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das maGaZin FÜr die menschenrechte
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amnesty Journal
der blick nach vorn menschenrechte von Frauen
wir sind charlie doğan akhanlı über die anschläge von Paris
nordirak Gewalt gegen christen und Jesiden
»willkommen in deutschland« Zwei Filme über Flüchtlinge
02/03
2015 Februar/ märZ
Illustration: André Gottschalk
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Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals
Foto: Mark Bollhorst / Amnesty
editorial
der anschlaG auF die redaktion … … der französischen Satirezeitung »Charlie Hebdo« hat uns schockiert, und wir trauern um unsere französischen Kollegen und die weiteren Opfer. Das Attentat machte aus dem 7. Januar einen düsteren Tag. Die weltweite Solidarisierung mit den Opfern und die unzähligen Menschen, die für die Presseund Meinungsfreiheit auf die Straßen gingen, geben jedoch auch Anlass zur Hoffnung. Diese Reaktion demonstriert, dass diese elementaren Werte nicht verhandelbar sind. Sie müssen unbedingt verteidigt werden, weil ohne sie eine freie Gesellschaft nicht denkbar ist, wie unser Kolumnist Doğan Akhanlı ausführt (siehe Seite 15). Die beste Antwort gab die Redaktion von »Charlie Hebdo« selbst, die unbeirrt und selbstbewusst weitermachte und eine schnell vergriffene Sonderausgabe produzierte – brillante, bitterböse acht Seiten. Wer sonst könnte die fadenscheinige Instrumentalisierung der Pariser Anschläge durch Marine Le Pen oder Pegida besser karikieren? Die große Welle der Solidarität darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Herausforderungen weiter bestehen. Die Empörung kann sich schnell erschöpfen, wenn schwere Menschenrechtsverletzungen in weit entfernten Regionen verübt werden, wie zum Beispiel im Norden Nigerias, zu dem internationale Medien kaum Zugang haben (siehe Seite 10). Die Empörung darf auch nicht nachlassen angesichts eines Falles wie dem des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi. Er wurde zu zehn Jahren Gefängnis und 1.000 Stockschlägen verurteilt, nur weil er sein Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen hat (siehe Seite 14). Weltweit hat die unmenschliche Bestrafung Raif Badawis Entsetzen und Proteste ausgelöst. Mittlerweile wurden die Schläge aus »medizinischen Gründen« zunächst ausgesetzt. Informationen über die aktuelle Entwicklung in seinem Fall und weitere Aktionen von Amnesty International finden Sie auf unserer Webseite www.amnesty.de. Wie immer können Sie alle Beiträge auch auf unserer Journal-App lesen (www.amnesty.de/app). Zum Schluss noch eine Nachricht in eigener Sache. Ende vergangenen Jahres endete das Volontariat von Ramin Nowzad beim Amnesty Journal. Wir möchten ihm für seinen tollen Einsatz danken, ohne den das Journal in dieser Form nicht hätte erscheinen können. Er wird uns als Autor weiterhin erhalten bleiben. Zugleich möchten wir Andreas Koob begrüßen, der sein Volontariat bereits angetreten hat. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit!
editorial
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inhalt
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Titelbild: Demonstration zum Internationalen Frauentag am 8. März 2014 in Mexiko-Stadt. Foto: Edgard Garrido / Reuters
thema 19 Hoher Einsatz Von Maja Liebing
20 Meilenstein für die Menschenrechte 5.000 Regierungsdelegierte aus 189 Ländern und 35.000 NGO-Vertreterinnen reisten im Herbst 1995 nach China, um an der 4. UNO-Weltfrauenkonferenz teilzunehmen. Ein Blick zurück – und in die Zukunft. Von Stella Jegher
24 Das Gesetz der Alten
rubriken 06 Weltkarte 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: Astrid Frohloff 15 Kolumne: Doğan Akhanlı 61 Rezensionen: Bücher 62 Rezensionen: Film & Musik 64 Briefe gegen das Vergessen 66 Aktiv für Amnesty 67 Selmin Çalışkan über Unabhängigkeit
In Indien leiden viele Frauen unter den Zwängen der Traditionen und können kein selbstbestimmtes Leben führen. Stattdessen bestimmen häufig patriarchale Dorfräte den Alltag. Von Christina Franzisket
28 »Die Täter haben keine Angst« Indische Frauen sind Übergriffen oft schutzlos ausgeliefert, sagt Dr. Ranjana Kumari. Die bekannteste Frauenrechtlerin Indiens leitet in der Hauptstadt Delhi das »Center for Social Research«.
30 Starke Frauen In vielen Ländern der Welt setzen sich mutige Menschenrechtsverteidigerinnen für die Rechte anderer ein. Wir stellen vier von ihnen vor.
32 »Abwarten kann Leben kosten« El Salvador hat eines der striktesten Abtreibungsgesetze weltweit. Sogar Frauen, die Fehl- und Frühgeburten erleiden, werden kriminalisiert und verurteilt. Ein Gespräch mit der Rechtsanwältin Daniela Ramos.
Fotos oben: Eva Joos / Amnesty Belgien | Nagender Chhikara | Sarah Eick | Pier 53 Filmproduktion
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berichte
kultur
36 Hölle auf Erden
52 Duldsamkeit
Der »Islamische Staat« geht mit aller Gewalt gegen Christen und Jesiden vor. Die repressive Minderheitenpolitik der irakischen und türkischen Regierung trägt dazu bei, das Problem noch zu verschärfen. Von Sabine Küper-Büsch
40 »Es ist ein Wunder, dass ich gerettet wurde« Hakan Yaman war am 3. Juni 2013 in Istanbul auf dem Weg nach Hause, als er bei einer Demonstration von Polizisten schwer verletzt wurde. Ein Gespräch über die Folgen des Angriffs.
42 »Ich habe gedacht, ich werde sterben« Der Familienvater Ali Aarrass wurde in einem Geheimgefängnis in Marokko zwölf Tage lang gefoltert. Von Daniel Kreuz
44 Ganz alltägliche Folter Nach einem Aufstand endete vor vier Jahren die autoritäre Herrschaft des tunesischen Präsidenten Ben Ali. Doch auch unter den demokratisch gewählten Regierungen foltert die Polizei und genießt dabei weitgehend Straffreiheit. Von Bernd Beier
46 »Hundert Prozent Straffreiheit« In Nepal sind die blutigen Kämpfe zwischen der Regierung und der maoistischen Guerilla längst beendet. Folter in Polizeigewahrsam ist aber noch immer üblich. Ein Gespräch mit der Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Mandira Sharma.
48 »Sie geben ja doch keine Ruhe« Irène Mandeau setzte sich seit 1968 als Amnesty-Mitglied für die Menschenrechte ein. Eine Erinnerung von Volkmar Deile
inhalt
Kriege und Katastrophen haben die Zahl der Flüchtlinge ansteigen lassen. 53 von ihnen sollen in der norddeutschen Provinz untergebracht werden. Nicht viel mehr suchen in Island Zuflucht. Die Nöte und Probleme sind die gleichen, wie zwei Dokumentarfilme zum Thema Flucht zeigen. Von Jens Dehn
54 »Wo ich frei schreiben kann, ist meine Heimat« Der heute in Berlin lebende Schriftsteller Fadhil al-Azzawi wurde im multikulturellen Kirkuk geboren. Ein Gespräch über Schreiben in der Diktatur, Exil und den »Islamischen Staat«.
56 Mehr Macht für Menschenrechte Der Historiker Jan Eckel hat eine Studie zu Menschenrechten im 20. Jahrhundert vorgelegt. Es zeigt sich: Eine gut gemeinte Menschenrechtspolitik reicht noch lange nicht aus. Von Maik Söhler
58 Spiel der Realität Einblicke in das alltägliche Leben in Flüchtlingslagern vermittelt das Online-Reportage-Spiel »Refugees« des Fernsehsenders Arte. Von Georg Kasch
60 Analysen aus der Hölle Alle gegen Assad? Gegen den »Islamischen Staat«? Oder beides? »Innenansichten aus Syrien« ist ein Buch, das aus der Vielfalt seiner Autoren gute Einschätzungen gewinnt. Von Maik Söhler
63 Das Ende der Zwangsehe Der Film »Das Mädchen Hirut« erzählt von Gewalterfahrungen junger Frauen in Äthiopien. Amnesty International präsentiert den Film zum Frauentag am 8. März. Von Jürgen Kiontke
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schweden Eine Serie von Brandanschlägen erschütterte das Land: Drei Moscheen wurden innerhalb von einer Woche angezündet. Beim ersten Angriff warf ein Unbekannter einen Brandsatz in ein Gebäude, in dem sich zahlreiche Personen aufhielten. Fünf von ihnen wurden verletzt und mussten im Krankenhaus behandelt werden. Es folgten zwei weitere Anschläge. Am Tatort des dritten Brandanschlags fanden sich rassistische Parolen. In Schweden wird derzeit heftig über die Asylpolitik diskutiert. Die rechte Partei der Schwedendemokraten will die Aufnahme von Flüchtlingen massiv einschränken und erhält dafür immer mehr Zustimmung.
tÜrkei Repressionen gegen Medien nehmen zu. Journalisten waren wiederholt Ziel landesweiter Razzien, dabei wurden zahlreiche Personen festgenommen. Nach Einschätzung von »Reporter ohne Grenzen« sind von der Regierung abweichende Meinungen ausschlaggebend für die Durchsuchungen. Die Organisation kritisierte die gezielte Einflussnahme auf die Medienberichterstattung in der Türkei. Um die Presse- und Meinungsfreiheit sei es inzwischen fatal bestellt. Auch Karikaturisten, die zum Beispiel Kritik an Präsident Recep Tayyip Erdoğan übten, wurden angeklagt. Nach dem Anschlag auf die französische Zeitung »Charlie Hebdo« in Paris erhielten türkische Satirezeitschriften Drohungen. Sie sollten sich in Acht nehmen, dass ihnen nicht Ähnliches geschehe.
russland Transgender sollen in Russland künftig keinen Führerschein mehr bekommen. Eine neue Liste nennt verschiedene »medizinische Abweichungen«, die zum Ausschluss von der Fahrprüfung führen. Dazu zählen unter anderem eine Körpergröße unter 1,50 Meter, Exhibitionismus, Voyeurismus, »krankhaftes« Glücksspiel und »zwanghafter« Diebstahl. Zur Begründung führt die russische Regierung die hohe Zahl von Verkehrstoten an. Nach dem Gesetz »gegen homosexuelle Propaganda« ist dies eine weitere Maßnahme, um Transgender gezielt zu schikanieren.
Ausgewählte Ereignisse vom 15. Dezember 2014 bis 9. Januar 2015
kuba Mindestens 25 politische Gefangene hat Kuba freigelassen, weitere könnten laut Ankündigung der Regierung noch folgen. Unter den ersten Freigelassenen sind mehrere Mitglieder der »Patriotischen Union«, einer Gruppe von Oppositionellen, die vor allem im Osten der Insel aktiv ist. Für mehrere der nun Freigekommenen hatte sich Amnesty seit Jahren eingesetzt. »Der gute Wille der kubanischen Regierung, der sich mit diesen Freilassungen andeutet, muss jetzt in eine neue Menschenrechtsagenda münden«, sagte Erika Guevara Rosas, Amerika-Expertin von Amnesty International. Bereits im September hatte es einen Gefangenenaustausch mit den USA gegeben: Dabei waren ein auf Kuba inhaftierter US-Entwicklungshelfer und drei in den USA inhaftierte Kubaner freigekommen.
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Jemen Der jemenitische Aktivist Khaled AlJunaidi ist tot. Vermummte Polizisten holten ihn aus seinem Auto und erschossen ihn. Der Vorfall ereignete sich in der Stadt Aden am Rande eines Streiks, den Khaled Al-Junaidi mit anführte. Der Aktivist war erst kurz zuvor nach mehrwöchiger Haft entlassen worden. Die Bedingungen im Gefängnis hatten ihm gesundheitlich sehr zugesetzt. Er saß in Einzelhaft ohne Lüftung, Licht und Toilette und bekam nicht genug zu essen. Zuvor war er bereits drei Mal inhaftiert worden, ohne dass Anklage erhoben wurde. Amnesty hatte sich für Khaled Al-Junaidi eingesetzt. Die Organisation verurteilte seine außergerichtliche Hinrichtung scharf und forderte eine unabhängige Untersuchung der Tat.
Pakistan Fünf schwer bewaffnete TalibanKämpfer stürmten eine Schule in Peshawar und erschossen 142 Menschen, darunter 132 Kinder. Nie zuvor hatte es bei einem TalibanAngriff in Pakistan so viele Todesopfer gegeben. Bereits zuvor waren immer wieder Schüler von der Terrorgruppe attackiert worden, darunter die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai, die bei einem Attentat 2012 schwer verletzt wurde. Amnesty International verurteilte den Anschlag: »Es kann keine Rechtfertigung dafür geben, Kinder in dieser Weise zu attackieren«, sagte David Griffiths, stellvertretender Leiter der Abteilung Asien-Pazifik von Amnesty. Die Organisation kritisierte auch die Reaktion des pakistanischen Ministerpräsidenten Nawaz Sharif: Er hatte nach dem Anschlag das zuvor geltende Hinrichtungsmoratorium aufgehoben. Mindestens sechs Personen wurden bereits exekutiert, mehr als 500 weitere Personen sitzen gegenwärtig im Todestrakt.
amnesty Journal | 02-03/2015
Foto: Sven Torfinn / laif
erFolGe
Ölteppich ade? Jahre nach der Ölkatastrophe wird Shell aufräumen und entschädigen.
ZahltaG FÜr shell Shell wird für das ölverseuchte Nigerdelta endlich bezahlen. Seit 2008 haben die Bewohner der Kleinstadt Bodo auf eine Entschädigung gewartet. Dort liefen damals mehr als 100.000 Barrel Erdöl aus korrodierten Leitungen aus. Fischer und Bauern verloren aufgrund der Verschmutzung ihre Lebensgrundlage und verarmten massenhaft. Immer wieder leugnete Shell das verheerende Ausmaß der Katastrophe und trat mit falschen Angaben an die Öffentlichkeit. Nach einer außergerichtlichen Einigung bezahlt Shell jetzt 70 Millionen Euro. Davon gehen 44,5 Millionen Euro direkt an die 15.600 betroffenen Personen, der übrige Betrag an die Gemeinde. »Es ist ein lang erwarteter Sieg für die Menschen von
niGeria
mehr verantwortunG beim waFFenhandel
Ab jetzt gilt Sorgfaltspflicht beim Waffenexport: Mit dem »Arms Trade Treaty« (ATT) haben sich 60 Staaten verpflichtet, ihre internationalen Waffenverkäufe gründlich zu prüfen. Sind Menschenrechtsverletzungen möglich, darf nicht geliefert werden. Es muss ausgeschlossen werden, dass mit den Waffen im Zielland Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Mit Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien haben bereits fünf der zehn größten Waffenexporteure den Vertrag ratifiziert. Dieser Schritt steht bei 70 weiteren Staaten noch aus, die das Abkommen nur unterzeichneten, wie etwa die USA. Ganz außen vor sind bislang allerdings wichtige Waffenexportländer wie China, Kanada und Russland. Gelangen Waffen in die falschen Hände, drohen schwere
erFolGe
Bodo, aber es hätte nicht sechs Jahre dauern müssen, bis Shell eine annähernd faire Entschädigung anbietet«, sagte Audrey Gaughran, Leiterin der Abteilung Globale Themen von Amnesty International. Shell war über den mangelhaften Zustand der Leitungen schon Jahre zuvor informiert. Auch nach dem Unglück hat sich die Situation nicht grundlegend geändert. Tausenden weiteren Menschen im Nigerdelta drohen auch heute noch Ölkatastrophen, weil Shell marode Pipelines nicht repariert oder ersetzt. »Die Ölverseuchung des Nigerdeltas gehört zu den größten Unternehmensskandalen unserer Zeit«, sagte Gaughran und forderte von Shell ein grundsätzliches Umdenken.
Menschenrechtsverletzungen, wie Amnesty mehrfach belegte. Bereits seit Anfang der 1990er Jahre fordert Amnesty International ein rechtlich verbindliches Kontrollinstrument für den internationalen Waffenhandel. Dessen Dimensionen sind gewaltig: 875 Millionen Kleinwaffen und leichte Waffen sind im Umlauf. 100 Milliarden US-Dollar Umsatz machen die Unternehmen jedes Jahr. »Mit dem ATT gibt es jetzt endlich ein Instrument, unverantwortlichen Waffenhandel einzudämmen«, sagte Mathias John, Amnesty-Experte für Rüstungspolitik: »Öffentlicher und politischer Druck ist jedoch weiterhin notwendig, um die fehlenden Staaten zur Unterzeichnung des ATT zu bewegen.« Eine halbe Million Menschen stirbt Schätzungen zufolge jährlich am Einsatz von Feuerwaffen.
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Foto: Lana Slezic / Panos Pictures
»Lügner«. Mit viel Selbstbewusstsein kämpfte Brishna für die Verurteilung des Lehrers, der sie vergewaltigte.
Zweimal davonGekommen Erst wurde Brishna vergewaltigt, dann wollte ihre Familie sie umbringen: Jetzt ist das zehnjährige afghanische Mädchen geschützt – so gut es geht. Brishna ist zehn Jahre alt, sie ist noch ein Kind. Das sagen auch die Ärzte, die dem Mädchen das Leben gerettet haben. Viel mehr ist über sie nicht zu erfahren – zu ihrem eigenen Schutz. Am 1. Mai 2014 besuchte Brishna eine Koranschule in der Nähe von Kundus. Nach dem Unterricht vergewaltigte ihr Lehrer, ein Mullah, sie in der Moschee. Er misshandelte sie so brutal, dass Brishna in Lebensgefahr schwebte. Es verging viel Zeit, bis dem vergewaltigten Mädchen geholfen wurde. Schließlich sorgte die Frauenrechtsorganisation »Women for Afghan Women« (WAW) dafür, dass sich Ärzte um Brishna kümmerten. Im Krankenhaus ging es ihr bald schon besser, doch wurde zugleich klar, dass ihrer Familie und den Leuten aus dem Dorf ihr gerettetes Leben nicht viel wert ist. Sie wollten sie abholen, um sie zu töten, berichteten Mitarbeiterinnen von WAW der »New York Times«. Solche »Ehrenmorde« sind nicht selten. Die afghanische Menschenrechtskommission zählte zwischen Januar 2011 und Mai 2013 243 Fälle. Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher liegen. Diese Form der Selbstjustiz durch Familienangehörige oder Dorfälteste ist bei vermeintlichen Verstößen gegen Traditionen üblich, vor allem bei außerehelichem Geschlechtsverkehr. Sie wird, wenn überhaupt, mit zwei Jahren Haft bestraft. Dass Brishna brutal vergewaltigt wurde, interessierte ihre Familie nicht. Ihr Leben stand erneut auf dem Spiel und zudem das ihrer Ärztin. Denn sie bekam ebenso wie eine weitere Unterstützerin Morddrohungen. Amnesty richtete Eilappelle an die af-
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ghanischen Behörden, um den Bedrohten zu helfen, während Brishna zunächst Schutz in einem Frauenhaus fand. Der Fall schlug international hohe Wellen: »Bild« griff ihre Geschichte auf und auch die »New York Times«. Hunderttausende Nutzer verbreiteten die Geschichte in den sozialen Netzwerken. Schließlich gab es eine Kehrtwende, die so nicht zu erwarten war: Die männlichen Familienangehörigen versicherten schriftlich, Brishna nichts anzutun. Beim Prozesstermin gegen den Vergewaltiger bestritten sie, jemals »Ehrenmord«-Pläne gehegt zu haben. Das Mädchen traf vor Gericht erneut auf ihren Vergewaltiger. Er behauptete, sie für 17 gehalten zu haben. Außerdem sei der Sex einvernehmlich gewesen. Für ihn sei der Vorfall nicht gravierender als ein »Ehebruch«. Brishnas Krankenakte spricht eine andere Sprache. In ihr sind die Spuren der Gewalt dokumentiert. Das Mädchen musste für einen chirurgischen Eingriff sogar nach Kabul gebracht werden. Die Ärzte sind sich einig, dass Brishna brachiale Gewalt widerfuhr. »Lügner«, sagte sie mehrmals, als der Angeklagte sich zu den Tatumständen äußerte. Der Richter verurteilte ihn schließlich zu 20 Jahren Haft. Nur selten geht ein Fall so aus: Meist werden Aussagen wegen Drohungen zurückgezogen. Oder die Täter heiraten ihre Opfer. Das hatte auch Brishnas Vergewaltiger angeboten. Ihr Schicksal ging um die Welt, aber Brishna selbst muss anonym bleiben, nur so ist sie einigermaßen geschützt. Brishnas Vater blickte seine Tochter vor Gericht nicht an. In die Schule darf sie nach der erlittenen »Schande« nicht mehr. Der Tag der Vergewaltigung wird wohl ihr letzter Schultag gewesen sein. Text: Andreas Koob
amnesty Journal | 02-03/2015
einsatZ mit erFolG Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.
entlassen statt hinGerichtet
Er ist dem Todestrakt entkommen: Nach 19 Jahren Haft ist der Nigerianer Thankgod Ebhos wieder frei. Im Juni 2014 war er bereits zur Hinrichtung geführt worden. Während vier Mitinhaftierte hingerichtet wurden, sollte Ebhos nicht gehängt, sondern erschossen werden. Amnesty forderte die nigerianischen Behörden mit Eilappellen auf, die drohende Hinrichtung zu stoppen. Die Vollstreckung der Todesstrafe war zunächst aufgeschoben worden, später wurde das Todesurteil aufgehoben. Der zuständige Gouverneur erteilte die Anweisung, Ebhos zu entlassen. Gesund und in guter Verfassung kehrte er zu seiner Familie zurück.
niGeria
ende der verwaltunGshaFt
Nach drei Monaten Haft ist der Journalist Jaikhlong Brahma unter Auflagen und auf Kaution freigelassen worden. Er darf die Stadt Kokrajhar nur mit Erlaubnis eines Richters verlassen und muss sich zwei Mal wöchentlich bei der Polizei melden. Jaikhlong Brahma war im September 2014 im indischen Bundesstaat Assam festgenommen und ohne Anklage inhaftiert worden. Die Behörden warfen ihm »Anstiftung zu rechtswidrigen Aktivitäten«, »Mitgliedschaft in einer ille-
Thankgod Ebhos.
erFolGe
auFschub Gewährt
usa Scott Panetti kann hoffen: Acht Stunden vor seiner geplanten Hinrichtung entschied ein US-Berufungsgericht, die Hinrichtung auszusetzen. Der 56-Jährige leidet an einer psychischen Krankheit. Diese spielte nicht nur bei der ihm zur Last gelegten Tat eine Rolle, sondern auch beim Gerichtsverfahren 1995. Damals war Panetti im Cowboy-Outfit vor Gericht erschienen und hatte sich selbst verteidigt. Trotz der psychischen Erkrankung wurde an der Todesstrafe festgehalten. Es hatten sich zahlreiche Politiker, Gremien und Einzelpersonen im In- und Ausland für Scott Panetti eingesetzt, darunter auch ein ehemaliger Gouverneur von Texas. Der UNOSonderberichterstatter zu außergerichtlichen, summarischen oder willkürlichen Hinrichtungen sagte, Personen mit psychosozialen Erkrankungen zum Tode zu verurteilen, sei ein Verstoß gegen die strengen Bestimmungen zur Todesstrafe. In dem jetzigen Urteil des Berufungsgerichts heißt es, durch den Aufschub solle erreicht werden, die komplexen rechtlichen Fragen adäquat zu beantworten.
absolutes abtreibunGsverbot auFGehoben
dominikanische rePublik Schwangerschaftsabbrüche sollen in der Dominikanischen Republik künftig unter bestimmten Umständen straffrei möglich sein. Präsident
Danilo Medina hatte sich ausdrücklich für eine Reform des Strafrechts eingesetzt. Demnach sind Abtreibungen erlaubt, wenn die Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet, wenn der Fötus außerhalb des Mutterleibs nicht lebensfähig ist sowie nach Vergewaltigung und Inzest. Mit der Reform des Strafgesetzes wurden jetzt die Weichen für eine Entkriminalisierung gestellt, ein spezielles Gesetz soll bis zum Jahresende folgen. Der Entscheidung war eine harte Auseinandersetzung vorrausgegangen, bei der die katholische Kirche und evangelikale Christen darauf drängten, das absolute Abtreibungsverbot beizubehalten.
asylsuche in italien unZumutbar
schweiZ Familie Tarakhel kann zunächst in Lausanne bleiben. Dort hat die achtköpfige, pakistanische Familie Asyl beantragt. Da sie zuvor über Italien eingereist war, wollten die Schweizer Behörden sie gemäß der Dublin-II-Verordnung dorthin zurückschicken. Die Familie wehrte sich und ging bis vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Die Straßburger Richter gaben ihr Recht. Für eine Abschiebung nach Italien bedürfe es individueller Garantien. So müsse etwa klar sein, dass die Familie nicht getrennt werde und adäquat untergebracht sei. Das Gericht wies in seiner Entscheidung auf die unhaltbaren Zustände für Asylsuchende in Italien hin. Im Falle der Familie sei eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung und damit ein Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention anzunehmen. Rückführungen gemäß der DublinII-Verordnung werden von Gerichten immer häufiger in Frage gestellt.
Foto: Ezequiel Abiu Lopez / AP / pa
Foto: Amnesty
Foto: Michael Stravato / The New York Times / Redux / laif
indien
galen Vereinigung« und »mehrfache Verabredung zu einer Straftat« vor. Amnesty International unterstützte den Journalisten. Darüber hatten auch indische Medien berichtet.
Scott Panetti.
Erfolgreicher Protest in der Dominikanischen Republik.
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Panorama
Foto: Sunday Alamba / AP / pa
niGeria: neue terrorwelle von boko haram
Der Terror eskaliert. Bei einem Überfall auf die Stadt Baga hat die islamistische Terrorsekte Boko Haram ihr womöglich bisher größtes Massaker verübt. Unterschiedlichen Berichten zufolge tötete die Miliz zwischen einigen hundert und 2.000 Zivilisten. Unter den Opfern sind offenbar viele Frauen, alte Menschen und Kinder. Amnesty versucht, die genauen Details des Überfalls zu ermitteln. Die Stadt mit ihren rund 10.000 Einwohnern liegt im äußersten Nordosten Nigerias und gilt als strategisch wichtig. Die Terrormiliz ging bei ihrem Angriff offenbar äußerst gewalttätig vor und verwüstete weite Teile des Orts. »Das ist eine verstörende Eskalation«, sagte Daniel Eyre, Amnesty-Experte für Nigeria. »Die Miliz muss das sinnlose Töten von Zivilisten stoppen.« Kurz nach dem Angriff auf Baga erfolgte ein Selbstmordanschlag im 200 Kilometer entfernten Ort Maiduguri. Bei einer Explosion auf einem Marktplatz wurden mindestens 16 Menschen getötet. Die Attentäterin soll ein zehnjähriges Mädchen gewesen sein. Die Terrormiliz missbraucht immer häufiger Kinder für ihre Gewalttaten. Boko Haram hat seit 2009 zahlreiche Zivilisten gezielt getötet, die Angriffe werden dabei zunehmend brutaler. (Foto: Flüchtlinge in Yola, Nigeria)
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amnesty Journal | 02-03/2015
usa: todesschÜsse ohne konsequenZ
Gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstrierten mehrere Zehntausend Menschen über Wochen hinweg in vielen US-amerikanischen Städten. Auslöser waren fragwürdige Gerichtsurteile zugunsten von drei weißen Polizisten. Die tödlichen Schüsse auf den 18-jährigen Michael Brown in Ferguson und auf den zwölfjährigen Tamir Rice in Cleveland sowie der Tod von Eric Garner in New York blieben nach Entscheidungen von Geschworenengerichten ohne rechtliche Konsequenzen. Brown war von einem Streifenpolizisten nach einem Gerangel mit sieben Schüssen getötet worden. Auch Amnesty hatte den Vorfall scharf verurteilt. Rice hatte mit einer Spielzeugwaffe hantiert, bevor er niedergeschossen wurde. Der Asthmatiker Garner war bei einer Festnahme so brutal gewürgt worden, dass er keine Luft bekam und an Herzversagen starb. Die anchließenden Straßenproteste eskalierten immer wieder aufgrund von Ausschreitungen und polizeilicher Repression. Der Ausgang zweier weiterer Fälle von tödlichen Polizeischüssen auf Schwarze ist noch offen. Offenbar aus Rache erschoss unterdessen ein Schwarzer zwei weiße Streifenpolizisten in New York und tötete sich später selbst. (Foto: Proteste in New York am 6. Dezember 2014) Foto: John Minchillo / AP / pa
Panorama
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Foto: Salvatore di Nolfi / EPA / pa
nachrichten
Komplizierte Abstimmungen. Tagung des UNO-Menschenrechtsrates in Genf, März 2014.
schnecke mit FlÜGeln Der deutsche Botschafter in Genf leitet 2015 den UNO-Menschenrechtsrat. Der Menschenrechtsrat ist das wichtigste Gremium der UNO für den internationalen Schutz der Menschenrechte. Und doch fristet er in der öffentlichen Wahrnehmung ein Schattendasein. Das dürfte sich in diesem Jahr zumindest in Deutschland ändern, denn der deutsche Botschafter in Genf, Joachim Rücker, hat am 1. Januar den Vorsitz dieses Gremiums übernommen. Diese Aufgabe ist eine Herausforderung. Auf den ersten Blick hat der Präsident nur eine formale Funktion. Er ist für die Agenda, die Abläufe, und alle organisatorischen Fragen der Sitzungen verantwortlich, ohne substantiellen Einfluss darauf zu haben. Dennoch wird Botschafter Rücker mehr sein müssen als nur Sachwalter der Geschäftsordnung. Der Menschenrechtsrat war in jüngster Zeit mit Aufgaben und Erwartungen konfrontiert, die kaum noch zu erfüllen waren. Einerseits wurde sein Repertoire erweitert – Untersuchungskommissionen, »Fact-Finding-Missions«, Berichte des Hochkommissars, Dringlichkeitssitzungen sind unerlässlich für den Menschenrechtsschutz. Andererseits fehlen
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die finanziellen Mittel und nicht selten auch der politische Wille, alldem systematisch nachzukommen. Die Diskrepanz ist zwar nicht neu. Eine wichtige Rolle des Präsidenten besteht jedoch darin, die Effektivität und Integrität des Rates zu sichern. Er muss im Austausch mit den anderen Ratsmitgliedern die übervolle Agenda managen, er muss sorgsam mit Geschäftsordnungs- und Nichtbefassungsanträgen umgehen, die häufig nur darauf abzielen, unliebsame Diskussionen zu verhindern. Hinzu kommt das komplizierte Abstimmungsprozedere. Von Rücker wird erwartet, dass er diese Führungsrolle als »ehrlicher Makler« wahrnimmt. Ein im UNO-System einzigartiges Merkmal des Menschenrechtsrates ist es, dass hier auch Menschenrechtsverteidiger und Betroffene eine Stimme haben. Sie riskieren viel, wenn sie sich im Rat Gehör verschaffen. Die Repressionen gegen Menschenrechtsverteidiger, die sich im Land gegenüber UNO-Repräsentanten äußern oder gar nach Genf reisen, nehmen zu. Der Präsident muss solchen Übergriffen konsequent entgegentreten. Deutschlands Aufgabe geht noch darüber hinaus. Denn nicht nur der Zugang für die Zivilgesellschaft zum Menschen-
rechtsrat ist elementar für dessen Glaubwürdigkeit. Auch die zivilgesellschaftlichen Arbeitsbedingungen im jeweiligen Land sind wesentlicher Aspekt für den Rat, dessen Aufgabe ja darin besteht, Verbesserungen der Menschenrechtslage vor Ort zu erwirken – und das geht nun mal nicht ohne die Menschenrechtsaktivisten. Diese sind dann wieder jene, die langfristig die Haltung »ihrer« Regierungen zu Menschenrechtsstandards und damit zum Abstimmungsverhalten im Rat befördern können. Die Bundesregierung stellt immer wieder heraus, wie wichtig die Arbeit von Menschenrechtsverteidigern ist. Das muss sie in Genf und weltweit engagiert und glaubwürdig umsetzen und sich gezielt für deren Schutz und deren Konsultation einsetzen. Der Menschenrechtsrat ist ein Organ, das auf Kooperation und Diplomatie angelegt und angewiesen ist. Verantwortlich für seine Defizite sind damit die Mitgliedsstaaten. Für den Menschenrechtsrat gilt wie für Menschenrechtsarbeit generell: Der Fortschritt ist eine Schnecke. Aber vielleicht kann Botschafter Rücker der Schnecke Flügel verleihen. Text: Silke Voß
amnesty Journal | 02-03/2015
kolumne: doğan akhanli
Zeichnung: Oliver Grajewski
Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den ermordeten Zeichnern und Journalisten von »Charlie Hebdo« und dem ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink. Dink war der Chefredakteur der Armenischen Wochenzeitung »Agos«. Er wurde angeklagt, weil er das Wort »Völkermord« in Zusammenhang mit den Armeniern benutzt hatte. Hrant Dink wurde am 19. Januar 2007 von Ultranationalisten, unter Beteiligung staatlicher Organe, vor dem Gebäude des Zeitungsverlages »Agos« ermordet. Der 17-jährige Täter rief nach der Tat: »Ich habe den Armenier erschossen!«
wir sind charlie, wir sind hrant
Die Redaktion von »Charlie Hebdo« hat viel Courage bewiesen, wie wir nun alle erfahren haben. Sie hat trotz massiver Drohungen nicht von ihrer Satire abgelassen. Mit ihrer zugespitzten Art hat sie alle monotheistischen Weltreligionen kritisiert. Sie hat auch Karikaturen des Propheten Mohammed abgedruckt, weshalb sie immer wieder bedroht wurde. Wie bei »Agos« blieb die Redaktion unerschrocken. »Ich ziehe es vor, aufrecht zu sterben als auf Knien zu leben«, hatte »Charlie Hebdo«-Chefredakteur Stéphane Charbonnier in einem Interview mit »Le Monde« 2012 gesagt. »Wir haben Mohammed gerächt!«, hatten die Attentäter nach ihrem Anschlag gerufen. Nach der Ermordung von Hrant Dink protestierten vor acht Jahren Tausende Menschen bei spontanen Kundgebungen in Istanbul und Ankara. Hunderttausende Menschen, die Plakate mit der Aufschrift »Wir sind alle Hrant. Wir sind alle Armenier!« trugen, begleiteten den acht Kilometer langen Trauerzug. Seither können der türkische Staat und die Nationalisten die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema »Genozid an den Armeniern« in der Türkei nicht mehr verhindern. Seither finden in der Türkei an vielen Orten Veranstaltungen statt, die an den Genozid erinnern. Die gewaltlosen Massenproteste und die zivilgesellschaftliche Auflehnung haben dazu beitragen, dass die Ziele der Attentäter von Hrant Dink sichtlich keinen Zuspruch in der Gesellschaft fanden. Genauso geschah es nach den Morden in Paris. Nicht nur in Frankreich, sondern weltweit fand eine gewaltlose Auflehnung statt, an der sich viele Menschen beteiligten, die bis dahin unsichtbar zu sein schienen. Mit dem Satz »Je suis Charlie« verliehen die Menschen ihrer Trauer um die Opfer der Verbrechen Ausdruck. Mit dem Satz »Je suis Charlie« haben sie die Entschiedenheit der Ermordeten, für Meinungsund Pressefreiheit, für Demokratie sowie für die Werte der Aufklärung einzustehen, anerkannt. Mit dem Satz »Je suis Charlie« verteidigten sie die Rechte und Werte der freiheitlichen Gesellschaft. Diejenigen, die sich bei ähnlichen Anschlägen und Ereignissen, wie dem Mord an Theo van Gogh und der Fatwa gegen Salman Rushdie, bislang nicht mit den Opfern solidarisierten, haben mit dem Satz »Je suis Charlie« ihr Schweigen gebrochen. »Wenn ich wüsste, dass jede Zeichnung von mir eine Entführung oder einen Mord verhindert, eine Landmine entfernt, dann würde ich nicht mehr schlafen und nur noch zeichnen.« Das sind Worte des ermordeten Künstlers Bernand Verlhack, die uns Journalisten, Autoren, Menschenrechtlern den Auftrag erteilen, dass wir uns nicht von Gewalt einschüchtern lassen sollen. Der bescheidene Satz »Je suis Charlie« hat am 11. Januar durch die Massendemonstrationen eine laute, globale Stimme für »Liberté, Égalité, Fraternité« etabliert. Die Attentäter, die sich selbst als Gotteskrieger deklarierten, wollten mit ihrer Vernichtungslust jede weitere Kritik unterbinden. Doch die neue Ausgabe von »Charlie Hebdo« ist eine Woche nach dem Attentat erschienen, in einer Auflage von fünf Millionen Exemplaren. Sie wurde in 16 Sprachen übersetzt und in 25 Ländern vertrieben, darunter auch in Deutschland. Und das ist gut so! Doğan Akhanlı ist Autor und Mitglied der internationalen Schriftstellervereinigung PEN.
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kolumne
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amnesty Journal | 02-03/2015
Thema: Frauenrechte
Die Hoffnung war groß, als vor 20 Jahren die 4. Weltfrauenkonferenz in Peking stattfand. Trotz aller Differenzen wurden visionäre Forderungen aufgestellt, die in vielerlei Hinsicht bis heute Gültigkeit besitzen. Dennoch sind einige Anliegen wie die Rechte sexueller Minderheiten oder Fragen des Schwangerschaftsabbruchs noch immer umstritten. Grund genug, um mit der Amnesty-Kampagne »My Body, My Rights« die Aufmerksamkeit auf diese Themen zu lenken.
»Erst bedienen sie ihre Familie, dann die Familie ihres Ehemanns.« Mira bei der täglichen Hausarbeit in einem indischen Dorf. Foto: Nagender Chhikara
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Foto: Eva Joos / Amnesty Belgien
Hoher Einsatz
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Frauenrechte
Vor 20 Jahren trafen sich Zehntausende offizielle Delegierte und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, um auf der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking unter dem Motto »Handeln für Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden« über Frauenrechte sowie über die sexuellen und reproduktiven Rechte aller Menschen zu diskutieren. Das Abschlussdokument, die sogenannte »Aktionsplattform von Peking«, ist bis heute ein wichtiges Referenzdokument für die Menschenrechte von Frauen. Meine Kollegin Stella Jegher aus der Schweizer Amnesty-Sektion war in Peking mit dabei. Sie beschreibt eindrücklich, wie hart damals um einzelne Formulierungen gerungen wurde und wie trotz aller Differenzen ein »visionärer Forderungskatalog« erreicht wurde (siehe Seite 20). Ernüchterung stellt sich bei ihr jedoch ein, wenn sie heute, 20 Jahre später, die Umsetzung der Pekinger Aktionsplattform bewertet: »Blicken wir auf die aktuelle Weltlage, sehen wir wenig Grund zur Hoffnung.« Ihre Beschreibungen, wie auf Druck konservativer Staaten mehr Rechte für sexuelle Minderheiten wegverhandelt wurden, könnten auch auf eine heutige Konferenz zutreffen. Und wie kontrovers auch heute noch die Frage des Schwangerschaftsabbruchs ist, zeigt das Beispiel El Salvador (siehe Seite 32). Zudem ist trotz gewisser Fortschritte auf dem Papier Gewalt gegen Frauen in vielen Ländern der Welt noch immer allgegenwärtig (siehe Seite 24). Waren also die Kämpfe der Frauenbewegung, der Menschenrechtlerinnen der vergangenen Jahrzehnte umsonst? Nein, denn trotz aller Mängel ist die Pekinger Aktionsplattform ein wichtiges Dokument, auf das sich NGOs und progressive Regierungsvertreter berufen können – und nicht zuletzt auch Menschenrechtsverteidigerinnen, die sich unter hohem persönlichen Einsatz und unter oftmals gefährlichen Bedingungen für die Menschenrechte von Frauen einsetzen (siehe Seite 30). Aber die Defizite von Peking hinsichtlich der Rechte sexueller Minderheiten und des Rechts auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper müssen endlich korrigiert werden. Und die vereinbarten Standards im Bereich der Frauenrechte müssen endlich vollumfänglich umgesetzt werden. Lösungen könnten auf der Weltfrauenkonferenz 2015 gefunden werden, der 20 Jahre nach Peking eine besondere Bedeutung zukommt. Grund genug für Amnesty, mit der Kampagne »My Body, My Rights« die Aufmerksamkeit auf diese wichtigen Themen zu lenken. Unterstützen Sie uns dabei – es gibt noch viel zu tun! Maja Liebing ist verantwortlich für die Kampagne »My Body, My Rights« der deutschen Amnesty-Sektion.
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Vielfältige Kontakte über Kontinente und ethnische Zugehörigkeit hinweg. NGO-Forum in Huairou, das parallel zur UNO-Weltfrauenkonferenz 1995 stattfand.
Meilenstein für die Menschenrechte 20
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5.000 Regierungsdelegierte aus 189 Ländern, 35.000 NGO-Vertreterinnen und mehrere tausend Journalistinnen und Journalisten reisten im Herbst 1995 nach China, um an der 4. UNOWeltfrauenkonferenz teilzunehmen. Deren Schlussdokument, die »Erklärung und Aktionsplattform von Beijing«, ist bis heute ein wichtiges Referenzdokument für die Menschenrechte von Frauen, darunter die sexuellen und reproduktiven Rechte. Ein Blick zurück – und in die Zukunft. Von Stella Jegher
Foto: Ute Mahler / Ostkreuz
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nsere Ankunft im kleinen Landstädtchen Huairou, eine Autostunde von Peking entfernt, werde ich nie vergessen: Die riesigen neuen Wohnblöcke, extra für die Unterbringung der NGO-Vertreterinnen erbaut. Der Empfang durch gleichermaßen neugierige wie eingeschüchterte chinesische Studentinnen, denen die Angst vor einer Ansteckung durch Feminismus, Lesben und Aids eingebläut worden war. Die unübersehbare Präsenz chinesischer Überwachungskräfte in Zivil. Der Dauerregen, der das weitläufige Gelände zwischen den Veranstaltungszelten und Tagungsräumen in einen riesigen Sumpf verwandelte. In Erinnerung ist mir aber vor allem die Stimmung unter den Zehntausenden Frauen aus aller Welt, die gekommen waren, um ihre Anliegen geltend zu machen. Einer männlich bestimmten Welt etwas Eigenes entgegenzusetzen. Als Betroffene endlich gehört zu werden. Und keinen Schritt mehr zurückzugehen: »Keep on moving forward – never turning back«, wie bei der Eröffnungsfeier im Pekinger Stadion mit Pat Humphries gesungen wurde. Dass die vierte der 1975 in Mexiko gestarteten Reihe der UNO-Weltfrauenkonferenzen ausgerechnet in Peking stattfinden sollte, führte von Anfang an zu Kritik und Boykottaufrufen. Das Massaker von Tiananmen lag erst sechs Jahre zurück. China wurde für seine massiven Menschenrechtsverletzungen heftig kritisiert. Auch um die Frauenrechte stand es angesichts einer rigiden Familienplanungspolitik, Zwangssterilisierungen und Homophobie alles andere als gut. Doch China war neben Österreich das einzige Land, das die Weltfrauenkonferenz zu beherbergen bereit war – und Asien war nach allgemeiner Auffassung an der Reihe. Zur allgemein schlechten Menschenrechtsbilanz gesellten sich drastische »Sicherheitsmaßnahmen« mit Blick auf die Konferenz selbst: 16 Menschen wurden kurz vor deren Beginn hingerichtet, damit »ein gutes soziales Umfeld« herrsche, wie die Regierung verlautbarte. Bekannte Dissidenten wurden wegen Kontakten zu ausländischen Journalisten brutal verprügelt, prominente Kritikerinnen des Regimes wurden festgenommen, um zu verhindern, dass sie sich mit den Delegierten der Weltfrauenkonferenz treffen konnten. Dutzenden von Vertreterinnen tibetischer Exilorganisationen wurde die Einreise verweigert. Doch es gab keine Alternative, wenn die Konferenz
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Frauenrechte
überhaupt stattfinden sollte – und so wurde denn das Ziel, die Wirkung der UNO-Frauendekade auf globaler Ebene auszuwerten und die Frauenrechte weltweit voranzubringen, höher gewichtet als die mögliche Wirkung eines Boykotts auf die Menschenrechte in China. Wie seit den siebziger Jahren bei UNO-Konferenzen üblich, fand neben der offiziellen Regierungskonferenz ein Forum der Nichtregierungsorganisationen (NGO-Forum) statt. Obwohl die chinesische Regierung alle erdenklichen Register gezogen hatte, um dieses Forum klein zu halten, wurde es mit etwa 35.000 Teilnehmenden zur bis dahin größten Parallelkonferenz in der Geschichte der UNO. »Look at the World Through Women’s Eyes« war ihr Motto: Kein spezifisches Thema wie bei früheren Konferenzen, sondern schlechthin alles, was Frauen im Leben betrifft, stand vom 30. August bis 8. September 1995 in Huairou zur Debatte. Hunderte von Workshops waren täglich im Angebot. Die ganze Breite der Frauenbewegung und ihrer Anliegen kam darin zum Ausdruck. Frauen aller Kontinente und Religionen, Frauen aus ethnischen Minderheiten, Frauen mit Behinderungen, verschleierte Frauen und Frauen in traditionellen Trachten, Lesben, Migrantinnen, Bäuerinnen, Friedensbewegte und Umweltaktivistinnen, politische, religiöse, regierungsnahe und oppositionelle Frauengruppen hielten Vorträge, veranstalteten Podiumsdiskussionen, zeigten Filme, präsentierten ihre Pamphlete, Produkte, Ideen oder auch Ideologien. Tanz und Gesang waren allgegenwärtig, abends fanden kulturelle Veranstaltungen und Darbietungen statt. Sich in diesem Angebot zurechtzufinden, war allerdings ein Ding der Unmöglichkeit: Das Gelände war weitläufig und unübersichtlich, die Programmierung chaotisch, schlecht organisiert und wurde von den chinesischen Behörden teilweise auch absichtlich erschwert. Dennoch bot »Huairou« unendlich vielfältige Möglichkeiten, vom Wissen und Können von Frauen aus den verschiedensten Hintergründen zu profitieren und über Länder, Kontinente, Religionen, ethnische und politische Zugehörigkeiten hinweg Netze zu knüpfen. Niemand von uns hätte die Erfahrung missen wollen. Das NGO-Forum war allerdings kein Selbstzweck, sondern sollte auch die Frauenstimmen der »Basis« in der offiziellen UNO-Konferenz hörbar machen, die vom 4. bis 15. September im Internationalen Konferenzzentrum in Peking tagte. Das war angesichts der Entfernung der beiden Konferenzorte, aber auch der Heterogenität der 35.000 NGO-Teilnehmerinnen kein einfaches Unterfangen. Eine Verbindung gewährleisteten vor allem
uno-weltFrauenkonFerenZen Anlässlich des Internationalen Jahres der Frau fand 1975 in Mexiko-Stadt die erste UNO-Weltfrauenkonferenz statt. Sie widmete sich den Themen Frieden, Gleichberechtigung und Entwicklung. Es reisten Delegierte aus 133 Ländern an. Es folgten die Konferenzen in Kopenhagen 1980 und in Nairobi 1985 mit Teilnehmerinnen aus weiteren Ländern. Zur bislang größten Konferenz 1995 in Peking kamen Regierungsdelegationen aus 189 Ländern. Durch die von allen Delegierten verabschiedete Aktionsplattform gilt die Pekinger Konferenz als die erfolgreichste.
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»Never turning back«: Das Motto von Beijing ist auch heute wieder fast beschwörend zu hören.
nen gab es dagegen auch um Entwicklungsmodelle, die Folgen der Globalisierung, Strukturanpassungsmassnahmen, Eigentumsrechte, Erbrechte und vieles mehr.
Fast ein visionärer Forderungskatalog Die meisten dieser Kontroversen waren bereits bei den vorangegangenen Konferenzen, insbesondere bei der Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung in Kairo 1994, heftig debattiert worden. Die »Aktionsplattform von Beijing« konnte nicht allzu weit darüber hinaus gehen. Doch produzierte sie gerade bezüglich der sexuellen und reproduktiven Rechte prägnante Formulierungen, auf die bis heute Bezug genommen wird. So lesen wir in Ziffer 96: »Die Menschenrechte der Frauen umfassen auch ihr Recht, frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt über Angelegenheiten im Zusammenhang mit ihrer Sexualität, einschließlich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, bestimmen zu können.« Die Problematik verfrühter Heiraten, Schwangerschaften und Mutterschaften wird in der Plattform ebenso thematisiert wie die schwerwiegenden Gesundheitsrisiken, die aus »schädlichen Praktiken wie der Verstümmelung der weiblichen Geschlechtsteile« entstehen. Auch der als ungenügend erkannte Zugang von Mädchen zu Information, Bildung und Sexualaufklärung soll verbessert werden. Zurückhaltender bleibt die Aktionsplattform beim Thema Schwangerschaftsabbruch. Immerhin sollen die Staaten die »Revision von Gesetzen erwägen, welche Strafmaßnahmen gegen Frauen vorsehen, die sich einem illegalen Schwangerschaftsabbruch unterzogen haben« (Ziffer 106 k). Ein klares Defizit bleibt sodann, dass die Rechte von Lesben, Bisexuellen und Transgender keinen Eingang in die Plattform gefunden haben. Tatsächlich sind LGBTI-Rechte in multilateralen Verhandlungen auch heute noch allzu oft ein letztes Pfand, das am Ende »wichtigeren Anliegen« geopfert wird. Alles in allem lesen sich die »Strategischen Ziele und Maßnahmen« der Aktionsplattform von Beijing dennoch fast wie ein visionärer feministischer Forderungskatalog (tatsächlich beinhalten sie sogar das Wort »feministisch«!). Armut, Bildung,
erfahrene NGO-Lobbyistinnen, die nicht nur am Forum in Huairou, sondern auch an der offiziellen Konferenz teilnahmen – insgesamt gut 4.000 Vertreterinnen aus 2.602 NGOs, darunter auch Amnesty International.
Tatsächlich ruhten auf der Weltfrauenkonferenz von Peking besonders hohe Erwartungen bezüglich der Menschenrechte von Frauen. Erst 1993 waren die »Rechte der Frau« auf der Wiener Menschenrechtskonferenz erstmals offiziell als Menschenrechte anerkannt worden. Im selben Jahr hatte dank dem zähen Engagement von Frauenorganisationen das Thema »Gewalt gegen Frauen« endlich Eingang in eine UNO-Deklaration gefunden. Hinter diese Errungenschaften wollte die Frauenbewegung und wollten auch fortschrittliche Staaten nicht mehr zurück. Das Motto der Konferenz von Beijing, »Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden« war allerdings bereits Ausdruck davon, dass die Menschenrechte der Frauen für andere nicht im Zentrum standen. Eine der größten Kontroversen drehte sich um den Begriff »Gender«: Katholische und muslimische Länder argwöhnten, dass damit Tür und Tor geöffnet werde für die Rechte von Homosexuellen, Bisexuellen, Transgender und anderen Geschlechtsidentitäten. Schließlich wurde festgehalten, »Gender« sei nach allgemein üblichem Verständnis zu interpretieren – ohne dass dieses Verständnis näher definert wurde … Viele weitere Kontroversen waren aber zu Beginn der Konferenz noch offen. Ausdruck davon waren mehr als 400 Formulierungen »in Klammern«. Dies waren Passagen, über die noch kein Konsens bestand, die es also noch auszuhandeln galt. Vieles drehte sich dabei um das Thema »Sexualität« in allen ihren Formen, namentlich in den Abschnitten zu Gesundheit und zu den Menschenrechten von Frauen. Referenzen zu »sexueller Orientierung« mussten nach langen Verhandlungen gestrichen werden, da nur westliche Staaten und Japan damit einverstanden waren. »Familien« im Plural bereitete konservativen Staaten Mühe, weil sie Familie als »Vereinigung zwischen Mann und Frau« interpretiert haben wollten. In Diskussionen um reproduktive Rechte, reproduktive Gesundheit und das Recht zur Kontrolle über die eigene Sexualität manifestierten sich die üblichen Kontroversen um die Frage des Schwangerschaftsabbruchs. Das einzige Thema mit Bezug zu Sexualität, bei dem Konsens zu herrschen schien, war die Verurteilung von Vergewaltigung, ob in der Familie oder im Krieg. Heftige Diskussio-
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Foto: Irene Slegt / Panos Pictures
Kontroversen um die Menschenrechte der Frauen
Wo stehen wir? Delegierte auf der Konferenz.
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Gesundheit, Gewalt, bewaffnete Konflikte werden aus der Geschlechterperspektive analysiert. Themen, die bisher kaum in diesem Zusammenhang diskutiert worden waren, kommen dazu: Frauen in der Wirtschaft, in politischen Macht- und Entscheidungspositionen, in den Medien. Umweltfragen und Frauenrechte werden thematisiert und ein eigenes Kapitel ist der Situation und den Rechten von Mädchen gewidmet. Last but not least zieht sich quer durch alle Kapitel hindurch das Thema des »Empowerments« von Frauen: Die Erkenntnis, dass fehlende Macht und Mitbestimmung von Frauen und Mädchen in Dingen, die sie ganz direkt angehen – von der Ebene der Ehe und Familie über gesellschaftliche Institutionen bis zur höchsten Regierungsebene – ein ganz wesentlicher Faktor sind, der Frieden und Entwicklung weltweit verhindert.
Ernüchterung – und neue Perspektiven Was ist aus diesem fortschrittlichen Forderungskatalog geworden – dem umfassendsten Dokument zu Frauenrechten, das auf globaler Regierungsebene je im Konsens verabschiedet wurde? Konnte die große Hoffnung von Huairou und Beijing, eine Verbindung herzustellen zwischen den konkreten Erfahrungen von Frauen und global festgelegten Menschenrechtsnormen, eingelöst werden? Im Jahr 2000, fünf Jahre nach »Beijing«, wurde die Aktionsplattform von Beijing anlässlich der UNO-Generalversammlung einer ersten Überprüfung unterzogen. In einer neuen Erklärung bekräftigten die Regierungen ihr Engagement für die Ziele der Weltfrauenkonferenz und verpflichteten sich auf weitere Maßnahmen zu deren Umsetzung. Das inzwischen verabschiedete Zusatzprotokoll zur Frauenrechtskonvention (CEDAW) und das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, in dem Vergewaltigungen im Krieg explizit zu Kriegsverbrechen und möglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt wurden, ließen Hoffnung aufkommen, dass Fortschritte zumindest in einigen Bereichen zu erwarten waren. Weitere fünf Jahre später evaluierte die UNO-Frauenkommission (CSW) die Umsetzung der Aktionsplattform auf nationaler Ebene. In einer Schlusserklärung wurden die Zusammenhänge zwischen »Beijing«, den Millenniumszielen und der UNO-Frauenrechtskonvention hervorgehoben. Viele NGOs kritisierten jedoch die mangelnden Anstrengungen von Regierungen, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Auch Amnesty kritisierte im Rahmen der Kampagne »Stoppt Gewalt gegen Frauen«, dass entsprechende Maßnahmen in vielen Ländern fehlten. 2010 hielt Amnesty in einer Stellungnahme zu »15 Jahre nach Beijing« ernüchtert fest: »Die aktuell unternommenen Schritte zur Umsetzung der in der Erklärung und Aktionsplattform von Beijing verankerten Prinzipien und Normen genügen nicht, um wirkliche Veränderungen im Leben von Frauen zu erwirken.« Ungleichheit und Diskriminierung beim Zugang zu Rechten, Chancen und Ressourcen seien noch immer weit verbreitet, die Mehrheit der in Armut lebenden Menschen seien Frauen und die Beteiligung an Macht und Entscheidungsprozessen sei für die meisten Frauen ein Traum geblieben. Auch heute, zwanzig Jahr nach Beijing, sieht die Weltlage alles andere als rosig aus. Frauen wer-
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Frauenrechte
den vergewaltigt, von extremistischen Gruppen verschleppt und versklavt. Das Recht, über den eigenen Körper und die eigene Sexualität selbst zu bestimmen – ihr vielleicht zentralstes Menschenrecht überhaupt – wird Frauen und Mädchen in vielen Ländern und Zusammenhängen vorenthalten. Tatsächlich weigern sich manche Staaten explizit, ihre Verpflichtungen wahrzunehmen, und in den einschlägigen UNO-Gremien sind es stets dieselben Themen, die zu Kontroversen führen: Der Schwangerschaftsabbruch, das Recht auf Sexualerziehung, die sexuelle Orientierung, die Definitionen von »Ehe« und »Familie«. Dabei haben die katholisch und islamisch orientierten Staaten, die im Verbund mit dem Vatikan solche Rechte vehement bekämpfen, durch christlich-fundamentalistische Kräfte zusätzliche Unterstützung erhalten. Diesen gelingt es zunehmend, auch die Positionen armer Länder des Südens zu beeinflussen, deren politische Herrscher innenpolitisch auf ihre Unterstützung angewiesen sind. »Never turning back«: Jenes Motto von Beijing ist auch heute wieder fast beschwörend zu hören. Besonders im Zusammenhang mit der Definition künftiger globaler Entwicklungsziele im »Post-2015« Prozess: Gender-Gleichstellung und Frauenmenschenrechte sollen darin als separates Ziel verankert werden, das von allen Staaten verfolgt werden muss, aber auch als explizites Querschnittsziel in allen Bereichen. Zurzeit stehen die Chancen dazu nicht schlecht, doch ob es gelingt, ist noch offen. Der große Gewinn von »Beijing« bleibt jedoch auch die breite Einsicht in die Notwendigkeit, bei innerstaatlichen Kämpfen um die Frauenrechte auf die internationalen Normen zurückzugreifen, auf die Regierungen sich verpflichtet haben – und umgekehrt. Dies immer wieder einzufordern, ist auch in Zukunft die Aufgabe von NGOs wie Amnesty International. Die Autorin ist Leiterin der Abteilung Kommunikation der Schweizer Amnesty-Sektion.
»my body, my riGhts« Die Amnesty-Kampagne hat zu einem ersten Erfolg geführt: In Norwegen sollen Transgender-Personen ihr amtliches Geschlecht künftig ändern können, ohne sich zuvor einer Sterilisation unterziehen zu müssen. Die Regierung kündigte zudem an, eine Arbeitsgruppe zu TransgenderRechten einzurichten. Amnesty wird die konkrete Umsetzung der angekündigten Maßnahmen verfolgen, gemeinsam mit der norwegischen Aktivistin John Jeanette Solstad Remø. Mit Blick auf El Salvador hat Amnesty das strikte Abtreibungsverbot in einem neuen Bericht scharf kritisiert. Im Frühjahr 2015 will Amnesty eine Petition mit entsprechenden Forderungen an die Behörden übergeben, die von bisher mehr als 100.000 Menschen unterzeichnet wurde. Nahezu 200.000 Personen unterstützten eine Petition zur Situation von Frauen in Tunesien. Das Land wird darin aufgefordert, Betroffenen von sexualisierter Gewalt medizinische und juristische Hilfe zukommen zu lassen und diskriminierende Gesetze abzuschaffen. Marokko hatte Anfang 2014 ein Gesetz geändert, wonach Vergewaltiger straffrei blieben, wenn sie ihr minderjähriges Opfer heirateten.
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ÂťMeine Ehe dauerte nur zehn Tage.ÂŤ Mira (links) mit ihrer Schwester Samira und ihrem Ehemann.
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In Indien leiden viele Frauen unter den Zwängen der Traditionen und können kein selbstbestimmtes Leben führen. In den ländlichen Regionen verfügen die Behörden über wenig Einfluss. Stattdessen bestimmen häufig patriarchale Dorfräte den Alltag. Von Christina Franzisket (Text) und Nagender Chhikara (Fotos)
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Das Gesetz der Alten thema
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ls Rajivs Körper brannte, zerfiel auch Miras letzte Hoffnung zu Asche. Unter einem Pavillon aus Steinen standen alle Männer der Familie in Weiß gekleidet. Sie blickten in die Flammen, die aus den Holzscheiten schlugen und nach dem toten Körper griffen. Miras Schwager Rajiv war erst 28 Jahre alt, als er bei einem Autounfall starb. Während der Zeremonie blieben die Frauen der Familie im Haus. Die damals 19-jährige Mira saß neben ihrer älteren Schwester Samira, die nun Witwe war, und tröstete sie. Miras eigene Hochzeit lag erst wenige Tage zurück, die Hennabemalung auf ihren Armen war kaum verblasst. Es war still im Haus, bis plötzlich die Mutter der Schwestern sagte: »Wir werden Samira als zweite Frau deinem Ehemann geben, Mira.« In diesem Moment fühlte sich Mira, als ginge sie selbst in Flammen auf. Der Tag, an dem Rajiv verbrannt wurde, ist nun vier Jahre her. Es ist halb sieben Uhr morgens und still im Haus der Familie. Weil ihr Mann noch schläft und ihre Schwester draußen die Tiere versorgt, kann Mira offen reden. »Meine Ehe dauerte nur zehn Tage«, sagt sie bitter, »dann haben sie meine Schwester zur zweiten Ehefrau meines Mannes gemacht.« Sie sitzt im Schneidersitz auf einem braunen Polstersessel und stillt ihren zweijährigen Sohn. Während sie von dem Unfalltod ihres Schwagers Rajiv erzählt, brennt draußen bereits die Sommersonne auf das kleine Dorf im nordindischen Bundesstaat Haryana. Er hat rund 25 Millionen Einwohner und grenzt im Osten an Delhi. In Miras Heimatdorf leben etwa 5.000 Menschen, hauptsächlich Bauern. Im Hochsommer ist die Hitze schon am Morgen fast unerträglich. Heißer Wind weht durch die geöffnete Tür herein, es riecht nach Kuhdung. Mira ist erst 23, doch sie sieht alt aus. Ein Kopftuch umrahmt die graue Haut ihres müden Gesichts. Ihre Augen liegen tief und darunter zeichnen sich dunkle Augenringe ab. Die Zwänge der indischen Tradition haben ihr die Anmut geraubt. Mira führt das typische Leben einer indischen Frau. »Frauen in Indien leben als Sklavinnen, erst bedienen sie ihre eigene Familie und nach der Hochzeit die Familie des Ehemannes«, erklärt sie. Wie die meisten Inderinnen wurde auch sie zwangsverheiratet. Dass sie und ihre verwitwete Schwester sich jedoch einen Mann teilen müssen, ist für heutige Verhältnisse ungewöhnlich. Polygamie ist in Indien gesetzlich verboten. Doch außerhalb der Metropolen herrschen andere Gesetze. Hier regieren Dorfräte, bestehend aus den Ältesten und Mächtigsten. Der Arm der indischen Regierung reicht nicht bis in alle Dörfer dieses riesigen Landes. Der Einfluss der Dorfräte ist groß. Wollen Politiker in ländlichen Gegenden Stimmen gewinnen, müssen sie sich mit ihnen gut stellen, denn sie bestimmen häufig, wen
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Manchmal setzt er seine Kraft auch gegen seine Frauen ein. Schläge seien nötig, um sie zu beruhigen, sagt er.
»Jeden Tag schlucke ich dieses Leben wie Gift.« Mira mit Schwester und Ehemann.
die Dorfgemeinschaft wählt. Die indische Regierung hält sich deshalb heraus, wenn in den Dörfern Gesetze gebrochen werden. Wie in Miras Fall: »Damit haben sie meine Schwester und mich zu Feindinnen gemacht«, sagt sie. »Jeden Tag schlucke ich dieses Leben wie Gift.« Als das Schlurfen von Gummisandalen auf der Treppe zu hören ist, bricht Mira das Gespräch ab. Kurz darauf betritt ihre Schwester Samira den Raum. Wortlos steht Mira auf und beginnt mit der Hausarbeit. Sie befeuchtet einen alten Lappen und wischt den Staub vom weißen Steinboden im Flur. Ihre Schwester setzt sich auf eine Treppenstufe und sieht auf Mira herab. Samira war stolz, als sie Rajivs Frau wurde. Sie hatte sich immer ein Leben an der Seite eines starken Mannes gewünscht. Genügsam arbeitete sie tagsüber für ihn im Haushalt und machte sich für ihn hübsch, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam. Rajiv behandelte sie dafür wie seine Königin. Überall prahlte er mit ihrer Schönheit. Andere Frauen im Dorf beneideten Samira darum. Rajiv war Geschäftsmann, arbeitete in der Stadt und verdiente im Verhältnis zu den anderen Männern im Dorf viel Geld. Als seine Frau genoss Samira hohes Ansehen. Die
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Geburt ihres Sohnes vollendete ihr Glück. Als ihre Schwester Mira mit Rajivs Bruder Sanjay verheiratet wurde und zu ihnen ins Haus zog, freute sich Samira. Sie wusste, dass ihre Schwester neben ihr unscheinbar war. Sie würde sie nicht von ihrem Thron verdrängen und ihr im Haushalt eine Hilfe sein. Zehn Tage nach der Hochzeitsfeier geschah das Unglück. Seitdem ist Rajivs jüngerer Bruder Sanjay der Mann im Haus. An den Toten erinnern nur noch Porträts und das große Hochzeitsbild im Schlafzimmer. Als Sanjay an diesem Morgen aus dem Schlafzimmer kommt, hält er seine dreijährige Tochter im Arm. Die Kleine reibt sich den Schlaf aus den Augen. Beide Frauen stehen auf, um das Frühstück zuzubereiten. In der Küche ist es eng, bei der Arbeit rempeln sich die Schwestern an. Die Mahlzeit fällt bescheiden aus, denn das Geld der Familie ist knapp. Sanjay arbeitet als Bauer, doch die Landwirtschaft wirft nicht genügend ab. Mira verdient den Löwenanteil. Sie arbeitet als Lehrerin in der Dorfschule. Im Monat verdient sie 3.000 Rupien, umgerechnet etwa 40 Euro. Das Geld sieht sie jedoch nie. Ihr Ehemann bekommt es vom Schuldirektor bar auf die Hand. Als Mira an diesem Morgen zusammen mit ihrer Tochter zur Schule aufbrechen will, windet sich das Mädchen auf dem Fußboden und weint. Sie will nicht in die Vorschule gehen. Mira bleibt streng, bis Sanjay ihr ins Wort fällt: »Wenn meine Tochter nicht in die Schule will, muss sie auch nicht«, sagt er im Befehlston. Mira duckt sich und verlässt das Haus ohne ihre Tochter. Sie streitet aus Angst nicht mehr mit Sanjay. Ihr Mann gehört – wie sie selbst – zur indischen Kaste der Jats. Jats sind meistens Bauern, sie gehören zur unteren Mittelschicht und sind bekannt für ihre körperliche Stärke. Auch bei der Polizei und in der Armee sind sie deswegen begehrt. Im Dorf sagen die Leute über Sanjay, er habe »Hände wie Steine«. Seine Felder, auf denen er Weizen und Rüben anbaut, pflügt er nur mit einer Spitzhacke. Manchmal setzt er seine Kraft auch gegen seine Frauen ein. Schläge seien nötig, um sie zu beruhigen, sagt er. Auf dem Weg zum Unterricht erzählt Mira, wie hoffnungsvoll ihr Leben begonnen hatte. Sie war in Delhi aufgewachsen und kannte den Einfluss der Moderne, die immer mehr in die indische Hauptstadt einzog. Sie traf Frauen, die arbeiteten und eigenes Geld verdienten. In ihrer Verwandtschaft hatte es sogar schon Liebeshochzeiten gegeben. Auch ihre konservativen Eltern konnten sich dem Druck der neuen Freiheiten, die die Stadt ihrer jungen Tochter bot, nicht ganz entziehen. Zunächst waren es nur Kleinigkeiten, die Mira für sich forderte. Sie wollte Jeans
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tragen und englische Musik hören. Da ihre ältere Schwester ihr ein traditionelles Leben vorlebte, wusste Mira schnell, was sie nicht wollte. »Meine Schwester ist gerne eine Dorffrau«, sagt sie, »ich bin anders«. Sie wollte ein unabhängiges Leben führen. Wegen ihres Talents für Kosmetik fand sie einen Job und verdiente in einem Studio erstes Geld. Eines Tages verliebte sie sich: »Ich habe ihn auf einer Familienfeier gesehen.« Beim ersten Anruf sprachen sie schon über ihre Hochzeit – denn oft ist es erst nach einer Hochzeit möglich, die Beziehung offen zu leben. »Er hat mir romantische Dinge gesagt«, erinnert sie sich. Heimlich trafen sie sich und schmiedeten einen Plan. Da Mira die ablehnende Haltung ihrer Eltern zu Liebeshochzeiten kannte, suchte sie Rat bei einem Onkel, dem sie vertraute. Sie hielt ihn für liberal und für mächtig genug, um sich innerhalb der Großfamilie gegen ihre Eltern durchzusetzen. »Diese Entscheidung war der Fehler meines Lebens«, sagt sie heute. Der Onkel war nicht der, für den sie ihn hielt. Als sie sich ihm anvertraute, ließ er sie ins offene Messer laufen. Er berief den Familienrat ein, der Miras Freund unter Beleidigungen und Morddrohungen aus dem Haus jagte. Mira schrie und kämpfte vergebens: »Er hat nun eine andere geheiratet«, sagt sie. Wenige Tage danach präsentierte Miras Familie ihren zukünftigen Ehemann, Sanjay, den ungebildeten Bauern und Bruder ihres Schwagers. Für Mira ein Albtraum, für ihre Familie ein Glücksgriff – Mira und ihre Schwester würden in einem Haus leben und die Mitgift musste bei diesem Arrangement nicht mehr so hoch ausfallen. Man hatte sich schließlich schon für die Verheiratung der älteren Tochter finanziell verausgabt und so die Schwiegereltern milde gestimmt. Mira war entsetzt. Doch als sie ihre Wut den Eltern vortrug, packte sie ihr Bruder am Arm und zerrte sie ins Nebenzimmer. Als er sie wieder freiließ, hatte Mira keine Einwände mehr gegen ihre Verheiratung. Mit Gewalt hatte er ihren Willen gebrochen. Miras Optimismus half ihr nach der Hochzeit mit Sanjay stark zu sein. Sie versuchte den Umständen etwas Positives abzuringen. Er war nun ihr Ehemann. »Ich habe mir gewünscht, dass er mich liebt und mich begehrt«, sagt sie. Diese Hoffnung hielt nur zehn Tage. Als Rajiv starb und die Familie zum ersten Mal den Plan bekannt gab, Sanjay auch Samira als Frau zu geben, hoffte Mira noch, ihr Mann und ihre Schwester würden sich dagegen wehren. Doch es war wieder nur sie, die ihre Stimme erhob. Ihre Mutter machte ihr Vorwürfe, inszenierte gar einen Schwächeanfall. Ihr Bruder schrie Mira an: »Du Egoistin, du bringst noch unsere Mutter um.« Emotional erpresst, gab sie nach – wieder einmal. An den Tag, als Sanjay und Samira zum ersten Mal verheiratet das Haus betraten, kann Mira sich genau erinnern. »Ich war eifersüchtig, verletzt und weinte«, sagt sie. Der Streit eskalierte. Plötzlich griffen Samira und Sanjay nach ihr: »Sie haben mir Kleider in den Mund gestopft, damit die Nachbarn meine Schreie nicht hören«, sagt sie und erzählt, wie ihr Mann und ihre Schwester auf sie einschlugen, erst mit Fäusten, dann mit Gegenständen. »Ich dachte, sie schlagen mich tot.« Seit diesem Tag habe Sanjay sie immer wieder geschlagen, wenn es Streit gab, auch vor den Augen der Kinder. Einmal warf er vor Wut einen Stuhl nach ihr. Ihre Hand platzte auf. Die Wunde hätte genäht werden müssen, doch für eine Behandlung beim Arzt gab er ihr kein Geld. Eine lange Narbe in ihrer Handfläche erinnert daran. Als der Abend dämmert, ist Mira längst zurück aus der Schule. Sie spielt mit ihren Kindern, als Samira zum Aufbruch ruft.
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»Wir gehen immer zusammen.« Mittagsschlaf im gemeinsamen Bett.
Das Dorf weiß alles. Gespräch unter Frauen.
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Jeden Abend will sie ihre Freundinnen besuchen. Mira muss sie begleiten, auch wenn sie nichts mit den Frauen des Dorfes verbindet: »Wir gehen immer zusammen«, sagt Samira, »wir sind Schwestern, das muss so sein. Sonst würden die anderen lästern«. Sie nehmen ihre Kinder und verlassen das Haus. Bockig lässt Mira ihre Gummisandalen über den Boden schleifen. Im
Liebe ist nicht erwünscht. Hochzeitsalbum von Mira und Sanjay.
Innenhof eines Hauses hocken sie auf Pritschen. Nur das fahle Licht des Mondes erhellt ihre Gesichter. Es sind Frauen jeden Alters, alle in traditioneller Kleidung, die ihre Figuren höchstens erahnen lassen. Die Jüngeren halten Babys im Arm. Miras Kinder spielen mit einer Taschenlampe. Mira setzt sich abseits, Samira nimmt in der Mitte Platz. Sie plappern alle durcheinander, und lästern über die Busen der Nachbarin, die beim Wasserpumpen kurz sichtbar waren: »Schamlos«, finden sie das. Dann kommt das Gespräch auf die Schwester einer der Anwesenden. Die gesteht, dass ihre Schwester mit einem Mann aus einer anderen Kaste durchgebrannt ist: »Ich hasse sie jetzt«, sagt sie, die Familie habe die ehrlose Schwester verbannt. »Ihr solltet sie töten«, sagt eine Alte. Die anderen Frauen stimmen ein: »Ja, sie soll getötet werden.« Ehrenmorde sind in der Kaste der Jats keine Seltenheit. »Das verlangen die Tradition und die Gesellschaft von uns«, erklärt die Alte. Nicht umsonst tragen die Jats aufgrund der strengen Regeln ihrer Tradition den Spitznamen »Indiens Taliban«. Angst, für einen Ehrenmord ins Gefängnis zu gehen, haben die Frauen nicht: »Da halten wir als Dorfgemeinschaft zusammen, die Polizei eingeschlossen«, sagt eine andere und lacht. Alle hätten schon einmal dabei geholfen, einen Mord zu vertuschen. Der letzte Vorfall ist etwa ein halbes Jahr her. Eine Frau wurde mit einem Nachbarn in den Feldern beim Sex erwischt. Beziehungen zwischen Dorfbewohnern darf es nicht geben, erklärt die Alte. In einem Dorf seien alle Brüder und Schwestern, jeder intime Kontakt zwischen ihnen sei Inzucht. Überhaupt sei jede
»Die Täter haben keine Angst« Indische Frauen sind Übergriffen oft schutzlos ausgeliefert, sagt Dr. Ranjana Kumari. Die bekannteste Frauenrechtlerin Indiens leitet in der Hauptstadt Delhi das »Center for Social Research«. Die Nichtregierungsorganisation setzt sich für die Rechte von Frauen und Mädchen ein und betreibt die Frauenhäuser des »Center for Crisis Intervention«. Sind Vergewaltigungen in Indien ein neues Phänomen? Nein. Aber nachdem im Dezember 2012 eine junge Frau in Delhi in einem Bus von einer Gruppe Männer vergewaltigt wurde und 13 Tage später an ihren Verletzungen starb, bekommt das Problem in Indien endlich mehr Aufmerksamkeit. Mädchen und Frauen, die Opfer sexueller Gewalt werden, brechen jetzt häufiger ihr Schweigen. Sie sind stärker geworden. Sie berichten ihren Eltern, was passiert ist, und zeigen die Verbrechen bei der Polizei an, auch wenn die Angst, dafür kritisiert, ausgeschlossen oder zurückgewiesen zu werden, nach wie vor besteht. Vor allem in ländlichen Gebieten werden die meisten Vergewaltigungen deshalb immer noch nicht angezeigt. Ist Vergewaltigung ein typisch indisches Problem? Nein. Überall auf der Welt werden Frauen vergewaltigt. In patriarchalischen Gesellschaften denken Männer, dass sie aufgrund ihrer Macht über Frauen berechtigt sind, sie zu schlagen, zu vergewaltigen und zu töten. Mit dieser Gewalt wollen Männer Frauen
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Angst machen und sie so kontrollieren. Das Problem auf Indien zu reduzieren, wäre falsch. Wir müssen weltweit die Beziehung zwischen Männern und Frauen und die gesellschaftliche Stellung der Frau verbessern. Nur so lässt sich die Zahl der Vergewaltigungen reduzieren. Warum werden Frauen in Indien Opfer sexueller Gewalt? Weil indische Männer meist die politische und wirtschaftliche Macht haben, denken sie, sie hätten das Recht, Frauen im Bus zu kneifen, zu schubsen, sie wie zufällig zu berühren oder sogar zu vergewaltigen. Die Grundlagen dafür werden in Indien oft schon in der Erziehung in den Familien gelegt: Jungs können sich fast alles erlauben, Mädchen werden ständig kontrolliert. Diese Sozialisation führt dazu, dass Mädchen viele Benachteiligungen akzeptieren, ohne sie zu hinterfragen. Sind Frauen in Indien also automatisch Opfer? Tatsächlich sehen indische Männer Frauen oft als Opfer. Aber damit habe ich ein großes Problem. Viele Politiker sagen jetzt: »Wir werden
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Intimität vor der Hochzeit verboten. Deshalb sei es wichtig, die eigenen Töchter von allen Männern, außer ihren Brüdern, abzuschirmen: »Sonst haben sie Sex«. Liebe sei nicht erwünscht, sagt die Alte. »Oder liebt ihr etwa eure Ehemänner?«, fragt sie in die Runde. Alle Frauen schütteln wild den Kopf und lachen. »Liebe und Liebesheiraten, diese Moderne aus der Stadt zerstört unsere Tradition. Das dürfen wir nicht zulassen.« Mira blickt unbeteiligt ins Leere. Die Ehrlosen, die Inzucht trieben, habe man mit Gift gefüttert und sie auf den Feldern mit Backsteinen erschlagen, erzählt die Alte. »Wir haben die Einzelteile auf den Feldern verteilt.« Ein Polizist wird diese Praxis später bestätigen: »Wir Jats kümmern uns auf unserem Land selbst um Recht und Ordnung«, sagt er. »Die Gesetze machen die Dorfältesten und wir Polizisten helfen, sie umzusetzen.« Er lacht, und erklärt, dass die Regierung keine Probleme mache. Die kümmere sich nur darum, sich selbst zu bereichern. Nur die Medien, die müsse man fernhalten: »Wenn so etwas in die Medien kommt, wird die Regierung gezwungen, zu handeln, und dann hängt jemand.« Die Frauenrunde ist zu einem neuen Thema übergangen: Eine 19-Jährige hat ihr erstes Kind bekommen, einen Jungen. Die Feierlichkeiten müssen vorbereitet werden. Samira gratuliert der stolzen Mutter. Alle Frauen wollen einen Jungen bekommen, erklärt Samira. Ein Mädchen sei eine Last. Für sie müsse bei ihrer Hochzeit eine horrende Mitgift bezahlt werden. Anschließend lebe sie in der Familie des Mannes und könne ihre Eltern im Alter nicht versorgen. Aber töten würden sie ein Mädchen
nicht, beteuern alle Frauen. Stolz erklären alle Anwesenden, dass sie glücklicherweise nur Jungen zur Welt gebracht haben. Plötzlich ertönt ein Räuspern. Die Frauen greifen nach ihren Kopftüchern und ziehen sie hastig vor ihre Gesichter. Der Mann des Hauses betritt den Hof. Er nähert sich den Pritschen und beendet den Frauenabend. Sofort stehen alle auf, nehmen ihre Kinder und gehen nach Hause. Als Sanjay an diesem Abend nach Hause kommt, riecht er nach Whisky. Oft, wenn er getrunken hat, will er Mira anfassen. In der Nacht ist sie für sein Verlangen zuständig. Ihre Schwester schläft mit den Kindern in einem anderen Raum. Als er an diesem Abend ins Schlafzimmer kommt, springt Mira vom braunen Polstersessel auf. Sie tut so, als hätte sie vergessen, die Büffel ans Wasser zu führen und verlässt noch einmal das Haus. Der See, an dem die Tiere trinken, liegt neben den Verbrennungsstätten des Dorfes. Hier hat auch Rajivs Körper einst gebrannt. Ein Haufen aus Asche liegt unter einem steinernen Pavillon. Mira atmet tief durch. Es ist still, kühler Wind kündigt die Nacht an. Als sie ihren Blick vom Sandboden hebt, rutscht ihr Kopftuch auf ihre Schultern herab und entblößt ihr schwarzes Haar. Sie sieht zum Horizont. »Eines Tages, wenn meine Kinder mich verstehen, dann gehe ich mit ihnen zurück nach Delhi«, sagt sie.
euch beschützen.« Aber wir wollen nicht beschützt werden! Wir wollen gleichberechtigt sein, dann können wir uns selbst beschützen. Wir sind keine Opfer! Nicht Angst, sondern Courage sollte unser Handeln bestimmen. Viele Mädchen nehmen jetzt an Selbstverteidigungskursen teil, um sich gegen Vergewaltiger wehren zu können. Ist das eine gute Idee? In Indien haben Mädchen seit Generationen eingebläut bekommen: Mach Dich möglichst klein und unsichtbar, verberge deine Reize. Die Mädchen haben so Angst vor ihren eigenen Körpern entwickelt. Das Beste an den Selbstverteidigungskursen ist, dass sie dort ein neues Körper- und Selbstbewusstsein entwickeln. Sie gehen danach aufrecht, werden nicht mehr als Opfer gesehen. Abgesehen davon lernen sie dort vielleicht auch wirklich, sich im Ernstfall zu verteidigen. Deshalb sollten noch mehr Kurse angeboten werden. In Indien ist es nach wie vor tabuisiert, über Sex zu sprechen … Ja, viele Politiker wollen sogar Sexualkundeunterricht in Schulen verbieten. Aber dafür gibt es jede Menge Pornographie. Das führt zu sexueller Perversion. Männer sehen im Internet Massenvergewaltigungsszenen und dass Frauen irgendwelche Gegenstände eingeführt werden. Sie denken sich dann, dass dies normal sei und der Frau sogar Spaß mache. Ein wichtiger indischer Politiker besaß sogar die Dreistigkeit, über Vergewaltigungsopfer öffentlich zu sagen: »Erst genießen sie es und dann beschweren sie sich auch noch.« Ein anderer sagte über Vergewaltiger: »Jungs sind nun mal so. Warum soll man sie deshalb gleich hart bestrafen?« Andere behaupten, die moderne Kleidung der Frauen sei schuld an Vergewaltigungen. Wie kann die Stellung der Frau in Indien verbessert wer-
den? Frauen und Mädchen müssen eine bessere Erziehung erhalten, durch Berufstätigkeit mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit von Männern erlangen und eine stärkere Rolle in der Gesetzgebung und Rechtsprechung spielen. Zudem trainieren wir Polizisten, die die Aussagen von vergewaltigten Frauen aufnehmen. In Krankenhäusern sensibilisieren wir Ärzte für die Anzeichen sexueller oder häuslicher Gewalt. Und wir bilden Frauen, die teilweise selbst Opfer sexueller Gewalt geworden sind, aus, um andere Frauen, denen Ähnliches widerfahren ist, beraten zu können. Müssen die Gesetze verschärft werden? Wir haben dafür gesorgt, dass Frauenrechte auch auf der politischen Agenda gelandet sind. Im Parlamentswahlkampf 2014 gab es keine einzige Partei, die sich nicht des Themas angenommen hat. Zwar ist die Gesetzgebung nach der brutalen Vergewaltigung im Bus verschärft worden, aber wenn ich mir die Zahl und die Brutalität der Vergewaltigungen anschaue, habe ich nicht den Eindruck, dass die Täter Angst vor Strafverfolgung haben. Kein Wunder! Denn in Indien arbeitet die Justiz sehr langsam. Derzeit gibt es 95.000 anhängige Vergewaltigungsverfahren. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit liegt bei sieben bis neun Jahren. Deshalb glauben viele Täter, dass sie davonkommen werden. Oft sterben Opfer oder Zeugen ziehen ihre Aussagen zurück, bevor es zur Verhandlung kommt. Viele Verfahren werden deshalb eingestellt. Und selbst wenn es zu einer Verurteilung kommt, kommen die Täter oft mit zwei, drei Jahren Haft davon. Solange unsere guten Gesetze nicht angewendet werden, bringen sie nicht viel.
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Frauenrechte
Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Frankfurt a. M. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
Interview: Philipp Hedemann
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Fotos: Fundación Sobrevivientes, Sven Torfinn / The New York Times / Redux / laif, Loujain al-Hathloul / AP / pa
Starke Frauen In vielen Ländern der Welt setzen sich mutige Menschenrechtsverteidigerinnen unter schwierigen Bedingungen für die Rechte anderer ein. Wir stellen vier von ihnen vor.
Unermüdliches Engagement. Norma Cruz.
Konstantina Kuneva (Griechenland)
kaum mehr als 600 Euro. Sie kritisierte die bis zu fünfmonatigen Verspätungen bei der Lohnzahlung und fehlende Sozialleistungen. Ihr Einsatz hatte zur Folge, dass ihr ungünstige Arbeitszeiten zugeteilt wurden. Man übte Druck auf sie aus, um sie zur Kündigung zu bewegen, und sie erhielt anonyme Drohanrufe. Außerdem schüchterten viele Arbeitgeber ihre Angestellten ein, sodass einige sich aus Angst vor einer Kündigung kaum noch trauten, mit Konstantina Kuneva zu reden. Im Dezember 2008 kam es zu einem Streit mit ihrem Arbeitgeber OIKOMET. Als Konstantina Kuneva am 22. Dezember zu später Stunde von der Arbeit nach Hause gehen wollte, überwältigte sie ein unbekannter Mann und goss ihr Schwefelsäure in den Mund und über das Gesicht. Nach dem Säureanschlag lag sie mehrere Tage im Koma. Sie ist seither auf einem Auge blind, auf dem anderen ist ihre Sehkraft eingeschränkt. Bei dem Angriff wurden außerdem ihre Stimmbänder und ihre Luftröhre schwer verletzt. Sie musste über Jahre hinweg zahlreiche Operationen vornehmen lassen, um wieder ein annähernd normales Leben führen zu können. Konstantina Kuneva erstattete eine Anzeige, die von den griechischen Behörden jedoch lange vernachlässigt wurde. Als die Ermittlungen schließlich begannen, wurden Kunevas gewerkschaftlichen Aktivitäten allerdings nicht berücksichtigt. Zudem wurden Zeugen bedroht. Die Ermittlungen wurden in der Zwischenzeit mehrfach eingestellt und nur auf Druck von Anmesty und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen wieder aufgenommen. Bis heute wurde kein Tatverdächtiger überführt. Der Gesundheitszustand von Konstantina Kuneva hat sich so weit verbessert, dass sie wieder politisch aktiv sein kann. Im Mai 2014 wurde sie als Abgeordnete der griechischen Partei Syriza ins Europaparlament gewählt. Foto: Daniel Herard / REA / laif
Bis 2001 arbeitete die Bulgarin Konstantina Kuneva als Historikerin an der Universität Sofia. Als jedoch ihr Sohn schwer erkrankte, beschloss sie, ihn in der griechischen Hauptstadt Athen behandeln zu lassen. Um die notwendige Herzoperation zu finanzieren, arbeitete sie dort als Reinigungskraft und erlebte die schwierige Situation von Arbeitsmigrantinnen am eigenen Leib. Als Akademikerin kannte sie – anders als viele ihrer Kolleginnen – ihre grundlegenden Rechte als Arbeiterin und beschloss, diese einzufordern. Gemeinsam mit anderen gründete sie die Gewerkschaft der Reinigungskräfte in Attika, um für die Rechte von Frauen zu kämpfen, die von der traditionellen Arbeiterbewegung vernachlässigt worden waren. Als Sprecherin der weitgehend mittellosen Arbeitsmigrantinnen aus Osteuropa und anderen Teilen der Welt stieg sie zur Generalsekretärin der Gewerkschaft auf. Dabei verdiente sie monatlich noch immer
Sprecherin der Arbeitsmigrantinnen. Konstantina Kuneva.
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Norma Cruz (Guatemala) In Guatemala ist Gewalt gegen Frauen ein drängendes Problem. Um Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, Beistand zu leisten, gründete die Rechtsanwältin Norma Cruz 1996 in GuatemalaStadt die Stiftung »Fundación Sobrevivientes«, die ein Frauenhaus einrichtete. Dank des unermüdlichen Engagements von Norma Cruz wurde aus dem Frauenhaus im Laufe der Zeit ein
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Trotzt Gewalt und Unsicherheit. Fartun Adan.
Kämpft gegen das Fahrverbot. Loujain al-Hathloul.
Frauenrechtszentrum, das Unterstützung in verschiedener Form anbietet. Die Stiftung dokumentiert außerdem Fälle von Gewalt gegen Frauen und vertritt die Opfer vor Gericht, sofern sie diesen Weg einschlagen wollen. Zudem organisiert Norma Cruz zusammen mit den Familien ermordeter Frauen Kampagnen, um die Mörder zu ermitteln und zur Rechenschaft zu ziehen. Wegen ihres Einsatzes ist Norma Cruz großer Gefahr ausgesetzt. In Guatemala häufen sich Angriffe und Drohungen gegen alle, die die Menschenrechte verteidigen. Auch die zuständige UNO-Sonderberichterstatterin hat sich darüber besorgt gezeigt. Seit 2008 erhält Norma Cruz anonyme Drohungen, die sich gegen sie und ihre Familie richten. 2009 nahm sie sich eines Mädchens an, das im Alter von 14 bis 16 Jahren wiederholt von einem Bekannten vergewaltigt wurde. Daraufhin drohte man Norma mehr als fünfzig Mal, sie oder ein Mitglied ihrer Familie zu ermorden. Eine Tante des Mädchens, die die Anwaltskosten übernommen hatte, wurde ermordet. Bisher wurde nur ein Mann überführt, der für die Drohungen verantwortlich war. Er wurde lediglich zu einer Geldstrafe verurteilt. Amnesty hofft jedoch, dass dies ein Präzedenzfall sein könnte, denn bislang wurden Drohungen gegen Menschenrechtsverteidiger noch nie geahndet. Amnesty hat Norma Cruz durch einen Briefmarathon an die guatemaltekische Regierung unterstützt. Nicht zuletzt Dank des zivilgesellschaftlichen Drucks stehen Norma Cruz, ihre Familie und ihre Frauenrechtsorganisation heute unter Polizeischutz. Dennoch bleibt ihre Gefährdung groß.
dem zu begegnen, gründete Fartun Adan mit ihrem Ehemann, dem Friedensaktivisten Elman Ali Ahmed, eine Menschenrechtsorganisation. Nachdem Elman Ali Ahmed 1996 ermordet wurde, wanderte Fartun drei Jahre später mit ihren vier Töchtern nach Kanada aus. 2007 kehrte sie trotz anhaltender Kämpfe nach Somalia zurück. Sie ist inzwischen Direktorin der damals von ihr gegründeten Organisation, die mittlerweile den Namen ihres verstorbenen Ehemanns trägt: »Elman Peace and Human Rights Center«. Für ihr Engagement unter schwierigsten Bedingungen überreichte ihr Michelle Obama 2013 den amerikanischen »International Woman of Courage Award«. 2014 erhielt Fartun Adan den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Fartun Adan (Somalia) Seit mehr als 20 Jahren befindet sich Somalia im Bürgerkrieg. Für eine ganze Generation sind Gewalt und Unsicherheit zur normalen Lebensrealität geworden. Die rudimentären staatlichen Strukturen bieten den Bürgern des Landes kaum Schutz. Frauen sind dabei besonders gefährdet. Sie werden Opfer von Vergewaltigung, Zwangsheirat und Genitalverstümmelung. Vergewaltigung wurde auch als besonders grausame Methode der Kriegsführung eingesetzt. Die betroffenen Frauen und Mädchen erhalten in der Regel keine Unterstützung und werden häufig sogar wegen »Promiskuität« oder »Ehebruch« angeklagt. Um
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Frauenrechte
Loujain al-Hathloul (Saudi-Arabien) Saudi-Arabien ist das einzige Land der Welt, in dem Frauen das Autofahren verboten ist. Nachdem 1990 rund 40 Frauen aus Protest über eine zentrale Straße der Hauptstadt Riad gefahren waren, verkündete ein hochrangiger Geistlicher eine Fatwa gegen Frauen am Steuer. 2011 begannen engagierte junge Frauen verstärkt das Internet zu nutzen, um gegen das Fahrverbot zu protestieren. Im selben Jahr wurde eine Frau wegen Autofahrens zu zehn Peitschenhieben verurteilt. Die Strafe wurde jedoch in der Folge annulliert und nicht vollstreckt. Im Oktober 2013 kündigte die 24-jährige Loujain al-Hathloul in einem im Internet verbreiteten Video den Start einer neuen Kampagne an. Dabei sollten sich Frauen beim Autofahren filmen und die Videoclips im Netz veröffentlichen. Kurz darauf wurde die Webseite der Kampagne durch Hacker stillgelegt. Aus regierungsnahen Kreisen verlautete, die Kampagnenteilnehmerinnen könnten unter Berufung auf die Antiterrorgesetzgebung angeklagt werden, da öffentliche Versammlungen als versuchter Umsturz gewertet werden könnten. Andere Frauenrechtlerinnen versuchen, das Fahrverbot mit rechtlichen Mitteln zu kippen. Dies ist bisher jedoch noch nicht gelungen. Mutige Frauen bekämpfen das Fahrverbot weiterhin durch alltägliche Aktionen: So wurde Loujain al-Hathloul erst kürzlich erneut festgenommen, als die Polizei sie am Steuer ihres Autos vorfand. Ihr Fall wurde anschließend an das Sondertribunal für Terrorismus überwiesen.
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34 Nordirak: Terror gegen Christen und Jesiden 40 Türkei: Hakan Yaman über Polizeigewalt 42 Marokko: Der Fall von Ali Aarrass 44 Tunesien: Misshandlung in Polizeigewahrsam 46 Nepal: Straffreiheit für Folterer 46 Nachruf: Irène Mandeau
Konvertieren oder gehen. Flüchtlingscamp in der türkischen Stadt Suruç nahe der syrischen Grenze. Foto: Saner Sen / NarPhotos / laif
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Hölle auf Erden
»Das werde ich nie vergessen.« Flucht aus Kobane, das vom IS belagert wird.
Der »Islamische Staat« geht mit aller Gewalt gegen Christen und Jesiden vor. Die repressive Minderheitenpolitik der irakischen und türkischen Regierung tragen dazu bei, das Problem noch zu verschärfen. Von Sabine Küper-Büsch (Text) und Saner Sen / NarPhotos / laif (Fotos) Der schmächtige Junge weicht nicht von der Seite seines Vaters. Jede Nacht, wenn es dunkel wird, hört er die Bomben fallen und schreit im Schlaf. Seine Träume kreisen um Aleppo, seine Heimatstadt im Norden Syriens. Dyar Omar Hame ist zwölf Jahre alt. Sein Gesicht ist von Narben entstellt. Am 15. September spiel-
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te der Junge am Abend mit seinen Freunden auf der Straße, als die syrische Luftwaffe einen Blitzangriff auf die Stadt flog. Die Familie Hame hatte ein kleines Lebensmittelgeschäft in der Nähe des alten Basars. »Es war eine Splitterbombe, ich dachte erst, alle Kinder sind tot«, erinnert sich Omar Sayde Hame. Doch sein Sohn hatte den Angriff wie durch ein Wunder überlebt, während die meisten seiner Spielkameraden starben. Im Frühjahr entschloss sich die Familie, Aleppo zu verlassen, denn die Angriffe der syrischen Armee hatten die Innenstadt fast komplett zerstört, der kleine Laden lag in Schutt und Asche. Als syrische Kurden beschlossen die Hames nach Kobane zu zie-
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Das Jesidentum gehört zu den ältesten monotheistischen Religionen der Welt.
hen. Die Stadt liegt im Grenzgebiet zum Irak. Dort ist eine vor allem von PKK-nahen syrischen Kurden kontrollierte autonome Zone entstanden. Im Juni begann der Vormarsch des »Islamischen Staates« auf Kobane. Omar Sayde Hame hatte sich als Landarbeiter in einem der kurdischen Dörfer niedergelassen. Eines Nachmittages sah er die schwarze Fahne des IS über dem Nachbardorf wehen. »Ich werde das nie vergessen«, erinnert er sich. »Einer meiner Arbeitskollegen schrie plötzlich entsetzt auf. Diese Barbaren hatten einige Männer hingerichtet und stellten ihre abgetrennten Köpfe auf den Dächern zur Schau.« Die Hames flohen zusammen mit kurdischen Nachbarn in die türki-
berichte
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irak
sche Provinz Suruç. Von dort aus reisten sie weiter in den Nordirak. Seit Ende Oktober leben sie im Gawilan Camp, vierzig Kilometer von Erbil entfernt. Seit 1992 existiert im Nordirak eine autonome kurdische Verwaltung. Erbil ist der Sitz der Regionalregierung. Die nordirakische Provinz Dohuk weiter nördlich hat eine gemeinsame Grenze mit der Türkei und mit Syrien. Der »Islamische Staat« rückte im Sommer massiv von Syrien aus nach Mosul vor und richtete dort sein Hauptquartier im Irak ein. Mosul, eine Millionenstadt umgeben von Erdölquellen, wurde von nicht-muslimischen Minderheiten »gesäubert«. Ihnen blieb die Wahl, zum Islam zu konvertieren oder zu gehen. Die meisten flohen in die angrenzende autonome Kurdenregion. Das Dorf Bozan liegt nur 30 Kilometer von Mosul entfernt. Auf dem Dorfplatz sitzen Flüchtlinge vom Berg Sindschar nahe der syrischen Grenze. Es sind Jesiden, Kurden, die einer religiösen Minderheit angehören. Im Juni rückte der »Islamische Staat« gegen sie vor und verursachte ein Blutbad. Fast 10.000 Männer sollen nach Angaben der Menschenrechtsstiftung Kurdistan getötet und mindestens 2.000 Frauen in die Sklaverei verschleppt worden sein. Hoto Haje Murad ist 36 Jahre alt. Er war Bürgermeister in einem Dorf auf dem Berg Sindschar und ein wohlhabender Mann. Der »Islamische Staat« drang in sein Haus ein, als er gerade im Nachbarort war. »Mein Cousin und seine Söhne waren zu Besuch«, erzählt er, »Nachbarn haben mir berichtet, dass die IS-Terroristen das Haus verwüstet haben. Dabei wurden sie getötet.« Der Mann ringt nach Worten. Nur stammelnd kann er erzählen, dass sein jüngster Sohn, ein siebenjähriger Junge, ebenfalls ermordet wurde. Zwei seiner Töchter wurden verschleppt. »Sie sind elf und 13 Jahre alt. Das sind doch noch Kinder.« 30 Kilometer östlich von Bozan liegt Lalish, ein für die Jesiden heiliger Berg. Mitte Oktober übermittelte die Propagandaabteilung des IS, die Jesiden hingen einem vorislamischen, heidnischen Unglauben an. Dementsprechend dürften sie, bei Verweigerung der Konversion, getötet, und ihre Frauen versklavt werden. Das Jesidentum gehört zu den ältesten monotheistischen Religionen der Welt. Jeden Abend werden auf dem Berg Hunderte Öllampen entzündet, die das ewige Licht versinnbildlichen. Motive des Judentums, des Christentums und des Islams verbinden sich mit Elementen des altpersischen Zoroastrismus und des Schamanentums. »Wir glauben nicht an Himmel und Hölle und dass der Mensch nach seinem Tod an irgendeinen konkreten Ort geht«, erklärt Baba Çalısh, das spirituelle Oberhaupt von Lalish. Das Jesidentum stellt sich die menschliche Existenz als Reinkarnations-Zyklus vor, in dem der Mensch mehrere Leben durchläuft. Baba Çalısh ist fassungslos
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angesichts der verübten Grausamkeiten. »Unser Volk ist Opfer eines Genozids«, sagt er gepresst. »Was unternimmt die internationale Gemeinschaft, um das Massenmorden, die Versklavung und den Missbrauch unserer Frauen zu verhindern?« In den vergangenen Monaten konnten 50 entführte Jesidinnen vom »Islamischen Staat« freigekauft werden. Sie berichten von unerträglichen Menschenrechtsverletzungen. Kleine Jungen wurden vor den Augen ihrer Mütter getötet, Töchter verschleppt. Frauen werden oft hintereinander an mehrere Männer verkauft. Diler Abdullah Hasan von der Menschenrechtsstiftung Kurdistan in Dohuk berichtet voller Abscheu: » Die schlimmsten Übergriffe verübt der ›Islamische Staat‹ an den Frauen. Sie werden ihren Familien entrissen, ihrer Freiheit beraubt, vergewaltigt, gefoltert und wie Vieh verkauft. Eine Frau kostet so viel wie ein Schaf auf dem Markt. Es ist unerträglich, dass sich noch so viele in der Gewalt dieser Verbrecher befinden.« Neben den Jesiden sind die irakischen Christen die zweitgrößte von Vertreibung betroffene Gruppe. In der syrisch-orthodoxen Kirche Peter und Paul in Dohuk sitzt Jonee Isho auf einer der Bänke und betet. Die Christin denkt an ihren Sohn
»Das sind doch noch Kinder.« Camp für syrische Flüchtlinge nahe Erbil.
Majit Sheba, der vor einem Jahr in Mosul getötet wurde. »Mein Sohn war Beamter an der Universität von Mosul«, erzählt sie. »Er war schon mehrfach bedroht worden. Sie wollten Lösegeld von ihm. Er fragte mich: ›Wofür?‹« Bereits seit einiger Zeit erpressten Dschihadisten Christen in Mosul damit, dass sie eine Minderheitensteuer zahlen müssten, um dort friedlich leben zu dürfen. Majit Sheba zahlte nicht. »Sie haben einen Sprengsatz unter seinem Auto befestigt«, erzählt seine Mutter. »Er ist dann losgefahren. Nach ungefähr einem Kilometer ist das Auto explodiert.« Majit Sheba war 29 Jahre alt, als er starb. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Ashout Sheba wurde vor einem halben Jahr in Mosul entführt. Der 28-Jährige ist Zahnarzt, er berichtet erstaunlich ruhig von seiner Gefangenschaft. Er sei gut behandelt worden. »Es kommt darauf an, mit welcher Fraktion des IS man es zu tun hat«, erklärt der schmale junge Mann. »Meine Entführer waren Anhänger der Baath-Partei, also ehemalige Gefolgsleute Saddam Husseins. Die interessiert nur, ob du etwas mit dem Staat oder der Armee zu tun hast – was bei mir nicht der Fall war. Anders als die Dschihadisten interessieren die sich nicht für die Religion. Sie wollen die Regierung in Bagdad stürzen.« Beide Fraktionen kooperieren miteinander, auch wenn sie unterschiedliche Ziele verfolgen. Während die Dschihadisten die Ausweitung des Territoriums des Kalifen al-Bagdhadi wollen, verfolgen die Baathisten eine Destabilisierung der Macht der alten Feinde, der Schiiten und Kurden, die politisch nun im Irak das Sagen haben. Doch auch Kurden und Schiiten sind sich nicht einig. Der kurdische Gouverneur von Dohuk, Farhad Armin Atroshi, macht deutlich, wie zerstritten alle Fraktionen im Irak derzeit sind. Er beschuldigt vor allem den ehemaligen Präsidenten al-Maliki, für die Situation verantwortlich zu sein. »Ich hoffe, die neugewählte Regierung wirft ihn ins Gefängnis«, schnaubt er wütend. »Er hat die Armee mit seinen Schiiten unterwandert und die Macht total zentralisiert. Jetzt haben wir einen wunderbaren Nährboden für sunnitischen Fundamentalismus.« Ein Drittel des Irak ist momentan in den Händen des »Islamischen Staates«. Eine erfolgreiche Bekämpfung ist nach Meinung der Kurden und der anderen Minderheiten nur möglich, wenn das Ausland Druck ausübt, vor allem auf Bagdad. Farhad Armin Atroshi unterstreicht, dass die ausländischen Waffenlieferungen nur schleppend in der Region ankommen, weil die Zentralregierung sie teilweise zurückhält. Bagdad und Erbil führen einen Kleinkrieg, weil die Kurden mehr Unabhängigkeit und mehr Teilhabe an den Erlösen der Erdölquellen wollen. Eine schlagkräftige Bekämpfung des IS ist daher seit Monaten in aller Munde, ohne dass wirklich etwas geschieht. Nachbarländer wie die Türkei geben Lippenbekenntnisse ab, ohne den »Islamischen Staat« tatsächlich bekämpfen oder eindämmen zu wollen. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hat international mehrfach vertreten, dass der »Islamische Staat« auch nicht schlimmer sei als die PKK. Die Regierungen in Ankara und in Bagdad gelten auf internationaler Ebene unverdienterweise als zentrale Akteure, obwohl sie mit ihrer restriktiven Minderheitenpolitik Teil des Problems sind. Die Autorin ist Journalistin und lebt in Istanbul.
Frauen erleben die schlimmsten Übergriffe. Jesidische Flüchtinge.
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»Es ist ein Wunder, dass ich gerettet wurde«
»Ich fühle, dass ich nicht allein bin.« Hakan Yaman.
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Hakan Yaman war am 3. Juni 2013 in Istanbul auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, als er einer Demonstration gegen Polizeigewalt begegnete. Kurz darauf wurde der 37-Jährige von Polizisten angegriffen, und zwar so brutal, dass sich sein Leben für immer veränderte. Ein Gespräch mit Hakan Yaman über die Folgen des Angriffs und die Frage, warum bis heute niemand dafür zur Verantwortung gezogen wurde. Können Sie sich noch an den gesamten Vorfall erinnern? Es ist schwer für mich, die Ereignisse wie ein Puzzle wieder zusammenzusetzen. Erst wurde ich von einem Wasserwerfer angeschossen, dann traf mich aus 20 Metern Entfernung ein Tränengaskanister. Anschließend prügelten mehrere Polizisten auf mich ein. Einer von ihnen drückte mir einen harten Gegenstand ins Auge. Sie waren nicht an der Demonstration beteiligt? Nein, das alles geschah vor meiner Haustür. Es war wie ein Schlachtfeld, jeder hat etwas abbekommen. Auf der Straße waren Kinder, Erwachsene, Frauen mit Babys, alte Menschen. Ob man an der Demonstration beteiligt war oder nicht, spielte keine Rolle. Nachdem ich von der Kartusche getroffen und verprügelt worden war, lag ich auf dem Boden. Die Polizei hätte mich einfach auf die Wache bringen und weitere Schritte einleiten können. Aber das war nicht der Fall. Stattdessen hat Sie die Polizei weiter drangsaliert. Ja. ich hörte noch, wie einer der Polizisten sagte: »Der ist fertig, wir sollten ihn endgültig erledigen.« Dann zerrten sie mich in ein Feuer, wodurch ich Verbrennungen am ganzen Rücken erlitten habe. Dafür gibt es auch Zeugen. Als ich zu mir kam, habe ich mich zunächst totgestellt. Mir war bewusst, dass wenn ich aufstehe, mich ein Wasserwerfer überfahren oder etwas in der Art passieren würde. Es gelang Ihnen, sich aus den Flammen zu befreien. Demonstrierende brachten Sie in ein Krankenhaus … Ja, ich wurde noch am selben Tag zum ersten Mal operiert. Die Ärzte sagten meiner Familie, sie müsse mit allem rechnen, unter Umständen würde ich nicht überleben. Ich hatte einen Schädelbruch, ein Knochen war zersplittert, ebenso meine Wange. Ein Auge war eingedrückt, mein Gebiss gebrochen. Die Ärzte haben an fünf Stellen meines Körpers Knochen und Gewebe entnommen, um mein Gesicht zu rekonstruieren. Es war ein Wunder, dass ich gerettet wurde. Ich kann seitdem nicht mehr riechen und nicht mehr richtig sehen. Mir stehen noch weitere Operationen bevor. Ich lebe nur noch mit Antidepressiva und habe Schlafstörungen.
Foto: Sarah Eick
Der Vorfall wurde gefilmt. Woher kamen die Aufnahmen? Es war eine Privatperson, die aus dem vierten Stock eines Hauses gefilmt hat. Sie hat auch als Zeuge ausgesagt. Die Videoaufnahmen dokumentieren, was die Polizei getan hat. Man kann darauf auch die Nummern erkennen, mit denen die Polizeihelme und der Wasserwerfer gekennzeichnet waren. Sie haben Anzeige wegen versuchten Mordes erstattet. Wurden die Verantwortlichen mittlerweile belangt? Meine Verletzungen wurden von der Gerichtsmedizin und in einem Bericht des Krankenhauses dokumentiert. Es ist erwiesen, dass die Polizei dafür verantwortlich ist. Dennoch sind die Personen, die mir das angetan haben, immer noch frei. Obwohl
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hakan yaman
die Staatsanwaltschaft den Fall seit 15 Monaten untersucht, ist dabei noch nichts herausgekommen. Warum konnte keiner der Polizisten identifiziert werden? Die Polizei erklärte, die Kameras seien kaputt gewesen, deshalb würden keine richtigen Aufnahmen existieren. Außerdem hätten die Polizisten auf dem Weg zum Einsatz ihre Helme untereinander vertauscht, sodass man die Nummern nicht mehr einer konkreten Person zuordnen könne. Welche Folgen hatte die Gewalttat für Sie? Ich bin verheiratet und Vater von zwei Mädchen im Alter von 13 und acht Jahren. Bis zum Tag des Angriffs arbeitete ich als Busfahrer. Das kann ich jetzt nicht mehr. Außerdem mussten wir den Bus verkaufen, um einen Teil der Behandlungskosten zu tragen. Seit dem Vorfall wurde ich sechs Mal operiert und bin immer noch in Behandlung. Ich kann mich noch nicht orientieren. Ich weiß im Moment eigentlich gar nichts. Erhalten Sie Unterstützung? Es gab hilfsbereite Menschen, die meine Familie und mich unterstützt haben. Vom Staat habe ich jedoch nichts erhalten, auch nicht von der Krankenversicherung. Wenn es nur um mich ginge, wäre das alles kein Problem. Aber ich habe Kinder und eine Familie und keiner denkt an sie. Die Kinder gehen ja noch zur Schule und müssen versorgt werden. Wie hat Ihre Familie reagiert? Zunächst hat mir niemand geglaubt, dass die Polizei für den Vorfall verantwortlich war. Am ersten Tag hat man den Kindern gesagt, ich hätte einen Verkehrsunfall erlitten. Sie waren schockiert, als sie mich gesehen haben. Meine Familie ist psychisch am Ende, auch die Kinder. Meine kleine Tochter wollte vier Monate lang keinen Kontakt zu mir. Sie hat sich erst nach vielen Operationen wieder angenähert, als sie mich wiedererkannt hat. Und jetzt lässt sie mich gar nicht mehr los. Es gab während der Gezi-Park-Proteste zahlreiche Opfer von Polizeigewalt. Haben Sie zu ihnen Kontakt? Einige haben mich besucht, auch im Krankenhaus. Aber ich komme erst jetzt langsam zu mir und kann mich anderen Menschen gegenüber öffnen. Ich habe eine sehr harte Zeit hinter mir. 2013 war Ihr Fall Teil des Amnesty-Briefmarathons. Dabei wurden mehr als Hunderttausend Briefe verschickt. Hat diese Aktion etwas bewirkt? Es kamen unglaublich viele Briefe aus allen Teilen der Welt an, nicht nur bei mir, sondern auch beim Justizministerium. Das hat mir sehr geholfen. Ich bin dankbar für die Unterstützung und bin mir der Arbeit und Mühe von Amnesty International bewusst. Ich fühle, dass ich nicht alleine bin. Auf der ganzen Welt ist nun bekannt, was mir widerfahren ist. Dass alle mitkämpfen, gibt mir Hoffnung. Fragen: Anton Landgraf
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Zeichnung: Julia Krusch
ÂťSie geben ja doch k
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eine Ruhe« Irène Mandeau setzte sich seit 1968 als Amnesty-Mitglied für die Menschenrechte ein. Eine Erinnerung von Volkmar Deile Das Schreiben aus dem Tschad zum Tod von Irène Mandeau findet bewegende Worte der Dankbarkeit für die »einzigartige Irène«. Die Geschichte der Menschenrechte im Tschad sei auf »unauslöschliche Weise« durch ihre Liebe, ihre Menschlichkeit und ihren Sinn für Verantwortung und Hingabe mitgeprägt. Unterzeichnet haben mehrere Aktivistinnen und Aktivisten, verfolgte und mit internationalen Menschenrechtspreisen geehrte Personen. Sie stehen für die Zivilgesellschaft im Tschad, dem Land, von dem Irène Mandeau 2005 bekannte, sie sei zwar noch nie dort gewesen, aber es sei »ihre zweite Heimat«. Irène war für die Aktivisten im Tschad nicht nur eine solidarische Menschenrechtlerin aus dem fernen Europa, sondern eine nahe Freundin. Arbeit gab es mehr als genug in dieser Nord-Süd-Partnerschaft, schließlich durften die Verbrechen des tschadischen Diktators Hissène Habré nicht straflos bleiben. Nach langem Streit steht er jetzt im Senegal vor Gericht. Das größte Vorhaben aber war es, die Gestaltung des von der Weltbank geförderten »Tschad-Kamerun-Pipeline-Projekts« zu ändern, damit eine Entwicklung wie in Nigeria verhindert wird. Dort kam es nach Protesten gegen Umweltzerstörungen und gegen soziales Elend für die im Fördergebiet lebende Bevölkerung zu Hinrichtungen durch die Militärdiktatur. Die »Arbeitsgruppe Tschad« war ein Netzwerk aus Amnesty International und sechs anderen (deutschen) Organisationen mit dem Ziel, die Menschenrechts- und Friedensarbeit im Tschad zu unterstützen. Als 2003 die Ölpipeline offiziell eröffnet wurde, riefen die davon Betroffenen zu einem »Tag der Trauer« im Tschad auf. Zwar gelang es ihnen, Einfluss auf Zielformulierungen der Akteure zu nehmen sowie die Zivilgesellschaft zu stärken. Die Missachtung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte war jedoch systematisch und strukturell. Die Bilanz sei niederschmetternd, urteilte die Arbeitsgruppe zehn Jahre später. In diesem Netzwerk zum Tschad stritt Irène Mandeau verantwortlich für die Menschenrechte. Die Zusammenarbeit war beispielhaft: So wurde ein Oppositionspolitiker aufgrund einer Intervention des Präsidenten der Weltbank, James Wolfensohn, freigelassen. Irène Mandeau hatte sich bei Wolfensohn für den Politiker eingesetzt. Legendär ist die Überlieferung, dass sie den Weltbank-Präsidenten telefonisch erreichen wollte und es seinen Mitarbeitern nicht gelang, sie abzuwimmeln: »Ich stelle Sie am besten durch. Sie geben ja doch keine Ruhe«. Ja, so war sie, mit der »ganzen Wucht ihrer Persönlichkeit«, wie es an ihrem Grab hieß. Irène und ihr Mann Dolphe Mandeau wurden 1968 Mitglied von Amnesty, Sie gehörten zu den Gründern der Düsseldorfer Gruppe 1004. Damals hatte die deutsche Sektion 46 Gruppen, 14 Förderer und 17 Postkartenschreiber. Es war das Jahr des Völkermordes in Biafra, des Endes des Prager Frühlings, des Vietnamkrieges, der Morde an Martin Luther King und Robert Kennedy
nachruF
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irène mandeau
sowie des Attentats auf Rudi Dutschke. In Teheran tagte die Weltkonferenz der UNO für die Menschenrechte und der Club of Rome betrat die politische Bühne. Aus der Gruppe 1004 entwickelten sich bald weitere Initiativen. 1975 wurden die Tschad- und weitere Ländergruppen gegründet, 1982 die West-Afrika-Regionalgruppe. Organisatorische Hilfe war in den ersten Jahren kaum vom Internationalen Sekretariat zu erwarten. Die Recherche von »Fällen« für die Menschenrechtsarbeit erforderte alle Kraft. Dennoch wuchs die deutsche Sektion, ab 1968 sogar stark. Es waren viele Menschen, die sich zutrauten, ihrem menschlichen Mitgefühl politischen und organisatorischen Ausdruck zu geben. Ihnen verdanken wir viel. Irène war eine von ihnen. 1955 kam sie in die Bundesrepublik, um den Konzertmeister Dolphe Mandeau zu heiraten. Deutsch konnte sie noch nicht. Als sie 1968 Amnesty beitrat, besaß sie die belgische und die Schweizer Staatsbürgerschaft. Irène Cécile Mandeau wurde 1929 in Brüssel geboren. Ihre Mutter nahm in den dreißiger Jahren während des Spanischen Bürgerkriegs Kinder aus republikanischen Familien auf. Das verband Irène mit dem Amnesty-Gründer Peter Benenson, der sich als Schüler ebenfalls für die spanische Republik einsetzte. Und sie hat noch etwas mit ihm gemeinsam: Beide waren jüdischer Herkunft. Nach der deutschen Besetzung Belgiens 1940 musste die Familie Mandeau deshalb um ihr Leben fürchten. Irène – so ein Selbstzeugnis – realisierte erst jetzt ihre jüdische Herkunft. Als im Sommer 1942 die Deportationen der Juden aus Belgien anfingen, begann in Amsterdam die fast gleichaltrige Anne Frank ihr berühmtes Tagebuch. Nahezu die Hälfte der Juden in Belgien überlebten die Shoah nicht. Im Spätsommer 1943 erfuhr Irènes Familie aus dem belgischen Widerstand, dass ihre Namen auf den Deportationslisten der Nazis standen. Die fünf Familienangehörigen mussten sich bis zur Befreiung Brüssels im September 1944 verstecken. Irène war als Jüngste in dieser Zeit für die Außenkontakte zuständig und fungierte als Botin der Familie. Sie kaufte ein und trug die Arbeiten ihres Vaters, die er im Versteck fortführte, zu dessen Firma, die ihn weiterhin beschäftigte. Als sie 1955 nach Deutschland kam, in das »Feindland«, dauerte es lange, bis sie Menschen fand, die mit ihr ehrlich und selbstkritisch über die Verbrechen der Nazis sprachen. Die Nazizeit wurde zu dieser Zeit noch aktiv »beschwiegen«. Irène wusste aus eigener Erfahrung, was Verfolgung bedeutet. Wenn sie von der Inhaftierung politischer Gefangener erfuhr, rief sie den Gefängnisdirektor oder andere Verantwortliche direkt an und verlangte deren Freilassung. Sie war unermüdlich und verlässlich. Als sie 1973 einer persönlichen Bekannten in der DDR zur »Republikflucht« half, misslang dies und sie war drei Monate in Budapest inhaftiert. Irène hatte keine Angst vor den »Thronen«, wie ihre Interventionen demonstrieren. Sie hat an den Opfern orientierte Solidarität, Gradlinigkeit und tiefe Humanität verkörpert. Die »Meisterin der Empathie« hat, mit anderen, vorgemacht, dass Professionalität und aktive politische Einmischung keine Gegensätze sind. Dafür haben wir sie bewundert und geliebt. Der Autor war von 1990 bis 1999 Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International. Irènes Stimme ist im Internet zu hören. In einer WDR-Sendung vom 10.4.2005 erzählte sie aus ihrem Leben: www.wdr5.de/sendungen/ erlebtegeschichten/mandeauIrenececile100.html
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50 Dokumentarfilm: Flucht und Asyl 54 Interview: Der irakische Schriftsteller Fadhil al-Azzawi im Gespräch 56 Sachbuch: Der Historiker Jan Eckel über die Macht der Menschenrechte 58 Online-Spiel: Flüchtlingsreporter 60 Bücher: Von »Innenansichten aus Syrien« bis »Papa in Afrika« 62 Film & Musik: Von »Das Mädchen Hirut« bis »Songs from a stolen Spring«
Norddeutsche Tristesse. Asylunterkünfte im Landkreis Harburg, Filmstill aus »Willkommen auf Deutsch«. Foto: Pier 53 Filmproduktion
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Am Ende der Weltkugel. Filmstill aus »Willkommen auf Deutsch«.
Kriege, Terror und Katastrophen haben die Zahl der Menschen, die auf der Flucht sind, ansteigen lassen. Mehr als 50 Millionen sind es weltweit. 53 von ihnen sollen in der norddeutschen Provinz untergebracht werden. Nicht viel mehr suchen in Island Zuflucht. Die Nöte und Probleme sind die gleichen, wie zwei Dokumentarfilme zum Thema Flucht zeigen. Von Jens Dehn
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eobachtungen aus der Provinz, so könnte man »Willkommen auf Deutsch« untertiteln. Zwei Dörfer im Landkreis Harburg sind Schauplatz des Dokumentarfilms von Hauke Wendler und Carsten Rau. Tespe hat rund 4.000 Einwohner, Appel kaum mehr als 400. In diesen Orten sollen Asylbewerber untergebracht werden, weil die Quote es so will: Wenn Flüchtlinge in Deutschland ankommen, werden sie vom Bund auf die Länder verteilt, die Länder verteilen sie auf die Landkreise und die Landkreise müssen geeignete Grundstücke und Unterkünfte finden. Dass das nicht immer im Einklang mit den Anwohnern geschieht, ist unschwer zu erahnen. Besonders prekär gestaltet sich die Situation in Appel: Hier soll die
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verhältnismäßig hohe Anzahl von 53 Flüchtlingen in die kleine Dorfgemeinschaft integriert werden. Der Landkreis Harburg liegt zwischen der Lüneburger Heide und Hamburg. 240.000 Menschen leben hier, die Arbeitslosigkeit liegt bei gerade einmal fünf Prozent. Keine NPD-Hochburg, sondern die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft wollten die Filmemacher Wendler und Rau unter die Lupe nehmen, mit all ihren Ängsten, Vorurteilen, aber auch privaten Hilfsinitiativen. Anfang 2015 wird »Willkommen auf Deutsch« in ausgewählte Kinos kommen. Nicht selbstverständlich für einen Dokumentarfilm und ein Beleg dafür, wie aktuell die Thematik ist. »Die Flüchtlingszahlen steigen seit zwei Jahren wieder rapide an und wir denken, dass man jetzt frühzeitig anfangen muss, das Thema in der Mitte der Gesellschaft aufzugreifen«, sagt Wendler. Eine Situation wie zu Beginn der neunziger Jahre, als der Slogan »Das Boot ist voll« auch von weiten Teilen der bürgerlichen Presse aufgegriffen wurde und damit Ängste geschürt wurden, dürfe es nicht noch einmal geben. »Völlig unabhängig davon, dass Flüchtlinge auf unsere Hilfe angewiesen sind, bringen sie ja auch viel mit, sie sind nicht die am schlechtesten ausgebildeten Leute. Das geht in der Diskussion aber viel zu oft unter«, sagt Wendler. »Willkommen auf Deutsch« ist spürbar um Ausgewogenheit bemüht. Die Situation einer Flüchtlingsfamilie wird ebenso geschildert wie die Standpunkte der Bürgerinitiative oder der mit-
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Foto: IFC
Duldsamkeit
Foto: Pier 53 Filmproduktion
unter undankbare Job der Mitarbeiter des Landkreises. Das ist die Stärke des Films: Wendler und Rau zeichnen ein detailliertes Bild, ohne dabei die Distanz zu verlieren oder zu emotionalisieren. So wird der teils unverhohlene Alltagsrassismus keineswegs verschwiegen, doch sagt dem Zuschauer andererseits auch sein Verstand, dass 50 Asylbewerber in einem 400-Seelen-Dorf für das soziale Gefüge einfach zu viele sind. Die Flüchtlinge selbst sitzen bei dem bürokratischen Geschacher zwischen allen Stühlen, ihre individuellen Schicksale können dabei leicht untergehen. Exemplarisch hierfür stehen eine Mutter aus Tschetschenien und ihre sechs Kinder. Sie sind die ersten Asylbewerber, die in Tespe untergebracht wurden. Der langfristige Aufenthalt ist noch längst nicht gesichert. Die Mutter ist dem psychischen Druck nicht gewachsen und befindet sich im Krankenhaus, die 21-jährige Tochter ist allein verantwortlich für ihre fünf jüngeren Brüder. Unterstützung erhält sie durch eine ortsansässige Rentnerin, die im Haushalt hilft und das Bürokratendeutsch übersetzt. Wendler und Rau haben frühzeitig Kontakte geknüpft, mehr als 20 Nichtregierungsorganisationen haben sie auf Bundesebene angesprochen, auch Amnesty International. »Wir stellen den Film gerne kostenfrei zur Verfügung, wenn die Leute vor Ort eine anschließende Diskussion organisieren«, erklärt Hauke Wendler. »Unsere Hoffnung ist, dadurch Leute zu erreichen, die sich sonst nicht mit der Thematik beschäftigen, gerade in kleinen Orten, außerhalb der Großstädte.« Zu besprechen gibt es einiges, nachdem man »Willkommen auf Deutsch« gesehen hat. Nicht weniger Gesprächsbedarf besteht auch nach »Haus der Hoffnung«, wenngleich der isländische Dokumentarfilm einen anderen Ansatz wählt. Die Regisseure Kolfinna Baldvinsdóttir und Ingvar A. Thórisson konzentrieren sich ganz auf die Flüchtlinge und ihren täglichen Kampf um Anerkennung und das Recht, in Island bleiben zu dürfen. Baldvinsdóttir war schon in ganz Europa beruflich unterwegs, als Journalistin, vor allem aber im Auftrag der EU-Kom-
mission. Im Kosovo und in Italien hatte sie sich bereits mit Verfolgung, Flucht und Integration beschäftigt, ehe ihr das Thema quasi vor der eigenen Haustür wiederbegegnete. Im Jahr 2010 haben in Schweden 32.000 Menschen Asyl beantragt, in Norwegen 10.000. In Island waren es ganze 51. Diese niedrige Zahl erklärt sich teils durch die geographische Lage des Landes: Island liegt fernab vom europäischen Festland, innerhalb des Schengenraums kann es im Grunde nie das Erstaufnahmeland sein, so wie es Italien oder Griechenland oft sind. Jene, die dennoch den Weg auf die Insel finden, werden im Fit Hostel untergebracht, das nicht weit vom Flughafen Keflavik entfernt liegt. Die Menschen, die hier stranden, kommen aus Afghanistan oder dem Iran, aus dem Sudan oder – mit Touristenvisum – aus Russland. Geflohen vor Krieg und Misshandlungen, warten sie auf einen Bescheid, ob sie bleiben können oder zurückmüssen. Eigentlich nur als Zwischenhalt gedacht, müssen die Flüchtlinge teils mehrere Jahre in der Unterkunft ausharren, ehe Behörden und Justiz über ihr Schicksal entscheiden. Es ist dieses quälende, zermürbende Warten, das »Haus der Hoffnung« auf sehr eindrucksvolle Art in den Fokus rückt. »Meine Seele ist müde«, erklärt ein Mann, der seit vier Jahren in der Unterkunft ausharrt, während er zum Nichtstun verdammt ist. Baldvinsdóttir hat sich den Bewohnern des Fit Hostels behutsam genähert, sie hat sich viel Zeit gelassen, um die Menschen kennenzulernen und schließlich ihr Vertrauen zu gewinnen. »Eigentlich wollte ich ein Buch über die Situation der Flüchtlinge schreiben«, sagt sie. »Doch dann habe ich ihn mit seiner wunderbaren Kamera getroffen …« Der Mann mit der Kamera ist Ingvar A. Thórisson, ein renommierter Dokumentarfilmer aus Reykjavík. Drei Jahre lang sind die beiden regelmäßig ins Fit Hostel gefahren, um mit den Bewohnern zu reden. 60 Stunden Rohmaterial sind dabei herausgekommen. »Jeder unserer Protagonisten«, so Thórisson, »ist sehr stolz, Teil dieses Films zu sein. Für sie war es großartig, zu sehen, dass man eine Stimme haben kann. Dass man seine Meinung sagen kann, ohne bestraft zu werden.« Kolfinna Baldvinsdóttir ergänzt: »Das Schöne an dem Film ist, dass er tatsächlich etwas bewegt hat. Wir haben es geschafft, die Leute in die Medien zu bekommen. Die Aktivisten, die sich für eine Änderung der Asylpolitik einsetzen, wurden immer mehr und sichtbarer. Die Politiker wurden aufmerksam.« Dass sich in Island etwas tut, ist auch bitter nötig. Bis 2008 erhielt von rund 600 Flüchtlingen nur eine Person Asyl. Nachdem die UNO Island aufgefordert hatte, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, wurden Quoten eingeführt. 2014 haben 172 Menschen auf der Insel Asyl beantragt. Wie viele von ihnen bleiben dürfen, ist noch nicht entschieden, doch ihre Chancen haben sich zumindest verbessert. So hat »Haus der Hoffnung« einiges bewirkt – ein wichtiger Film für Island.
Zeichen der Gastfreundschaft. Islands Asylunterkunft Fit Hostel, Filmstill aus »Haus der Hoffnung«.
kultur
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FlÜchtlinGsFilme
Der Autor arbeitet als freier Filmjournalist.
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»Wo ich frei schreiben kann, ist meine Heimat« Warum hat es so lange gedauert, bis »Der Letzte der Engel« auf Deutsch erschienen ist? Das Buch ist bereits 1992 in Ägypten auf Arabisch erschienen, dann hat es ein großer US-Verlag veröffentlicht. Aber es war sehr schwierig, es auf Deutsch zu veröffentlichen. Die Deutschen scheinen sich nicht für arabische Literatur zu interessieren oder sie kennen sie nicht richtig. Betrachten Sie dieses Buch als Ihr wichtigstes Werk? Es ist auf jeden Fall ein Buch, das für mich sehr wichtig ist. Ich war bislang mehr als Lyriker denn als Romancier bekannt. Aber dieses Buch war ein Ereignis in der arabischen Welt. Manche Kritiker haben geschrieben: Der beste Roman auf Arabisch. Fast alle Kritiker haben das Buch gelobt. Ich bin in der arabischen Welt bekannt als experimenteller Schriftsteller, der immer neue Ideen entwickelt. Als ich mein erstes Buch 1969 veröffentlicht habe, war es ebenfalls ein Ereignis in der arabischen Welt. Ich habe versucht, alle traditionellen Grenzen zu zerstören, etwas Neues zu machen. Auch in der Sprache, in der Form, stilistisch. Warum haben Sie diesen historischen Horizont für Ihr Buch gewählt – die fünfziger Jahre, der Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft, die Zeit der Gewerkschaften und kommunistischer Organisationen? War das auch eine Aufarbeitung Ihrer eigenen Jugend im Irak? Nein, ich wollte eigentlich etwas über den Irak erzählen, seine Geschichte, über das, was uns in diese Lage geführt hat. Es ist nicht nur ein Buch über die Vergangenheit, sondern auch über die Gegenwart und über die Zukunft. Die Hauptfigur Burhan Abdullah kehrt nach 47 Jahren noch einmal zurück in den Irak. Das Thema ist sehr persönlich, die Geschichte von Burhan hat viel mit meiner eigenen Biografie zu tun. Einige Figuren des Romans sind nach den Vorbildern von Verwandten gezeichnet.
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Sie beschreiben in dem Buch das multikulturelle Miteinander in Kirkuk in dieser Zeit. Haben Sie Ihre Heimatstadt in den vergangenen Jahren noch einmal besucht? Nein, ich bin seit 1977 nicht mehr in Kirkuk gewesen. Ich konnte unter dem Regime Saddam Husseins nicht in den Irak fahren. Nach 2003 wurde ich zwar mehrmals eingeladen, aber da wollte ich nicht. Ich besuchte nur einmal im Jahr 2000 die kurdische Region, bei einem Aufenthalt in Erbil. Saddam Husseins Herrschaft ging gerade zu Ende, die Kurden dort waren fast befreit. Sie hatten mich zu einem Poesie-Festival eingeladen. Wie unterscheidet sich das heutige Kirkuk von dem Ihrer Kindheit? Kirkuk war eigentlich eine Stadt für alle und alle lebten friedlich zusammen – Christen, Kurden, Turkmenen, Araber. Viele unserer Freunde waren Christen, Assyrer oder Armenier. Wir konnten in Kirkuk auch mehrere Sprachen sprechen. Ich spreche zum Beispiel auch Türkisch. Dann hat Saddam Hussein versucht, eine arabische Bevölkerungsmehrheit in der Stadt zu schaffen. Seit 2003 wurde dann versucht, die Stadt kurdisch zu prägen. Von der einstigen Vielfalt ist nicht mehr viel übrig. Vor allem die Christen haben seit 2003 die Stadt und den Irak verlassen. Hat Religion in Ihrem Leben eine große Rolle gespielt? Nein, ich betrachte Religion als etwas Historisches. Mein Sohn, der jetzt 35 Jahre alt ist, hat mich vor Kurzem am Telefon gefragt, ob wir eigentlich Sunniten oder Schiiten sind. Wir wussten es beide nicht. Ich habe dann mal nachgeschaut, und, naja, auf dem Papier sind wir eben Sunniten. Haben Sie mit Ihrer irakischen Geschichte abgeschlossen? Nein, sie ist immer noch präsent. Meine drei Brüder und meine Schwester leben immer noch da. Ich habe Kontakt zu ihnen, auch zu anderen Verwandten. Kirkuk ist mir nah, aber ich habe gelernt, dass es nicht nur um Kirkuk geht, sondern auch um den Irak und um die arabische Welt. Ich war zu Lesungen in Ägypten, im Libanon, in Jordanien, Syrien und den Golfstaaten. Deshalb ist es nicht so tragisch, dass ich nicht in den Irak reisen kann. Wo ich mich frei fühle, wo ich frei schreiben kann, ist meine Heimat. Im Irak wurde ich mehrmals verhaftet wegen eines Gedichts. Aber Gott sei Dank kann ich hier in Deutschland schreiben, was ich will, niemand fragt: Was schreibst du und warum? Das ist mir wichtig.
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Foto: Eros Hoagland / Redux / laif
Der heute in Berlin lebende Schriftsteller Fadhil alAzzawi wurde im multikulturellen Kirkuk geboren. In seinem nun auf Deutsch erschienenen Roman »Der Letzte der Engel« verarbeitet er sein Leben im Irak. Ein Gespräch über Schreiben in der Diktatur, Exil und den »Islamischen Staat«.
Buntes Leben. Markt in Kirkuk.
So wie Sie leben heute viele irakische Autoren im Exil. Das Problem begann mit Saddam Hussein Ende der siebziger Jahre. Er stellte die Schriftsteller und Journalisten vor die Wahl: Entweder bist du für mich oder gegen mich. Und wer blieb, musste Propaganda für die Regierung machen. Darum verließen viele Autoren und Künstler das Land. Heute leben mehr irakische Schriftsteller im Ausland als in ihrer Heimat. Woran ist die Vielfalt im Irak zerbrochen? Als die US-Armee den Irak besetzte, brauchten sie die Unterstützung der Schiiten, um Saddam Husseins Macht zu brechen. Als es um die Macht ging, haben diese dann versucht, die Gesellschaft zu schiitisieren. Als Reaktion unterstützen nun viele Sunniten den »Islamischen Staat«. Von der momentanen Regierung sind Sie auch nicht begeistert? Nein. Es ist nicht viel besser als unter Saddam Hussein. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Meine Familie besaß ein Haus in Bag-
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Fadhil al-aZZawi
dad. Als wir den Irak verlassen mussten, teilte uns die Botschaft mit, dass das Haus beschlagnahmt werde. Nach 2003 bekam die Familie meiner Frau vor Gericht Recht und wir sollten das Haus zurückbekommen. Das ist ja unser Haus. Aber es ist bis heute beschlagnahmt. Und ein Mitarbeiter der Staatssicherheit von Saddam Hussein lebt bis heute dort. Wir kriegen ihn einfach nicht raus. Fragen: Tanja Dückers
interview Fadhil al-aZZawi
Foto: Arno Burgi / pa
Warum sind Sie ausgerechnet in die damalige DDR gezogen? Es gab damals ein Abkommen zwischen dem irakischen Schriftstellerverband und der DDR. Eigentlich wollte ich nach England, aber das war nicht möglich. Als ich dann in der DDR war, wurde mir der Pass abgenommen. Später konnte ich dann als Auslandskorrespondent für arabische Medien viel reisen.
Fadhil al-Azzawi wurde 1940 in Kirkuk, Nordirak, geboren. Er emigrierte 1977 in die damalige DDR nach Leipzig. Al-Azzawi schrieb zahlreiche Romane, Gedichte sowie Essays und übersetzte unter anderem Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« ins Arabische. Sein Roman »Der Letzte der Engel« erschien erstmals 1992 und im vergangenen Sommer nun auch auf Deutsch. Fadhil al-Azzawi lebt heute in Berlin.
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Spiel der Realität Einblicke in das alltägliche Leben in Flüchtlingslagern vermittelt das Online-Reportage-Spiel »Refugees« des Fernsehsenders Arte. Von Georg Kasch
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s sind oft die kleinen Szenen, die besonders eindrücklich eine Geschichte erzählen. Zum Beispiel der Wasserfahrer, der davon berichtet, dass irgendwann mal Leitungen durchs Flüchtlingslager gelegt werden sollen – dann ist er seinen Job los. Aber für die Allgemeinheit der Menschen hier wäre das selbstredend gut. Oder der Mann, der schon ein Restaurant und einen Laden eröffnet hat und jetzt ein Café plant – unerwartete Normalität mitten im Elend der Flucht. Oder die alleinerziehende Frau, die in einem Zelt vor einem kleinen Gaskocher hockt und aufzählt, was sie alles in Syrien zurücklassen musste: ihr Haus mit Kühlschrank, Waschmaschine, Porzellan und Badezimmer. Hier stehe sie oft Schlange vor den primitiven Frauentoiletten. Das Online-Reportage-Spiel »Refugees« ist Teil eines gleichnamigen Projekts des Fernsehsenders Arte und vermittelt Einblicke in das alltägliche Leben von Flüchtlingscamps: Wer mitmacht, verwandelt sich in einen Journalisten, der innerhalb von fünf Tagen eine Multimediareportage zusammenstellen soll. Gar nicht so einfach, wenn die Zeit rast – eine Minute vergeht hier so schnell wie eine Sekunde. Zu Beginn erklärt die Chefredakteurin den Auftrag, dann zeigen kurze Videos die Ankunft. Schon steht man in der Stadt – man kann zwischen Damak in Nepal, Arbil im Irak und Beirut im Libanon wählen (oder alle hintereinander absolvieren). Dort stößt man auf kleine Symbole, hinter denen sich Aufgaben verbergen – in Arbil etwa kann
man Wörterbücher kaufen (was wichtiger ist, als es anfangs scheint), sich mit einer türkischen Kollegin unterhalten, auf die Pressekonferenz des Gouverneurs warten, zum Flüchtlingslager und zur syrischen Grenze fahren. All das kostet unterschiedlich viel Zeit – und bringt einen nur bedingt weiter. Wählt man zum Beispiel die Fahrt an die Grenze, verliert man neun Stunden – nur um zu erfahren, dass man keine Drehgenehmigung bekommt. Der Gouverneur wiederum erscheint einfach nicht zur Pressekonferenz. Sobald man aber die richtigen Ansprechpartner gefunden hat, öffnen sich spannende Mini-Reportagen – Videos, die tatsächlich vor Ort gedreht wurden und durch die man wegen ihrer Vielfalt allmählich ein facettenreiches Bild vom Leben im Camp gewinnt. Dazu gibt es einen Chat mit der Chefredakteurin, die sich immer mal wieder meldet, eine Übersichtskarte, die beim Navigieren hilft, Hintergrundinformationen und die Anzeige der »Erfolgspunkte«. Schließlich funktionieren Spiele immer auch über Wettbewerb. Wer sich einloggt, kann darauf hoffen, dass die eigene Reportage auf der Arte-Seite veröffentlicht wird. Aber Wettbewerb, Spiel und Flüchtlinge – geht das zusammen? Man merkt, wie zögerlich Uwe Lothar Müller das Wort Spiel über die Lippen geht. Lieber spricht der stellvertretende Redaktionsleiter von Arte-Reportage von »interaktiver Reportage«: »Wir sind weit entfernt davon zu sagen, dass man mit dem Schicksal von Flüchtlingen spielen soll.« Er betont, dass das Online-Spiel nur ein Baustein eines groß angelegten multimedialen Projektes zum Thema Flucht sei, das Arte-Chefredakteur Marco Nassivera und der renommierte Filmregisseur Régis Wargnier (»Indochine«) entwickelten: Bei der Frage, wie man die ungeheure, aber abstrakte Menge von mehr als 50 Millionen Men-
Bittere Realität. Flüchtlingslager Kawergosk in der Nähe von Arbil, Irak, Setting des Arte-Reportage-Spiels. 14.000 syrische Flüchtlinge leben hier in Zelten.
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noch subjektivere Perspektive in den Bann. Wenn man etwa versucht, zu anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, versteht man kein Wort – und wird im Zweifelsfall gleich zusammengeschlagen. Obwohl es ein umfangreiches pädagogisches Begleitprogramm gibt, sprechen beide Spiele in erster Linie die Emotionen an. »Refugees« ist technisch viel raffinierter gebaut, wirkt aber distanzierter, was an der Perspektive liegt: Weil man die Camps durch die Augen eines Reporters betrachtet, sammelt man zwar viele Fakten und Beispiele. Aber nur selten wird man persönlich damit konfrontiert, was es heißt, auf der Flucht zu sein. Das sei so gewollt, sagt Müller: »Wir wollten ein Spiel, das unserer ArteRolle gemäß ist: Wir sollen berichten, aber uns nie mit einer Sache gemein machen.« Allerdings haben die Macher hin und wieder Stolpersteine eingebaut. Im Lager von Arbil ist das zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter, die eben noch relativ sachlich ihre Geschichte erzählt – und nach Abschluss der Dreharbeiten darum bittet, ihr Kind ins Krankenhaus zu fahren. Der Umweg würde eine Stunde kosten, während die Uhr unerbittlich tickt. Eine Situation, wie sie sich so bei den Vorarbeiten zum Spiel im Camp zugetragen hat. Damals hat das Team das Kind zur Krankenstation gebracht, erzählt Müller. Auch als Spieler lohnt sich die individuelle Hilfe, weil sich so ein neuer Ort erschließt, an dem sich weitere Interviews führen lassen. So führen einen oft die Umwege auf interessante Spuren – und nahe an die Wirklichkeit. Im Libanon musste das Recherche-Team zwischenzeitlich abgezogen werden – eine Serie von Attentaten machte die Arbeit zu gefährlich. Im Tschad wiederum waren die Szenen für die Reportagen längst abgedreht, es fehlten nur noch die Szenen für das Online-Reportage-Spiel, als die Behörden der Kollegin vor Ort ohne Angabe von Gründen die Arbeitserlaubnis entzogen. Deswegen wird es die TschadEpisode nicht geben. So spiegelt das Spiel perspektivenreich, selbstbewusst und selbstkritisch die Realität – wie man es von guter Kunst und gutem Journalismus gewöhnt ist. refugees.arte.tv/de; www.lastexitflucht.org; www.darfurisdying.com
Foto: Christian Werner / laif
schen verdeutlichen kann, die auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Naturkatastrophen sind, kamen sie auf die Idee, Künstler in Flüchtlingscamps in verschiedenen Regionen zu schicken: einen Filmregisseur, Fotografen, Comiczeichner und Autoren. Das Ergebnis läuft im Arte-Programm – und lässt sich in Ruhe auf der Homepage des Senders entdecken. Die »sehr junge Multimedia-Abteilung« von Arte hatte dann den Vorschlag, den Themenschwerpunkt mit einem virtuellen Reporter-Spiel zu begleiten, berichtet Müller, »um auf lange Sicht Leute anzusprechen, die wir noch nicht erreicht haben«. Ganz neu ist diese Idee nicht. »Serious Games« versuchen, ernste Inhalte spielerisch zu vermitteln – mit pädagogischem Hintergedanken. Sie machen allerdings nur einen Bruchteil des Marktes für interaktive Spiele aus – sowohl was die Spieler angeht (800 Millionen Menschen weltweit) als auch in Bezug auf das Budget (bei den führenden Ego-Shooter-Spielen sind zweistellige Millionenbeträge durchaus normal). Aber einer der Klassiker, das US-amerikanische »Darfur is dying« aus dem Jahr 2006, wurde inzwischen von mehr als zwei Millionen Menschen gespielt. Das Spiel wirkt in der Gestaltung und Anwendung ziemlich primitiv – so bewegen sich die gemalten Figuren nicht wie in einem Trickfilm, sondern wie in einem animierten Bilderbuch. Aber es verfehlt seine Wirkung nicht. Zu Beginn wählt man einen Flüchtling als Avatar, der versuchen soll, außerhalb des Lagers Wasser zu holen. Noch ehe man begriffen hat, wie das Spiel funktioniert, wird man schon von Janjaweed-Milizen gekidnapped – Game over. Das hat auch im Spiel Konsequenzen – man kann zwar mit anderen Avataren weiterspielen, aber der Ursprungsavatar mit Name, Alter und einem bestimmten Schicksal bleibt gestrichen. Ein anderes bekanntes Spiel, das ebenfalls Menschenrechtsverletzungen thematisiert, ist »Last Exit Flucht« des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR). »Du bist in Gefahr und musst aus dem Land fliehen, in dem Du lebst. Schaffst Du es?«, fragt die Einleitung. Danach hat man die Möglichkeit, sich durch mehrere Levels zu spielen. Auch wenn das Spiel mit seinen Comic-Szenerien nur unwesentlich professioneller wirkt als »Darfur is dying«, zieht es einen durch seine
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»reFuGees«
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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. amnesty international veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de
amnesty international Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)
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Foto: privat
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kolumbien FriedensGemeinde san JosÉ de aPartadÓ Die Friedensgemeinde San José de Apartadó setzt sich aus mehreren Ortschaften zusammen, die in der Gemeinde Apartadó im Departamento Antioquia im Nordwesten Kolumbiens liegen. Die Bewohner der Region verteidigen ihr Recht, nicht in den bewaffneten Konflikt zwischen Sicherheitskräften und Paramilitärs auf der einen und Guerillaeinheiten auf der anderen Seite hineingezogen zu werden. Sie verweigern das Tragen von Waffen und liefern keiner der beiden Seiten Informationen oder logistische Unterstützung. Als Gegenleistung verlangt die Friedensgemeinde, dass die an dem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien sich von ihrem Land fernhalten und ihre neutrale Position respektieren. Am 21. Juli 2014 haben Angehörige der Streitkräfte damit gedroht, gemeinsam mit Paramilitärs die Friedensgemeinde San José de Apartadó zu »vernichten«. Am 19. Juli veröffentlichte eine Lokalzeitung Äußerungen eines Militärkommandeurs, der erklärte, man werde mit den Ortschaften in San José de Apartadó »zusammenarbeiten«, um verlorengegangene Flächen zurückzuerlangen. Damit spielte er auf die Gebiete der Friedensgemeinde an. Die Bewohner der Friedensgemeinde betrachten dies als weitere Vernichtungsdrohung. Paramilitärs unterhalten Stützpunkte in der Nähe von San José de Apartadó. Die Friedensgemeinde wurde am 23. März 1997 gegründet. Seither sind mehr als 200 ihrer Bewohner getötet worden oder dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen, weitere Personen wurden bedroht oder sexuell missbraucht. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den kolumbianischen Präsidenten, in denen Sie ihn eindringlich bitten, in Absprache mit den Bewohnern der Friedensgemeinde San José de Apartadó umgehend Schutzmaßnahmen für sie einzuleiten. Weisen Sie höflich darauf hin, dass die kolumbianische Zivilbevölkerung das Recht hat, nicht in bewaffnete Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden, und dass dieses Recht auch für die Friedensgemeinde San José de Apartadó gilt. Bitten Sie ihn zudem, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um paramilitärische Gruppen aufzulösen und deren Verbindungen zu den Sicherheitskräften zu zerschlagen. Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Señor Presidente Juan Manuel Santos Presidente de la República Palacio de Nariño, Carrera 8 No. 7–26 Bogotá, KOLUMBIEN (Anrede: Excmo. Sr. Presidente Santos / Dear President Santos / Sehr geehrter Herr Präsident) Fax: 00 57 - 13 37 58 90 (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Kolumbien S. E. Herrn Juan Mayr Maldonado Taubenstraße 23, 10117 Berlin Fax: 030 - 26 39 61 25 E-Mail: info@botschaft-kolumbien.de
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Der sri-lankische Journalist und Karikaturist Prageeth Eknaligoda »verschwand« am 24. Januar 2010 im Vorfeld der damaligen Präsidentschaftswahlen. Zeugenaussagen zufolge soll ungefähr zum Zeitpunkt seines Verschwindens ein weißer Lieferwagen ohne Kennzeichen vor seinem Haus gesehen worden sein. Prageeth Eknaligoda war für »Lanka-e-News« in der Hauptstadt Colombo tätig und kritisierte die Regierung. Vor seinem Verschwinden veröffentlichte er eine Analyse über die beiden Präsidentschaftskandidaten, die zum Vorteil des Oppositionskandidaten ausfiel. Amnesty International befürchtet, dass er wegen seiner journalistischen Arbeit Opfer des Verschwindenlassens wurde. Seine Ehefrau Sandya Eknaligoda stieß bei der Suche nach ihrem Mann immer wieder auf Hindernisse. Nachdem sie das Verschwinden ihres Mannes bei der Polizei gemeldet hatte, weigerte sich diese zwei Wochen lang, in dem Fall zu ermitteln oder eine Anzeige entgegenzunehmen. Der Fall wurde schließlich der Kriminalpolizei in Colombo übergeben, machte jedoch so wenig Fortschritte, dass Sandya Eknaligoda eine offizielle Beschwerde über die Durchführung der Ermittlungen einreichte. Zudem hat sie beim Obersten Gerichtshof in Colombo einen Antrag auf Haftprüfung eingereicht und eine sofortige und umfassende Untersuchung beantragt. Die Polizei hat bisher jedoch wiederholt um Aufschub gebeten. Als der Fall von Prageeth Eknaligoda im Dezember 2012 gehört wurde, betonte der Vorsitzende Richter, dass die Ermittlungen starke Defizite aufwiesen. Seither hat das Verfahren keine Fortschritte gemacht und die Anhörungen vor Gericht sind immer wieder vertagt worden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den zuständigen Polizeichef, in denen Sie ihn auffordern, umgehend eine umfassende und unparteiische Untersuchung des Verschwindenlassens von Prageeth Eknaligoda in die Wege zu leiten. Dringen Sie darauf, dass die Ergebnisse der Untersuchung veröffentlicht und die Verantwortlichen in Verfahren, die den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entsprechen, vor Gericht gestellt werden. Schreiben Sie in gutem Singhalesisch, Tamilisch, Englisch oder auf Deutsch an: N. K. Illangakoon Inspector General of Police (IGP) New Secretariat Colombo 1, SRI LANKA Fax: 00 94 - 1 - 244 04 40 E-Mail: igp@police.lk (Anrede: Dear Inspector General / Sehr geehrter Herr Illangakoon) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)
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sri lanka PraGeeth eknaliGoda
china ilham tohti Am 23. September 2014 wurde der uigurische Wissenschaftler und Schriftsteller Ilham Tohti in China wegen »Separatismus« zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Professor für Wirtschaftswissenschaften und Gründer der Webseite »Uighur Online« kritisiert seit Jahren den Umgang der chinesischen Regierung mit der uigurischen Minderheit. Das mittlere Volksgericht in Urumqi, der Hauptstadt der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang, sprach Ilham Tohti zudem lebenslänglich alle politischen Rechte ab und ordnete die Beschlagnahmung seines Besitzes an. Ilham Tohti war am 15. Januar 2014 in Peking von Sicherheitskräften festgenommen und über fünf Monate lang ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten worden. Ihm wurde zehn Tage lang Nahrung vorenthalten, mehr als 20 Tage lang musste er Fußfesseln tragen. Seinen Rechtsbeiständen wurde der umfassende Zugang zu Beweismitteln verwehrt, außerdem durften sie ihn erst fünf Monate nach seiner Inhaftierung besuchen. Am 21. November bestätigte das hohe Volksgericht von Xinjiang die lebenslange Haftstrafe gegen ihn, ohne dass seine Rechtsbeistände bei dem Verfahren anwesend waren. Am 12. Dezember wurde Ilham Tohti in das Gefängnis Nr. 1 der Region Xinjiang verlegt. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den chinesischen Staatspräsidenten und bitten Sie ihn, Ilham Tohti umgehend und bedingungslos freizulassen, da er ein gewaltloser politischer Gefangener ist, der allein wegen der friedlichen Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung festgehalten wird. Schreiben Sie in gutem Chinesisch, Englisch oder auf Deutsch an: XI Jinping Guojia Zhuxi The State Council General Office 2 Fuyoujie Xichengqu, Beijingshi 100017 VOLKSREPUBLIK CHINA (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) Fax: 00 86 - 10 - 62 38 10 25 E-Mail: english@mail.gov.cn (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Volksrepublik China S. E. Herrn SHI Mingde Märkisches Ufer 54, 10179 Berlin Fax: 030 - 27 58 82 21
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Demokratischen Sozialistischen Republik Sri Lanka S. E. Herrn Karunatilaka Amunugama Niklasstraße 19, 14163 Berlin Fax: 030 - 80 90 97 57 E-Mail: info@srilanka-botschaft.de
brieFe GeGen das verGessen
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»Shame on you, Dow Chemical.« Mahnende Aktion in Berlin zum Jahrestag des Chemieunfalls.
wenn der atem stockt – 30 Jahre nach dem chemieunGlÜck in bhoPal Es war der Abend des 2. Dezember 2014 und es war eisig kalt in Berlin, als sich vor der indischen Botschaft einige AmnestyAktivisten und Studierende der Humboldt-Universität zu einer Mahnwache versammelten. Nicht nur die Kälte des Abends ließ den Atem der Anwesenden gefrieren. Auch der Anlass, zu dem sie sich eingefunden hatten, war schockierend: Vor 30 Jahren hatte sich im indischen Bhopal das größte Chemieunglück des 20. Jahrhunderts ereignet. Dabei verloren in nur einer Nacht zwischen 7.000 und 10.000 Menschen durch das Einatmen hochgiftiger Gase ihr Leben. Mehr als eine halbe Million Menschen leiden noch immer an den Spätfolgen des Unglücks und leben nach wie vor in einer kontaminierten Umwelt. Die Opfer und ihre Hinterbliebenen sowie Hunderttausende, die unter dauerhaften und schweren gesundheitlichen Schäden leiden, haben auch 30 Jahre später keine Gerechtigkeit erfahren. Gerechtigkeit für ein Unglück, das durch das Einhalten der erforderlichen Sicherheitsstandards hätte verhindert werden können. Sowohl das US-Unternehmen Dow Chemical – der Mutterkonzern des indischen Union Carbide – als auch die indische Regierung weigern sich noch immer, das Ausmaß der Katastrophe anzuerkennen. Die Verantwortlichen von Union Carbide sind bis heute zu keinem der angesetzten Gerichtstermine erschienen. Einige wenige Betroffene haben viel zu geringe Entschädigungszahlungen in Höhe von umgerechnet rund 1.300 Euro erhalten. Die indische Regierung geht bislang von etwa 4.900 Menschen aus, die als Folge des Unglücks Behinderungen davontrugen. Laut NGOs ist das Leid um ein Vielfaches grö-
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ßer, sie sprechen von mindestens einer halben Million Überlebender. Die Regierung will nun zumindest ihre Statistiken überprüfen. Forderungen nach einer Dekontaminierung des Fabrikgeländes und des Umlandes könnten wieder laut werden, wenn sich Anfang des Jahres US-Präsident Barack Obama und Indiens Premierminister Narendra Modi treffen. Während sich die politischen und juristischen Auseinandersetzungen seit Jahrzehnten hinziehen, müssen die Betroffenen ein Leben unter schwierigen Bedingungen meistern. Sie haben teilweise keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und werden nur unzureichend medizinisch versorgt. Auch verfügen sie kaum über die notwendigen Mittel, um sich Gehör zu verschaffen. Auch das ist eine Ungerechtigkeit. Salil Shetty, internationaler Generalsekretär von Amnesty International, hat deshalb zum Jahrestag an den US-Präsidenten appelliert, Gerechtigkeit müsse für alle Menschen gelten. Er gehe davon aus, dass ein vergleichbares Unglück auf amerikanischem Boden nicht auf diese Weise abgetan worden wäre. Am Brandenburger Tor erinnerten die Amnesty-Aktivisten an die Katastrophe und erklärten Passanten, was sich damals ereignete. Später brachten sie vor der indischen Botschaft mit Lampions ihre Solidarität zum Ausdruck. Als es in Indien Mitternacht schlug, blies Michael Gottlob, Sprecher der Indien-Kogruppe, in das Horn einer indischen Rikscha. Hoffentlich konnte der Botschafter es auch hinter verschlossenen Türen hören. Text: Jessica D’Ovidio
amnesty Journal | 02-03/2015
Amnesty in Bewegung hat den »ISPO Communication Award« in der Kategorie »Social Awareness« gewonnen. Die Internationale Messe für Sportartikel und Sportmode (ISPO) in München ehrt jedes Jahr besondere Ideen und Produkte der Sportbranche. Die Amnesty-Aktion überzeugte die Jury und setzte sich gegen zahlreiche andere Projekte durch. Das Spendentool »Amnesty in Bewegung« verbindet Sport mit dem Einsatz für die Menschenrechte. Ob Berlin-Marathon, Radtour an der Donau oder ein Fußballturnier unter Freunden – auf www.amnesty-inbewegung.de können sich Sportbegeisterte anmelden, ihr Sportprojekt, Spendenziel und ihre Motivation vorstellen und Spenden für die Menschenrechtsarbeit von Amnesty sammeln. Auch der Schauspieler Ludwig Blochberger macht mit: »Das ist ein besonderer Ansporn, wenn es beim Laufen nicht nur um mich geht, sondern auch um eine gute Sache.«
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Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender
imPressum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, E-Mail: info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Andreas Koob, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Doğan Akhanlı, Birgit Albrecht, Daniel Bax, Bernd Beier, Selmin Çalışkan, Jens Dehn, Volkmar Deile, Jessica D’Ovidio, Tanja Dückers, Christina Franzisket, Philipp Hedemann, Stella Jegher, Georg Kasch, Jürgen Kiontke, Daniel Kreuz, Sabine Küper-Büsch, Maja Liebing, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Silke Voß, Annemarie Willjes, Kathrin Zeiske, Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom GmbH, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100, BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 2199-4587
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selmin Çalişkan Über
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ausGeZeichnet!
Seit seiner Gründung im März 2001 hat sich das »Deutsche Institut für Menschenrechte« (DIMR) einen hervorragenden Ruf erarbeitet – sowohl international als auch national. Es liefert nicht nur Informationen über die Situation im Ausland, sondern lenkt mit wertvollen und kritischen Studien den Blick auch immer wieder darauf, wie es um die Menschenrechte in unserem eigenen Land bestellt ist. Einstimmig hatte der Bundestag die Schaffung eines Instituts beschlossen, das einzig und allein den Menschenrechten verpflichtet sein sollte – unabhängig von der Regierung und parteipolitischen Interessen. Doch diese Unabhängigkeit des DIMR ist nun in Gefahr. Denn bislang fehlt ihm eine gesetzliche Grundlage, die sein Mandat auf Dauer sicherstellt. Diese muss aber bis März geschaffen werden, sonst geht der sogenannte AStatus verloren, mit dem wichtige Mitwirkungsrechte an der Arbeit des UNO-Menschenrechtsrates verbunden sind. Das Justizministerium hat einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Doch die Unionsfraktion konterte mit einem eigenen Entwurf. Vor allem einzelne CDU-Abgeordnete wie Erika Steinbach und Arnold Vaatz wollen dieses Institut partout nicht. Ganz offensichtlich wünschen sie sich ein Institut, das nicht so oft den Finger in die Wunde legt und auf menschenrechtlichen Verbesserungsbedarf in Deutschland aufmerksam macht. Es soll sich viel stärker um Menschenrechtsverletzungen im Ausland kümmern. Vor allem aber möchten sie kein unabhängiges Institut: Der Union zufolge soll das DIMR unter die Weisungsbefugnis des Auswärtigen Amtes gestellt werden. Der Schaden, den die Unionspläne anzurichten drohen, wäre enorm. Das Institut würde in seiner jetzigen Form abgeschafft. Man möchte nicht in der Haut des deutschen Botschafters in Genf stecken, der Anfang des Jahres die Präsidentschaft des UNO-Menschenrechtsrates übernommen hat und nun erklären muss, warum Deutschland kein unabhängiges nationales Menschenrechtsinstitut mehr will. Im Koalitionsvertrag ist eindeutig verabredet, das DIMR auf eine stabile gesetzliche Grundlage zu stellen. Die SPD muss nun standhaft bleiben. Das DIMR taugt wohl nicht zum Koalitionskrach, aber mit einem faulen Kompromiss wäre es mit der Glaubwürdigkeit deutscher Menschenrechtspolitik endgültig vorbei. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
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keine Fiktion. leider. Der Amnesty Report ist die fundierte Analyse der weltweiten Lage der Menschenrechte: Kurze Regionalkapitel, detaillierte Berichte 체ber 160 L채nder. Wer die Welt ver채ndern will, muss sie kennen.
Neu. Jetzt vorbestellen: www.amnesty.de/shop Lieferbar ab Mitte Mai.