Heather. Eine schöne Prämisse: Die Aufklärung kam immer erst nach dem Angriff. Nach getaner Arbeit ging’s zum Feierabendbier. »National Bird« beschreibt die zerstörerischen Erfahrungen ehemaliger Analysten der US-Air Force, die ihr Schweigen über den geheimen Einsatz der Kampfdrohnen brechen. Sie hatten sich freiwillig für den Dienst gemeldet, aus Idealismus, Not, Pflichtgefühl oder um Arbeit zu haben. Gequält von der Erkenntnis, am Tod Unschuldiger beteiligt gewesen zu sein, gehen sie an die Öffentlichkeit, ungeachtet möglicher Konsequenzen. Der Film war auf der Berlinale 2016 für den Amnesty-Filmpreis nominiert. Die trockene Optik, die fast schulfilmhafte Ästhetik verleiht den Geschehnissen alle nötige Härte.
Es gibt sie immer noch. Oder besser gesagt: wieder. In den achtziger Jahren waren Latin Quarter eine der führenden Politbands aus Großbritannien, mit »Radio Africa« landeten sie sogar einen Hit. Danach verschwanden sie in der Versenkung. Mehr als zwanzig Jahre nach ihrer Auflösung kam die Band 2011 wieder zusammen und probte den Neustart. Auf ihrem Album »The Imagination of Thieves« klingen sie so, als seien all die Jahre fast spurlos an ihnen vorübergegangen. Da sind die vertrauten, harmonischen und eingängigen Melodien, die leicht ins Ohr gehen, ohne oberflächlich zu sein. Und da sind die engagierten Texte, die von Korruption, Flüchtlingspolitik und Finanzkrise handeln. In dem von einer verträumten Keyboardmelodie getragenen Titelsong geht es um die Eine-Hand-wäscht-die-andere-Mentalität, um Bestechung im kleinen und im großen Stil: vom Polizisten, der seine Hand aufhält, bis zu den Waffenlieferungen westlicher Länder an autoritäre Regime wie Saudi-Arabien. Und in dem rockigsten Song des Albums, dem als Single vorab veröffentlichten »I am refugee«, schlägt die Band um den Gitarristen und Sänger Steve Skaith und den Songschreiber Mike Jones einen Bogen von den Kindertransporten während des Zweiten Weltkriegs bis zur Situation heute. Die Verkaufserlöse kommen der Menschenrechtsorganisation »Pro Asyl« zugute. Latin Quarter sind sich in jeder Hinsicht treu geblieben.
»National Bird«. USA 2016. Regie: Sonia Kennebeck. Kinostart: 12. Januar 2017
Latin Quarter: The Imagination of Thieves (Westpark / Indigo)
Interviews mit dem Terror
Monstergroove aus Mauretanien
1989 bildete der junge Joseph Kony in Uganda eine Armee aus entführten Kindern und Jugendlichen: die »Lord’s Resistance Army« (LRA). »Wrong Elements«, das waren bei der LRA Menschen, die ausgerottet werden müssen auf dem Weg zu einem theokratischen Regime. In 25 Jahren wurden mehr als 60.000 Minderjährige entführt, von denen weniger als die Hälfte den Dschungel lebend verlassen hat. Mit ihnen terrorisierte Kony die Bevölkerung Nordugandas. Bis heute jagt die ugandische Armee Kony und seine Rebellen. Die Gruppe soll sich irgendwo zwischen der Demokratischen Republik Kongo und Sudan aufhalten. Geofrey, Nighty, Mike und Lapisa sind Freunde, sie wurden im Alter zwischen 12 und 13 Jahren entführt. Heute versuchen sie, sich ein normales Leben aufzubauen. Sie sind sowohl Opfer als auch Täter, auf beide Arten schwer beschädigt. Regisseur Jonathan Littell besucht in »Wrong Elements« mit ihnen noch einmal Orte des Krieges. Unterbrochen werden die Interviewsequenzen durch Szenen vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, wo Konys Stellvertreter Dominic Ongwen der Prozess gemacht wird. Schriftsteller Littell, dessen Werk »Die Wohlgesinnten« zu den meistdiskutierten Büchern der Gegenwart zählt, zeichnet in seinem erstaunlich ruhigen Debütfilm die Spuren der Gewalt nach: Er lässt die jungen Leute einfach reden und unterbricht nicht. Kein Wunder, bei dem, was sie zu berichten haben.
Mauretanien war lange ein weißer Fleck auf der Landkarte des Pop. Der Wüstenstaat mag rückständig und politisch autoritär geführt sein. Aber musikalisch bringt Noura Mint Seymali von dort frischen Wind mit. Die Sängerin stammt aus einer angesehenen Musikerdynastie und ist fest in der Tradition der maurischen Griots verwurzelt, der traditionellen Preissänger und Geschichtenerzähler. Doch seit ihrem internationalen Debüt »Tzenni« aus dem Jahre 2014 wird Noura Mint Seymali auch von Freunden des psychedelischen Gitarrenrock verehrt, weil sie gekonnt das Beste aus beiden Welten verbindet. Die Langhalslaute Ardine und die TidanetLaute, eine Art Banjo, die ihr Gatte Jeiche Ould Chighaly virtuos spielt, koppelt sie mit E-Gitarre, Bass und Schlagzeug, sodass daraus ein rumpelnder Monstergroove entsteht. Als Produzent steuert der aus den USA stammende Schlagzeuger Matthew Tinari die Beats dazu, doch an die Essenz ihrer Musik rührt er nicht. »Arbina«, so der Name des Albums ist einer der vielen Namen Allahs. Der gleichnamige Titelsong verbindet ein religiöses Motiv mit einer modernen Komponente: Er mahnt Frauen, zur Krebsvorsorgeuntersuchung zu gehen. Das mag auf den ersten Blick unpolitisch erscheinen, tatsächlich ist es revolutionär. Ganz nebenbei widerlegt Noura Mint Seymali das islamophobe Vorurteil, das sich eine religiöse und verschleierte muslimische Frau nur als »unterdrückt« und fremdbestimmt vorstellen kann.
»Wrong Elements«. Regie: Jonathan Littell. Kinostart: 8. Dezember 2016
Noura Mint Seymali: Arbina (Glitterbeat)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 70
AMNESTY JOURNAL | 01/2017
Foto: Tony Elieh
Arabischer Underground. Tamer Abu Ghazaleh.
Nahöstliche Unruhe Mit seinem dritten Solo-Album »Thulth« liefert der arabische Musiker Tamer Abu Ghazaleh einen künstlerischen Kommentar zur unübersichtlichen Lage im Nahen Osten. Von Daniel Bax
T
amer Abu Ghazaleh zählt zu den innovativsten Köpfen der arabischen Underground-Musikszene. Als Kind palästinensischer Flüchtlinge 1986 in Kairo geboren, war er schon früh von Musik umgeben – seine Mutter leitete im Exil einen palästinensischen Chor. 1998 zog die Familie zurück ins Westjordanland. In Ramallah studierte er Musiktheorie, Komposition und Arrangement und lernte, die Lauten Oud und Buzuq zu spielen – an der Musikakademie, die heute nach dem Schriftsteller und Philosophen Edward Said benannt ist. Zu seinen Lehrern und Vorbildern gehörte Khaled Jubran, Begründer der wegweisenden Band Sabreen (»Die Geduldigen«). Die Gruppe kombinierte in den achtziger Jahren arabische Instrumente mit Geige, Cello und Kontrabass, stand in der Tradition arabischer Songwriter wie Marcel Khalife und vertonte Gedichte von berühmten Poeten wie Mahmoud Darwish. Sabreen galten als Pioniere, weil sie die palästinensische Folklore erneuerten und anstelle von politischen Slogans auf Introspektion setzten. Sie artikulierten Gefühle der Ohnmacht, der Trauer und der Sehnsucht nach einer anderen Realität, was angesichts der allgegenwärtigen israelischen Unterdrückung durchaus sehr politisch war. Als Sänger, Multiinstrumentalist, Komponist und Produzent tritt Tamer Abu Ghazaleh in gewisser Weise in ihre Fußstapfen.
FILM & MUSIK
»Musik sollte ein Mittel sein, um seine Gefühle auszudrücken – nicht, um bestimmte politische Ziele zu erreichen«, sagte er in einem Interview. In seinen Songs verbindet er die arabische Tradition mit Elektronik, Jazz, Postrock und psychedelischen Einflüssen und reichert sie um kreative Dissonanzen und Brüche an. Tamer Abu Ghazaleh ist in einer Vielzahl von Projekten aktiv. 2007 gründete er eka3, eine Plattform für die unabhängige arabische Musikszene, die Produktionsfirma, Promotion, Konzertagentur und Vertrieb unter einem Dach vereint. 2008 veröffentlichte er das Album »Mirah«, das die Situation jener Zeit reflektierte, die Ausgangssperren und die Gewalt im Nahen Osten, und das widerstreitenden Emotionen wie Liebe, Wut und Hass, Euphorie und Langeweile Ausdruck verlieh. Gemeinsam mit der ägyptischen Sängerin Marya Sadeh und dem libanesischen Musiker Zeid Hamdan bildet er seit einigen Jahren das Ensemble Alif. Konzerte führten ihn nach Beirut, Amman, Alexandria, Kairo und Tunis, aber auch nach London, Paris und Berlin. Sein drittes Solo-Album »Thulth« (»Das Dritte«), das in Beirut aufgenommen wurde, macht es dem Hörer nicht leicht. Mit Oud und orientalischer Percussion verströmt es eine Atmosphäre nervöser Unruhe, die jedoch hoch anregend ist. Tamer Abu Ghazaleh türmt multiple musikalische Schichten auf, taucht tief in die reiche Vielfalt der Stile seiner Region ein und zaubert von dort zärtliche Melodien hervor, um dann wieder mit überraschenden Wechseln und Brüchen aufzuwarten: Ein künstlerischer Kommentar zu der unübersichtlichen Lage im Nahen Osten. Tamer Abu Ghazaleh: Thulth (Mostakell / Cargo)
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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. In diesem Monat stellen wir drei Fälle aus dem internationalen Briefmarathon vor, um den Druck auf die Behörden über den gesamten Monat Dezember aufrechtzuerhalten. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de
AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)
Foto: Raúl García Pereira / Amnesty
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
PERU MÁXIMA ACUÑA Máxima Acuña lebt mit ihrer Familie seit mehr als 20 Jahren in Tragadero Grande in der Provinz Cajamarca. Seit Jahren führt die Kleinbäuerin einen Rechtsstreit mit dem Bergbauunternehmen »Minera Yanacocha«, das ihr Grundstück für sich beansprucht. Am 17. Dezember 2014 entschied ein Gericht in Cajamarca, dass sich die Familie nicht der illegalen Besetzung schuldig gemacht habe, wie »Minera Yanacocha« behauptet. Im Februar und September 2016 vernichtete der Sicherheitsdienst des Bergbauunternehmens Feldfrüchte, die die Familie für den Eigenbedarf angebaut hatte. Das Unternehmen gibt an, es habe dies im Rahmen seines »Rechts auf Verteidigung des Eigentums« getan. Auch peruanische Sicherheitskräfte schikanieren die Familie immer wieder. 2011 schlugen Polizisten Máxima Acuña und ihre Tochter bewusstlos. Später versuchte die Polizei mehrfach, die Familie gewaltsam zur Räumung des Geländes zu zwingen, und zerstörte Teile ihres Hauses. Máxima Acuña setzt sich für die Rechte auf Nahrung, Gesundheit und eine saubere Umwelt angesichts des zunehmenden Bergbaus in ihrer Region ein und erhielt 2016 für ihr Engagement den renommierten Goldman-Preis, der als »UmweltNobelpreis« gilt. Die gerichtliche Auseinandersetzung mit dem Bergbauunternehmen ist noch nicht abgeschlossen und die Familie wird weiterhin massiv bedroht. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission hat Peru bereits 2014 aufgefordert, für den Schutz von Máxima Acuña zu sorgen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Innenminister, in denen Sie ihn auffordern, jegliche Gewalt sowie Einschüchterungen und Schikanen der Polizei gegen Máxima Acuña und ihre Familie zu unterbinden und den Schutz von Máxima Acuña und ihrer Familie zu gewährleisten. Appellieren Sie an ihn, die Familie vor einer rechtswidrigen Zwangsräumung zu schützen. Bitten Sie zudem darum, dass alle gegen Máxima Acuña und ihre Familie gerichteten Schikanen und Angriffe umgehend, gründlich und unparteiisch untersucht, die Ergebnisse veröffentlicht und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Carlos Basombrío Ministerio del Interior Plaza 30 de Agosto s/n Urb. Corpac – San Isidro Lima, PERU (Anrede: Dear Minister / Sehr geehrter Herr Innenminister) Fax: 00 511 - 418 40 30 (kombinierter Telefon- und Faxanschluss, bitte sagen Sie: »Tono de fax, por favor«) E-Mail: dm@mininter.gob.pe (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Peru S. E. Herrn José Antonio Meier Espinosa Mohrenstraße 42, 10117 Berlin Fax: 030 - 20 64 10 77 E-Mail: info@embaperu.de (Standardbrief: 0,70 €)
AMNESTY JOURNAL | 01/2017
Der Student Fomusoh Ivo Feh wurde am 2. November 2016 zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil er sich in einer SMS an einen Freund über die bewaffnete Gruppe Boko Haram lustig gemacht hatte. Fomusoh Ivo Feh, kurz Ivo genannt, wollte gerade sein Studium beginnen, als er im Dezember 2014 festgenommen wurde. Er hatte eine SMS mit einem Witz über die bewaffnete Gruppe Boko Haram an einen Freund weitergeleitet. Darin hieß es, selbst Boko Haram würde einen nur aufnehmen, wenn man die Prüfung in mindestens fünf Schulfächern bestanden habe. Die SMS war eine Anspielung darauf, dass es selbst mit einem guten Abschluss für junge Menschen in Kamerun sehr schwer ist, eine gute Stelle zu finden. Nachdem der Freund die SMS an einen Schüler weitergeleitet hatte, fiel sie einem Lehrer in die Hände, der sich an die Polizei wandte. Daraufhin wurden Ivo und die beiden anderen jungen Männer festgenommen. Sie wurden in einem Gefängnis in der Hauptstadt Yaoundé inhaftiert und vor ein Militärgericht gestellt. Auch die beiden Freunde wurden am 2. November 2016 von einem Militärgericht wegen »Straftaten« in Verbindung mit Terrorismus zu je zehn Jahren Haft verurteilt. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von Kamerun, in denen Sie ihn auffordern, dafür Sorge zu tragen, dass Fomusoh Ivo Feh und seine beiden Freunde umgehend und bedingungslos freigelassen werden, da sie nur aufgrund der Ausübung ihres Rechts auf Meinungsfreiheit zu zehn Jahren Haft verurteilt wurden. Fordern Sie ihn zudem höflich auf, sicherzustellen, dass die drei Verurteilten weder gefoltert noch anderweitig misshandelt werden, dass sie regelmäßigen Kontakt zu ihren Familien sowie Rechtsbeiständen ihrer Wahl haben und ihre grundlegende Versorgung gewährleistet ist. Schreiben Sie in gutem Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: Präsident S. E. M. Paul Biya Président de la République du Cameroun Présidence de la République Palais de l’Unité B. P. 95 Yaoundé, KAMERUN (Anrede: Excellency / Exzellenz) Fax: 00 237 - 22 221 93 76 E-Mail: cellcom@prc.cm oder contact@presidenceducameroun.com (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Kamerun S. E. Herrn Jean-Marc Mpay Ulmenallee 32, 14050 Berlin Fax: 030 - 89 00 57 49 E-Mai: berlin@ambacam.de (Standardbrief: 0,70 €)
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
Fotos: privat
Foto: privat
KAMERUN FOMUSOH IVO FEH
CHINA ILHAM TOHTI Am 23. September 2014 wurde Ilham Tohti in China wegen »Separatismus« zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Professor für Wirtschaftswissenschaften kritisiert seit Jahren den Umgang der chinesischen Regierung mit der vornehmlich muslimischen uigurischen Minderheit, der er selbst angehört. Uiguren sind regelmäßig schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt und leiden unter Diskriminierung, was Sprache, Religion, Kultur, Bildung und den Zugang zum Arbeitsmarkt angeht. Ilham Tohti warb für einen friedlichen Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft und gründete das Internetportal »Uighur Online«, um über die Situation der Uiguren zu informieren. Die chinesischen Behörden sperrten die Internetseite jedoch mehrfach. 2014 wurde Ilham Tohti verschleppt, monatelang ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten und gefoltert. Am 21. November 2014 bestätigte das hohe Volksgericht von Xinjiang die lebenslange Haftstrafe gegen ihn, ohne dass seine Rechtsbeistände bei dem Verfahren anwesend waren. Am 12. Dezember 2014 wurde Ilham Tohti in das Gefängnis Nr. 1 der Region Xinjiang verlegt, wo er sich seitdem befindet. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Direktor der Gefängnisbehörden des Uigurischen Autonomen Gebiets Xinjiang, in denen Sie ihn auffordern, Ilham Tohti umgehend und bedingungslos freizulassen, da er ein gewaltloser politischer Gefangener ist, der allein wegen der friedlichen Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung festgehalten wird. Fordern Sie ihn zudem auf, dafür zu sorgen, dass Ilham Tohti bis zu seiner Freilassung vor Folter und anderweitiger Misshandlung geschützt ist, jegliche erforderliche medizinische Behandlung erhält und regelmäßigen Zugang zu seiner Familie und seinen Rechtsbeiständen hat. Schreiben Sie in gutem Chinesisch, Englisch oder auf Deutsch an: Leiter der Gefängnisbehörden des Uigurischen Autonomen Gebiets Xinjiang Fan Jun (范军) Prison Administration Bureau of Xinjiang Uighur Autonomous Region No. 626 Xinquanjie, Tianshanqu 830002 Urumqi Xinjiang Uighur Autonomous Region VOLKSREPUBLIK CHINA (Anrede: Dear Director / Sehr geehrter Herr Direktor) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Volksrepublik China S. E. Herrn Mingde Shi Märkisches Ufer 54, 10179 Berlin Fax: 030 - 27 58 82 21 (Standardbrief: 0,70 €)
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BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES In jedem Amnesty Journal veröffentlichen wir drei Einzelschicksale, verbunden mit dem Appell, einen Brief zu schreiben, um Menschenrechtsverletzungen zu beenden. In regelmäßigen Abständen informieren wir darüber, wie sich die Situation der Betroffenen weiterentwickelt hat. Hier nun neue Informationen zu »Briefen gegen das Vergessen« von Januar bis Juni 2016.
Foto: Amnesty
MEXIKO – YECENIA ARMENTA (BRIEFMARATHON 2015 UND BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN JANUAR 2016)
Rückblick: Yecenia Armenta, Mutter zweier Kinder, war am 10. Juli 2012 von der Polizei des Bundesstaates Sinaloa willkürlich inhaftiert und 15 Stunden lang gefoltert worden. Man schlug sie, erdrosselte sie fast und vergewaltigte sie, bis sie »gestand«, am Mord ihres Ehemanns beteiligt gewesen zu sein. Nationale wie internationale Expertinnen und Experten hatten überzeugende Beweise für die Folter an Yecenia Armenta vorgebracht und auch der mexikanische Ombudsmann für Menschenrechte sprach sich für eine Untersuchung der Foltervorwürfe aus. Dennoch erhob die Generalstaatsanwaltschaft des Bundesstaates Sinaloa Anklage gegen Yecenia Armenta und nicht gegen die Folterer. Update: Am 7. Juni 2016 sprach ein Richter im Norden Mexikos Yecenia Armenta frei und ordnete ihre Entlassung an.
Foto: RFE / RL
ASERBAIDSCHAN – KHADIJA ISMAYILOVA (APRIL 2016)
Rückblick: Khadija Ismayilova ist investigative Journalistin, die über Korruption und Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan geschrieben hat und dafür bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Nach einer Hetzkampagne in den staatlich kontrollierten Medien wurde sie auf der Grundlage konstruierter Vorwürfe, darunter Steuerhinterziehung, Veruntreuung und illegale Geschäfte, angeklagt. Khadija Ismayilova wurde am 5. Dezember 2014 inhaftiert und am 1. September 2015 zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt.
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Foto: privat
Rückblick: Im März 2015 stürmten Sicherheitskräfte in Kinshasa eine Pressekonferenz der Jugendbewegung »Filimbi«, die friedliches, politisches Engagement von Jugendlichen unterstützt. Dreißig Personen wurden festgenommen. Während die meisten bald freikamen, hielt man die Aktivisten Fred Bauma und Yves Makwambala der Organisation »Lutte pour le Changement« (»Lucha«) wochenlang in geheimer Haft fest – ohne Kontakt zu ihren Familien und Rechtsbeiständen. Schließlich wurden die beiden Menschenrechtler wegen »Hochverrats, Putschversuchs und versuchter Tötung eines Staatsoberhaupts« angeklagt. Ihnen drohte die Todesstrafe. Update: Fred Bauma und Yves Makwambala wurden zusammen mit einem weiteren Aktivisten am 29. August 2016 gegen Kaution aus der Haft entlassen. (Siehe auch S. 46–49)
MYANMAR – HTIN LIN OO (APRIL 2016)
Rückblick: Htin Lin Oo ist Schriftsteller und ehemaliger Informationsbeauftragter der Nationalen Liga für Demokratie (NLD). Er wurde wegen »Verunglimpfung der Religion« zu zwei Jahren Haft mit Zwangsarbeit verurteilt, weil er im Oktober 2014 in einer Rede die Instrumentalisierung des Buddhismus zur Verbreitung diskriminierender und extremistischer Ansichten kritisiert hatte. Update: Am 17. April 2016 wurde Htin Lin Oo aus dem Gefängnis entlassen. Seine Freilassung erfolgte im Zuge einer Begnadigung von 83 Gefangenen durch den Präsidenten.
MEXIKO – STUDENTEN AUS AYOTZINAPA (MAI 2016)
Foto: Sergio Ortiz Borbolla
Foto: Amnesty
DR KONGO – FRED BAUMA UND YVES MAKWAMBALA (BRIEFMARATHON 2015 UND BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN JANUAR 2016)
Update: Am 25. Mai 2016 wurde Khadija Ismayilova vom Obersten Gerichtshof von Aserbaidschan unter Auflagen freigelassen. Ihre Strafe wurde auf eine dreieinhalbjährige Bewährungsstrafe reduziert. Zwei der ursprünglich vier Anklagepunkte gegen sie wurden fallen gelassen.
Rückblick: Am 26. September 2014 reisten ungefähr 80 Studenten des Ausbildungszentrums für Lehrkräfte »Escuela Rural de Ayotzinapa« in drei Bussen zu einer Demonstration nach Mexiko-Stadt. Unterwegs wurden sie in der Stadt Iguala im Bundesstaat Guerrero von Angehörigen der städtischen Polizei angehalten. Die Polizisten schossen auf die Busse, wobei drei Studenten und drei Passanten getötet wurden. Mehrere Studenten wurden schwer verletzt. 43 Studenten wurden festgenommen; sie sind seitdem »verschwunden«. Update: Nach monatelangen Verhandlungen mit den mexikanischen Behörden haben Angehörige der »Verschwundenen« mit Hilfe der Interamerikanischen Menschenrechtskommission erreicht, dass ein Gremium sich weiter mit dem Fall beschäftigen wird. Das Mandat der internationalen Experten, die mit der Untersuchung des Falls beauftragt waren, war von der mexikanischen Regierung im April 2016 nicht verlängert worden. (Siehe auch S. 8)
MAURETANIEN – MOHAMED OULD CHEIKH MKHAÏTIR (JUNI 2016)
Rückblick: Der 32-jährige Blogger Mohamed Ould Cheikh Mkhaïtir wurde im Dezember 2014 wegen »Apostasie« (Abfall vom Glauben) zum Tode verurteilt. Grund war ein auf Facebook veröffentlichter Kommentar, in dem er die Instrumentalisierung des Islams kritisierte, um bestimmte Gruppen aus der mauretanischen Gesellschaft auszugrenzen. Seine Rechtsbeistände legten im Dezember 2014 Rechtsmittel gegen das Urteil ein. Update: Am 21. April 2016 bestätigte ein Berufungsgericht das Todesurteil gegen Mohamed Ould Cheikh Mkhaïtir, änderte die Anklage jedoch in »Unglaube« um, weil er Reue beteuert hatte. Der Fall wurde an den Obersten Gerichtshof verwiesen, wo die Echtheit seiner Reue überprüft werden soll. Fällt diese Überprüfung positiv aus, so könnte seine Strafe auf zwei Jahre Haft verringert werden. Die Rechtsbeistände des Bloggers haben Rechtsmittel gegen die Bestätigung des Urteils vom April beim Kassationsgericht eingelegt.
AMNESTY JOURNAL | 01/2017
Foto: Amnesty
Faisa Ischo hat den Integrationspreis Aachen erhalten. Die Irakerin Faisa Ischo engagiert sich seit ihrer Flucht für die »Save me«-Kampagne (www.save-me-aachen.de) – ein breites Bündnis von mehr als 60 Organisationen, unter anderem auch Amnesty-Gruppen, die in der Flüchtlingsarbeit aktiv sind. Für ihr Engagement erhielt sie im August den Integrationspreis der Stadt Aachen. Faisa Ischo kam im März 2012 über das »Resettlement«Programm des Hochkommissariats für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) nach Aachen. Sie und ihre Familie gelten als besonders schutzbedürftige Flüchtlinge, da sie im Irak als chaldäisch-katholische Christen verfolgt wurden. Nachdem sie in Aachen in Kontakt mit der »Save me«-Kampagne kam, wurde Faisa Ischo bald selbst aktiv. Sie berät andere Flüchtlinge und unterstützt die Aktivitäten der Asylgruppe von Amnesty International. Öffentlichkeitsarbeit ist ihr ein besonderes Anliegen, damit in Deutschland bekannt wird, warum sich Menschen aus den Krisenregionen der Welt auf den oft gefährlichen Weg nach Europa machen. Faisa Ischo betrachtet sich als Botschafterin für die Anliegen von Flüchtlingen. »Ich stehe das erste Mal auf einer Bühne, und die Menschen im Saal schauen mich an und denken über Flüchtlinge nach«, sagte Faisa Ischo bei der Preisverleihung. Unter den Preisträgern war sie der einzige Flüchtling. Die gelernte Krankenschwester hat mittlerweile einen Putzjob in einer Arztpraxis und will ihre Ausbildung wiederholen, denn die Anerkennung ihrer Abschlüsse in Deutschland ist schwierig. Sorgen macht sich Faisa Ischo um ihre Schwester im Nordirak, die mit ihrer Familie etwa 30 Kilometer von Mossul entfernt lebt. »Deswegen ist die ›Save me‹-Kampagne und das Werben für sichere Zufluchtswege so wichtig. Ich hoffe und bete für die Gesundheit und Sicherheit der Menschen im Irak.« Faisa Ischo.
JAHRZEHNTE FÜR AMNESTY Barbara Strohm aus der Gruppe Passau ist neunzig Jahre alt geworden. Fünf Jahre, nachdem sich Amnesty-Mitglieder erstmals mit einer sogenannten »Urgent Action« (UA) erfolgreich für einen Professor aus Brasilien einsetzten, begann Barbara Strohm Barbara Strohm. 1978 als »UA-Referentin« die Eilaktionen für Menschen in Gefahr im Amnesty-Bezirk Passau-Ostbayern zu organisieren. Über die Jahrzehnte wuchs ihr Verteiler auf über hundert Adressen an. Fälle, in denen es um eine medizinische Notlage ging, gab sie gezielt an Gruppen mit Krankenschwestern und Ärzten. Oft legte sie noch eine persönliche Nachricht dazu. Eine gute Methode – die Erfolgsmeldungen, die Barbara Strohm auf den Amnesty-Versammlungen verkünden konnte, füllen mittlerweile ganze Ordner. Jetzt hat Barbara Strohm ihren 90. Geburtstag gefeiert. Zu Amnesty kam sie ursprünglich über einen Vortrag zu Menschenrechtsthemen. »Das hat mich sehr aufgewühlt«, erzählt sie. Ihr Engagement sei für sie eine Chance gewesen, die »schrecklichen Erinnerungen der Nazizeit« zu verarbeiten. Barbara Strohm fürchtet, dass in Zeiten des Internets die persönliche Kommunikation auf der Strecke bleiben könnte. Fest steht wohl, dass sich die Arbeit über die Jahre verändert hat. Und dass diese wirkungsvolle Arbeit Barbara Strohm sowie all den anderen unermüdlichen Mitgliedern zu verdanken ist Text: Tobias Wagenhäuser
AKTIV FÜR AMNESTY
Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender
Text: Ingeborg Heck-Böckler
IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de
brecht, Daniel Bax, Markus N. Beeko, Tanja Dückers, Lynn Dudenhöefer, Raphaël Fournier, Peter Franck, Lea Frehse, Jürgen Gottschlich, Manuela Reimann Graf, Ingeborg Heck-Böckler, Knut Henkel, Georg Kasch, Lena Khalifa, Jürgen Kiontke, Andreas Koob, Christine Newald, Ralf Rebmann, Lena Reich, Wera Reusch, Carole Scheidegger, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Carsten Stormer, Keno Verseck, Wolf-Dieter Vogel, Tobias Wagenhäuser, Stefan Wirner, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de
Redaktion: Markus N. Beeko, Jessica Böhner, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Katrin Schwarz
Druck: hofmann infocom, Nürnberg
Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Al-
Vertrieb: Carnivora Verlagsservice
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ISSN: 2199-4587
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