Amnesty Journal Juni/ Juli 2015: Mit allen Mitteln – Wie Europa Flüchtlinge abwehrt

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AMNESTY JOURNAL

06/07

2015 JUNI/ JULI

MIT ALLEN MITTELN WIE EUROPA FLÜCHTLINGE ABWEHRT

USBEKISTAN Zehn Jahre nach dem Massaker von Andischan

REISE NACH KAMERUN Amnesty-Delegation bei Alice Nkom

DEUTSCHE BEIHILFE Ein Gespräch über den Völkermord an den Armeniern


INHALT

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TITEL: MIT ALLEN MITTELN

THEMEN

KULTUR

16 Das Ghetto In den Bergen vor der spanischen Exklave Melilla träumen Hunderte Afrikaner von Europa – und leben dabei in ständiger Angst.

34 Das verdrängte Massaker Vor zehn Jahren erschoss das Militär in Andischan Hunderte überwiegend unbewaffnete Demonstranten.

50 »Der Vernichtung preisgegeben« Ein Gespräch mit Jürgen Gottschlich, Autor des Buches »Beihilfe zum Völkermord«, über Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier.

20 Verschollen Wenn Flüchtlinge auf See sterben, werden ihre Leichname selten identifiziert. Angehörige fahnden oft erfolglos nach den Vermissten. Auf Spurensuche in Tunesien. 24 Inseln der Hoffnung Griechenland könnte eine sichere Anlaufstelle für syrische Kriegsflüchtlinge sein. Doch Athens Grenzpolitik treibt die Menschen über das Meer. 28 Die Landesverteidigung Wenn Flüchtlinge Bulgarien erreichen, haben sie die EU-Außengrenze überwunden. Doch angekommen sind sie noch lange nicht.

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39 »Einige forderten sogar für sich selbst die Todesstrafe« Ein Gespräch mit der usbekischen Journalistin und Menschenrechtlerin Umida Niyazova. 40 »Wir können offen reden, wir fluchen ja nicht über den Präsidenten« Ein Gespräch mit Ales Bialiatski über die politische Situation in Belarus.

54 Willkür, Geld und Moscheen Die Journalistin Çiğdem Akyol bilanziert die »Generation Erdoğan«. 56 Scharia-Astronomie Ein neuer Band versammelt die Texte von Raif Badawi. Eine Dokumentation.

42 Zwischen Mut und Molotow Vom 12. bis 20. März reiste eine Amnesty-Delegation nach Kamerun.

58 »Die Darstellung von Armut und Gewalt trägt eine politische Botschaft« Wagner Mouras neuer Film »Trash« thematisiert die großen sozialen Unterschiede in Brasilien.

45 Spätes Geständnis Rumäniens Ex-Staatspräsident Illiescu bestätigt, dass der US-Geheimdienst Foltergefängnisse in Rumänien unterhielt.

60 Dem Elend weglaufen Reinhard Kleist zeichnet und erzählt die tragische Geschichte der somalischen Läuferin Samia Yusuf Omar.

46 Ein schwarzes Jahr Zur weltweiten Lage der Menschenrechte – ein Auszug aus dem Amnesty Report 2014/15.

63 Kunst auf den Konfliktlinien Mit seinem neuen Film »Mein Herz tanzt« widmet sich Regisseur Eran Riklis den Arabern, die in Israel leben.

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KAUM EIN TAG …

Titelbild: Zaun an der Außengrenze der EU bei Nea Vyssa, Griechenland. Foto: Benjamin Stöß

RUBRIKEN 04 Weltkarte 05 Good News: Neuer Pass für John Jeanette 06 Panorama 08 Interview: Saloum D. Traoré 09 Nachrichten 11 Kolumne: Martin Krauß 12 Einsatz mit Erfolg 13 Selmin Çalışkan über Folterkomplizenschaft 61 Rezensionen: Bücher 62 Rezensionen: Film & Musik 64 Briefe gegen das Vergessen 66 Aktiv für Amnesty 67 Impressum

Zeichnung/Fotos Seite 2: Vincent Burmeister | Andy Spyra / laif | Benjamin Stöß (3) Foto Editorial: Amnesty

INHALT

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EDITORIAL

… vergeht ohne die schlechte Nachricht, dass auf dem Weg nach Europa Flüchtlinge ertrinken. Doch hinter den fatalen Meldungen verschwindet fast eine andere, nicht minder erschreckende Entwicklung. Die Europäer haben in den vergangenen Jahren einen immensen Aufwand betrieben, um ihre Außengrenzen so hermetisch wie möglich abzuschotten. Wer sie überwinden will, muss alles riskieren. Und oft bleibt nur die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer. Mehrere Monate haben der Journalist Dietmar Telser und der Fotograf Benjamin Stöß die Vorposten Europas bereist, um einen eigenen Eindruck von dieser Grenze zu erhalten. Ihre eindrucksvollen Reportagen können Sie ab Seite 14 lesen. Mindestens ebenso dramatisch ist die Lage der Flüchtlinge vor Indonesien. Viele von ihnen gehören zur Minderheit der Rohingya aus Myanmar, über die wir in der vergangenen Ausgabe (Amnesty Journal, April 2015) berichtet haben. Sie werden systematisch unterdrückt, und das Meer ist oft ihr einziger Ausweg. Nicht minder gründlich hat unser Autor Marcus Bensmann die Ereignisse in der usbekischen Stadt Andischan recherchiert (Seite 34). Vor zehn Jahren erschossen dort Militärs Hunderte unbewaffnete Demonstranten. Bis heute gibt es darüber keine Untersuchung, während das Land weiterhin autokratisch regiert wird – was aber die Europäische Union und vor allem die Bundesregierung in Berlin nicht weiter zu stören scheint. Menschenrechtliche Themen werden in den diplomatischen Beziehungen kaum angesprochen, auch wenn es in den offiziellen Verlautbarungen anders heißt. Auch bei einem anderen Ereignis hat Deutschland eine unrühmliche Rolle gespielt. Der Völkermord an den Armeniern vor hundert Jahren wurde zumindest indirekt von der damaligen Regierung in Berlin unterstützt, selbst wenn heute niemand mehr viel davon wissen will (Seite 50). Umso wichtiger ist es, Menschenrechtsverteidiger in aller Welt nachhaltig zu unterstützen. So wie Alice Nkom, die im vergangenen Jahr den Menschenrechtspreis der deutschen Amnesty-Sektion erhalten hat (Seite 42). Eine Amnesty-Delegation ist kürzlich nach Kamerun gereist, um sich vor Ort zu informieren. Im Gepäck hatte sie über 54.000 Unterschriften aus Deutschland – für Gleichstellung und gegen Gewalt. Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals.

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WELTKARTE

SLOWAKEI So kann es nicht weitergehen: Wegen der systematischen Diskriminierung von Roma an slowakischen Schulen leitet die EU ein Verfahren gegen das Land ein. Roma-Kinder besuchen oft nicht dieselben Klassen wie Nicht-Roma oder werden pauschal Schulen für geistig behinderte Kinder zugewiesen. Diese rassistischen Praxen verstoßen gegen die europäische Antidiskriminierungsrichtlinie und verwehren den Kindern einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung. Vergangenen September war aus demselben Grund bereits ein Verfahren gegen Tschechien eingeleitet worden. !

TÜRKEI 26 Aktivisten der Gezi-Park-Proteste wurden jetzt freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hatte vor Gericht bis zu 29 Jahre Haft gefordert. Mehrere dieser Aktivisten gehören der Dachorganisation »Taksim Solidarität« an, in der sich 2013 verschiedene Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen zusammengeschlossen hatten, als die türkische Regierung auch gegen breiten gesellschaftlichen Protest ihre Bebauungspläne für den ehemaligen Gezi-Park mit massiver Polizeigewalt durchsetzte. "

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MEXIKO Drei Polizisten sind wegen Folter angeklagt und müssen sich im nördlichen Bundesstaat Baja California vor Gericht verantworten. 2012 bedrohten, schlugen und erstickten sie beinahe ihr Opfer Adrián Vázquez, der unter der Anwendung von Folter ein »Geständnis« ablegte und sich noch immer in Haft befindet. Folter gilt in Mexiko als extrem verbreitet. Seit 1991, als das Land Folter verbot, gab es landesweit nur sieben Verurteilungen. Das jetzige Verfahren könnte ein Präzedenzfall werden.

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SÜDAFRIKA Gewalttätige Massen attackierten über Wochen hinweg in mehreren südafrikanischen Städten Migrantinnen und Migranten aus Simbabwe, Malawi, Mosambik und anderen afrikanischen Ländern und plünderten deren Geschäfte. Sieben Personen wurden getötet, zahllose weitere schwer verletzt. Mehr als 1.000 Menschen sind in Folge der Gewalt allein aus Durban vertrieben worden. Die Polizei blieb teilweise untätig, wurde aber auch selbst angegriffen, ebenso wie Journalistinnen und Journalisten, die jene Vorfälle dokumentierten. Schon zu Beginn des Jahres war es in Südafrika zu ähnlichen Übergriffen gekommen.

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SAUDI-ARABIEN Fortgesetzte Schikanen: Raif Badawis ehemaliger Anwalt Abu al-Khair klagt über die Umstände seiner Haft. Erst griff den Juristen ein Mithäftling an und schlug ihn, am Folgetag durchsuchten dann drei Gefängniswärter seine Zelle und verstreuten all seine Gegenstände im Raum. Abu al-Khair ist seit April 2014 inhaftiert. Neben Schlafentzug und Einzelhaft berichtete er bereits zuvor über Misshandlungen sowie unzureichende Ernährung. Während der Haftzeit wurde er mehrmals verlegt, gegenwärtig befindet er sich in einem Gefängnis in Riad.

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GOOD NEWS

Foto: Amnesty Norwegen

PAKISTAN Malala Yousafzais Attentäter kommen in Haft: Ein Gericht verurteilte zehn Männer für die Tat zu lebenslanger Haft. Mehrere pakistanische Taliban-Kämpfer waren 2012 in Malalas Schulbus gestiegen und hatten auf die damals 15-Jährige geschossen. Ein Schuss traf Malala am Kopf und verletzte sie schwer. Sie überlebte das Attentat nur dank einer Notoperation und weiteren Behandlungen. Wegen anhaltender Todesdrohungen lebt die Friedensnobelpreisträgerin im britischen Exil. ,

Vorfreude. John Jeanette kämpfte seit Jahren für Transgender-Rechte.

NEUER PASS FÜR JOHN JEANETTE

Ausgewählte Ereignisse vom 14. April bis 30. April 2015

WELTKARTE

NORWEGEN Für ihre Freunde ist sie längst Jeanette, aber in ihrem Pass steht noch immer ihr alter Name John. Damit geht es John Jeanette Solstad Remø wie vielen TransgenderPersonen in Norwegen. Doch das wird sich bald ändern. Ein von der Regierung beauftragter Sachverständigenausschuss sprach sich Mitte April für tiefgreifende Reformen aus. Bisherige Hürden sollen wegfallen: Wer sein selbst gewähltes Geschlecht amtlich registrieren lassen will, soll es tun können, und zwar ohne die bisherigen Zwänge. Das psychiatrische Gutachten, die operative Geschlechtsangleichung und die vorgeschriebene Sterilisation, das alles soll es nach dem Willen der Sachverständigen nicht mehr geben. Im Grunde fordern die Experten genau das, wofür sich auch John Jeanette mit langer Ausdauer und gemeinsam mit Amnesty eingesetzt hatte. Im Rahmen der »My Body, My Rights«-Kampagne hatten Tausende jene Forderungen unterstützt. Dieser klare Durchbruch für die Rechte von Transgender bedarf jetzt nur noch der Zustimmung des Parlaments. Die bisherigen Vorgaben stammen aus den siebziger Jahren. John Jeanette hatte eine erzwungene Geschlechtsangleichung immer abgelehnt. Zugleich ist sie durch diese Entscheidung im Alltag pausenlos lästigen Fragen ausgesetzt: Wenn John Jeanette Medikamente kauft, ein Paket abholt, ein Buch ausleiht oder ein Hotelzimmer mietet – fast immer hört die Frau im Kleid die gleiche Frage: »Sind Sie das wirklich?«. Jene strikten Gesetze führen damit indirekt auch zu massiven Eingriffen in die Privatsphäre betroffener Transgender-Personen. »Solche beschämenden Momente passieren die ganze Zeit«, sagte John Jeanette bei einer Pressekonferenz mit dem norwegischen Gesundheitsminister. Umso mehr freute sie sich über die jetzige Entscheidung. Auch in anderen europäischen Ländern könnte ein Kurswechsel bevorstehen, der Transgender- und intersexuellen Personen weniger Zwänge und zugleich mehr Freiraum lässt. Der Europarat hatte Ende April eine entsprechende Resolution verabschiedet: Zwangsweise Geschlechtsangleichungen sollen wie jetzt in Norwegen wegfallen, gewünschte Geschlechtsangleichungen zugleich möglich sein. Auch ein drittes Geschlecht und Antidiskriminierungsrichtlinien finden sich in dem Papier als mustergültige Praxen.

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Foto: Patrick Semansky / AP / pa

USA: ENTSCHÄDIGUNG FÜR POLIZEIGEWALT

Die Stadt Chicago zahlt Dutzenden von Männern eine Entschädigung, die zwischen 1972 und 1991 von der Polizei misshandelt wurden. Die meisten der Folteropfer sind Afroamerikaner. Anfang Mai stimmte der Stadtrat für Entschädigungszahlungen in Höhe von insgesamt 5,5 Millionen Dollar. Der Direktor der US-Sektion von Amnesty International, Steven Hawkins, sprach von einem »historischen Schritt«, mit dem Chicago dem Land und der ganzen Welt zeige, dass es für Entschädigungen wegen so »schrecklicher Verbrechen« wie Folter »kein Verfallsdatum« gebe. Nach Angaben von Amnesty wurden die Betroffenen in Chicago nach ihrer Festnahme unter anderem mit Schlägen, Elektroschocks, simuliertem Strangulieren und simulierten Hinrichtungen gefoltert, um »Geständnisse« zu erpressen. In den USA haben in den vergangenen Monaten eine Reihe tödlicher Polizeieinsätze für Empörung gesorgt. Im April kam es in Baltimore zu schweren Unruhen, nachdem ein Afroamerikaner in Polizeigewahrsam starb. (Foto: Proteste in Baltimore am 22. April 2015)

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PANORAMA

NIGERIA: HUNDERTE GEISELN ENTKOMMEN BOKO HARAM

Zahlreiche Geiseln konnten der islamistischen Miliz Boko Haram jüngst entkommen: Die nigerianische Armee befreite etwa 700 Mädchen und Frauen aus der Geiselhaft der Terrorgruppe. Insgesamt entführte Boko Haram im vergangenen Jahr mehr als 2.000 Frauen und Mädchen. Die Zahl war im Laufe des Jahres stark angestiegen, allein an einer Schule in Chibok waren 276 Mädchen aus ihren Schlafsälen entführt worden. Wie die jüngst befreiten Geiseln (Foto) berichteten, wurden viele von ihnen vergewaltigt, zwangsverheiratet, versklavt und zu Attentaten gezwungen. In den vergangenen Jahren sind bei Anschlägen der Gruppe zudem Tausende Menschen ums Leben gekommen. Auch die Regierungstruppen begingen wiederholt schwere Menschenrechtsverletzungen: Im Kampf gegen Boko Haram wurden Verdächtige willkürlich inhaftiert, bei Verhören oder als Bestrafung gefoltert, von der Außenwelt isoliert oder anderweitig misshandelt. Foto: Afolabi Sotunde / Reuters

PANORAMA

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INTERVIEW SALOUM D. TRAORÉ, DIREKTOR VON AMNESTY INTERNATIONAL IN MALI

das Dokument einseitig unterzeichnet. Eines ist klar: Es ist besser, an den Verhandlungstisch zurückzukehren als in den Krieg.

Foto: Sarah Eick

Was ist das Problem bei diesem Verhandlungsprozess? Wenn du Frieden mit jemandem machen willst, der das nicht mit dir will. Tatsächlich wurde der Norden sehr lange extrem vernachlässigt, aber genau das sollte sich jetzt ändern. Die ersten Schritte waren unternommen und es gab weitere Perspektiven. Wenn die bewaffneten Gruppen den Verhandlungsergebnissen aber nicht zustimmen, ist unklar, was wirklich passiert. Es ist nicht auszuschließen, dass sich das Land spalten wird.

»ES IST BESSER, AN DEN VERHANDLUNGSTISCH ZURÜCKZUKEHREN« Ende März starben acht Menschen bei zwei Terroranschlägen im Zentrum der malischen Hauptstadt Bamako. Wird die Lage in Mali wieder eskalieren? Diese Anschläge erschrecken mich und ich halte sie für ein schlechtes Zeichen. Zum ersten Mal geschahen Anschläge im Zentrum der Hauptstadt. Vergleichbares ist aus dem Norden des Landes und anderen Orten bekannt. Es zeigt, dass sich die Lage in Mali rasant verschlechtern kann, wenn der Konflikt im Norden sich im Land ausbreitet. Nach dem Putsch 2012 dominierten zeitweise Terrorgruppen das Geschehen im Land, die Militärintervention drängte sie zurück. Der Konflikt scheint nicht ausgestanden, wie wird er bearbeitet? Es wurde über eine Lösung verhandelt – bisher leider ohne Erfolg. Nach mehreren Verhandlungsrunden lehnten die bewaffneten Gruppen, die noch immer den äußersten Norden kontrollieren, den angebotenen Friedensvertrag ab. Viele verschiedene Akteure waren einbezogen, das hatte einen sehr inklusiven Charakter. Wie es jetzt weitergeht, ist unklar. Die Regierung hat

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Besteht die Gefahr, dass sich die Subsahara-Region in Gänze destabilisiert – auch im Hinblick auf den Einfluss Boko Harams in Nigeria und darüber hinaus? Dieser Konflikt rückt immer näher und ich habe große Sorge, dass er ganz Westafrika betreffen wird. Zudem ähneln auch die Gruppen im Norden Malis Boko Haram. Ende März wurde der Gouverneur der Region Mopti von Bewaffneten angegriffen. Sie kommen, sie üben Gewalt aus und verstehen sich selbst als vermeintlich religiös. In der Zeit vor der Militärintervention kontrollierten sie weite Gebiete und verfolgten dabei ein – aus ihrer Sicht – Prinzip islamischer Gerechtigkeit: Sie peitschten Leute aus, sie schlugen Frauen, sie zwangen Leute, Dinge gegen ihren Willen zu tun und sie schlugen vermeintlichen Dieben die Hände oder Füße ab. Auch Sie wurden in der Vergangenheit bedroht, wie sicher können Sie jetzt agieren? Gegenwärtig bin ich nicht bedroht und arbeite ungehindert. Ich habe lediglich die gleichen Ängste, die auch alle anderen Menschen in Anbetracht der anhaltenden Krise und der ausgeprägten Korruption in Mali teilen. 2013 war das anders. Damals hatte ich zusammen mit einem Kollegen einen Bericht veröffentlicht. Er dokumentierte die schweren Menschenrechtsverstöße der Armee im Norden des Landes, die dort im Auftrag der damaligen Regierung agierte. Damals drangen Bewaffnete nachts in mein Haus ein, ich sprang über die Mauer und floh. Warum ist die Lage jetzt anders? Nach dem Putsch 2012 war es sehr gefährlich, über Menschenrechte zu reden. Aber seit den Wahlen haben wir eine neue, demokratische Regierung, die Menschenrechte ernst nimmt. Ende März besuchte ich sogar den Ex-General, der den damaligen Putsch anführte, Amadou Sanago. Er ist gegenwärtig inhaftiert. Ich untersuchte, ob seine Haftbedingungen annehmbar sind. Im Rahmen dieses Besuchs wurden die Bedingungen verbessert. Das signalisiert, dass wir wirklich frei arbeiten können. Als er an der Macht war, wäre so etwas nicht möglich gewesen. Diese Begegnung hatte etwas Groteskes, auch für ihn. Fragen: Andreas Koob

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»AUF MEINEM BOOT WAREN 107, DIE SCHLEUSER HATTEN UNS GEZÄHLT. DIE LEUTE FIELEN INS WASSER, ABER NIEMAND KONNTE HELFEN. ANDERE STARBEN AUS ANDEREN GRÜNDEN, VIELLEICHT AUS MANGEL AN ESSEN UND WASSER. WIR WAREN NUR NOCH SIEBEN, ALS RETTUNG KAM.« LAMIN, 24, AUS MALI, DER IM FEBRUAR VOR DER KÜSTE LIBYENS VON EINEM HANDELSSCHIFF GERETTET WURDE

Foto: Franz Bischof / laif

RASSISMUS MITTEN IN DEUTSCHLAND

Allein am Tatort. Angehörige besuchen den Ort, an dem Ismail Yasar 2005 in Nürnberg vom NSU ermordet wurde.

Was tut Deutschland gegen Rassismus – darüber legte die Bundesregierung in einem Bericht an den UNO-AntirassismusAusschuss (CERD) Rechenschaft ab – und steht massiv in der Kritik. Zentraler Gegenstand ist dabei unter anderem die behördliche Ermittlung im Kontext der NSU-Mordserie. Gerade in diesem Punkt verurteilen verschiedene Initiativen und NGOs die deutsche Politik: Sowohl die staatliche Problemanalyse als auch die Strategieentwicklung sei mangelhaft. So heißt es im Bericht etwa, dass die Behörden »allen möglichen Hinweisen« nachgegangen seien, in der Folge hätten sich die Angehörigen der Opfer ungerechtfertigt beschuldigt gefühlt. »Tatsächlich wurde nicht in alle Richtungen ermittelt, denn ein rassistisches Motiv wurde den Taten bis zuletzt nicht zugeschrieben«, sagte Britta Schellenberg, Vorurteilsforscherin und Sachverständige im NSU-Untersuchungsaus-

INTERVIEW

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NACHRICHTEN

schuss des Bundestags: »Vielmehr hat institutioneller Rassismus die Ermittlungen maßgeblich geprägt.« Vor allem auch unbewusste rassistische Vorannahmen führen in der Regel dazu, dass Behörden ihren Aufgaben nicht diskriminierungsfrei nachkommen. Schellenberg legte gemeinsam mit vielen gesellschaftlichen Initiativen und Personen aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft einen Gegenbericht vor. Wenn man nun Verfassungsschutz und Polizei mehr verzahne und V-Leuten mehr Spielraum gebe, »ist nicht zu erwarten, dass Bürger besser geschützt werden gegen Antisemitismus, Rassismus und Gewalt«. Auch weiterhin fehlen in Deutschland wichtige Maßnahmen für eine rassismussensible Ermittlung oder auch unabhängige Stellen, die wie in Großbritannien oder Schweden Beschwerden über Polizeiarbeit aufnehmen. »An wen hätten sich die Angehörigen und Freunde der NSU-Opfer schließlich

wenden sollen – etwa an die Polizeibehörden, die gegen sie ermittelten?«, sagte Carsten Ilius, Opferanwalt im NSU-Prozess. Auf seine Frage findet sich im Staatenbericht keine Antwort. Der NSU sei zugleich nur die »Spitze des Eisbergs, was Rassismus in Deutschland angeht«, so der Jurist. Umso schwerer wiegt, dass Deutschland sogar explizit die Existenz von rassistischen Polizeikontrollen im Sinne eines »Racial Profiling« bestreitet. Das sei beispielhaft für das in Deutschland weithin ausgeblendete Rassismusproblem, sagte Amnesty-Generalsekretärin Selmin Çalışkan: »Die Bundesregierung muss Rassismus endlich als ein politisches und gesellschaftliches Problem anerkennen, das nicht auf Rechtsextremismus verengt werden kann, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft verbreitet ist.« Auch weitere Initiativen legten Gegenberichte vor, die unter www.rassismusbericht.de abrufbar sind.

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DIE 5 LÄNDER MIT DEN MEISTEN HINRICHTUNGEN 2014

IRAK 61

mindestens

SAUDIARABIEN mindestens 90

ABWEGIGE ANTWORT

IRAN mindestens 289

Quelle: Amnesty International

USA 35

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LÄNDER HABEN DIE TODESSTRAFE BEREITS ABGESCHAFFT. ZULETZT, IM FEBRUAR 2015, FIDSCHI IM SÜDPAZIFIK. DAS IST GENAU DIE HÄLFTE ALLER STAATEN WELTWEIT.

CHINA mindestens 1.000

MORD AN BLOGGER

Der Terror gegen religionskritische Blogger in Bangladesch geht weiter. Nachdem 2015 bereits Avijit Roy und Washiqur Rahman ermordet wurden, brachten Attentäter am 12. Mai den Blogger Ananta Bijoy auf brutale Weise um. Bijoy, der sich sowohl im Internet als auch in Büchern zum Atheismus bekannt hat, wurde in der Provinzhauptstadt Sylhet von Unbekannten überfallen und mit Messerstichen so schwer verletzt, dass er am Tatort starb. Die Mörder entkamen. Am selben Tag bekannte sich der südasiatische Zweig von Al-Qaida zu dem Anschlag. Nur im Fall von Rahman ist es Passanten gelungen, zwei Täter festzuhalten und der Polizei zu übergeben. Sie ge-

BANGLADESCH

UNGARN »Die Frage nach der Todesstrafe soll auf der Agenda bleiben«, sagte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán Ende April, während landesweit über ein brutales Tötungsdelikt diskutiert wurde. Ungarn hatte die Todesstrafe 1990 abgeschafft. Die Regierung Orbán verschärfte das Strafrecht maßgeblich, sodass die Richtlinien europaweit bereits zu den schärfsten zählen. Seit 2011 ermöglicht die Verfassung eine lebenslange Inhaftierung ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung. Die extrem rechte Partei Jobbik hatte zuvor die Einführung der Todesstrafe gefordert und kündigte jetzt dazu eine Parlamentsdebatte an.

standen, einem Kommando der Organisation Ansarullah Islam anzugehören. Dieses hatte sich schon zum Mord an Roy bekannt, der weiterhin nicht aufgeklärt ist. Amnesty und andere Menschenrechtsorganisationen haben die Regierung in Dhaka wiederholt kritisiert, weil sie nichts zum Schutz der Journalisten und Blogger unternimmt. Stattdessen schränkt sie das Recht auf Meinungsfreiheit weiter ein. Die schwedische Sektion der Schriftstellerorganisation PEN kritisierte die Regierung in Stockholm, weil deren Botschaft in Dhaka Bijoy kurz vor der Ermordung das beantragte Einreisevisum nach Schweden abgelehnt hatte, obwohl seine starke Gefährdung bekannt war.

SPÄTES URTEIL GEGEN BLACKWATER-SÖLDNER

Es ist ein Novum in der Rechtsprechung: Ein US-Gericht verurteilte vier ehemalige Söldner der Firma Blackwater zu langen Haftstrafen. Einer der Angeklagten erhielt lebenslänglich, die drei anderen Freiheitsstrafen von je dreißig Jahren. Sie hatten 2007 in der irakischen Hauptstadt Bagdad mindestens 14 Zivilisten getötet sowie 20 weitere verletzt. Zeugenaussagen zufolge hatten sie auf dem stark frequentierten Nissurplatz willkürlich in eine Menschenmenge geschossen, in der sich auch mehrere Kinder befanden. Außerdem sagten auch ehemalige Blackwater-Mitarbeiter aus, darunter ein an der Tat beteiligter Ex-Söldner, der nach einem Schuldeingeständnis als Kronzeuge gilt. Die vier anderen nun verurteilten Männer hatten die Vorwürfe bis zuletzt abgestritten. Im Zuge des Irakkriegs hatte die US-Regierung Aufgaben wie den Schutz von US-Diplomatinnen und -Diplomaten an Privatunternehmen ausgelagert. 100 Milliarden Dollar sollen an Firmen wie Blackwater gegangen sein. Die irakischen Behörden konnten die Blackwater-Mitarbeiter nicht anklagen, da die damalige Besatzungsmacht allen beauftragten Söldnern Immunität zusicherte. Auch das US-Militär hatte keine Handhabe, da sie ja keine Militärangehörigen waren. Damit herrschte zunächst eine Art rechtliches Vakuum. Umso mehr überraschte der jetzige Schuldspruch, den die Verurteilten anfechten wollen.

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Foto: Andrew Harnik / AP / pa

USA

Willkürliche Schüsse in die Menge. Ehemaliger Söldner.

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KOLUMNE MARTIN KRAUSS

Zeichnung: Oliver Grajewski

Das Land Aserbaidschan und das Sportereignis Europaspiele haben ein ähnliches Imageproblem: So recht kann man mit ihnen nichts anfangen. Die Frage, wo die kleine Republik genau liegt, dürfte bei einer Umfrage in einer deutschen Fußgängerzone nicht viele richtige Antworten erhalten. Und was die Europaspiele sind, die bald in Aserbaidschan stattfinden, ist auch kaum bekannt. Wie auch? Diese »Olympischen Spiele für Europa« finden vom 12. bis 28. Juni tatsächlich zum ersten Mal statt. Unter dem Patronat des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) gibt es bereits Afrikaspiele, Asienspiele, Panamerikanische Spiele und Mikronesienspiele, die Universiade, die Paralympics und sogar die World Games für nichtolympische Sportarten. Das IOC hat also den Markt der sportartenübergreifenden Athletentreffen gut abgedeckt. Dass Europaspiele da bislang fehlten, liegt schlicht daran, dass die keiner braucht: Von 29 bislang ausgetragenen Olympischen Sommerspielen fanden 17 in Europa statt, das sind fast 60 Prozent!

SPIELE, DIE NIEMAND BRAUCHT

Immerhin, Aserbaidschan kann die Europaspiele gebrauchen. Erstens kann das Land, obwohl es in Asien liegt, so zum politischen Sprung nach Europa ansetzen. Das dürfte noch eleganter sein als die Teilnahme Australiens am Eurovision Song Contest in diesem Jahr – der ESC war 2012 ja auch schon in Aserbaidschan. Zweitens hat die Vergabe der Europaspiele das bis dahin nur Insidern bekannte EOC, den Verbund der Europäischen Olympischen Komitees, plötzlich zum Big Player in der Weltsportpolitik aufgewertet. Aserbaidschan hatte dem EOC angeboten, alles zu zahlen: Vermutlich 6.000 europäische Spitzensportler reisen nun auf Kosten des Landes an. Drittens kann Aserbaidschan damit beweisen, dass es auch Olympische Spiele organisieren kann. Und schließlich kann das Land seine bisherige Strategie, sich mit sportlichen Großereignissen politischen Einfluss zu erarbeiten, auf ein neues, höheres Niveau heben: Die U17-WM der Fußballfrauen, die WM der Rhythmischen Sportgymnastinnen oder die für 2017 anstehenden »Islamischen Spiele der Solidarität« sind nicht gerade Top-Events. Da ist die Erfindung eines neuen Wettbewerbs, der Europaspiele, nachgerade genial. Allerdings sind die Möglichkeiten für Staaten, sich mithilfe sportlicher Großereignisse in ein besseres Licht zu setzen, deutlich geschwunden. Zum einen werden Olympische Spiele mittlerweile kaum noch staatlich finanziert, sondern private Investoren machen in Absprache mit dem IOC ihre Geschäfte. Zum anderen sind in den vergangenen Jahren in demokratischen Gesellschaften Großprojekte wie Olympia von der Bevölkerung häufig abgelehnt worden: Nicht nur in München fiel die Bewerbung für die Olympischen Winterspiele 2022 bei einer Volksabstimmung durch; auch in Krakau, im schweizerischen Graubünden und in Stockholm scheiterte die Bewerbung am Widerstand der Bevölkerung. Aktuell sind es neben Aserbaidschan vor allem Katar und Russland, die sich für die sehr teure Strategie entschieden haben, mit dem Sport ihr Image aufzuhübschen. Das Emirat Katar konnte nicht nur die Fußball-WM 2022 abgreifen, auch die Handball-WM 2015, die Leichtathletik-WM 2019 und die Kurzbahn-WM der Schwimmer 2014. Russland darf sich mit der Fußball-WM 2018 und den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 schmücken – den wertvollsten und teuersten Sportereignissen, die es derzeit gibt. Fehlen nur noch Olympische Sommerspiele, aber an denen haben, natürlich, sowohl Katar als auch Russland als auch Aserbaidschan übergroßes Interesse. Aufgehen muss die Strategie deswegen noch lange nicht: Zum einen gibt es ja doch viele Menschen, die das Kalkül durchschauen. Zum anderen dürfte der Markt bald mit sportlichen Topevents übersättigt sein. Wer braucht schon Europaspiele! Martin Krauß ist Sportjournalist und lebt in Berlin.

NACHRICHTEN

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KOLUMNE

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Foto: Tyrone Siu / Reuters

»Meine Überzeugung ist jetzt noch stärker.« Wei Tingting (oben rechts) und ihre vier Mitstreiterinnen kämpfen weiter für Frauenrechte.

EIN ERSTES DURCHATMEN Fünf chinesische Frauenrechtlerinnen wollten Aufkleber verteilen und kamen mehr als einen Monat in Untersuchungshaft. Wei Tingting trägt einen akkuraten Scheitel, ihre glatten Haare ragen bis in den Nacken. Als sie gegen den für Frauen erschwerten Zugang zu chinesischen Universitäten protestierte, schor sie sich den Kopf kurzerhand kahl. Für die 26-Jährige ist Protest auch immer eine Form von Kunst. Anfang März wollte die feministische LGBTI-Aktivistin dann gemeinsam mit vier weiteren Frauen Aufkleber gegen Sexismus verteilen, mehr nicht. Doch dazu kam es nicht. Wie bei einer Razzia schlugen die Behörden zu und verhafteten die fünf Frauen noch vor der von ihnen angekündigten Performance. Als erste wurde Wei Tingting gemeinsam mit einer Sympathisantin auf eine Polizeiwache in Peking gebracht. Dann standen die Behörden vor den Türen zweier weiterer Gruppenmitglieder in Peking und Guangzhou. Schließlich folgte die brutale Festnahme einer fünften Aktivistin am Flughafen von Hangzhou. Ein Freund dieser zuletzt inhaftierten Aktivistin hörte am Telefon mit: Sie schrie vor Schmerzen, bevor die Verbindung nach wenigen Sekunden abbrach. Die Feministinnen hatten ihre Aktion angekündigt, ihre Forderung war klar: Ein Ende der sexuellen Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln, die in zahlreichen Städten Chinas an der Tagesordnung ist: Die Slogans »Stoppt sexuelle Belästigung, lasst uns in Ruhe« und »Los Polizei, verhaftet diejenigen, die sexuelle Belästigungen begehen« hatten sie auf Sticker drucken lassen. Aber verteilen durften sie sie nicht. Stattdessen verbrachten sie ausgerechnet auch den Frauentag in Haft. Aus Sicht der Behörden hatten sie »Streit angefangen und Ärger provoziert« – ein in China gängiger Vorwand, um Personen

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zu schikanieren, die sich für Menschenrechte einsetzen. Später hieß es, sie hätten gegen das Versammlungsrecht verstoßen. Für die Fünf folgten schlechte Haftbedingungen und harte Befragungen. Die Behörden interessierten sich vor allem für frühere Aktionen: Einmal hatten sie andere Frauen aufgefordert, Herrentoiletten zu benutzen, da es zu wenige öffentliche Toiletten für Frauen gebe. Ein anderes Mal präsentierten sie sich in blutverschmierten Brautkleidern, um auf die weitverbreitete häusliche Gewalt hinzuweisen. Jetzt saßen sie in Haft: Tags wurden sie pausenlos verhört, nachts schliefen sie auf dem blanken Fußboden. Eine Aktivistin musste schließlich mit ernsthaften Problemen ins Krankenhaus. Ihre chronischen Leberbeschwerden hatten sich in der Haft akut verschlimmert, auch weil die Behörden ihr die dringend benötigte Medizin vorenthielten. Eine zweite Aktivistin erlitt sogar einen Herzinfarkt – im Alter von gerade einmal 32 Jahren. Immer wieder werden Aktivistinnen und Aktivisten unter fadenscheinigen Umständen zu langen Haftstrafen verurteilt. Der Fall hatte inzwischen großes Aufsehen erregt, auch Amnesty setzte sich für sie ein. John Kerry, Hillary Clinton und Vertreter der EU meldeten sich zu Wort. Als die Fünf nach 37 Tagen Haft gegen Kaution freikamen, waren sie und ihre Sticker weit über China hinaus bekannt. Endgültig entschieden ist noch nichts. Den Frauen drohen noch immer bis zu fünf Jahre Haft. Amnesty hofft nach der Freilassung auf einen Durchbruch, wird den Fall aber verfolgen, bis alle Anklagen fallen gelassen werden. Sie habe viel nachdenken müssen, aber das, was sie tue, könne nicht falsch sein, sagt Wei Tingting: »Meine Überzeugung ist jetzt noch stärker.« Text: Rita Schuhmacher und Andreas Koob

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Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

GUTES VORBILD

Kein Zwang und viel Freiraum – Malta stärkt mit einem bisher weltweit beispiellos progressiven Gesetz die Rechte von transgeschlechtlichen und intersexuellen Personen. Es umfasst ein Verbot von zwangsweisen Geschlechtsangleichungen, das sowohl Kinder als auch Erwachsene schützt. Zugleich weitet es die Spielräume für gewollte Geschlechtsangleichungen. Die Änderung der offiziellen Geschlechtsidentität bedarf fortan keiner medizinischen Diagnose oder Behandlung. Auch Zwangsscheidungen gibt es nicht mehr. LGBTI-Organisationen begrüßten diese weitreichenden Rechte auf Geschlechtsidentität, körperliche Integrität und physische Autonomie. Das Parlament hatte mit breiter Mehrheit zugestimmt. Das Gesetz besitzt Verfassungsrang.

MALTA

ENDLICH FREI

MEXIKO Nahezu 23 Jahre saß er unschuldig in Haft, jetzt ist er frei: Das Oberste Gericht sprach Alfonso Martín del Campo Dodd vom Vorwurf des Doppelmords frei. Er war 1992 nach einem durch Folter erzwungenen »Geständnis« verurteilt worden. Obwohl Untersuchungen die erlittene Folter später dokumentiert hatten, haben ihn die Gerichte in den vorherigen Instanzen weiterhin für schuldig befunden, seine Schwester sowie seinen Schwiegersohn ermordet zu haben.

ASYL STATT HAFT

USA Endlich ist die Abschiebehaft für Mutter und Kind

vorüber: Nach acht Monaten Gefängnis darf Celia Primero Ismalej mit ihrem erst einhalbjährigen Sohn in den USA bleiben. Sie waren aus Guatemala geflohen und zogen unmittelbar nach der Freilassung zu Verwandten, die in den USA leben. Beide hatten sehr unter der Haft gelitten, die sowohl gegen das Völkerrecht als auch gegen Menschenrechtsstandards verstieß.

HILFE FÜR ERBLINDETEN

KAMERUN Foudama Ousmane musste lange warten, jetzt wur-

den seine Augen von einem Arzt behandelt und der Kameruner bekam ein dringend benötigtes Rezept. Während der Haft war er erblindet. Die nun erfolgte Behandlung könnte wieder zu Sehkraft führen. Wegen angeblicher Verbindungen zu Boko Haram war der Mann von den Behörden zwischenzeitlich an einen unbekannten Ort verschleppt und erst später offiziell inhaftiert worden. Neben dem Augenleiden infizierte sich der Kameruner während der Haft zudem mit Tuberkulose. Im Unterschied zur Augenerkrankung war diese bereits zuvor behandelt worden. Der zuständige Generalstaatsanwalt sagte, er habe sich durch den Einsatz von Amnesty International zum Handeln veranlasst gesehen.

EINSATZ MIT ERFOLG

SELMIN ÇALIŞKAN ÜBER

FOLTERKOMPLIZENSCHAFT

Foto: Amnesty

EINSATZ MIT ERFOLG

Am 13. Mai 2005 eröffneten Sicherheitskräfte im usbekischen Andischan das Feuer auf eine Gruppe von Demonstrantinnen und Demonstranten. Hunderte Männer, Frauen und Kinder wurden getötet. Zur Rechenschaft gezogen wurde niemand. Unabhängige Informationen über das Massaker sind in Usbekistan kaum zugänglich. Wer kritisch über Andischan berichtet oder nur darüber spricht, muss auch heute noch mit Verhaftung rechnen. Und Verhaftung ist in Usbekistan nicht selten gleichbedeutend mit Folter: Elektroschocks, Verbrennungen, Vergewaltigungen – kein Mittel ist grausam genug, wenn es darum geht, vermeintliche Geständnisse zu erzwingen oder zu Geld und persönlichen Vorteilen zu kommen. Auch die Journalistin Umida Niyazova musste Usbekistan aufgrund ihrer Recherchen verlassen und lebt mittlerweile in Deutschland. Mit ihrer unerschrockenen Entschlossenheit unterstützt sie Amnesty International, wo immer sie kann. Die Bundesregierung kennt ihre Geschichte. Sie kennt die grausamen Berichte aus usbekischen Gefängnissen. Und sie kennt die Zahlen: So kam es in gerade einmal sechs von 336 Fällen, in denen Folteropfer zwischen 2010 und 2013 den Mut hatten, Klage einzureichen, zu einem Gerichtsprozess; nur elf Sicherheitsbeamte wurden verurteilt. Doch die Bundesregierung schweigt. Usbekistan ist wichtig, nicht nur wirtschaftlich: Das Land grenzt an Afghanistan, ist Partner der NATO. Zudem unterhält die Bundeswehr eine Militärbasis in Termez. Da ist es wenig überraschend, dass die diplomatischen Beziehungen zwischen Berlin und Taschkent nach Andischan schnell wieder aufblühten; dass der usbekische Innenminister trotz des EU-Einreiseverbotes bereits Ende 2005 zu einer medizinischen Behandlung in Deutschland weilte; dass vor allem Außenminister Steinmeier in Brüssel (erfolgreich) darauf drängte, die EU-Sanktionen gegen Usbekistan vollständig aufzuheben. Wenig überraschend, aber dennoch fragwürdig. Schweigen nämlich dürfte Taschkent als Zustimmung deuten. Als deutsche Zustimmung zu Folter und Straflosigkeit in Usbekistan, jetzt und auch zukünftig. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.

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TITEL

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AMNESTY JOURNAL | 06-07/2015


Mit allen Mitteln

Die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer, bei denen in den vergangenen Wochen weit über Tausend Menschen vor der libyschen Küste ertrunken sind, haben weltweit großes Entsetzen ausgelöst. Es sei die moralische Pflicht der Europäischen Union, solche Unglücke zu verhindern, heißt es nun in der Politik. Tatsächlich aber nimmt die Grenzpolitik der EU diese Opfer bisher billigend in Kauf: Die Festung Europa wird eisern verteidigt. Eine Reise zu ihren Außenposten.

Abgeschottet. Die spanische Exklave Melilla an der nordafrikanischen Küste bei Marokko ist Ziel Tausender Flüchtlinge. Foto: Benjamin Stöß

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Das Hinterland. In den Bergen vor Melilla leben Hunderte afrikanische Flüchtlinge und warten auf eine Gelegenheit, nach Europa zu gelangen.

Das Ghetto In den Bergen vor der spanischen Exklave Melilla träumen Hunderte Afrikaner von Europa – und leben dabei in ständiger Angst. Von Dietmar Telser (Text) und Benjamin Stöß (Fotos)

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inmal war Mohamed Djim seinem Traum schon ganz nah. Die Polizei hatte gerade ein Camp der Afrikaner auf dem Berg gestürmt. Am Ende lag ein Junge tot am Boden. Die Bewohner des Camps packte der Zorn, sie liefen los, alle zusammen, den Berg Gourougou hinunter bis zur Grenze. Mohamed Djim mittendrin. Immer wieder hatten sie in der Vergangenheit versucht, über den Zaun nach Melilla zu klettern. Diesmal aber wollten sie gar nicht über die Grenze. Sie liefen auf den offiziellen Grenzübergang zu. Und blieben einfach davor stehen. Sie wollten zeigen, dass man nicht alles mit ihnen machen kann. »Wir waren so viele«, sagt Mohamed Djim. »Uh, das war ein gutes Gefühl.« Dann sind sie wieder hinauf auf den Berg. Mohamed Djim, schmächtig und still, lebt nun etwas weiter im Hinterland der Berge von Afra. Er sitzt auf einem wackeligen Stein vor seinem Zelt. Von seinem Hügel aus sieht er über die Kiefernwälder am Rande des marokkanischen Rif-Gebirges. Er kann den Berg Gourougou, über den er damals hinunterstürmte, sehen, das Meer und die Stadt Melilla, von der hier alle träumen, weil sie viel mehr als nur eine Stadt mit einem Hafen ist.

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Melilla ist neben Ceuta und den Kanaren alles, was Spanien von seiner Kolonialherrschaft in Afrika geblieben ist. Seit mehr als 500 Jahren klammert sich das Königreich an die 84.000-Einwohner-Stadt am nördlichen Rand des afrikanischen Kontinents. So wurde die spanische Exklave zu einem Vorposten Europas. Flüchtlinge haben drei Möglichkeiten, Melilla zu erreichen. Der härteste aller Wege führt vom Berg Gourougou über den Hochsicherheitszaun. Er kostet kein Geld, aber die Erfolgsquote ist gering. Es ist die Route der Ärmsten. Ein zweiter Weg führt mit einem gefälschten Pass oder versteckt in einem Auto über den offiziellen Grenzübergang. Etwa 2.000 Euro lassen sich Schlepper dafür bezahlen. Und dann ist da noch die Route mit dem Boot in die Exklave oder direkt über die Meerenge von Gibraltar. Zwischen 1.500 und 2.000 Euro kostet die Fahrt. Viele, die sich auf diese Reise vorbereiten, haben sich in die ruhigeren Afra-Berge zurückgezogen, so wie Mohamed Djim. Nicht ganz so nah am Zaun, nicht ganz so nah an den Polizeikontrollen. »Willkommen in meinem Ghetto«, hatte Mohamed Djim gesagt, als wir ihn das erste Mal im Wald trafen, und dabei selbst

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Skandalöse Agenda

ein wenig über das Wort gelächelt. Seit drei Monaten lebt er in den Bergen. Anfangs schlief er noch in einem größeren Camp. Aber Mohamed Djim mochte nicht, wie dort miteinander umgegangen wurde. Zu oft gab es Streit und Auseinandersetzungen, Mohamed Djim aber wollte seine Ruhe. Er zog auf die nächste Anhöhe und schlug dort sein Zelt auf. Freunde kamen und blieben. Dann Freunde der Freunde. Inzwischen sind sie ein gutes Dutzend. Favour, die hübsche Nigerianerin mit den hochfrisierten Haaren, wohnt hier, immer einen Kamm in der Hand, Modedesignerin will sie einmal werden. Gift, die davon träumt, Friseurin zu werden, Sosis mit ihren melancholischen Liedern, »vielleicht werde ich Sängerin«, sagt sie einmal. Gemeinsam wollen die Frauen ein Boot finden. Die Rettungswesten haben sie schon gekauft. Mohamed Djim ist inzwischen so etwas wie das Oberhaupt seines Ghettos. Er wird gefragt, wenn es darum geht, einen sicheren Weg ins Dorf zu wählen, und er ist der Mann, der Neuankömmlinge empfängt oder auch nicht. Im Ghetto haben sie heute ein neues Zelt gebaut. Mohamed hat ihnen gezeigt, wie aus den richtigen Ästen das Gerüst entsteht und wie man mit einer alten Jeans, in Streifen geschnitten, die Äste verknotet. Das Camp wächst weiter. Zwölf Ghettos gibt es derzeit im Wald. Aber die Zahl hat keinen Bestand. Die Ghettos werden hier schnell gegründet, lösen sich oft genauso rasch wieder auf, wachsen zusammen und spalten sich wieder ab. Wer eine Gelegenheit sieht, macht rüber nach Melilla. Auf dem Berg der Verzweifelten bleibt niemand länger als er muss. Von überall droht hier Gefahr. Die Angst, sagt Mohamed Djim und greift sich an die Stirn, sie macht einen ganz mürbe im Kopf. Manchmal können sie sie von hier oben sehen. In ihren Autos kreisen sie scheinbar ohne

MIT ALLEN MITTELN

1.700 Menschen ertranken allein zwischen Januar und April 2015 auf ihrer Flucht von Nordafrika über das Mittelmeer nach Europa. Das sind hundertmal so viele wie im selben Zeitraum des Vorjahres. Ihr Tod ist das in Kauf genommene Ergebnis einer menschenverachtenden Abschottungspolitik. Sie macht das Mittelmeer zur weltweit gefährlichsten Fluchtroute. Für Schutzsuchende ist die riskante Überfahrt meistens die einzige Chance. Die Grenzen sind abgeriegelt, durch Mauern, Grenzschutzpersonal und teuerste Technologie. Die tödlichen Folgen sind inzwischen fast täglich zu beobachten. Seit Jahren ertrinken Menschen, die sich in ihrer Not auf seeuntaugliche Boote begeben. Gegenwärtig stirbt jede 23. Person, die sich per Boot nach Europa aufmacht. Das Unglück vor Lampedusa im Oktober 2013 mit mindestens 366 Toten schockierte die europäische Öffentlichkeit und schien die Politik aufzurütteln. An der skandalösen Agenda an den EU-Außengrenzen änderte sich wenig. Einzig die von der italienischen Marine koordinierte Operation »Mare Nostrum« war ein Hoffnungsschimmer. Sie rettete zwischen Oktober 2013 und Oktober 2014 etwa 177.000 Menschen aus Seenot – ein bisher beispielloser humanitärer Einsatz, der von Italien allein finanziert wurde und deshalb auslief. Das Mandat erstreckte sich bis zu den libyschen Küstengewässern, wo die meisten Boote verunglücken. Seither ist die europäische Grenzschutzagentur Frontex mit der Seenotrettung betraut. Deren Operation »Triton« ist aber auf das Einsatzgebiet der italienischen und maltesischen Küstenregionen beschränkt. Zudem liegt der Schwerpunkt von Frontex auf Grenzschutz und Bekämpfung irregulärer Migration. Der Beschluss der EU-Staats- und Regierungschefs auf ihrem Sondergipfel am 23. April 2015, mehr Geld für »Triton« zur Verfügung zu stellen, wird das dramatische Sterben auf dem Mittelmeer nicht stoppen. Gerade angesichts der steigenden Zahl von Flüchtlingen ist die politische Stoßrichtung, die auf mehr Abschottung und Bekämpfung der Schleuserkriminalität setzt, zynisch. Ein Paradigmenwechsel in der europäischen Flüchtlingspolitik ist mehr als überfällig: Es braucht eine gemeinsame europäische Seenotrettung – und sichere und legale Wege für Flüchtlinge nach Europa. Die italienische Marine könnte innerhalb von drei Tagen eine »Mare Nostrum« vergleichbare Rettungsaktion starten … Franziska Vilmar ist Expertin für Asylpolitik der deutschen Amnesty-Sektion

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Ziel unten im Tal und bleiben dort, wo die Wege auf den Berg führen, im Schatten der Kiefern stehen. Banditen, flüstern sie oben und schweigen dann. Ein Freund Melilla Mohamed Djims ist vor zwei Tagen spätnachts angekommen. Jetzt liegt er in einem Zelt mit aufgeplatzter Unterlippe, fluchend, ohne Geld, das Handy gestohlen. Drüben im Ghetto der Kongolesen stehen jetzt Wachen. Die Banditen hatten sich dort vor ein paar Tagen als Schlepper ausgegeben. »Wir besitzen ein gutes Boot«, haben sie gesagt, »es gibt noch Platz für einige Leute.« Sechs Männer und vier Frauen aus dem Camp ließen sich überreden. Sie fuhren in den beiden weißen Mercedes mit, doch die Fahrer stoppten nach einigen Kilometern. Alle mussten sich nackt ausziehen, die Männer wurden verprügelt, die Frauen vergewaltigt. Das ist das Leben in den Bergen vor Europa. Mohamed Djim geht es nicht gut. Manchmal telefoniert er mit seiner Mutter in Gambia. »Ist alles in Ordnung?«, fragt sie, »klar«, lügt er dann. Vor drei Monaten ist sein Vater gestorben. Es macht ihn traurig, dass er nicht einmal das Geld hatte, zur Bestattung nach Hause zu reisen. »Ich wünsche mir nicht viel«, sagt er. Etwas lernen, eine Arbeit, ein bisschen Geld, mit dem er seine Mutter unterstützen kann. Hin und wieder schickt ihm ein Freund, der in Bremen lebt, einen kleinen Geldbetrag. Aber dann gibt es wieder Wochen, da geht er gar nicht ans Telefon. Mohamed versteht das. Er sagt, der Freund aus Bremen hat sein eigenes Leben, er kann nicht immer nur helfen.

Gebrochene Beine, Kopfverletzungen Es sind eigentlich nur noch wenige Kilometer nach Europa. Aber es ist ein unglaublich langer Weg bis dahin. Es könnte so einfach sein, gäbe es diesen Zaun in Melilla nicht. Er ist längst viel mehr als eine Grenze. Er ist eine Verteidigungsanlage mit rasiermesserscharfen Klingen, die Menschen nicht nur stoppt, sondern bereits jeden Versuch schmerzhaft sanktioniert. Der Zaun ist Hindernis und Bestrafung zugleich. Mehr als sechs Meter hoch,

Eigentlich sind es nur wenige Kilometer bis Europa. Aber es ist ein unglaublich langer Weg bis dahin. 12,5 Kilometer lang, drei Barrieren, umwickelt mit Nato-Draht und seit einiger Zeit mit speziellem Gitter verstärkt, das es unmöglich macht, mit Fingern oder Füßen Halt zu finden. Mehr als 300 Polizisten bewachen ihn allein auf spanischer Seite. Der Zaun in Melilla ist Europas deutlichstes Signal an die Außenwelt, dass es für sich bleiben will. Manchen gelingt der Sprung über den Zaun aber doch. Alle paar Wochen stürmen sie los. Manchmal zu Hunderten, weil sie nur so die Grenzpolizisten überrumpeln können. Mehr als 1.000 haben es allein am 28. Mai 2014 versucht, 400 kamen durch. Die Bilder gingen um die Welt und es gab Politiker, die sprachen von einer Invasion und von einem Sturm auf Europa. Aber die Aufnahmen sind trügerisch. Im vergangenen Jahr ist es insgesamt 2.100 Menschen gelungen, die Barriere zu überwinden. Was sind 2.100 bei insgesamt mehr als 50 Millionen Menschen, die laut UNHCR derzeit auf der Flucht sind. Europa lässt die schmutzige Arbeit von Marokko erledigen. Mit mehr als 70 Millionen Euro unterstützte die EU in den vergangenen zehn Jahren Marokko durch die Programme »Meda« und »Aeneas«. Damit finanzierte das Königreich den Kampf gegen illegale Einwanderung. Das Geld wurde in den Ausbau der Grenzen, in die Überwachung durch Satelliten und in Rückführprogramme gesteckt. Dort, wo die Hightechgrenze die Flüchtlinge nicht stoppen kann, rücken die Grenzpolizisten aus. Mit Schlagstöcken und Steinen drängen sie die Menschen zurück. Human Rights Watch spricht in einem Bericht vom vergangenen Jahr von exzessiver Gewalt. Ärzte ohne Grenzen zog sich im vergangenen Jahr auch aus Protest gegen die zunehmende Brutalität der Sicherheitskräfte aus der Region zurück. Immer

Mohamed Djim. Er möchte etwas lernen, eine Arbeit, ein bisschen Geld. Sosis. Sie hofft auf eine Karriere als Sängerin.

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wieder wird von Menschenrechtlern beobachtet, wie spanische Beamte Flüchtlinge den marokkanischen Polizisten übergeben, ohne zu prüfen, ob sie Anspruch auf Schutz hätten. »Heiße Abschiebung« heißt dies. Es ist ein klarer Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Deshalb musste sich auch der Chef der spanischen Guardia Civil im Herbst 2014 vor Gericht verantworten. Aber es gab keinen Aufschrei der Entrüstung. Im Gegenteil: Die spanische Regierung hat inzwischen eine Gesetzesänderung vorgeschlagen, die solche Abschiebungen legalisiert. In diesen Monaten, in denen die Polizisten offenbar so gnadenlos auf die Flüchtlinge einprügeln wie seit Langem nicht mehr, ist Jesuitenpater Esteban Velázquez ein gefragter Mann. Es gibt nicht so viele, die sich auf marokkanischer Seite um die Menschen in den Bergen kümmern. Sein Büro ist ein Hinterzimmer der Kirche Santiago el Mayor in Nador am Fuß der Afra-Berge. Gerade erst hatte er Besuch aus Deutschland. »Wie war gleich der Name?« Er kramt nach einer Visitenkarte. Rupert Neudeck steht drauf. »Kennt man den in Deutschland?« Der Botschafter aus dem Kongo hat sich für morgen angekündigt. Es geht um die Vergewaltigung der Frauen aus dem Kongo in den Bergen. Der Besuch ist Velázquez wichtig, weil der Fall Kreise ziehen könnte und am Ende vielleicht doch noch Täter gefunden werden. »Es darf keine Straffreiheit geben bei solchen Vorfällen.« Aber der Botschafter, so wird sich später herausstellen, ist gar kein Botschafter. Ein Missverständnis. Es ist der Sprecher einer Gemeinde der Kongolosen. Und am Ende werden sie sich gar nicht treffen. Pater Velázquez hat Anfang des Jahres ein Gesundheitsprojekt von Ärzte ohne Grenzen übernommen. Es ist nicht so, dass sich die marokkanische Regierung dafür besonders dankbar zeigt. Velázquez’ Arbeit wird mit Argwohn beobachtet. Es heißt, dass draußen im Café gegenüber immer zwei Leute sitzen, die notieren, wer bei ihm ein- und ausgeht. Velázquez bringt nicht nur Medikamente in die Berge, er hat auch Decken und Plastikplanen für die Unterkünfte dabei. Das gefällt nicht jedem. Es wird ihm vorgeworfen, dass er deshalb mitverantwortlich dafür sei, dass die Afrikaner in den Bergen lebten. »Aber es ist kalt, sie frieren«, sagt er. »Was soll ich tun?« So hat er bis heute keine offizielle Genehmigung für seine Arbeit erhalten, sagt er, und wenn er den Berg besucht, ist er mit seiner Gruppe stets vom Wohlwollen der Soldaten abhängig.

Velázquez sagt, dass er nur das wiedergibt, was ihm Flüchtlinge über die Gewalt der Polizisten erzählen. Er sieht die Verletzungen nach den gescheiterten Grenzübertritten, die gebrochenen Beine, kaputten Kniegelenke, die Kopfverletzungen. »Es ist erschreckend, was wir hier behandeln lassen müssen.« Dabei könnte es doch so einfach sein, die Gewalt zu stoppen, sagt er. »Warum werden keine humanitären Beobachter an der Grenze eingesetzt?« Die EU investiere doch viel Geld zur Sicherung der Grenze. »Warum wird nicht auch Geld für die Wahrung der Menschenrechte ausgegeben?« Neulich hat Velázquez’ Team die Ghettos in den Bergen kartografiert. Das hilft ihm allein aus praktischen Gründen bei der Verteilung der Hygienekits und der Plastikplanen. Sie haben in den zwölf Camps in der Afra-Region um Nador rund 600 Menschen gezählt. Die Zahlen für den Berg Gourougou vor Melilla liegen noch nicht vor. Aber es sind zuletzt weniger geworden. Velázquez sagt, dass es an dem verstärkten Zaun liegt. Vor allem Kriegsflüchtlinge aus Mali würden deshalb derzeit auf andere Routen ausweichen. Immer mehr suchen nun den Weg über das Mittelmeer von Libyen nach Italien.

Gift. Sie träumt davon, Friseurin in Europa zu werden.

Favour. Die Nigerianerin möchte Modedesignerin werden.

MIT ALLEN MITTELN

Einsamer Helfer. Jesuitenpater Esteban Velázquez.

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Verschollen Wenn Flüchtlinge auf See sterben, werden ihre Leichname selten identifiziert. Angehörige fahnden oft erfolglos nach den Vermissten. Auf Spurensuche in Tunesien. Von Dietmar Telser (Text) und Benjamin Stöß (Fotos)

Angeschwemmte Leichen werden in der Wüste begraben. Der Hafen von El Ktef, Tunesien, nahe der libyschen Grenze.

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Was von Mohamed blieb. Die Tunesierin Fatuna Misrati vor dem Bild ihres verschollenen Sohnes.

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ie Nacht, in der Mohamed aus den Träumen seiner Mutter verschwindet, ist klar, und das Meer liegt in windstiller Finsternis. »Ich bin auf einem Boot, ich fahre nach Italien«, lässt Mohamed über das Telefon ausrichten, »ich melde mich, sobald ich angekommen bin«. Aber Mohamed, 23, ruft am nächsten Morgen nicht an. Er wird sich auch in den folgenden Tagen nicht melden. Fatuna Misrati ahnt, dass etwas geschehen ist. Denn es ist die Zeit, in der sie aufhört, von ihrem Sohn zu träumen. Aber sie denkt, das Meer kann sprechen, es würde ihr doch sagen, wenn es ihr den Sohn genommen hat. Dreieinhalb Jahre später sitzt Fatuna Misrati in ihrer Wohnung in der tunesischen Hafenstadt Sfax und stützt sich auf ein gerahmtes Bild Mohameds. Es zeigt ihren lächelnden Jungen mit einer Baseballkappe. Der goldene Holzrahmen ist groß und sperrig. Sie hat das Bild auf den kleinen Tisch in der Küche gestellt. Sie klammert sich regelrecht daran, als wolle man ihr auch das noch wegnehmen. Aus der Küstenstadt hatten sich in den Monaten des »Arabischen Frühlings« 2011 Tausende auf den Weg nach Italien gemacht. 28.000 Menschen legten nach Angaben der italienischen Behörden allein von Tunesien aus ab. Mehr als 1.500 starben auf der Überfahrt. Von manchen der mit Menschen vollgepferchten Fischkutter fehlt bis heute jede Spur. Die Mütter von Sfax aber wollen das nicht glauben. Da ist Suad, die um ihren Sohn trauert. In der Nacht des 29. März 2011 hat er noch vom Boot aus angerufen und sie um Entschuldigung gebeten, weil er sie alleinlasse. Da ist Hamida, die ihren

MIT ALLEN MITTELN

Hafar nicht daran hindern konnte, sein Motorrad zu verkaufen, um sich damit die Fahrt zu finanzieren. »Bete für mich«, sagte er, auch er rief um 3 Uhr nachts vom Boot aus an und meldete sich dann nie mehr wieder. Und da ist Yasmine, die sagt, dass sie ihren Ramzi noch vier Tage lang nach dieser Nacht immer wieder am Telefon anrief, aber am Ende der Leitung nur italienisches Stimmengemurmel hörte. Bevor das Telefon schließlich für immer verstummte. Das Sterben auf dem Meer ist ein leiser Tod. Wenn Flüchtlingsboote sinken, werden kaum Nachforschungen angestrengt, Verantwortliche werden selten zur Rechenschaft gezogen, Leichen nur in Ausnahmefällen identifiziert. Nicht einmal die Zahl der Toten wird von einer offiziellen Stelle notiert. NGOs, Aktivisten und Journalisten haben deshalb Daten aus Archivberichten zusammengetragen. Auf mehr als 25.000 Tote und Vermisste seit dem Jahr 2000 kommt etwa »The Migrant Files«, die Datenbank, die Statistiken der Organisation »United for Intercultural Action« und des italienischen Journalisten Gabriele del Grande zusammenfasst. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch das Boot Mohameds niemals in Italien ankam. Aber da gibt es diese Bilder aus einem Bericht des italienischen Senders »Canale 5«. Sie zeigen die Ankunft eines Flüchtlingsbootes auf Lampedusa. Mehrere Mütter sind sich sicher, ihre Söhne auf den Fernsehbildern erkennen zu können. Auch Fatuna Misrati sieht auf den Aufnahmen ihren Mohamed. Aber was ist dann mit ihnen geschehen? Warum melden sie sich nicht? Warum rufen die Söhne ihre Mütter noch vom Boot aus an und dann nie wieder? Selbst wenn Ita-

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Tunis

lien bei der Registrierung nachlässig ist, wie wahrscheinlich ist es, dass ein Sfax ganzes Boot von Flüchtlingen nach der Ankunft verschwindet? Oder ist doch Medenine alles nur ein Trugbild? Die Mütter glauben nicht, dass sie sich bei den Aufnahmen täuschen. Sie erzählen von Abschiebegefängnissen, in denen ihre Söhne vermutlich festgehalten würden, sie deuten Verbrechen der Mafia an, aber für keine der Versionen gibt es Anhaltspunkte. Vor zwei Jahren überprüfte die italienische Regierung 226 Namen und Fotos von vermissten Bootsflüchtlingen. Nur fünf Namen standen in den Ankunftsregistern der Behörden. Fatuna Misrati möchte Gewissheit, was mit ihrem Sohn geschehen ist. Aber niemand kann ihr eine Antwort geben. Die tunesische Regierung nicht, die NGOs nicht, die sich für die Mütter schon eingesetzt haben. Selbst den Schmuggler aus dem Ort hat sie mehrmals zur Rede gestellt und nichts als vage und widersprüchliche Antworten erhalten. Es ist paradox: Das Mittelmeer gilt als eine der meistbefahrenen Routen der Welt, kaum ein Meer wird so lückenlos überwacht. Drohnen und Helikopter überfliegen die Region, Kriegsschiffe patrouillieren vor den Küsten, Fracht- und Passagierschiffe queren die See. Und trotzdem verschwinden Boote, ohne dass es bemerkt wird, trotzdem sterben Tausende Menschen, ohne dass sie gerettet werden können. El Ktef

Notrufnummer für Bootsflüchtlinge Der Wissenschaftler Charles Heller, 33, kann das nicht nachvollziehen. Er lebt mit seiner Familie in Le Kram, einem Vorort von Tunis. Es sind von dort nur wenige Minuten zum Strand. Im Sand spielen Kinder, einige Einheimische baden, am Horizont haben Frachtschiffe festgemacht, das Kreuzfahrtschiff »Costa Musica« zieht auf seinem Weg nach Mallorca vorbei. »Das Meer ist eine pulsierende Ader«, sagt Heller. Frachtschiffe und Personenfähren bewegten sich darauf frei und dennoch sei es zugleich ein gewaltiger Filter. »Die Mehrheit der hier Badenden

Überfordert. Mongi Slim, örtlicher Präsident des Roten Halbmonds.

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hat keine Möglichkeit, das Meer zu überqueren.« An diesem so friedvoll wirkenden Szenario, will Heller sagen, zeigt sich die eigentliche tiefgreifende Gewalt der Grenzen Europas. Charles Heller wuchs in Genf und den USA auf. Er studierte an der Goldsmiths-Universität in London und forscht am Lehrstuhl für forensische Architektur. Die forensische Architektur versucht, anhand der Analyse von Schäden an Gebäuden oder Räumen Kriegsverbrechen aufzuklären. Heller beschäftigte sich in seinem Projekt mit einem Teilgebiet davon, der forensischen Ozeanografie. In seiner Masterarbeit rekonstruierte er mit digitalen Karten, Windströmungen, Satelliteninformation, Rettungszonen sowie Zeugenaussagen ein Bootsunglück aus dem Jahr 2011. Zwei Wochen trieb ein Schlauchboot mit mehr als 70 Menschen hilflos durch das Mittelmeer. Immer wieder sendete es erfolglos Notrufe. Am Ende überlebten nur neun Flüchtlinge die Fahrt. Hellers Team recherchierte, dass die Nato die Notsignale empfangen und weitergegeben hatte, aber kein Schiff darauf reagierte. 40 Kriegsschiffe waren zu diesem Zeitpunkt im Mittelmeer stationiert, mehrere Helikopter und Schiffe lagen laut Rekonstruktion in unmittelbarer Nähe des Flüchtlingsbootes. Der Fall des Flüchtlingsbootes war die Grundlage für das Projekt »Watch the Med« im Jahr 2012. Seither sammelt die Plattform Informationen über Bootsunglücke. »Watch the Med« geht allerdings noch einen bedeutenden Schritt weiter. Die Plattform stellt auch die Frage nach der Verantwortung. »Wenn ein Kreuzfahrtschiff wie die ›Costa Concordia‹ havariert, beschäftigen sich Gerichte über Jahre mit der juristischen Aufarbeitung«, sagt Heller. »Für gesunkene Flüchtlingsboote interessiert sich kaum jemand.« »Watch the Med« rekonstruiert die Bootsfahrten und erstellt anhand der digitalen Daten Bewegungsbilder. Am Ende schlägt »Watch the Med« die staatlichen Akteure mit deren eigenen Mitteln: Der zur Flüchtlingsabwehr hochüberwachte Mittelmeerraum liefert Daten, die zur Grundlage für Anzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung führen. Das aber reicht den Experten um Charles Heller nicht. In Zukunft sollen Unglücke verhindert werden. Im Oktober wurde gemeinsam mit einem Netzwerk aus Aktivisten eine Notrufnummer für Bootsflüchtlinge freigeschaltet. So werden bei einem Notfall Mitarbeiter und Aktivisten alarmiert, die nicht nur Rettungskräfte informieren, sondern auch die Koordinierung des Einsatzes überwachen. Denn in den vergangenen Jahren war

Idyllisch. Le Kram, ein Vorort von Tunis.

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es immer wieder wegen unklarer Zuständigkeiten und Kompetenzen zu verspäteten Rettungsaktionen gekommen. Reagieren Marineschiffe oder Küstenwache nicht rechtzeitig, werden die Medien informiert. »Dann machen wir Krach«, sagt Heller. So will »Watch the Med« nicht nur die Staaten zur Rechenschaft ziehen, sondern langfristig auch auf die Politik einwirken. Für Heller bleibt dennoch ein Grundproblem der europäischen Politik bestehen: »Wir können uns nicht damit rühmen, Menschen gerettet zu haben, wenn es unsere Politik ist, die Menschen in den Tod treibt. Das ist doch ein Widerspruch in sich.«

Beste Bedingungen für Kriminelle Inzwischen aber geht das Sterben weiter. 485 Kilometer weiter südlich sitzt Dr. Mongi Slim in der Lobby des Hotel El Kssour in Medenine und telefoniert. Er ist ein freundlicher, rastloser Mensch, einer, der ungünstige Augenblicke weglächeln kann. Er verschwindet kurz während des Gesprächs, weil er noch jemandem etwas versprochen hat, und ist dann wieder zurück: »Wo waren wir stehen geblieben?« Dann klingelt wieder eines der beiden Telefone. Mongi Slim ist Apotheker und der Präsident des Roten Halbmondes in der Region. Er ist somit auch zuständig für das Grenzgebiet zu Libyen. In Libyen zerfallen gerade die wenigen staatlichen Institutionen. Es sind die besten Arbeitsbedingungen für Kriminelle und Schmuggler. Viele syrische Flüchtlinge fliegen von Istanbul, Kairo oder Beirut in das visumfreie Algerien, durchqueren den Süden von Tunesien und erreichen Zuwarah gleich hinter der Grenze in Libyen. Dort steigen sie auf Flüchtlingsboote. Manchmal, wenn der Wind von Osten weht, treibt er die Flüchtlingsboote an die tunesische Küste. Sechs Boote strandeten im vergangenen Sommer und mit ihnen Flüchtlinge, die überall hin wollten, nur nicht nach Tunesien. In Medenine wurden gerade Flüchtlinge aus dem Sudan, Somalia und Eritrea in einem Studentenwohnheim einquartiert. Der Bootsmann hatte sich als Kapitän ausgegeben, um sich das Geld für die Passage zu sparen. Erst auf See zeigte sich, dass er nicht navigieren konnte. Nach 20 Stunden, in denen sie kaum vorangekommen waren, erbarmte sich die Küstenwache und zog sie an Land. Jetzt stecken sie fest. Wenig später strandeten weitere 15 Flüchtlinge. Sie wurden im Hafen von Zarzis untergebracht, jetzt aber möchte die Hafenbehörde sie loswerden. Mongi Slim muss eine Bleibe finden, deshalb die ganzen Anrufe.

»DER ZAUN« Die beiden Journalisten Dietmar Telser und Benjamin Stöß folgten für diese Recherche drei Monate lang den außereuropäischen Grenzen. Sie sprachen mit Flüchtlingen, Grenzpolizisten und Aktivisten in Bulgarien, Griechenland, Italien, Tunesien, Marokko und der Türkei. Daraus ist die Multimedia-Reportage www.der-zaun.net entstanden. Unterstützt wurde die Recherche unter anderem durch Crowdfunding. Dietmar Telser, geboren 1974, aufgewachsen in Südtirol, Studium in Wien, Göttingen und Hamburg, ist als Politikredakteur bei der »Rhein-Zeitung« in Koblenz angestellt. Für die Realisierung des Projektes nahm er eine berufliche Auszeit. Benjamin Stöß, geboren 1978 in Kamp-Lintfort, Absolvent der Kunsthochschule für Medien in Köln, ist freiberuflicher Bildjournalist und arbeitet am Käte Hamburger Kolleg »Recht als Kultur« in Bonn.

Doch Mongi Slim hat noch einen Job. Wenn der Wind dreht, treibt er manchmal nicht nur Boote an die Küste, sondern auch die Toten der gescheiterten Fluchten. Die Helfer des Roten Halbmonds waren draußen am Strand, als Leichen des Bootsunglücks vom 24. August 2014 angeschwemmt wurden. Die Nationalgarde hatte um Hilfe gebeten. Sie benötigten ein Schlauchboot und Leichensäcke. Mehr als 100 Menschen waren ertrunken, als das überfüllte Boot 20 Meilen vor der libyschen Küste kenterte. Am ersten Tag fanden die Helfer drei Tote am Strand. Am zweiten Tag trieben fast 30 Leichen im Wasser. Die Helfer vom Roten Halbmond holten die Leichen aus dem Wasser. Die Nationalgarde fand auch Pässe und Dokumente. Manche waren von Überlebenden, andere klebten eingeschweißt in Plastikfolie an den Toten. Die Pässe wurden alle zusammen einfach in eine Tüte gesteckt. Somit wurde die letzte Chance einer Identifizierung unmöglich gemacht. Beim Roten Halbmond ist man nicht glücklich darüber. Aber im postrevolutionären Tunesien sind die Prioritäten der Behörden andere. Dr. Mongi Slim hat jetzt eine Liste mit 26 Namen. Es sind die Namen derjenigen, deren Pässe und Dokumente gefunden wurden. Aber sie haben keine Aussagekraft mehr. Er erhält nun Anrufe und E-Mails aus der ganzen Welt. Sie schicken Bilder und wollen wissen, ob ihre Angehörigen unter den Toten sind. Mongi Slim zeigt ein Foto auf seinem Handy. Ein glückliches Paar im Flugzeug, vermutlich auf dem Weg nach Algerien. Er zuckt die Schultern. Es existieren einige Aufnahmen von Leichen, aber die Toten sind nach den Tagen im Meer nicht mehr wiederzuerkennen. Mongi Slim schüttelt den Kopf: »Was soll ich machen?« Die Toten wurden längst bestattet. Am Strand vom Hafen El Ktef an der Grenze zu Libyen liegen sie begraben. Ein weggeworfener Mundschutz, einige leere Wasserflaschen der Helfer und die Reifenspuren des Lkw, der die Toten abgeladen hat, sind die einzigen Hinweise auf die Grabstelle. Mehr als 40 Leichen wurden beigesetzt, der Boden wurde eingeebnet. Es wurden keine DNA-Proben genommen und auch keine Fingerabdrücke. Beim Roten Halbmond überlegt man, einen Hinweis anzubringen. Aber ohne Namen? Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

Gestrandet. Flüchtlingsheim in Medenine, Tunesien.

MIT ALLEN MITTELN

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Kein Vorbeikommen. Neuer Grenzzaun bei Golyam Dervent, Bulgarien.

Die Landesverteidigung Wenn Flüchtlinge Bulgarien erreichen, haben sie die EU-Außengrenze überwunden. Doch angekommen sind sie noch lange nicht. Von Dietmar Telser (Text) und Benjamin Stöß (Fotos)

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ikolai Alexandrov Tchirpanliev weiß, dass ihm dieser Termin wieder Ärger bringen wird. Er hat ihren letzten Bericht gelesen, auch den davor und es ist wahrscheinlich, dass die Besucher auch dieses Mal wenig Nettes über seine Behörde schreiben werden. Wieder wird es heißen, dass sein Amt mit der Flüchtlingssituation überfordert sei, dass es nicht in der Lage sei, würdevolle Unterkünfte bereitzustellen, überhaupt, dass die Bedingungen in Bulgarien für Menschen auf der Flucht nicht zumutbar seien. Tchirpanliev weiß, sie sind hier, um noch mehr Schwachstellen in seinem System zu finden. Und dennoch will er die beiden Referenten von Amnesty International heute empfangen. Tchirpanliev ist 57 Jahre alt, hemdsärmelig und jovial, einer der nie zu lange nachdenkt, bevor er spricht. Er leitet seit Oktober 2013 die staatliche Flüchtlingsagentur Bulgariens. Flüchtlinge, die die EU-Außengrenze überwunden haben, werden in der Regel mit seiner Behörde konfrontiert: Registrierung, Unterkünfte, Asylanträge – für all das ist sein Amt zuständig. Seine Behörde ist oft die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge in der EU. Und sie ist, so finden viele, kein besonders ehrenwertes Aushängeschild für Europa. Am Nachmittag sitzt Tchirpanliev mit den Besuchern von Amnesty International in seinem Büro. Sie haben einen Dolmetscher mitgebracht. Auch Tchirpanliev hat eine Übersetzerin dabei, als würden sie nicht einmal den Dolmetschern trauen. Der Amnesty-Programmleiter für Europa und Zentralasien ist aus London angereist und nennt zum Gesprächsauftakt eine inaktuelle Statistik. Sofort wird er von Tchirpanliev korrigiert. Seine Kollegin lässt ein Exemplar des neuen Amnesty-Reports über den Tisch rutschen. Sie hat dem Bericht versehentlich etwas zu viel Schwung gegeben. Viel zu schnell schlittert er über die Tischplatte auf Tchirpanliev zu. Als wolle sie ihn provozieren. Es ist ein denkbar schlechter Beginn für das Gespräch. »Ich kenne den Bericht«, sagt Tchirpanliev und lässt ihn wie ein schmutziges Tuch vor sich liegen. »Wir haben uns bereits einmal getroffen, wir haben viele Dokumente übergeben«, sagt er, »wir machen das auch gern weiterhin.« Es ist ein höflicher Satz, aber er

Ehemaliger Soldat. Nikolai Tchirpanliev, Präsident der Flüchtlingsbehörde.

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spricht ihn in einem Tonfall aus, als meine er das Gegenteil. Tchirpanliev ist zurückhaltend, er lächelt nicht, er ist ungewöhnlich schmallippig. Jede Frage der Amnesty-Referentin ist ein charmant verkleideter Vorwurf, den sie mit einem unschuldigen »just for clarification« einleitet. Just for clarification: Wie viele Asylanträge wurden bisher von Ihrer Behörde bearbeitet? Just for clarification: Welche Möglichkeiten haben Flüchtlingskinder, um am Schulunterricht teilzunehmen? Just for clarification: Wie viele Sozialarbeiter sind in den Flüchtlingsunterkünften beschäftigt? Tchirpanliev lässt dann seine Kollegen aus der Statistikbehörde rufen. Sie notieren die Fragen wie Kellner, die eine Bestellung aufnehmen, und verlassen wieder den Raum. Tchirpanlievs Antworten selbst sind allgemein und ungenau. Alle dürfen zur Schule gehen, sagt er, es gebe genug Sozialarbeiter. Und einmal: »Glauben Sie doch nicht alles, was Ihnen Flüchtlinge erzählen.« Zum Abschied sagt er: »Unsere Flüchtlingszentren sind offen, ich würde mich freuen, wenn Sie eines besuchen würden.« Es hört sich wie ein Rausschmiss an. Erst im abschließenden, etwas oberlehrerhaften Monolog des Amnesty-Gesandten finden sie überraschend doch eine Gemeinsamkeit. Als der die DublinRegeln kritisiert, hebt Tchirpanliev zustimmend den Daumen.

Die Dublin-Verordnung ist eine Katastrophe Es wäre zu einfach, den Dublin-Regeln die Schuld für Bulgariens Probleme bei der Flüchtlingsaufnahme zu geben. Aber die Verordnung macht es der Behörde nicht einfacher, ihre Aufgabe zu erfüllen. Die Dublin-Verordnung legt fest, dass Flüchtlinge, die nach Europa kommen, ihren Asylantrag in dem Land der EU stellen müssen, das sie als Erstes betreten. Wer nicht das Glück und das Geld hat, mit einem gefälschten Reisepass oder einem Touristenvisum nach Europa einzureisen, muss den Land- oder Seeweg nehmen – und die führen durch die EU-Krisenländer Griechenland, Italien oder eben Bulgarien. Werden Menschen auf der Flucht in Bulgarien registriert, müssen sie dort auch bleiben. Keine Behörde interessiert es, ob Verwandte oder Freunde in Frankreich oder England auf sie warten. Und niemand fragt, welche Sprachen oder Fertigkeiten sie beherrschen. Die Dublin-Verordnung scheint wie gemacht für die Staaten Mitteleuropas, sie ist wie ein zweiter Verteidigungsring der »Festung Europa«, und sie ist eine Katastrophe für Länder wie Bulgarien. Das Land hat kaum finanzielle Mittel, um Flüchtlinge adäquat zu versorgen. Bulgarien steht vor dem Staatsbankrott, die Arbeitslosenquote ist hoch, seit mehr als zwei Jahren kommt es zu sozialen Unruhen. Bulgarien muss Flüchtlinge aufnehmen, die das Land nicht haben will – und die in vielen Fällen gar nicht von diesem Land aufgenommen werden wollen. Das sind ziemlich schlechte Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration. Die Folgen zeigten sich besonders deutlich 2013. In nur einem Jahr war die Zahl der Asylbewerber in Bulgarien von 1.387 auf 7.144 gestiegen. Wahrscheinlich waren es noch deutlich mehr. Viele überquerten die Grenze, ohne entdeckt zu werden. Die wenigen Flüchtlingsunterkünfte waren schnell belegt. Neuankömmlinge wurden zum Teil in Zelten untergebracht, andere teilten sich zu zehnt einen Raum. Die Zimmer waren verdreckt, die Bäder und Toiletten in einem beschämenden Zustand. Gleichzeitig erschütterten Massenproteste das Land und lähmten die Regierung. Zehntausende Menschen zogen Tag für Tag durch Sofias Innenstadt und forderten eine Reform des politischen Systems und ein Ende der Korruption. Mit den steigenden

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»Soldaten sind die Richtigen für diesen harten Job, nur sie können mit diesem Stress umgehen.« Flüchtlingszahlen trat auch die Fremdenfeindlichkeit offen zutage. Ganze Dörfer wehrten sich gemeinsam gegen die Aufnahme syrischer Familien, in Sofia patrouillierten Anhänger rechter Parteien und schikanierten Einwanderer. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR gab Anfang 2014 eine seltene Empfehlung an EU-Länder aus. In ein Land mit solchen Zuständen sollten Flüchtlinge nicht zurückgeschickt werden. Das UNHCR sprach von systematischen Mängeln bei den Asylverfahren und der Aufnahme von Asylbewerbern. Auch von »unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung« war die Rede. Human Rights Watch und Amnesty International stellten dem Land ebenfalls ein vernichtendes Zeugnis aus. Daraufhin reagierte die Regierung endlich: Die Unterkünfte wurden mit EU-Geldern saniert, Tchirpanliev erhielt deutlich mehr Personal. Statt 80 Mitarbeitern arbeiten inzwischen mehr als 300 in der Flüchtlingsagentur. Die Regierung kündigte ein Integrationsprogramm an. Selbst Flüchtlingsorganisationen lobten verhalten die Fortschritte. Das UNHCR-Büro in Sofia stellte im April 2014 fest: »Wir müssen anerkennen, dass Bulgarien große Fortschritte gemacht hat.« Als sich Nikolai Tchirpanliev wenig später mit der UNHCRMitarbeiterin Petya Karayaneva trifft, ist er nicht wiederzuerkennen. Er ist jetzt freundlich und gelassen und spricht über die UNO-Organisation, als hätte es niemals Differenzen gegeben. Tchirpanliev schimpft über die »Lügner« von Human

Elend im Quadrat. Flüchtlingsunterkunft in Sofia, Bulgarien.

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Rights Watch und Amnesty International und lobt die »konstruktive PartnerGolyam Dervent schaft« mit dem UNHCR. Sofia »Wir wollen jetzt schnell ein Integrationsprogramm umsetzen«, sagt Tchirpanliev. Das bisherige Integrationsprogramm lief Ende 2013 aus. Anerkannte Flüchtlinge leben seither ohne jede Integrationsperspektive. Es gibt kaum Sprachkurse in den Flüchtlingsheimen, Unterstützung bei der Arbeitssuche ist nicht ausreichend gewährleistet und es ist beinahe aussichtslos, eine Unterkunft zu finden.

Lieber im Krieg sterben, als wie ein Tier leben müssen Man muss ins Hotel Ritz fahren, um zu sehen, was das heißen kann. Das Ritz ist kein Hotel. Es ist ein nie fertiggestellter Rohbau eines Gebäudes am Rande Sofias. Sie nennen es auch FünfSterne-Hotel. Aber es sind nicht mehr als drei Etagen nackter Beton. Unten bewacht Trajan mit zwei Hunden das Gebäude. Die zweite Etage haben Flüchtlinge bezogen. Der Wind zieht durch die Fensteröffnungen. Auf dem Boden liegen Unterwäsche, Plastikflaschen, Exkremente. Die Wände erzählen von den Träumen der Bewohner. Eine nackte Frau. Bibelsprüche. In einem nach außen offenen Raum hat jemand eine riesige Sonne gemalt. »Hello Sunshine!« Und in einem anderen Raum: »I will never stop my journey half way until I reach my home.« Djibi hat einen kleinen Raum ohne Fensteröffnung bezogen. Eine Wolldecke ersetzt die Tür. Djibi stammt aus Mali. Seit drei Monaten lebt er hier. »Ich bin wütend auf mich«, sagt er. »Hätte ich gewusst, dass sie uns hier wie Tiere behandeln, wäre ich zu Hause geblieben. Ich wäre lieber daheim im Krieg gestorben.« Eigentlich sind es nur wenige Meter zum Flüchtlingsheim Ovcha Kupel. Aber Djibi sagt, dass dort kein Platz für ihn sei. Immer wieder habe er Anträge gestellt. Zuletzt soll ihm sogar ein Anwalt ein Papier geschrieben haben, dass er keinen Ort zum Schlafen habe und nicht wisse, wovon er leben solle. Aber er habe darauf nie eine Antwort erhalten. »Ich weiß nicht, wahrscheinlich haben sie mein Schreiben irgendwo hingelegt und vergessen.« Er hat selbst versucht, heimlich in das Flüchtlingsheim zu gelangen. Djibi versteckte sich unter einem Bett, aber er wurde entdeckt. »Sie haben mir gesagt, dass sie mich das nächste Mal ins Gefängnis nach Busmantsi bringen werden.« Drüben im Flüchtlingsheim streiten sie das ab. Djibi verflucht den Tag, an dem er nach Bulgarien kam. Er steckt jetzt fest. Wenn er weiter nach Mitteleuropa will, muss er wieder einen Schlepper bezahlen. Serbien, Ungarn, dann weiter. Aber allein bis Belgrad verlangen die Schleuser 1.000 Euro. Djibi ist 25 Jahre alt, er will lernen, studieren, er möchte Anwalt werden. »Das ist mein Traum«, sagt er. »Aber jetzt sitze ich hier, mache nichts, warte.« In der Flüchtlingsbehörde von Ex-Soldat Tchirpanliev will man von solchen Fällen nichts wissen. Jeder finde eine Unterkunft, wenn er will, sagt Tchirpanliev. Eigentlich müssten Asylbewerber die

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Hotel Ritz. Die Flüchtlinge nennen ihre provisorische Unterkunft in diesem Rohbau bei Sofia zynisch »Fünf-Sterne-Hotel«.

Heime nach einer Entscheidung über ihren Antrag innerhalb von zwei Wochen verlassen. »Aber wir lassen sie weiter darin wohnen.« Das muss man nicht als Geste der Menschlichkeit deuten. Bulgarien hat schlicht kein Geld, Flüchtlinge außerhalb der Heime zu betreuen. Man hat derzeit nicht das Gefühl, dass die Integration von Flüchtlingen tatsächlich Priorität in Bulgarien hat. 2013 unterstützte die Europäische Union die Grenzsicherung in Bulgarien mit mehr als 13 Millionen Euro. In die Verbesserung der Aufnahmebedingungen und des Asylverfahrens wurden weniger als 750.000 Euro investiert. Tchirpanliev integriert unterdessen mit militärischer Strenge. »Soldaten sind einfacher zu führen als Flüchtlinge«, sagt er. Er hat lange in der Armee gedient, später am George C. Marshall Zentrum, einem Ausbildungszentrum in Garmisch-Partenkirchen, an dem Experten für Sicherheitspolitik aus Deutschland und den USA unterrichten, Psychologie und Soziologie studiert. Zuletzt war er im Verteidigungsministerium beschäftigt. Er ist stolz, dass jeder vierte seiner Heimleiter aus der Armee kommt. »Das sind die richtigen Leute für diesen harten Job, nur sie können mit diesem Stress umgehen.«

Noch ein Zaun statt Integration Im Sommer 2014 lädt das Verteidigungsministerium Medienvertreter nach Golyam Dervent in das bulgarisch-türkische

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Grenzgebiet ein. Sie präsentieren einen Zaun, an dem sie Monate gebaut hatten. Knapp dreißig Kilometer ist er lang, 2,5 Meter hoch, zwei parallel errichtete Barrieren, dazwischen ein schmaler Streifen, der mit Nato-Draht gesichert ist. Wärmebildkameras überwachen das Gebiet. Die Journalisten werden in Militärtrucks tief in das Grenzgebiet vorgefahren, während der Verteidigungsminister mit dem Helikopter über den Zaun geflogen wird. »Dieser Zaun wird die illegale Einwanderung stoppen«, wird er später vor laufenden Kameras sagen. Von Integration spricht niemand mehr. Es ist ein weiterer Schritt der Abschottung Europas. Bulgariens Grenze wird von Tag zu Tag aufgerüstet. Bereits 2012 wurde die Grenze auf einem Abschnitt von 85 Kilometern mithilfe von EU-Geldern verstärkt. Kameras reagieren auf Bewegungen und senden Bilder direkt in Überwachungszentren. Immer wieder werden Flüchtlinge, ohne dass sie Asyl beantragen können, abgeschoben, berichtet Human Rights Watch. Die Grenzpolizei streitet diese Push-back-Fälle ab. Das UNHCR zeigt sich besorgt. Zäune stoppen Fluchtbewegungen nicht, sie zwingen Menschen nur auf riskantere Wege, heißt es aus dem Büro in Sofia. Wenige Wochen später werden Pläne bekannt, dass der Zaun um 130 Kilometer erweitert werden soll. Die Situation für Flüchtlinge hat sich hingegen nicht verbessert. Ein Integrationsprogramm wurde bis heute nicht umgesetzt.

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ERST MENSCHEN SCHÜTZEN, DANN GRENZEN Sie sind verzweifelt auf der Flucht vor Krieg, Vertreibung und Armut: Jedes Jahr versuchen Zehntausende Menschen, das Mittelmeer zu überqueren. Die europäische Abschottungspolitik zwingt sie, die gefährlichste Fluchtroute der Welt zu nehmen. Unzählige von ihnen ertrinken. Dieses grausame Sterben muss endlich gestoppt werden! Fordern Sie mit uns sichere und legale Fluchtwege nach Europa. Die EU ist verpflichtet, das Leben von Bootsflüchtlingen zu retten. Jetzt Petition unterschreiben auf www.amnesty.de/sos-europa


THEMEN

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Das verdr채ngte

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Massaker Vor zehn Jahren kam es in der usbekischen Großstadt Andischan zu einem spontanen Aufstand gegen das autoritäre Regime des Landes. Das Militär erschoss Hunderte überwiegend unbewaffnete Demonstranten: Kinder, Frauen, Männer. Bis heute gab es keine unabhängige Untersuchung des Massakers – Usbekistan ist ein strategischer Partner der EU und Deutschlands. Von Marcus Bensmann (Text) und Vincent Burmeister (Zeichnungen), Recherchebüro Correctiv Die Panzerwagen kamen am Nachmittag. Sie rollten aus ihren Stellungen entlang der Hauptstraße heran, Soldaten hockten darauf, Maschinenpistolen im Anschlag. Sie ratterten auf den Platz, der voller Menschen war. Tausende standen dort: Männer, Frauen, Kinder. Einer der Panzerwagen schob ein Auto von der Straße. Dann, ohne Warnung, begannen die Soldaten, in die Menge zu schießen. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Ich wollte es nicht wahrhaben. Mir war klar, dass Andischan von Soldaten umstellt war, ich rechnete damit, dass sie in die Stadt einrücken würden, aber ich hatte mir fortwährend gesagt: Sie werden nicht auf Unbewaffnete schießen. Doch nun schossen sie. Wie festgefroren stand ich dort. Dann traf eine Salve den Asphalt neben mir. Erst da reagierte ich und sprang in einen offenen Wassergraben. Es roch faulig, ich lag dort und hörte das dumpfe Knallen der Kalaschnikows: unrhythmisch, andauernd, peitschend, hart, laut. Ich hörte weinende Männer, sie bettelten: »nicht schießen«, die Salven, das Wimmern, die Schreie der Sterbenden. Nach einigen Minuten setzte das Schießen aus. Wo war meine Frau? Wir waren am Morgen gemeinsam hergekommen, sie heißt Galima Bucharbajewa, ist wie ich Journalistin und war schon damals eine der bekanntesten kritischen Stimmen Usbekistans. Ich war so erleichtert, als ich sie entdeckte. Sie lag im gleichen Graben, einige Meter weiter, unverletzt. Überall auf dem Platz lagen Erschossene in ihrem Blut. Ein Panzerwagen näherte sich. Wir sprangen wieder in den Wassergraben. Zwei Tage zuvor, am 11. Mai 2005, war ich bereits in Andischan gewesen, um über einen Prozess gegen 23 Geschäftsleute aus der Stadt zu berichten. Vor dem Gerichtsgebäude stand eine riesige Menschenmenge. Die meisten waren festlich gekleidet, die Männer in Anzug, Hemd und Krawatte, die Frauen in langen Kleidern und Kopftüchern. Eine Stille lag über der Szenerie, wie ich sie bei so vielen Menschen noch nie erlebt hatte. Keine hupenden Autos, keine Schreie, kein Fluchen, wie sonst in Zentralasien. Die Stille irritierte. Sie war ein stummer Aufschrei gegen Usbekistans Präsident Islam Karimow, gegen seine Polizei, seine Geheimdienste, gegen die Willkür, die im Land herrscht. Und sie war eine Herausforderung. Denn Karimow hatte seit Jahren keine Demonstrationen zugelassen. Diese Menschen aber versammelten sich seit drei Monaten immer wieder vor dem Gericht, um die Freilassung der 23 Unternehmer zu fordern. Willkürliche Verhaftungen sind in Usbekistan – damals wie heute – an der Tagesordnung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion riss der ehemalige Sowjetfunktionär Islam Kari-

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mow die Macht im bevölkerungsreichsten zentralasiatischen Land an sich und errichtete einen Polizeistaat. 2002 gelangten zwei Fotos an die Öffentlichkeit. Der damalige britische Botschafter Graig Murray hatte sie den Medien gegeben. Die Fotos zeigten die Körper zweier toter Männer. Ihre Haut war aufgedunsen, gespannt, unnatürlich gerötet – die Folterer hatten die Männer im Gefängnis, das legen die Fotos nahe, wohl gekocht. Der UNO-Berichterstatter für Folter, Theo von Boven, untersuchte den Fall. Das Resümee seiner Berichte zu Usbekistan: Folter werde in dem Land »systematisch« angewandt. Doch von all dem ist im Westen nur selten zu lesen oder zu hören. Denn Usbekistan ist wichtig. Es liegt strategisch günstig, grenzt an Afghanistan. Seit 2001, seit Beginn des »War on Terror«, ist es Partner der NATO. Die Häftlinge und die Demonstranten in Andischan gehören einer religiösen Gemeinschaft um den geistigen Führer Akram Juldaschjew an. Dieser sitzt seit über 20 Jahren im Gefängnis, der Vorwurf: Er sei Islamist. Das ist in Usbekistan, besonders seit 2001, ein wohlfeiler Vorwand, um Kritiker mundtot zu machen. Viele der Anhänger Juldaschjews gehören dem Mittelstand Andischans an. Im Sommer 2004 wurden 23 Anhänger der Gemeinschaft, erfolgreiche Geschäftsmänner, verhaftet. Der Vorwurf, auch hier: Sie seien islamistische Extremisten. Ihr Eigentum wurde beschlagnahmt, sie wurden verhört und gefoltert. In einer Verhandlungspause fragte ich den Staatsanwalt – er hatte hohe Haftstrafen für die Unternehmer gefordert –, warum die Männer denn so gefährlich seien. Der Staatsanwalt antwortete, sie hätten zwar »noch nichts verbrochen«, man müsse sie aber trotzdem verurteilen, um künftige Straftaten zu verhindern, »als Warnung«. Unterdessen kursierten unter den Demonstranten Gerüchte. Das Urteil stünde kurz bevor. Eine Freilassung sei wahrscheinlich. Ich flog zurück in die Hauptstadt.

Aus Demonstranten wurden Aufständische Zwei Tage später, am frühen Morgen des 13. Mai, klingelte mein Telefon. Die Lage in Andischan sei eskaliert, bewaffnete Männer hätten das Gefängnis gestürmt und die 23 Geschäftsleute befreit. Sofort packten meine Frau und ich unsere Sachen. Der Landweg war vom usbekischen Militär blockiert, doch mit einem Postflieger, zu Fuß und mit einem Taxi gelangten wir innerhalb weniger Stunden nach Andischan. Alles war jetzt anders. Demonstranten bewachten die Straßen, hatten Posten bezogen. Die Männer gingen aufrecht, das Kinn empor gereckt, wirkten stolz. Das war neu. Die ständige Hatz der usbekischen Geheimpolizei bedrückt vor allem junge Männer. Jederzeit können sie verhaftet werden. Die Männer von Andischan am 13. Mai 2005 hatten keine Angst mehr. Auf dem zentralen Barbur-Platz, vielleicht 200 mal 200 Meter groß, standen Tausende Menschen, aus Lautsprechern knarzten Reden, Kinder rannten umher. Das im Sowjet-Klassizismus errichtete Theater brannte, niemand löschte die Flammen. Die Aufständischen hatten die Stadtverwaltung am Platz – ein verglastes Gebäude mit Stahlzaun davor – zu ihrer Zentrale gemacht. Aktenordner des usbekischen Regimes lagen auf der Straße, Dokumente wehten durch die Luft.

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Der Innenminister drohte, den Platz st端rmen zu lassen, sollten sie sich nicht sofort ergeben.

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Vor dem Eingang der Stadtverwaltung stand eine Handvoll Männer. Sie hatten Waffen in der Hand. Es waren Männer aus der Stadt. Ich sah keine Kämpfer aus anderen Ländern, wie später die Regierung es darstellte. Ich sah keine Mudschahedin. Ich traf Scharif Schakirow, einen der Anführer, ich hatte ihn zwei Tage zuvor kennengelernt. Seine zwei Brüder standen neben ihm. Bis vor wenigen Stunden waren sie im Gefängnis gewesen. Sie trugen noch ihre Hosen aus der Haft. Ihre Gesichter waren fahl. Sie wirkten erschöpft. Scharif Schakirow erzählte: Ihnen wurde zugesagt, dass am 12. Mai die 23 Gefangenen frei kämen. Doch das Gegenteil geschah. Am Abend begann die usbekische Geheimpolizei, Männer zu verhaften. Die Polizei beschlagnahmte Autos, die in der Nähe des Gerichtes geparkt waren. In jeder Protestbewegung gibt es Menschen, die zu Gewalt bereit sind. Vielleicht war auch ein Agent Provocateur unter ihnen – der friedliche Protest ist für das usbekische Regime gefährlicher als eine Eskalation. Es blieb friedlich bis zu den Verhaftungen. Dann riss der Geduldsfaden: Einige Dutzend Männer zogen zu einer Kaserne. Die Soldaten flohen. Die Männer stürmten die Gebäude und bewaffneten sich. Dann liefen sie vor das Gebäude der Geheimpolizei und forderten die Freilassung der Gefangenen. Die Geheimpolizei schoss in die Menge. Allein an diesem Abend seien 30 Menschen getötet worden, sagte Shakirow. Die Menge zog weiter vor das Gefängnis. Mit einem Lkw rammte sie das Tor auf. Die Wachen flohen. Die Gefangenen wurden befreit. Noch in der Nacht besetzten die Männer die Stadtverwaltung. Sie nahmen Geiseln: Polizisten, Leute der Geheimpolizei, den Staatsanwalt. Aus friedlichen Demonstranten waren über Nacht Aufständische geworden. Sie hatten das nicht geplant. Sie wirkten überfordert. Ihr Anführer hieß Kabuljon Parpiev, ein drahtiger Mann mit kurzen Haaren. Er führte Verhandlungen mit dem usbekischen Innenminister Sokir Almatow. Man wolle keinen Umsturz, sondern Gerechtigkeit – und die Freilassung des religiösen Führers Akram Juldaschjew. Der Innenminister drohte, den Platz stürmen zu lassen, sollten sie sich nicht sofort ergeben, sie würden schießen, auch wenn 400 Menschen sterben sollten. Vor dem Verwaltungsgebäude standen einige Bewaffnete. Im Garten fertigten alte Männer Molotowcocktails. Einige von ihnen waren bewaffnet, erfahrene Kämpfer waren nicht zu sehen. Ein Mann im schwarzen Anzug posierte mit einem Gewehr. Der Lauf zielte auf mich. Ich schrie ihn an, er solle das Ding wegneh-

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men. Ich sollte mich beruhigen, sagte der Mann, er hätte gar keine Munition. Das Foto dieses Mannes dient heute den usbekischen Behörden als Beweis, dass gefährliche Terroristen in der Stadt waren. Draußen, auf der Tribüne, ging derweil das Mikrofon von einer Hand zur nächsten. Jeder konnte sich anstellen und etwas sagen. Zum ersten Mal galt in Usbekistan das freie Wort. Die Menschen beschwerten sich über Willkür, sie forderten Gerechtigkeit. Niemand redete von der Errichtung eines islamischen Staates. So ging es den ganzen Nachmittag lang. Dann kamen die Panzerwagen.

Die Regierung verweigert eine Untersuchung Mehrere Hundert Menschen wurden bei dem Massaker von Andischan getötet, Hunderte wurden verhaftet. Menschen, denen die Flucht gelungen war, wurden aus Nachbarländern verschleppt. Von Folter gezeichnet, bestätigten sie in Schauprozessen die Version des usbekischen Staates: Islamistische Terroristen hätten zusammen mit ausländischen Kämpfern und mit Hilfe der westlichen Medien den Aufruhr angezettelt. Usbekische Sicherheitskräfte hätten nicht auf Menschen geschossen. Nach dem Massaker verlangte der Rat der EU-Außenminister von der usbekischen Regierung eine internationale, unabhängige Aufklärung. Die usbekische Regierung weigerte sich. Woraufhin die Europäische Union im Oktober 2005 Sanktionen gegen das zentralasiatische Land verhängte: ein Waffenembargo, ein Einreiseverbot für hohe usbekische Beamte, ein Kooperationsabkommen wurde auf Eis gelegt. Usbekistan reagierte – und verhängte ein Überflugverbot für NATO-Flugzeuge. Diktator Karimow drohte mit dem Abzug aller westlichen Militärbasen aus Zentralasien. Die Bundesregierung hatte nun ein Problem: Sie brauchte den Stützpunkt am Flughafen im usbekischen Termes, um die Truppen in Afghanistan zu versorgen. Wenig später übernahm in Deutschland Angela Merkels Große Koalition die Regierungsgeschäfte, es begann eine »Politik der Annäherung«: Noch vor dem Regierungswechsel gab das Auswärtige Amt dem usbekischen Innenminister Sokir Almatow ein Visum, damit er sich in einer Spezialklinik in Hannover behandeln lassen konnte – jener Mann, der den Demonstranten in Andischan mit Massenmord gedroht hatte und der ganz oben auf der EU-Sanktionsliste stand.

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Im Dezember 2005, ein halbes Jahr nach dem Massaker von Andischan, besuchte der damalige Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, Friedbert Pflüger (CDU), in Taschkent Diktator Karimow. Pflüger versprach eine »faire« Berücksichtigung der usbekischen Sichtweise bei der Beurteilung der »Ereignisse« in Andischan. Karimow erklärte, die Bundeswehr dürfe in Termes bleiben. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) traf den Diktator am 1. November 2006. »Sanktionen sind kein Selbstzweck«, sagte Steinmeier nach dem Treffen. Die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung des Massakers wurde fallengelassen – und durch »Expertengespräche« ersetzt. Dies, bestätigt ein hochrangiger EU-Diplomat heute – er möchte anonym bleiben –, war die »Exitstrategie« aus den Strafmaßnahmen. Keiner hatte ein Interesse daran, »ewige Sanktionen« gegen das zentralasiatische Land zu verhängen.

FOLTER IN USBEKISTAN Schläge, simuliertes Ersticken, Vergewaltigungen werden in Uskekistan alltäglich eingesetzt, vor allem, um »Geständnisse« zu erzwingen. Am häufigsten kommt es im Gewahrsam der Polizei und des Nationalen Sicherheitsdienstes zu Folter. Besonders betroffen sind muslimische Personen, denen die Behörden »staatsfeindliche« oder terroristische Straftaten vorwarfen. Zudem drohen staatliche Bedienstete mit Haft und Folter, um Bestechungsgelder von Angehörigen zu erpressen. Der Usbekistan-Report kann unter amnesty.de heruntergeladen werden.

CORRECT!V Marcus Bensmann ist Reporter bei CORRECT!V, dem ersten gemeinnützigen Recherchebüro im deutschsprachigen Raum. Zuvor war er zwanzig Jahre freier Journalist in Zentralasien. Die Reporter von CORRECT!V arbeiten investigativ, sie decken Missstände auf, haken gründlich nach und arbeiten oft jahrelang an einem Thema. Das Büro ist unabhängig von Verlagen und wird allein durch Spenden von Stiftungen und Bürgern finanziert. correctiv.org/correctiv/unterstuetzen

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Die Ergebnisse dieser Gespräche, die im Dezember 2006 und im April 2007 in Usbekistan stattgefunden haben, sind bis heute geheim. Einen »Menschenrechtsdialog« und »Reformen« hat das usbekische Regime versprochen; die Todesstrafe habe man abgeschafft und Rechtsstaatsreformen eingeführt. Auf dem Papier. In den Gefängnissen Usbekistans wird weiter gefoltert und gelitten. Die »Ereignisse von Andischan« sollen die Beziehung zwischen Usbekistan und der EU nicht weiter belasten. Amnesty International hat einige Folteropfer befragt. Darunter eine Frau, die sich Zuhra nennt. Sie saß in einem usbekischen Gefängnis, gemeinsam mit Frauen, die im Verdacht standen, Islamisten zu unterstützen. Zuhra berichtet, wie die Frauen blutig geschlagen wurden. Wie ihre Nasen gebrochen, ihre Beine zerschmettert wurden. Die Folterer zwangen die Frauen, sich nackt auf den Boden zu legen – und stellten sich auf ihre Rücken. Zuhra berichtet, sie habe die Füße junger Männer »wegschmelzen« sehen. Die Peiniger hätten mit Stöcken und Ruten auf die Fersen eingedroschen, bis sich das Fleisch löste. Es kann jeden treffen. Vahi Günes ist ein türkischer Geschäftsmann. Er hatte einen Supermarkt in Taschkent. Dann wurde er willkürlich zur Beute des usbekischen Staates. Günes sagt: Männer werden sexuell erniedrigt, vergewaltigt. Sie werden gefoltert in Verhörräumen, Strafzellen, Waschräumen, Duschen. Am schlimmsten sind »eigens dafür eingerichtete Räume«, sagt Günes. Schalldichte Zellen. Hier werden Häftlinge eingesperrt. Einsam, nackt, verängstigt, zitternd. Dann kommen zwei maskierte Männer herein, sagt Günes, und tun, »was sie wollen«. Die Schreie der Opfer kann niemand hören. Ihre Angst niemand fühlen, ihre Hoffnungslosigkeit niemand lindern. Sie sind den Sadisten des usbekischen Staates ausgeliefert, in dem das Verbrechen die Arbeit der Polizei ist. Günes lebt heute in Istanbul. Die Bilder der Häftlinge sind ihm dorthin gefolgt. Meine Frau und ich hatten unbeschreibliches Glück. In einer Feuerpause rannten wir davon, gerade noch rechtzeitig, denn nun begannen weitere Panzerwagen, den Barbur-Platz einzukreisen. Soldaten schossen auf alles, was sich bewegte. Zurück im Hotel bemerkte Galima, dass eine Kugel ihren Rucksack durchschlagen hatte – und in ihrem Notizbuch stecken geblieben war. Über unsere Satellitentelefone riefen wir die Redaktionen der Welt an und berichteten von dem Massaker. Die Schuldigen wurden bis heute nicht benannt. Bis heute treten die Maskierten in die schalldichten Räume. Und bis heute nutzt die Bundeswehr das Flugfeld in Termes. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

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»Einige forderten sogar für sich selbst die Todesstrafe«

Bis zu 500 Menschen starben am 13. Mai 2005 beim Massaker von Andischan. Wie wird damit in Usbekistan umgegangen? Die usbekische Regierung übt zunehmend Zensur aus. Zu dem Massaker gab und gibt es im Land keine unabhängigen Informationen, Journalisten wurden ausgewiesen. Die meisten Leute wissen gar nicht, was vor zehn Jahren passiert ist, obwohl es die größte Demonstration war, die es in Usbekistan jemals gegeben hat. Die Mehrzahl der Protestierenden war völlig friedlich. Ohne Vorwarnung schoss die Regierung willkürlich in die riesige Menschenmenge, auch auf Kinder. Für niemanden gab es einen sicheren Ausweg. Ich frage mich bis heute: Warum? Sie nahmen nach dem Massaker an Gerichtsverhandlungen teil. Was war Ihr Eindruck? Nur ein einziger der vielen Prozesse war öffentlich. Die Anklage beschuldigte 15 Personen der vermeintlichen Organisation des Aufstands. Es war ein Schauprozess, eine Farce. Die Beschuldigten präsentierten vorformulierte Aussagen. Einige forderten sogar für sich selbst die Todesstrafe. Nur eine einzige Zeugin berichtete von den eigentlichen Vorkommnissen. Sie erzählte, wie ein Mann, der eines ihrer drei Kinder schützte, erschossen wurde; wie das Militär auch auf Flüchtende schoss und auf Frauen und Kinder, die mit weißen Taschentüchern winkten. Die EU nahm die wegen des Massakers verhängten Sanktionen wieder zurück – obwohl die usbekische Regierung eine unabhängige Untersuchung nicht zuließ. Wie bewerten Sie dies? Dies zeigt den mangelnden Einsatz der Verantwortlichen für die Grundrechte von Bürgern. Für die EU ist es höchste Zeit, ihre Kooperation mit Usbekistan zu überdenken. Sie hat die Chance, die Lage positiv zu beeinflussen. Sie sollte sie nutzen, um demokratische Initiativen, unabhängige Medien und Menschenrechtsaktivisten zu unterstützen – das ist auf diplomatischer Ebene möglich und durch Entwicklungsprogramme.

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Amnesty wurde jüngst ein Besuch verweigert, schon 2013 beendete das Rote Kreuz wegen der Blockadehaltung der usbekischen Regierung sein Monitoring in den Gefängnissen. Wie ist da ein Einsatz für Menschrechte noch möglich? Nur äußerst eingeschränkt: Die systematische Verfolgung aller zivilgesellschaftlichen Akteure setzt sich täglich fort. Die Behörden schlossen die Büros sämtlicher internationaler Organisationen und Medien. Amnesty kritisierte zuletzt insbesondere die Verbreitung von Korruption und Folter im usbekischen Rechtssystem. Inwiefern sind beide miteinander verknüpft? Folter existiert in Usbekistan nicht nur, um Geständnisse zu erzwingen oder Angst zu verbreiten. Folter ist auch ein lukratives Geschäft. Sicherheitsbehörden verhaften gezielt Geschäftsleute, foltern sie und lassen sie nur gegen Geld wieder frei. Glauben Sie an eine Chance auf Veränderung? Dafür fehlt jedes Anzeichen. Alle leben nur noch in Angst. Es fehlt an Oppositionsparteien, Initiativen oder auch unabhängigen Journalisten. Inzwischen haben nahezu alle, die den Mund aufgemacht haben, das Land verlassen. Im Inland gibt es keinen Widerstand und aus dem Ausland fehlt der internationale Druck. Fragen: Andreas Koob

Foto: Amnesty / Robert Fellner

Zum Massaker von Andischan gibt es bis heute in Usbekistan keine unabhängigen Informationen. Die Regierung übt Zensur, in einem Schauprozess wurden die angeblichen Verantwortlichen abgeurteilt. Ein Gespräch mit der usbekischen Journalistin und Menschenrechtlerin Umida Niyazova.

INTERVIEW UMIDA NIYAZOVA Umida Niyazova, Journalistin und Menschrechtlerin, wurde wegen ihres Engagements für Menschenrechte in Usbekistan zunächst zu sieben Jahren Haft verurteilt. Auf internationalen Druck wurde das Urteil revidiert. Sie erhielt Berufsverbot und lebt heute im Exil in Deutschland.

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»Wir können offen reden, wir fluchen ja nicht über den Präsidenten« Ende des Jahres stehen in Belarus Wahlen an. Ales Bialiatski, der wegen seines Engagements für die Menschenrechte drei Jahre in Haft war, rechnet mit erneuten Repressionen gegen Oppositionelle. Ein Gespräch über Straflager, Administrativhaft und weltweite Solidarität. Die Beleidigung des Präsidenten steht unter Strafe und auch öffentliches Fluchen. Wie offen können Sie überhaupt reden? Wir können offen reden, wir fluchen ja nicht über den Präsidenten. Welche Rolle spielen diese Gesetze im Alltag? Tatsächlich verbietet das Strafgesetzbuch, den Präsidenten zu beleidigen – es droht Haft dafür. Der Paragraf wird aber nicht oft angewendet, er soll eher einschüchtern. Öffentliches Fluchen ist eine Ordnungswidrigkeit. Man wird verhaftet und die Behörden sagen: »Du hast geflucht!« Insbesondere im Vorfeld der Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 landeten mit dieser Begründung viele Aktivistinnen und Aktivisten in Administrativhaft, die zuvor friedlich demonstriert hatten. Einige Oppositionelle haben das Land verlassen. Bleiben Sie nach Ihrer fast dreijährigen Haft weiterhin in Belarus? Weil sie akut gefährdet waren, haben einige oppositionelle Führungsfiguren das Land verlassen. Ihnen drohte Haft. Andere befinden sich in Straf- und Arbeitslagern. Die Schikanen der Regierung richten sich bewusst nur gegen bestimmte Personen. Äußerst selektiv Leute in die Ecke zu drängen, reicht völlig aus, um die gesamte Gesellschaft in Furcht zu versetzen. Ich werde aber bleiben, genauso wie die meisten anderen Aktiven. Auch die von Ihnen geleitete Menschenrechtsorganisation Viasna arbeitet weiter. Gehen Sie von weiteren Repressalien aus? Viasna wird gegenwärtig nicht offen angegangen – ungeachtet der Tatsache, dass die Arbeit für eine offiziell nicht-registrierte Organisation jederzeit strafrechtlich verfolgt werden kann. Die weltweite Solidarität spielt daher für unsere Arbeit eine große Rolle. Gingen die Behörden gegen Viasna-Mitarbeiter vor,

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würde das viel Aufsehen erregen. Zu meinem Fall gab es vom UNO-Menschenrechtsausschuss einen Beschluss: Er besagt, dass ich zu Unrecht verurteilt wurde und dass Viasna zu Unrecht die Registrierung verlor. Der Regierung ist das einerlei, uns aber verschaffen diese Nuancen einen gewissen Sicherheitspuffer. Wie waren Ihre Haftbedingungen? Insbesondere während der Untersuchungshaft waren die Bedingungen miserabel. Die Zellen waren überfüllt, es gab kaum Licht, die Fenster waren verriegelt, die Luft stickig. Zwei Monate hatte ich permanent Kopfschmerzen, weil mir frische Luft fehlte. Danach hat sich mein Körper scheinbar daran gewöhnt. Auch das Essen war schlecht: Brot, Brot und wieder nur trockenes Brot. Wenn es Brei gab, war das nur in Wasser gekochtes Getreide – keine Spur von Öl, Butter oder Salz. Und alles, was über Brot, Brei und dünnen Tee hinausgeht, muss man sich selbst beschaffen. Weil ich angeblich die Anstaltsordnung verletzt habe, durfte ich ein Jahr lang jedoch keine Lebensmittelpakete von draußen bekommen und auch mein Zugang zum kleinen Laden in der Haftanstalt wurde eingeschränkt. Der erste Apfel nach zehn Monaten war ein unglaubliches Ereignis. Als mir aber klar geworden war, dass das schlechte Essen eine Methode war, um Druck auf mich auszuüben, kam ich auch prima mit Brot und Brei aus. Schlimmer waren die Krankheiten. Wenn so viele Menschen auf engem Raum leben, wird man leicht krank: Mithäftlinge hatten Krätze oder Tuberkulose; aber auch schon eine Grippe bereitete ernste Probleme, denn es dauerte lange, bis man irgendwie an Medikamente kam. Hatten Sie Kontakt zu Mithäftlingen oder zu Ihrer Familie? Heimlich unter vier Augen konnte ich im Gefängnis reden. Manche Häftlinge arbeiteten allerdings mit der Anstaltsleitung zusammen und provozierten gewisse Situationen. Für die Familie gab es drei kurze und zwei längere Besuche pro Jahr: Die kurzen bedeuteten zwei Stunden getrennt durch eine Glasscheibe, die längeren – ein bis drei Tage in einer Art Pension auf dem Anstaltsgelände. Ein Jahr sah ich meine Frau allerdings überhaupt nicht. Wegen vermeintlicher Verstöße wurden die Besuche gestrichen, oft ganz kurz vor dem anvisierten Termin.

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INTERVIEW ALES BIALIATSKI

Foto: Amnesty Tschechische Republik

Ales Bialiatski ist Vorsitzender des belarussischen Menschenrechtszentrums Viasna. Er ist zudem Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte (FIDH). Im Juni 2014 kam er im Rahmen einer Amnestie nach drei Jahren Haft frei – er war wegen angeblicher Steuervergehen im Zusammenhang mit seiner Arbeit bei Viasna zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Amnesty International betrachete ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen.

Engagiert für die Menschenrechte. Ales Bialiatski.

Nach den Wahlen 2010 ging Präsident Alexander Lukaschenko so brutal gegen Oppositionelle vor wie kaum zuvor. Ende des Jahres stehen wieder Wahlen an, womit rechnen Sie? Bei Wahlen wächst das Engagement der Leute und damit wächst immer auch die Repression.

gischen Partner ein, auch wenn es einzelne Streitpunkte gibt. Belarus ist seit Jahresanfang auch Teil der Eurasischen Wirtschaftsunion. Hier hat sich eine Gruppe autoritärer Staaten zusammengetan. Die Frage der Menschenrechte steht dabei vielleicht an 35. Stelle.

Deutschland bildete belarussische Polizisten aus – was sagen Sie dazu? Unsere Polizisten muss man nicht ausbilden. Sie werden letztendlich doch nur Demonstrierende verprügeln.

Sie sind gegenwärtig viel unterwegs und treffen europaweit Vertreter aus Politik und Gesellschaft. Was erhoffen Sie sich von EU-Gremien und NGOs wie Amnesty? Das Engagement von Amnesty ist mir sehr sympathisch, es ist eine warmherzige und wertvolle Solidarität, die zu spüren ist. Meine Erwartung ist, dass ihr weitermacht.

Welche Menschenrechte sind besonders in Gefahr? Äußerst finster sieht es bei der Versammlungsfreiheit aus. Von landesweit Hunderten beantragten, demokratischen Demonstrationen wurden 2014 sechs genehmigt – allerdings nicht am eigentlichen Ort, sondern in menschenleeren Gegenden, etwa in Parkanlagen voller Eichhörnchen: Das ist so, als würden in Berlin die Leute im Grunewald demonstrieren. Seit Beginn der Ukraine-Krise wird Belarus auf politischer Ebene verstärkt als Vermittlungsinstanz einbezogen. Hat dies Einfluss auf die Menschenrechtssituation? Der Konflikt um die Ostukraine hat sich auf die Menschenrechtssituation in der ganzen Region negativ ausgewirkt. Wenn Menschen in bewaffneten Konflikten sterben, dann sinkt der Wert der Menschenrechte. Das ist auch in Belarus deutlich spürbar. Was die Diplomatie betrifft, ist Belarus keineswegs so neutral, wie es scheinen mag. Lukaschenko stuft Russland als strate-

INTERVIEW: ALES BIALIATSKI

Fragen: Andreas Koob

BELARUS Der Amnesty-Jahresbericht 2014/2015 bescheinigt Belarus eine prekäre Menschenrechtslage. Als einziges europäisches Land vollstreckte Belarus 2014 Todesurteile, weitere Hinrichtungen drohen. Oppositionspolitiker und Menschenrechtsverteidiger werden für legitime Aktivitäten bestraft und inhaftiert. Das Recht auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Journalisten sind Schikanen ausgesetzt. Anträge von NGOs auf Zulassung werden willkürlich abgelehnt.

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Arbeiten für LGBTI. Alice Nkom (li.) und Selmin Çalışkan.

Zwischen Mut und Molotow Vom 12. bis 20. März waren wir mit einer internationalen Amnesty-Delegation in Kamerun, um uns ein Bild von der Situation der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen (LGBTI) in dem Land zu machen. Mit im Gepäck: 54.812 Unterschriften aus Deutschland – für Gleichstellung und gegen Gewalt. Ein Erfahrungsbericht. Von Selmin Çalıs¸kan (Text) und Raphael Kreusch (Fotos) Paris, Flughafen Charles de Gaulles, im Flieger nach Douala, Kamerun. Wir wollen uns dort mit Alice Nkom treffen. Die kamerunische Rechtsanwältin hatte vor einem Jahr den siebten Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International in Berlin entgegengenommen – stellvertretend für die vielen mutigen Aktivistinnen und Aktivisten, die täglich ihr Leben im Kampf für die Rechte von LGBTI aufs Spiel setzen. Die Trophäe ließ sie in Deutschland und lud mich ein, sie ihr eines

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Tages eigenhändig abzuliefern. Irgendwie herrscht nervöse Stimmung an Bord. In Reihe 46 sitzen zwei Männer. Sie würden nicht weiter auffallen, wären da nicht all die Polizisten. Schnell wird klar: Die Männer sollen abgeschoben werden. Hier und jetzt, in diesem Flugzeug, gegen ihren Willen. Während der eine Gefangene nichts sagt und uns auch später seinen Namen nicht verrät, beginnt der andere zu schreien, schlägt wild um sich, spuckt und flucht. Immer wieder droht er, den Flieger in die Luft zu sprengen. Trotz Handschellen und Fußfesseln haben die Beamten alle Mühe, die Kontrolle zu wahren – zumal sich immer mehr Passagiere einmischen. Ein aufgebrachter Mitreisender vergleicht die Abschiebung mit einem Viehtransport. Unrecht hat er nicht. Während ich mich noch dafür einsetze, dass dem Gefangenen wenigstens der Mundschutz abgenommen wird, rückt auf dem Rollfeld eine schwer bewaffnete Spezialeinheit an. Wie soll

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Gestorben für LGBTI. Das Grab von Eric Lembembe.

Solidarität für LGBTI. Knapp 55.000 Unterschriften für Gleichstellung.

ich mich verhalten? Natürlich könnte ich mich weigern, an meinen Platz zurückzukehren. Aber weder kenne ich die Vorgeschichte der Abschiebung, noch würde es dem Gefangenen nützen: Der Chef der Sondereinheit droht mir bereits mit Verhaftung; vermutlich würde ich bloß des Fliegers verwiesen, die Abschiebung fände ohne mich statt. Außerdem: In Kamerun zählen viele Aktivistinnen und Aktivisten auf meinen Besuch; sie möchte ich nicht im Stich lassen. Ich entscheide mich also für Plan B und suche das Gespräch mit dem Kapitän. Wenn er ablehnt, die Abschiebung durchzuführen, kann sich auch die französische Polizei dem nicht widersetzen. Der Kapitän aber besteht darauf, den Flug mit allen Passagieren anzutreten – inklusive der Sitzreihe 46. Dem jungen Mann sind in der Zwischenzeit die Kräfte ausgegangen, ebenso wie den meisten Protestierenden. Ich stehe aber noch und hake nach: Ein Polizist in Zivil versichert, der Abgeschobene werde in Kamerun auf freien Fuß gesetzt. Er sei nicht vorbestraft, hätte letztlich nur ohne Papiere in Frankreich gelebt und sich dabei erwischen lassen – nach 15 Jahren in Europa! Raffael schafft es noch, Kontakt zu einer Rechtsberatung in Douala herzustellen, gibt ihm die Telefonnummer vom Amnesty-Büro in Dakar und kehrt dann an seinen Platz zurück. Mit einer Stunde Verspätung rollt die Maschine auf die Startbahn. Per Lautsprecher wünscht der Pilot allen Mitreisenden einen entspannten Flug – und erntet Kopfschütteln auf vielen Sitzplätzen. Wir haben die maximale Flughöhe längst erreicht, da wischt sich meine Nachbarin immer noch die Tränen aus den Augen.

Schon häufig hat sie vom europäischen Asylsystem gelesen. Nun aber hat die Brutalität, die jeder einzelnen Abschiebung – sei sie juristisch auch noch so vertretbar – innewohnt, ein Gesicht: das eines jungen Kameruners, der sich nach anderthalb Jahrzehnten in Europa aufgrund einiger fehlender Dokumente in einem Land wird durchschlagen müssen, das er nicht sehr viel besser kennt als ich. Auf ihn – und auch auf seinen schweigenden Nachbarn – wartet eine ungewisse Zukunft. Auf uns wartet nach diesem bitteren Erlebnis Alice Nkom. Eine Woche möchten wir uns Zeit nehmen, um uns ein genaueres Bild der Situation von LGBTI in Kamerun zu machen. Unterstützung erhalten wir dabei von Steve Cockburn und Balkissa Ide Siddo, die vom Senegal aus für Amnesty die Recherchen zu West- und Zentralafrika koordinieren. Aus Deutschland sind unsere Afrika-Referentin Anika Becher und Wiltraud von der Ruhr, die seit Jahren die Kamerun-Arbeit auf Mitgliederebene leitet, mit dabei. Bereits unser erstes Gespräch zeigt, wie schlecht es um die Rechte der LGBTI in Kamerun bestellt ist. Ein junger Mann, Mitte zwanzig, berichtet, dass eines Nachmittags plötzlich wildfremde Männer vor seiner Tür standen. Sie zerrten ihn auf die Straße, zogen ihn aus, schlugen vier Stunden lang auf ihn ein, klemmten ihn in einen Autoreifen und überschütteten ihn mit Benzin – weil seine sexuelle Orientierung nicht ihren Vorstellungen entsprach. In letzter Sekunde ging ein Schaulustiger dazwischen; der junge Mann aber blieb traumatisiert zurück, die Täter blieben straflos. Selbst die eigene Familie will mit dem

KAMERUN

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Opfer nichts mehr zu tun haben, hat den jungen Mann verstoßen: »Meine Eltern sind offensichtlich der Meinung, dass für ihren eigenen Sohn kein Platz auf dieser Erde ist.« Ich habe den Eindruck: Er zweifelt selbst daran. In solchen Situationen kommen Menschen wie Alice Nkom ins Spiel. Sie bieten medizinische Behandlung, psychologische Beratung, sexuelle Aufklärung, Sicherheitstraining und Rechtsberatung. Vor allem aber machen sie Mut und schaffen ein neues Zuhause. Immer wieder wird in Kamerun klar, wie entscheidend es ist, dass gerade traumatisierte Menschen einen Ort haben, an dem sie frei reden und für einen kurzen Moment – hinter verschlossenen Türen in einer kleinen, staubigen Nebenstraße von Douala oder Yaoundé – sie selbst sein können. Wir sollten alles unternehmen, diese wenigen Rückzugsorte zu erhalten. Wer sich in Kamerun für die Rechte von LGBTI einsetzt, lebt in Gefahr. Kaum mietet eine Vereinigung einen Raum an, wird eingebrochen und geplündert. Oder es fliegt ein Molotow-Cocktail durch die Fensterscheibe. Systematisch bedient sich die Regierung der Strafjustiz, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Willkürliche Verhaftungen, unfaire Gerichtsverfahren und die Misshandlung von Gefangenen sind an der Tagesordnung. Selbst offensichtliche Folter und außergerichtliche Tötungen bleiben unbestraft. Umso demütiger blicke ich auf den unerschrockenen Enthusiasmus, mit dem viele Menschen in Kamerun tagtäglich für die Rechte der LGBTI eintreten. Auch Eric Lembembe war einer von ihnen. Im Sommer 2013 wurde der bekannte LGBTI-Aktivist und Leiter der »Cameroonian Foundation for AIDS« tot in seiner Wohnung aufgefunden. Seine Mörder hatten ihn mit einem Bügeleisen gefoltert und ihm anschließend das Genick gebrochen. Beweisstücke wurden keine gesichert, nach Zeugen nicht einmal gefahndet. Bis heute. Auch deshalb war es uns so wichtig, sein Grab in Yaoundé zu besuchen. Seine Schwester, sein Bruder und einige seiner Freunde begleiteten uns zum Friedhof, wo wir gemeinsam eine Kerze von Amnesty International anzündeten. Ein Moment, der keiner Worte bedarf. Der Journalist, der uns begleitete, wollte unbedingt ein Interview am Grab. Ich verneinte. Er insistierte. Ich verneinte. Später bestätigten die Mitstreiter von Lembembe, die Ermor-

dung habe durchaus die intendierte Wirkung gezeigt. »Jeder hat hier Angst um sein Leben«, erklärt uns ein enger Freund von Lembembe. »Doch wir haben nicht das Recht, Eric und seine Familie zu enttäuschen. Er hat uns seinen Kampf hinterlassen. Den führen wir weiter. Wir müssen nur geduldig sein.« Geduld – eine wichtige Tugend in einem Land wie Kamerun: Mehrfach müssen wir beim Justizministerium vorstellig werden, bevor wir endlich unsere 54.812 Petitionen für die Rechte von LGBTI überreichen können. Auf dem Schreibtisch des Menschenrechtsbeauftragten lugt da bereits ein Brief von Amnesty International aus einem hohen Papierstapel hervor. Eine schwarze Kerze auf gelbem Grund in einem kleinen Büro in Yaoundé – genau darin liegt die Hoffnung der vielen Aktivistinnen und Aktivisten in diesem Land: Dass Organisationen wie Amnesty im Hintergrund agieren und gleichzeitig dort Unterstützung leisten, wo internationaler Druck gebraucht wird. Ohne das große ehrenamtliche Engagement auch in Deutschland wäre das nicht denkbar. Ich möchte mich deshalb erneut für all den Einsatz bedanken – und bin damit nicht allein: An unserem letzten Abend in der Hafenstadt Douala hatten wir Gerard Kuissu und drei weitere Journalisten vom »Tribunal Article 53« getroffen, um über ihren Einsatz gegen Straflosigkeit in Kamerun zu sprechen. Unweit unseres Hotels waren sie daraufhin festgenommen worden. Während die anderen schnell wieder freikamen, blieb Gerard in Gewahrsam. Der Vorwurf: Gemeinsam mit ausländischen Kräften – gemeint waren auch wir – plane er die Destabilisierung des Landes. Wir lancierten eine »Urgent Action«, schalteten die deutsche Botschaft ein und machten uns persönlich im Verteidigungsministerium für seine Freilassung stark. Gerade berieten wir uns noch mit seinem Anwalt, als dieser einen Anruf erhielt: Die Anklage werde fallen gelassen. Nach mehr als 72 Stunden kam Gerard frei. Unsere Delegation hat sichtbare Abdrücke in Kamerun hinterlassen. Die Regierung weiß jetzt, dass Menschenrechtsverteidiger auf Amnesty zählen können. So wie Gerard. »Ich möchte Amnesty International von tiefstem Herzen danken«, gab er uns mit auf den Weg. »Der Einsatz für die Menschenrechte geht weiter.« Dem ist nichts hinzuzufügen.

Unterwegs für LGBTI. Wiltraud von der Ruhr, Selmin Çalışkan und Steve Cockburn von Amnesty mit Alice Nkom (von links).

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Spätes Geständnis Seit dem CIA-Folterbericht vom Dezember letzten Jahres bestehen kaum noch Zweifel: Auch in Rumänien unterhielt der US-Geheimdienst ein Foltergefängnis. Das stritten rumänische Offizielle bislang vehement ab. Nun kommt ein spätes Eingeständnis – von Rumäniens Ex-Staatschef Iliescu. Von Keno Verseck

Iliescus und Talpes’ Aussagen sorgten für Aufregung unter vielen rumänischen Politikern – immerhin wurde die Frage der CIA-Geheimgefängnisse in Rumänien von 2006 bis 2008 von einer parlamentarischen Kommission untersucht. Das Fazit des Abschlussberichts lautete, es lägen weder für Gefangenentransporte der CIA via Rumänien noch für CIA-Geheimgefängnisse Beweise vor. Trotz der Einzelheiten, die Iliescu und Talpes jetzt preisgaben, bleibt die damalige Leiterin der Kommission, Norica Nicolai, heute Europaabgeordnete und Vizepräsidentin der liberalen ALDE-Fraktion, bei ihren damaligen Aussagen. »Standort bedeutet nicht automatisch, dass es ein Gefängnis war«, sagt Nicolai. Andere Politiker fordern jedoch, im Zuge von Iliescus Aussagen müsse die rumänische Staatsanwaltschaft neue Ermittlungen einleiten, so etwa Anne Brasseur, die Vorsitzende der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, des höchsten europäischen Menschenrechtsgremiums. Die rumänische Generalstaatsanwaltschaft äußerte sich zu solchen Forderungen bis Redaktionsschluss nicht. Ebenfalls unklar ist, ob Iliescus Aussagen in die Ermittlungen zu dem Fall al-Nashiri gegen Rumänien einbezogen werden. Der CIA-Gefangene Abd al-Rahim al-Nashiri, der den Anschlag auf den Zerstörer U.S.S. »Cole« im Oktober 2000 im Jemen geplant haben soll, verklagte Rumänien im Mai 2012 wegen Folter und menschenunwürdiger Behandlung, er soll im Zeitraum 2003 bis 2006 in Rumänien festgehalten worden sein. Ein Gerichtsverfahren in dem Fall steht aus, die Ermittlungen laufen und sind geheim. Ein ähnliches Verfahren, das beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Polen anhängig war, hatte al-Nashiri im Februar dieses Jahres rechtskräftig gewonnen.

KAMERUN

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RUMÄNIEN

Foto: Vadim Ghirda / AP / pa

Die Indizien sind erdrückend – spätestens seit dem CIA-Folterbericht vom Dezember letzten Jahres: Auch in Rumänien gab es offenbar mindestens ein geheimes CIA-Gefängnis, der Bericht führt es unter dem Decknamen »Detention Site Black« auf. Dort sollen im Zeitraum 2003 bis 2006 mehrere CIA-Gefangene festgehalten und gefoltert worden sein, darunter auch der Chefplaner der 9/11-Attentate, Khalid Sheikh Mohammed. Allen Indizien zum Trotz stritten rumänische Offizielle bislang ab, dass es im Land ein oder mehrere derartige Gefängnisse gegeben habe. Kürzlich jedoch kam ein spätes Eingeständnis – von keinem Geringeren als Ion Iliescu, dem ehemaligen Staatspräsidenten Rumäniens. In einem Gespräch mit dem Autor, dessen Inhalt zunächst auf Spiegel online und anschließend in rumänischen Medien erschienen ist, bestätigte Iliescu indirekt die Existenz eines CIA-Gefängnisses, das er »Standort« nannte. Er war damit der zweite ehemalige Staatschef nach dem Polen Aleksander Kwasniewski, der ein solches Eingeständnis machte. Um die Jahreswende 2002/2003, so Iliescu in dem Gespräch von Mitte April, hätten »unsere amerikanischen Verbündeten um einen Standort gebeten«, er als Staatschef habe der Anfrage prinzipiell stattgegeben. Wo dieser »Standort« gewesen sei, wisse er nicht, um die Details habe sich der damalige Leiter der Präsidialverwaltung und Chef der Präsidialabteilung für nationale Sicherheit, Ioan Talpes, gekümmert. Hätte er damals gewusst, was die CIA an diesem »Standort« gemacht habe, hätte er die Anfrage »natürlich nicht« genehmigt. Ioan Talpes, der von 1992 Der Autor berichtet seit Jahrzehnten als freier Journalist aus Osteuropa. bis 1997 den rumänischen Auslandsgeheimdienst SIE geleitet hatte, bestätigte dem Autor weitere Details: Iliescu habe ihm »freie Hand gelassen«, die CIA-Anfrage zu regeln; er habe der CIA ein Gebäude in Bukarest zur Verfügung stellen lassen. Dieses Gebäude sei von 2003 bis 2006 von der CIA benutzt worden, es existiere inzwischen nicht mehr. Wo genau dieses Gebäude gewesen sei, so Talpes, werde er nicht sagen. Nachdem Iliescus Eingeständnis in Rumänien für große Aufregung in der Öffentlichkeit gesorgt hatte, präzisierte der ExStaatschef später in einem Eintrag auf seinem persönlichen Blog noch einmal, dass er eine Anfrage der CIA nach einem »Sitz« genehmigt habe. Er selbst habe von den konkreten CIA-Aktivitäten dort nichts gewusst; wenn dort Regeln verletzt worden seien, sei es Aufgabe der USA, dies auszusprechen und Konsequenzen zu ziehen. Auch von der CIA genutzt? US-Stützpunkt Kogalniceanu am Schwarzen Meer.

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KULTUR

»Der Vernichtung preis

Einst Heimat der Armenier. Der Nordosten der Türkei.

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gegeben«

Während des Ersten Weltkriegs starben beim Völkermord an den Armeniern mehr als eine Million Menschen. Jetzt jährte sich der Genozid zum hundertsten Mal. Ein Gespräch mit Jürgen Gottschlich, Autor des Buches »Beihilfe zum Völkermord«, über Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Mit Fotos von Andy Spyra / laif Der Völkermord an den Armeniern ist vielen in Deutschland ein Begriff, nur die wenigsten wissen allerdings, dass die Deutschen daran beteiligt waren. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen? Ich lebe seit 15 Jahren als Korrespondent in Istanbul. In dieser Zeit bin ich von türkischen wie auch armenischen Bekannten und Freunden immer wieder darauf angesprochen worden, dass die Deutschen am Völkermord nicht ganz unbeteiligt waren. Bei türkischen Nationalisten habe ich immer gedacht, das ist ein wohlfeiles Ablenkungsmanöver. Aber bei den armenischen Freunden hat mich das schon stutzig gemacht. In Deutschland bin ich zudem auf völlige Unkenntnis gestoßen. Das hat mich zusätzlich motiviert, dieses Buch zu schreiben. Der Impuls für den Völkermord ging von den regierenden nationalistischen Jungtürken aus, einer damals einflussreichen politischen Bewegung. Lässt sich der Anteil der Deutschen am Völkermord klar umreißen? Ich vergleiche den Anteil der Deutschen mit den Schweizer Banken und der Beihilfe zur Steuerhinterziehung: Sie hinterziehen nicht selbst, aber ohne sie wäre es schwer möglich. Von den Deutschen ist nur in einem Fall belegt, dass ein höherer Offizier an den Massakern selbst beteiligt war. Ansonsten ging es um Beratung und Vorbereitung von Deportationen durch deutsche Offiziere, die als Verbündete im Hauptquartier der Osmanischen Armee saßen und sich dort natürlich nicht selbst die Hände schmutzig gemacht, aber entsprechenden Rat gegeben haben. Das Ganze war ja von der Reichsregierung politisch gedeckt. Hätten die Deutschen den Völkermord verhindern können? Es gab eine Situation, wo man zumindest entscheidenden Einfluss hätte nehmen können. Die Deportationen begannen im Frühjahr 1915. Im Sommer war den Deutschen klar, dass es den Jungtürken nicht nur um eine Deportation ging, sondern um eine Vernichtung der Armenier. Das hat der damalige Botschafter Hans von Wangenheim so auch nach Berlin gemeldet. Spätestens da hätte man etwas unternehmen müssen. Wangenheim hat dann bei der türkischen Regierung protestiert, aber wie er selbst schrieb: nur pro forma, damit man das später in den Akten hätte nachweisen können.

INTERVIEW: JÜRGEN GOTTSCHLICH

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Die Deutschen wollten ihren Verbündeten ja auch nicht verärgern. Vor allem nicht in der angespannten militärischen Situation: Parallel zur Vernichtung der Armenier lief die entscheidende Schlacht an den Dardanellen, wo die Alliierten versuchten, Istanbul zu erobern. Auf türkischem Gebiet war das die entscheidende Schlacht des Ersten Weltkriegs. Die lief den ganzen Sommer über. Zwischenzeitlich starb Wangenheim an einem Schlaganfall. Sein Nachfolger war ganz anders und wollte wirklich etwas unternehmen. Er hat sich dann persönlich per Botschaftsdepesche an den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg gewandt: Man muss mit Sanktionen drohen, sonst wird nichts passieren. Das hat Bethmann Hollweg mit dem mittlerweile bekannten Spruch abgelehnt: »Wir brauchen die Türken und wenn die Armenier dabei zugrunde gehen.« Das war im November 1915, da waren zwar schon viele Armenier gestorben und aus den ostanatolischen Gebieten auch deportiert, aber die Armenier im Westen der Türkei und an der Mittelmeerküste waren teilweise noch nicht vertrieben und diejenigen, die den Todesmarsch in die Wüste überlebt hatten, waren jetzt der Vernichtung preisgegeben. Die hätte man natürlich retten können. Wie? Man hätte in Istanbul eine große humanitäre Aktion durchsetzen müssen, um den deportierten Armeniern Lebensmittel zu bringen. Es gab ja einige wenige Hilfsorganisationen rund um den Theologen Johannes Lepsius, die in Deutschland Geld dafür gesammelt haben. Zu denen hat das Auswärtige Amt gesagt: Wenn ihr aufhört, über die Armeniergräuel zu reden, dürft ihr über neutrale Dritte wie die Schweiz und die USA Hilfsmittel runterbringen. Allerdings wollte die deutsche Regierung auf keinen Fall, dass das nach außen bekannt wurde. Im Prinzip war also der Völkermord an den Armeniern ein Kollateralschaden des deutschen Großmachtstrebens. Könnte man so sagen, ja. Es gibt in den Schilderungen der deutschen Militärs, die Sie in Ihrem Buch zitieren, immer wieder abwertende Formulierungen über die Armenier wie »schwarzbärtig«, »wild«, »fanatisch« aussehend. Hatte dieses Menschenbild etwas mit »rassischen« Vorurteilen zu tun? Das war ethnischer Rassismus. Bis in die Formulierungen hinein ähneln die Beschreibungen denen der deutschen Antisemiten. Das waren tiefreaktionäre preußische Generäle, die da hingegangen sind – mit einem unglaublichen Dünkel, auch gegenüber ihrem türkischen Bündnispartner, aber erst recht gegenüber den Armeniern. Warum erkennt die Türkei heute den Völkermord nicht als solchen an? Das hat mehrere Gründe. Erstens gibt keine Gesellschaft gerne zu, dass ihre Vorfahren Völkermord verübt haben. Das machen in der Regel nur die, die verloren haben – wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Türkei hat zwar den Er-

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sten Weltkrieg verloren, aber in der Türkei mündete er in den Unabhängigkeitskrieg, der bis 1923 dauerte und als Gründungsmythos der türkischen Republik gilt. Auf der Grundlage dieses Sieges wurde dann auch der Friedensvertrag neu verhandelt, der eher im Sinne der Türkei war. Deshalb sahen sie sich nicht als Verlierer und fühlten sich nicht gezwungen, einen Völkermord zuzugeben. Zweitens gibt es in der Gründungsgeschichte personelle Kontinuitäten, also Menschen, die am Völkermord beteiligt waren und die später im Unabhängigkeitskrieg eine wichtige Rolle spielten. Man will seine Gründungsväter nicht desavouieren. Und dann hat man einer Gesellschaft 90 Jahre lang erzählt, es gab keinen Völkermord, und nun ist es schwer, von einem auf den anderen Tag zu sagen: Es gab doch einen. Spielt auch die aktuelle Politik eine Rolle? In Armenien gibt es Parteien, die fordern: Wir wollen Westarmenien, also die Ost-Türkei zurück. Die Grenze zwischen Armenien und der Türkei war zwar schon zu Sowjetzeiten die Trennlinie, aber die 1991 gegründete Republik Armenien hat sie offiziell noch nicht anerkannt. 2009 gab es einen Anlauf, die Eiszeit zwischen den Ländern zu überwinden, als der damalige türkische Präsident Abdullah Gül nach Eriwan gefahren ist – ohne nach-

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Spuren armenischen Lebens. Fotos einstiger Familienmitglieder, die Ruine einer Kirche, Überreste von Grabsteinen.

DAS BUCH

haltigen Erfolg. Es gibt starke Widerstände in der armenischen Gesellschaft, vor allem aber in der Diaspora, sich mit der Türkei an einen Tisch zu setzen, bevor die türkische Regierung den Völkermord anerkannt hat. Und in der Türkei sagen selbst die gutwilligen Leute: Die Anerkennung des Völkermordes kann am Ende einer Diskussion stehen, aber sie kann schlecht damit anfangen. Auf der offiziellen Ebene blockieren sich damit beide Seiten. Dann kommt noch das Problem Bergkarabach und Aserbaidschan dazu. Wenn die Türkei die Grenze zu Armenien öffnen würde, würde Aserbaidschan ihr den Öl- und Gashahn zudrehen. Die Armenier sind wiederum mit den Russen eng verbündet. Die Russen sind diejenigen, die den Deal um Karabach verhandeln müssten. Das wollen sie aber gar nicht, denn dann würden die Armenier sagen: Jetzt könnt ihr eure Truppen abziehen. Das will Putin natürlich nicht.

Fragen: Georg Kasch

INTERVIEW: JÜRGEN GOTTSCHLICH

DER AUTOR

Foto: privat

Und warum will Deutschland den Völkermord nicht anerkennen? Seit 1945 hätte es doch genügend Möglichkeiten gegeben, sich mit der deutschen Mitschuld zu beschäftigen. Das ist ja genau der Punkt: 1945 musste man sich mit einem anderen Völkermord auseinandersetzen. Außerdem beschäftigt sich keine Regierung von sich aus gerne damit; realpolitisch ist nichts zu gewinnen. Die paar Armenier, die hier in Deutschland leben, besitzen nicht genügend politisches Gewicht. Aus deutscher Sicht ist Armenien weit weg, mitten im russischen Orbit. Dagegen gibt es viele türkische Migranten, mit denen man sich eventuell Ärger einhandeln würde. Mit Erdoğan haben sie sowieso schon Ärger. Deshalb ist ja auch von der Bundesregierung niemand zur Hundertjahrfeier nach Eriwan gefahren. Das halte ich für einen echten Skandal.

In »Beihilfe zum Völkermord« beschreibt Jürgen Gottschlich, wie es vor hundert Jahren während des Ersten Weltkriegs im zerfallenden Osmanischen Reich zum Genozid an den Armeniern kommen konnte. Er lässt die Leser an seiner Spurensuche teilhaben, erklärt Hintergründe, ohne zu belehren und skizziert die Auswirkungen des Völkermords bis heute. So wird sein Buch zu einer packenden, auch emotionalen Reise in die Vergangenheit – und zu einer bitteren Lehrstunde über Realpolitik und ihre Folgen. Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Ch. Links Verlag, Berlin 2015. 344 Seiten, 19,90 Euro.

Jürgen Gottschlich, Jahrgang 1954, studierte Philosophie und Publizistik in Berlin. Er gehört zu den Mitbegründern der taz, wo er bis 1993 arbeitete, zuletzt als stellvertretender Chefredakteur. Seit 1998 lebt Gottschlich in Istanbul und ist als Korrespondent für verschiedene Zeitungen tätig. 2004 erschien sein Sachbuch »Die Türkei auf dem Weg nach Europa«. Zusammen mit seiner Frau, der Journalistin Dilek Zaptçıoğlu, schrieb er 2005 »Das Kreuz mit den Werten« über die unterschiedlichen Wertvorstellungen von Deutschen und Türken.

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Willkür, Geld und Moscheen

Vom Außenseiter zur »harten Hand«: Die Journalistin Çi˘gdem Akyol bilanziert mit »Generation Erdo˘gan« die Veränderungen in der Türkei während der zwölfjährigen Regierungszeit Recep Tayyip Erdo˘gans. Von Maik Söhler

Die Macht im Rücken. Recep Tayyip Erdoğan.

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Foto: Samuel Aranda / The New York Times / Redux / laif

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er ist hier am Werk? Die Todesstrafe wird abgeschafft, ein Folterverbot ausgesprochen, Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht werden gestärkt, die Macht des Militärs und der Militärgerichte beschränkt, Ehrenmorde unter Strafe gestellt, Kinder- und Frauenrechte ausgeweitet. Und hier? »Bürger werden überwacht, kritische Bewegungen zerstört, hinterfragende Meinungen als Verrat oder Spionage abgestempelt, die Pressefreiheit wird eingeschränkt, der Rechtsstaat wird ausgehöhlt, das Internet zensiert, regierungskritische Demonstranten werden von der Polizei zusammengeschlagen.« Beide Male ist Recep Tayyip Erdoğan am Werk, Mitgründer der islamisch-konservativen AKP, der seit 2003 in der Türkei die politische Macht ausübt, zuerst als Ministerpräsident, seit 2014 als Staatspräsident. Von ihm stammt der Satz: »Unsere Aufgabe ist es, die Türkei auf den Stand einer reibungslos funktionierenden, hell leuchtenden Muster-Demokratie zu bringen.« Und auch der folgende: »Demokratie ist eine Straßenbahn. Wenn wir am Ziel sind, steigen wir aus.« All das lässt sich dem jüngst erschienenen Sachbuch »Generation Erdoğan« entnehmen, einer Bilanz von mehr als zehn Jahren, in denen Erdoğan die Türkei geprägt hat wie vor ihm nur Kemal Atatürk und das türkische Militär, das sich im 20. Jahrhundert dreimal direkt und einmal indirekt an die Macht putschte. Çiğdem Akyol, Türkei-Korrespondentin der Nachrichtenagentur dpa und freie Journalistin, nimmt sich die Widersprüche und Kontinuitäten vor, die das politische Leben des Landes kennzeichnen. »Die Türkei ist frech und freizügig – zugleich aber auch konservativ und gehorsam«, meint Akyol. Konservativ und gehorsam jedenfalls wünscht sich Erdoğan seine Bürger nach zwölf Jahren an der Staatsspitze. Von der Offenheit der Anfangsjahre sei nicht viel übriggeblieben, betont Akyol. Der Präsident regiere nunmehr mit harter Hand, er beschneide aggressiv die Grundrechte des Einzelnen, jage Kritiker und hebele den verfassungsrechtlich verankerten Laizismus aus. »Wer sich der Regierung entgegenstellt, muss mit Konsequenzen rechnen«, schreibt Akyol und verweist insbesondere auf die Gezi-Proteste des Jahres 2013. Diese seien nicht überraschend gekommen, da viele Bürgerinnen und Bürger es schon länger satthatten, dass ihr Ministerpräsident ihnen »vorschreiben wollte, wie sie sich verhalten und wie viele Kinder sie bekommen«. 3,6 Millionen Menschen nahmen an den Protesten in 80 von 81 Provinzen teil, es gab mehr als 5.500 Festnahmen, 8.000 Verletzte, acht Tote. Hier zeigte sich dann auch, aller Repression zum Trotz, die andere Türkei, mit der weiter zu rechnen sein wird. Akyols »Generation Erdoğan« untersucht die prägenden Stationen im Leben des Präsidenten und seine Politik, gibt aber auch einen kompakten und gut lesbaren Überblick zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Türkei im 20. und frühen 21. Jahrhundert. Das pro-europäische, laizistische und der Moderne zugewandte Vermächtnis Kemal Atatürks, die Lage des Landes zwischen Europa und Asien, die Unterschiede zwischen Stadt und Land, der arabische Einfluss, die islamische Tradition und die große kurdische Minderheit geraten so in ihren wechselseitigen Wirkungen in den Blick. Die Türkei will in die EU, im Jahr 2005 haben ernsthafte Gespräche begonnen, und das Land hat mit vielen Reformen Forderungen aus Brüssel erfüllt. Der Beitrittsprozess stockt dennoch. Derzeit erscheint die Türkei von einer Annäherung weiter entfernt denn je. Das liegt an beiden Seiten. Europäische

»GENERATION ERDOĞAN«

»Demokratie ist eine Straßenbahn. Wenn wir am Ziel sind, steigen wir aus.« Konservative, die die Türkei nie als EU-Partner wollten, finden stets neue Vorwände und Erdoğan nimmt dies zum Anlass, sich Asien und den arabischen Staaten zuzuwenden und Europa sowie den langjährigen Verbündeten Israel teils drastisch zu brüskieren. Erdoğan kann es sich leisten. Seit Jahren boomt die Ökonomie, vor allem der Handel mit den asiatischen und arabischen Nachbarstaaten hat sich vervielfacht. Anders als in vergangenen Zeiten kommt die ökonomische Blüte nicht nur Unternehmen in den Großstädten zugute, seine AKP hat ihre Basis auf dem Lande und auch dort haben sich viele Unternehmen gegründet, die am neuen Reichtum des Landes teilhaben und von Erdoğan mit Infrastrukturhilfen unterstützt werden. Dabei kommt Erdoğan seine Erfahrung zugute, die er ab 1994 als Bürgermeister von Istanbul sammelte. Akyol analysiert: »Beliebtheit verschaffte er sich, indem er die Müllhaufen aus Istanbul entfernte, die Probleme mit der Wasserversorgung beseitigte und eine effizientere Verwaltung zustande brachte.« 1998 wurde er, wohl auf Druck des Militärs, wegen Volksverhetzung zu zehn Monaten Haft verurteilt, davon musste er vier absitzen. Tausende demonstrierten gegen seine Absetzung, auch Amnesty International beschäftigte sich mit dem Fall. Jahre später rächt sich Erdoğan auf seine Art. In seine Zeit als Ministerpräsident fällt der Ergenekon-Prozess, bei dem führende Militärs der Verschwörung schuldig gesprochen werden. Es gelingt ihm, was keinem türkischen Politiker seit Atatürk gelang, da der Armee in der Verfassung eine Sonderrolle zugestanden wird: Er bricht die Macht der Generäle, Verfassungszusätze von 2010 schränken die Sonderrolle des Militärs ein. Hat Erdoğan gewonnen und die Türkei nach seinem Bilde umgeformt? Keineswegs. Die Gezi-Park-Proteste haben gezeigt, dass die Türkei ein gespaltenes Land ist. Intellektuelle, Journalisten und Juristen kritisieren die schleichende Islamisierung des Landes. Akyol zitiert den renommierten Wissenschaftler und Atheisten Ali Mehmet Celal Sengör: »Die Türkei (…) hat dasselbe Kulturniveau wie Afghanistan. Denn Glaube und Politik gehören nicht zusammen, das ist keine Demokratie.« »Money and Mosques« – Geld und Moscheen: Darin sehen, wenn man Akyols Buch folgt, viele Kritiker Erdoğans die Stützen seines Erfolgs. Die Konkurrenz in den Moscheen aber ist groß, Erdoğans derzeit stärkster Widersacher ist der Prediger Fethullah Gülen. Und Geld ist flüchtig: Die Repression gegen Gezi-Demonstranten nahmen ausländische Kapitalgeber im Jahr 2013 zum Anlass, ihr Kapital zeitweilig abzuziehen. Die Türkei bleibt auch unter Erdoğan, wie es im Untertitel des Buches richtig heißt, »ein zerrissenes Land im 21. Jahrhundert«. Çiğdem Akyol: Generation Erdoğan. Kremayr & Scheriau, Wien 2015. 208 Seiten, 22 Euro.

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Sc ha r As iatro no m

Foto: Amnesty

Raif Badawi ist derzeit sicher der bekannteste gewaltlose politische Gefangene in Saudi-Arabien. Er wurde Anfang Januar öffentlich in Dschidda gezüchtigt – weil er angeblich den Islam beleidigt hat. Tatsächlich aber soll hier ein kritischer Intellektueller mundtot gemacht werden. Im Folgenden dokumentiert das Amnesty Journal einen der Texte, aufgrund derer Badawi zu 1.000 Stockschlägen, zehn Jahren Haft und einer immens hohen Geldstrafe verurteilt wurde.

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Geblendet. Planetenbeobachter am Persischen Golf, Saudi-Arabien.

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Universitäten und Institute augenblicklich zu verlassen und sich umgehend die Episoden unserer großartigen Fernsehprediger anzusehen, um von ihnen alle nur erdenklichen Arten modernster Wissenschaft zu erlernen: Medizin, Ingenieurswesen, Chemie, Mikrobiologie, Geologie, Atomphysik, Kernwissenschaft, Meeresbiologie, Pharmazeutik, Anthropologie. Und nicht zu vergessen natürlich Astronomie und Weltraumforschung, haben unsere Prediger – möge Gott sie uns erhalten – sich ja in jenem Bereich als unumstrittene Referenz bewiesen, die in allem das letzte Wort hat. Da ist es natürlich vollkommen richtig, dass sich die gesamte Menschheit vor ihnen verneigen und ihnen anstandslos folgen muss, ohne Wenn und Aber! Alle Regierungen der Welt holen sich Wissenschaftler aus sämtlichen Bereichen ins Land, machen ihnen verlockende Angebote, stellen ihnen alles, was es an finanzieller und technischer Unterstützung braucht, zur Verfügung, geben ihnen die Staatsangehörigkeit und räumen alle Schwierigkeiten, die ihrem Erfolg und der Weiterführung ihrer Forschungen im Wege stehen könnten, aus dem Wege. Und wir verordnen einem Weintrinker achtzig Peitschenhiebe. Wie viele Peitschenhiebe verdienen dann wohl erst jene Wissenschaftler? Dieser Text ist ursprünglich erschienen am 7. September 2011 in der saudischen Tageszeitung »al-Bilad«. Wir entnehmen den Text dem Buch: Raif Badawi: »1.000 Peitschenhiebe – Weil ich sage, was ich denke«. Herausgegeben von Constantin Schreiber. Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl. Ullstein, Berlin 2015. 64 Seiten, 4,99 Euro.

RAIF BADAWI

Foto: Amnesty

in Fernsehprediger forderte letztens mit großer Dringlichkeit, Astronomen müssten nun endlich in ihre Schranken verwiesen werden. Er sagte: »Während der letzten Jahre wurden wir immer wieder von Astronomen geplagt, die die Scharia-Perspektive für falsch erklären wollen. Wir haben prinzipiell nichts gegen astronomische Berechnungen, handelt es sich dabei schließlich um eine Wissenschaft, die es seit alters her gibt. Aber wir sprechen uns entschieden gegen die ›Skepsis gegenüber der Scharia‹ aus. Im Übrigen handelt es sich bei einigen dieser Astronomen um bloße Amateure. Wie können sie sich erdreisten, einfach so alteingesessene SchariaExperten widerlegen zu wollen, die seit dreißig Jahren in ihrem Feld tätig sind, als sie selbst noch Kleinkinder waren?« Damit endete seine Ansprache. Im Grunde genommen hat dieser geniale Fernsehprediger mir die Augen für eine Tatsache geöffnet, von der vermutlich weder Sie, lieber Leser, noch ich je gehört hatten: die Existenz einer »Scharia-Astronomie«! Wie schön und wundersam dieser Begriff doch klingt! In meiner bescheidenen Erfahrung und meiner gar nicht so oberflächlichen Lektüre über das Universum, seine Entstehung und die Planeten, ist mir dieser Begriff bisher kein einziges Mal untergekommen! Deswegen möchte ich hiermit der NASA ans Herz legen, ihre Teleskope doch liegen zu lassen und stattdessen vom Wissen unserer Scharia-Astronomen zu profitieren, deren Scharfsicht und Scharfsinn die Sehkraft dieser verderbten NASA-Teleskope bei Weitem übertrifft. Eigentlich sollte die NASA eine Delegation ihrer Astronomen hierherschicken, damit sie bei unseren SchariaAstronomen ordentlich lernen und studieren und sie anschließend mit Kniefall loben. Ich würde sogar allen Wissenschaftlern der Welt aus sämtlichen Bereichen dringlichst raten, ihre Bibliotheken, Labore, Forschungszentren,

Der saudische Intellektuelle und Internet-Aktivist Raif Badawi, geboren 1984, wurde am 9. Januar 2015 auf dem Vorplatz einer Moschee in Dschidda mit 50 Peitschenhieben öffentlich gefoltert. Ein Gericht hatte ihn wegen der Gründung der Website der »Saudi-Arabischen Liberalen« und »Beleidigung des Islams« schuldig gesprochen und zu tausend Stockschlägen, einer zehnjährigen Haftstrafe, einem anschließenden Reiseverbot von zehn Jahren, einem Verbot, Medien zu nutzen, und einer Geldstrafe von umgerechnet 195.000 Euro verurteilt. Die Website wurde auf Anordnung des Gerichts geschlossen. Badawi befindet sich seit 2012 in Haft.

Foto: Zaki Ghawas / Reuters

RAIF BADAWI

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»Die Darstellung von Armut und Gewalt trägt eine politische Botschaft« Wagner Moura ist der derzeit bekannteste Schauspieler Brasiliens. Sein neuer Film »Trash«, ein rasanter Thriller, thematisiert die großen sozialen Unterschiede im Land. Er spielt auf einer Müllkippe. »Trash« handelt von dem, was der Titel verspricht: Abfall. Er ist die Lebensgrundlage zahlreicher Menschen, die auf einer riesigen Mülldeponie in Rio de Janeiro leben. Ist das für die Menschen dort normal? Der Film ist ein Märchen, das an die brasilianische Wirklichkeit angelehnt ist: Ja, es gibt Menschen in Rio, die von dem leben, was sie auf dem Müll finden. Aber die meisten Favela-Bewohner haben gewöhnliche Jobs in der Stadt. In einer großen Favela, zum Beispiel in Rocinha, gibt es Restaurants, Geschäfte und Dienstleister wie in jedem anderen Stadtteil auch.

In »Trash« tritt der Ermittlungsbeamte als Bösewicht in Erscheinung. Was denkt man in Brasilien über die Polizei? Sie existiert seit jeher, um den Staat zu beschützen, nicht die Menschen – insbesondere nicht die Armen. Arme wurden immer als Gefahr für den Staat angesehen, deshalb ist die Polizei darauf getrimmt, sie gar nicht erst als Bürger wahrzunehmen. Es stimmt, dass die Polizisten extrem gewalttätig und korrupt sind. Sie werden schlecht bezahlt und sind sehr schlecht ausgebildet. Die Institution Polizei hat einen ganz schlechten Ruf. Brasilien ist dabei, zu den großen Industrienationen aufzuschließen. Elend und unendlicher Reichtum liegen hier dicht beieinander. Wie erleben Sie diese gesellschaftliche Spaltung? Soziale Unterschiede waren schon immer das größte Problem in diesem Land. Brasilien ist die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt – auf dem »Human Development Index« steht es auf den unteren Plätzen. In den vergangenen zehn Jahren haben

Fotos: UIP

Aber nirgendwo sonst werden Filme auf Mülldeponien gedreht. Lucy Walker hat für ihren Dokumentarfilm »Waste Land«, der auf der Mülldeponie Jardim Gramacho gedreht wurde, 2010 den Amnesty-Filmpreis gewonnen. In »Trash« liegen die Häuser vieler Familien im Dreck. Hat Müll eine besondere Bedeutung in Brasiliens Kino? Eigentlich gibt es hier Filme jedweder Art. Aus irgendeinem Grund werden aber immer die gewaltsamen Filme, die in den Favelas spielen, von den großen Filmfestivals oder für den inter-

nationalen Verkauf ausgewählt. Es gibt hier eine Tradition des politischen Films: In den sechziger Jahren gab es die Bewegung »Cinema Novo«, die politische Filme im Stil des italienischen Neorealismus hervorbrachte. Filme wie »City of God« und »Tropa de Elite« sind mit dieser Tradition eng verbunden, auch wenn sie sich unter Liebhabern des Gangsterfilms großer Beliebtheit erfreuen und in Europa beinahe Kultstatus genießen. Natürlich, die Darstellung von Armut und Gewalt hat eine politische Botschaft und ist Teil der Filmtradition.

Leben mit Müll. Szenen aus dem Film »Trash« mit Wagner Moura.

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wir mit Sozialprogrammen und durch die Stabilisierung der Wirtschaft große Fortschritte erzielt, aber Brasilien ist immer noch ein Land, in dem es sehr ungerecht zugeht. Sie sind einer der Prominenten, die in einem offenen Brief Politiker aufgefordert haben, den diesjährigen UNO-Gipfel dazu zu nutzen, die Lebensbedingungen auf der Erde zu verbessern. Extreme Armut und Ungleichheit sollen bekämpft, der Klimawandel aufgehalten werden. Glauben Sie an einen Erfolg? Den müssen wir unbedingt haben! Es ist schwierig, Politiker eines reichen Landes davon zu überzeugen, extreme Armut zu bekämpfen. Sie neigen dazu, dies nicht zu ihren Aufgaben zu zählen. Das wird immer die große Herausforderung sein. Die Auswirkungen der globalen Erwärmung aber betreffen uns alle.

»TRASH« Ob Fußball-WM 2014 oder Olympische Spiele 2016: Die brasilianische Großstadt Rio de Janeiro macht weltweit auf sich aufmerksam. Und zwar nicht nur im positiven Sinne, sondern auch durch Korruption und Misswirtschaft. Nicht zum ersten Mal dient dies als Grundlage für einen Spielfilm. Auf der Basis des Romans »Trash« von Andy Mulligan wühlt Regisseur Stephen Daldry im Müll der Wirtschaftsmacht Brasilien. Und dies ist durchaus wörtlich zu verstehen: Kurz bevor José Angelo (Wagner Moura) von Polizisten getötet wird, kann er seine Brieftasche mit brisantem Inhalt noch auf einen Mülltransporter werfen. Der korrupte Polizist Frederico (Selton Mello) lässt sofort die Slums durchkämmen, aber da haben die Müllsammel-Kinder Rafael (Rickson Tevez) und Gardo (Eduardo Luis) die Brieftasche mit dem Geheimnis schon eingesteckt. Frederico versucht es dann mit einer großzügigen Belohnung – aber die Jungen halten dicht. Bald wird klar, dass das Leben eines Müllsammlers in Rio nicht viel wert ist und staatliche Organe eine höchst unrühmliche Rolle spielen. Sie lassen Menschen verschwinden, drohen mit Scheinexekutionen oder verüben tatsächlich Hinrichtungen. Ein Film voller sozialer Spannungen und skurriler Begebenheiten, der die Menschenrechtssituation in der brasilianischen Metropole drastisch darstellt.

Hat Ihr soziales Engagement Einfluss auf die Rollen, die Sie annehmen? Ich interessiere mich für komplexe Charakterrollen aller Art. Ich bewerte sie nicht. Wenn ich durch den Film jedoch einer sozialen Sache dienen kann, umso besser. Sie spielen gern recht körperliche Charaktere – wie den brutalen Capitão Nascimento im Berlinale-Gewinnerfilm »Tropa de Elite«; Auftragskiller waren Sie auch schon. In »Trash« wird Ihre Figur ermordet, demnächst spielen Sie den kolumbianischen Drogenbaron Pablo Escobar. Was fasziniert Sie daran? In Lateinamerika sind Gewalt und Korruption Teil unseres Alltags. Diese Rollen sind die logische Folge. Ich habe aber auch eine Vielzahl von Rollen gespielt, die weder mit Gewalt noch mit Korruption zu tun hatten – aber diese Filme wird man in Europa wahrscheinlich nie zu sehen bekommen! Sie sind ausgebildeter Journalist. Wenn Sie in diesem Beruf arbeiten würden, welche Geschichten kämen dabei heraus? Im Journalismus muss man auf den Alltag schauen, darauf, was passiert auf der Welt in diesem Moment. Diese Eindrücke sind auch für einen Schauspieler ganz wichtiges Arbeitsmaterial.

Fragen: Jürgen Kiontke

INTERVIEW: WAGNER MOURA

INTERVIEW WAGNER MOURA Foto: UIP

Was müssen die Leser eines deutschen Magazins zum Thema Menschenrechte über Ihre Arbeit als Schauspieler wissen? Ich habe einen wunderbaren Film in Berlin gedreht: »Praia do Futuro«. Ich liebe Berlin und ich habe mich mit Clemens Schick angefreundet. In Brasilien, das ja ein sehr konservatives Land ist, hat der Film viel Polemik entfacht, Schick und ich spielen darin ein schwules Paar. Der Film hat eine wichtige Rolle im Kampf für die Rechte von Homosexuellen in Brasilien gespielt. Und übrigens: Es gibt darin weder Gewalt noch Korruption!

»Trash«. BRA/GB 2014. Regie: Stephen Daldry. Darsteller: Wagner Moura, Selton Mello. Kinostart: 18. Juni 2015.

Wagner Maniçoba de Moura, 39, ist ein brasilianischer Film-, Fernsehund Theaterschauspieler, der vor allem in sozialkritischen Rollen wirkt. In seinen Filmen steht oft die Kritik an alltäglicher Gewalt und Korruption im Vordergrund. Zunächst studierte Moura Journalismus an der Universidade Federal da Bahia, entschied sich dann aber für eine Karriere als Schauspieler. In Europa erlangte er vor allem mit der Hauptrolle des depressiven Polizeikommandanten Nascimento in José Padilhas Film »Tropa de Elite« Berühmtheit: Ein Kommandant, der mit seinen brutalen Kollegen in den Slums von Rio anlässlich eines Papstbesuchs aufräumt (Amnesty Journal 08-09/2009). Der Film gewann den Goldenen Bären der Berlinale 2008. Zuletzt war Moura in Karim Aïnouz’ »Praia do Futuro« zu sehen, der sich mit dem Thema Migration auseinandersetzt (Amnesty Journal 10-11/2014).

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFSWDE33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)

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Fotos: privat

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

ASERBAIDSCHAN LEYLA YUNUS UND ARIF YUNUS Leyla Yunus, Vorsitzende der NGO »Institute for Peace and Democracy« und eine der bekanntesten Menschenrechtlerinnen in Aserbaidschan, wurde am 30. Juli 2014 wegen Vorwürfen des Landesverrats, der Steuerhinterziehung, der Fälschung, des Betrugs und des Unterhaltens illegaler Geschäftsbeziehungen festgenommen. Der letzte Anklagepunkt steht in Zusammenhang mit Geldern, die das Institut erhalten hatte. Ihr Ehemann Arif Yunus wurde am 5. August 2014 wegen ähnlicher Vorwürfe, die im Zusammenhang mit seiner Beteiligung an Aktivitäten der NGO standen, festgenommen. Amnesty International sieht diese Anschuldigungen als Versuch, Leyla und Arif Yunus mundtot zu machen, und betrachtet sie als gewaltlose politische Gefangene. Die Eheleute setzten sich erstmals für Menschenrechte ein, als sie versuchten, in dem Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan in den frühen 1990er Jahren eine friedliche Lösung durchzusetzen. Leyla Yunus äußerte im In- und Ausland immer wieder scharfe Kritik an der repressiven Innenpolitik der Regierung. Leyla und Arif Yunus werden in der Haft Treffen und jegliche Form der Kommunikation verweigert. Die Gefängnisleitung stellt nicht sicher, dass Leyla Yunus, die unter Diabetes und einer Nierenerkrankung leidet, angemessen medizinisch versorgt wird. Häufig muss sie lange auf Medikamente warten. Besorgniserregend ist auch, dass sie ihren Angaben zufolge beschimpft und von einem Mithäftling und einem Aufseher angegriffen wurde, die Gefängnisleitung aber offenbar nur zögerlich eingriff. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den aserbaidschanischen Präsidenten und bitten Sie ihn, Leyla und Arif Yunus sowie alle weiteren gewaltlosen politischen Gefangenen sofort und bedingungslos freizulassen. Bitten Sie ihn auch, dafür zu sorgen, dass Leyla Yunus Zugang zu ärztlicher Versorgung und Medikamenten erhält und ggf. im Krankenhaus behandelt wird. Fordern Sie ihn auf, sicherzustellen, dass die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs-, und Versammlungsfreiheit in Aserbaidschan geschützt werden. Schreiben Sie in gutem Russisch, Aserbaidschanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Ilham Aliyev Office of the President of the Republic of Azerbaijan 18 Istiqlaliyyat Avenue, Baku, AZ 1066, ASERBAIDSCHAN (Anrede: Dear President Aliyev / Sehr geehrter Herr Präsident) Twitter: @presidentaz Fax: 009 94 - 12 - 392 06 25 E-Mail: office@pa.gov.az (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Aserbaidschan S. E. Herrn Parviz Shahbazov Hubertusallee 43, 14193 Berlin Fax: 030 - 21 91 61 52 E-Mail: berlin@mission.mfa.gov.az

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Der Journalist Muhammad Bekzhanov befindet sich mittlerweile seit 16 Jahren in Usbekistan im Gefängnis. Vor seiner Inhaftierung war er Journalist und Herausgeber einer verbotenen oppositionellen Zeitung. Sicherheitskräfte folterten ihn im Jahr 1999, um ihn zu zwingen, »staatsfeindliche« Straftaten zu gestehen. »Ich liege seit Tagen in einer Blutlache. Ohne Wasser, ohne Essen. Ich versuche, mich an all die guten Dinge in meinem Leben zu erinnern – meine Kinder, meine Frau – und bereite mich mental auf meinen Tod vor.« So beschreibt Muhammad Bekzhanov die Folter, der er ausgesetzt war. Man schlug ihn, schnürte ihm die Luft ab und versetzte ihm Elektroschocks. Trotz der Foltervorwürfe wurde sein »Geständnis« vor Gericht zugelassen. Er wurde in einem Verfahren, das klar gegen internationale Standards verstieß, zu 15 Jahren Haft verurteilt. Nach 16 Jahren befindet er sich noch immer in Haft. Sein Rechtsbeistand und seine Familie haben zahlreiche Klagen eingereicht. Die Foltervorwürfe wurden nie untersucht. Im Februar 2012 hätte er vorzeitig freikommen sollen. Kurz zuvor wurde er unter dem Vorwurf, gegen Gefängnisregeln verstoßen zu haben, zu weiteren vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Die Anwendung von Folter ist in Usbekistan kein Einzelfall. Die Behörden setzen Folter oft ein, um Frauen und Männer zu zwingen, »Geständnisse« zu unterschreiben. Vor Gericht werden diese »Geständnisse« als Beweismittel zugelassen und als Grundlage für eine Verurteilung herangezogen. Der usbekische Präsident kann eine Überarbeitung der Strafprozessordnung verfügen, um den Einsatz von Folter zur Erlangung von Geständnissen und die Zulassung solcher erzwungener Geständnisse vor Gericht ausdrücklich zu verbieten. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den usbekischen Präsidenten und bitten Sie ihn, sich für die Freilassung von Muhammad Bekzhanov einzusetzen, da er trotz entsprechender Forderungen seit über 15 Jahren kein faires Wiederaufnahmeverfahren erhalten hat. Bitten Sie ihn auch, per Präsidialdekret die Überarbeitung der Strafprozessordnung zu verfügen, um den Einsatz von Folter zur Erlangung von Geständnissen und die Zulassung solcher erzwungener Geständnisse vor Gericht ausdrücklich und unter allen Umständen zu verbieten. Schreiben Sie in gutem Usbekisch, Russisch, Englisch oder auf Deutsch an: President Karimov Rezidentsia prezidenta ul. Uzbekistanskaia 43 Tashkent 700163, USBEKISTAN (Anrede: Dear President / Sehr geehrter Herr Präsident) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Usbekistan S. E. Herrn Durbek Amanov Perleberger Straße 62, 10559 Berlin Fax: 030 - 39 40 98 62 E-Mail: botschaft@uzbekistan.de

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

Foto: SKPHP

Foto: privat

USBEKISTAN MUHAMMAD BEKZHANOV

INDONESIEN FILEP KARMA Am 26. Mai 2005 wurde der ehemalige Beamte Filep Karma wegen »Unruhestiftung« angeklagt und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, bei einer Zeremonie eine papuanische Unabhängigkeitsflagge hochgehalten zu haben. Berichten zufolge wurde er auf dem Weg zur Polizeistation geschlagen. Der studentische Aktivist Yusak Pakage, der auch an der Zeremonie teilgenommen hatte, wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Im Juli 2010 lehnte Filep Karma eine Begnadigung durch den Präsidenten ab, da er sie als Schuldeingeständnis ansah und damit die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit gefährdet würden. Da er festgenommen wurde, während er diese Rechte wahrnahm, erklärte die UNO-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen im November 2011 Filep Karmas Inhaftierung für willkürlich. Zudem stellte sie fest, dass Filep Karma kein öffentliches Gerichtsverfahren vor einem kompetenten, unabhängigen und unvoreingenommenen Gericht erhalten hatte. Diese Rechte werden im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, zu dessen Vertragsstaaten Indonesien gehört, garantiert. Es ist bekannt, dass Filep Karma während seiner Haft misshandelt wurde. Angehörige des Wachpersonals im Abepura-Gefängnis verprügelten ihn am 28. April 2008. Filep Karma meldete dies der Polizei. Unklar ist jedoch, ob jemals Untersuchungen eingeleitet wurden. Er litt während seiner Haft an Lungenerkrankungen und einer Harnwegsinfektion. Zwei Krankenhausbesuche in Jakarta wurden ihm gestattet, da er sich weitere Erkrankungen während seines Gefängnisaufenthalts zugezogen hatte. Die Haftbedingungen in indonesischen Gefängnissen entsprechen oft nicht den UNO-Mindestgrundsätzen für die Behandlung von Gefangenen, weshalb Amnesty International sehr besorgt um den gesundheitlichen Zustand der Inhaftierten ist. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den indonesischen Präsidenten und bitten Sie ihn, Filep Karma und alle weiteren gewaltlosen politischen Gefangenen sofort und bedingungslos freizulassen. Schreiben Sie in gutem Indonesisch, Englisch oder auf Deutsch an: President Joko Widodo Istana Merdeka Jakarta 10110, INDONESIEN (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) Fax: 00 62 - 21 - 345 26 85 / 00 62 - 21 - 526 87 26 / 00 62 - 21 - 380 55 11 (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Indonesien S. E. Herrn Fauzi Bowo Lehrter Straße 16–17, 10557 Berlin Fax: 030 - 44 73 71 42 E-Mail: info@indonesian-embassy.de

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Ein halbes Jahrhundert. In großer Runde feiert die älteste noch aktive Amnesty-Gruppe ihr Jubiläum.

»OHNE SIE WÄRE ICH HEUTE VERMUTLICH TOT« Im Bergischen Land östlich von Köln setzen sich Amnesty-Mitglieder seit Jahrzehnten erfolgreich für die Menschenrechte ein. In diesem Jahr feiert die älteste noch aktive Amnesty-Gruppe Deutschlands ihren 50. Geburtstag. Eine elegante Fünfzig aus dunkler Schokolade ziert die Torte – und alle müssen an ihr vorbei. »Noch nicht anschneiden!«, mahnt der Zettel auf dem Buffet im Vorraum der evangelischen Gemeinde Bensberg. Im Festsaal begrüßt kurz darauf Ursula Kleinert-Gentz gut 70 Gäste, unter ihnen viele langjährige Mitstreiter und Unterstützer von Amnesty. Auch der Bürgermeister von BergischGladbach ist gekommen. Wie und mit wem alles begann, sei heute nicht mehr zu klären, bedauert Kleinert-Gentz. Fest stehe, dass die Gruppe Bensberg-Rösrath-Overath am 13. Mai 1965 gegründet wurde und seitdem in dem Gebiet östlich von Köln aktiv ist. Sie selbst ist seit 1976 dabei und an einen Fall erinnert sie sich besonders, den Andrea Reusch, Sprecherin der Gruppe, dann schildert. Sambia, Weihnachten 1981: Die malawische Juristin Vera Chirwa ist mit ihrer Familie auf dem Weg zu Verwandten, als ihr Wagen von Bewaffneten gestoppt wird. Sie werden zusammengeschlagen, ausgeraubt und in das Nachbarland Malawi entführt. Doch dies war kein gewöhnlicher Überfall: 1983 werden sie und ihr Mann Orton wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und im Gefängnis gefoltert. Mit Petitionen, Briefen, Aktionen und in Gottesdiensten macht die Amnesty-Gruppe auf das Schicksal des Paares aufmerksam. 1984 wird das Urteil aufgrund der internationalen Proteste in lebenslange Haft umge-

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wandelt. 1992 stirbt Orton Chirwa unter ungeklärten Umständen. Seit ihrer Freilassung im Januar 1993 engagiert sich seine Witwe weiterhin für die Menschenrechte. »Wenn so jemand vor mir steht und sagt‚ ›ohne Sie wäre ich heute vermutlich tot‹, dann weiß ich, warum ich mich bei Amnesty engagiere«, schließt Andrea Reusch ihre Erzählung. Seit vielen Jahren ist mittlerweile Mexiko ein Schwerpunkt der Gruppenarbeit. Aktuell setzen sich die Mitglieder für Ines Fernández Ortega und Valentina Rosendo Cantú ein. Die politisch engagierten Frauen wurden von Soldaten vergewaltigt und kämpfen für eine Anklage der Täter sowie eine Entschädigung. Die Amnesty-Gruppe kooperiert bei mexikanischen Fällen seit langem mit dem lokalen Menschenrechtszentrum Tlachinollan, das sich besonders für die Rechte indigener Personen einsetzt. Auch der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach (CDU) hat sich auf Initiative der Gruppe wiederholt per Brief an offizielle Stellen gewendet. Für das Jubiläumsjahr ist neben Aktionen gegen die Todesstrafe und Info-Ständen zu verschiedenen Themen eine Ausstellung zu Bootsflüchtlingen geplant. Ideen für die Zukunft gibt es reichlich. Für weitere erfolgreiche 50 Jahre sucht die Gruppe daher noch dringend engagierte Mitglieder. Bevor es zu der Geburtstagstorte und dem internationalen Buffet geht, findet der mexikanische Musiker Josué Avaros, der bei dem Festakt auftritt, das perfekte Schlusswort: »Wenn man schwere Wege geht, ist es wichtig, dies in guter Begleitung zu tun. Amnesty ist eine sehr gute Begleitung.« Text: Katrin Schwarz

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Foto: Amnesty

FLÜCHTLINGE Ich kann mir keinen tragischeren Film ausmalen, als die Szenen, die sich auf dem Mittelmeer zutragen. Männer, Frauen, Kinder, manchmal ganze Familien ertrinken, verdursten oder verhungern auf ihrer Flucht nach Europa. Vor kurzem starben 800 Menschen, als ihre Boote vor der libyschen Küste kenterten. Niemand kam ihnen zu Hilfe. Ich musste an meinen Aufenthalt auf Lampedusa denken. Als Teil einer Amnesty-Delegation habe ich dort mit Überlebenden, Bürgern und Behörden gesprochen. Wir wollten der Ertrunkenen gedenken, uns vor Ort informieren und ein Zeichen der Solidarität setzen. Menschen aus Syrien, Eritrea, Irak oder Afghanistan fliehen vor Krieg, Verfolgung und Perspektivlosigkeit. Verzweifelt steigen sie in seeuntaugliche Boote und riskieren ihr Leben. Die EU lässt ihnen keine andere Wahl. Es gibt kaum sichere und legale Fluchtwege. Im Gegenteil: Zwischen 2007 und 2013 hat die EU

zwei Milliarden Euro in den Bau von Zäunen, Überwachungssystemen und Grenzkontrollen gesteckt. Im April beschlossen die Staats- und Regierungschefs erneut mehr Geld für Grenzschutz, mehr Abschottung. Das finde ich skandalös. Mich ärgert auch, dass Medien und Politik Europa als belagert darstellen. 2014 gab es 200.000 Asylanträge. Auf 2.000 Einwohner kommen damit gerade mal fünf Flüchtlinge. Statt Ängste zu schüren, sollten alle EU-Mitgliedsstaaten an einem Strang ziehen, um das Massensterben im Mittelmeer zu stoppen. Mit der Ende 2014 ausgelaufenen Seenotrettungsaktion »Mare Nostrum« rettete Italien im Alleingang über 170.000 Menschen. Das ist beispielhaft. Darüber hinaus muss es auch legale Möglichkeiten zur Einreise geben, damit es überhaupt eine faire Chance auf Asyl gibt. Das ist schließlich ein Menschenrecht.

AKTIV FÜR AMNESTY

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender

Foto: Constantin Film

ASYL STATT ABSCHOTTUNG

Text: Benno Führmann

DER PREIS DER FREIHEIT

Als 1983 ein brutaler Bürgerkrieg im Sudan ausbricht, fliehen zahllose Menschen: »The Good Lie – der Preis der Freiheit« erzählt die Geschichte von vier Sudanesen, die die Flucht in die USA geschafft haben und dort vor neuen Herausforderungen stehen. Regisseur Philippe Falardeau beleuchtet das Schicksal der als »lost boys and girls« bekannt gewordenen Kriegswaisen aus dem Sudan. Einfühlsam erzählt der Film von Nächstenliebe, Neuanfang und Hoffnung. Die DVD ist ab dem 11. Juni erhältlich, für jedes verkaufte Exemplar geht ein Euro an Amnesty.

Foto: Amnesty / Henning Schacht

FILM

Gegen das Massensterben im Mittelmeer. Protestaktion vor dem Kanzleramt in Berlin.

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ISSN: 2199-4587

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