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AMNESTY JOURNAL
10/11
2015 OKTOBER/ NOVEMBER
WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND ZWISCHEN HILFSBEREITSCHAFT UND HASS: WAS FLÜCHTLINGE MITTEN IN EUROPA ERWARTET
TERROR GEGEN TERROR Nigerias Militär im Kampf gegen Boko Haram
AUFKLÄRUNG UNERWÜNSCHT Mexikos verschwundene Studenten
FRANKFURTER BUCHMESSE Indonesien ringt mit seiner Vergangenheit
INHALT
TITEL: WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND 16 Willkommen in Deutschland Trotz großer Anstrengungen sind die Behörden mit der Unterbringung der Flüchtlinge überfordert. 19 Überfälliger Perspektivwechsel Auch die Politik muss sich jetzt auf die Seite der Bedrohten stellen. 20 Alles, was geht Willkommensinitiativen leisten Außerordentliches, auch dort, wo sie mit Widrigkeiten und Anfeindungen kämpfen. 24 »Die Mitte ist Teil des Problems« Rechtsextreme Einstellungen sind in allen Schichten der Gesellschaft verbreitet, sagt Sozialpsychologe Oliver Decker. 27 Gefangen im Niemandsland Rückschiebung, Ausbeutung, Misshandlung: Flüchtlinge sind auf der Balkanroute unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt. 28 Europas Grenze Beim Thema Flucht und Asyl reagieren europäische Regierungen mit Abwehr und Abschottung. 30 Wo sich die Gesellschaft spiegelt Rassisten nutzen Online-Netzwerke, um gegen Flüchtlinge zu hetzen und rassistische Aktionen zu organisieren. Nur durch Verbote wird sich daran nichts ändern.
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THEMEN
KULTUR
34 »Die Wahrheit lassen wir uns nicht nehmen« Der Prozess gegen Guatemalas Ex-Diktator Ríos Montt soll wiederholt werden.
50 Imagination und grausame Vergangenheit Indonesien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse. Gleichzeitig jähren sich die Massaker, denen vor 50 Jahren Hunderttausende zum Opfer fielen.
38 »Feinde des Islams« In Bangladesch ist erneut ein religionskritischer Blogger umgebracht worden. 40 »Mit Willkür kann man Boko Haram nicht besiegen« Amnesty-Researcher Daniel Eyre über mutmaßliche Kriegsverbrechen in Nigeria. 42 Aufklärung unerwünscht Zweifel an Ermittlungen zu den 43 verschwundenen Studenten in Mexiko. 44 »Strafen helfen nicht« Ein Interview über Sexarbeit. 46 Im falschen Film Lange Haftstrafen für einen Filmemacher und einen Ökologen in Russland. 48 »Die härteste Entscheidung meines Lebens« Dem libyschen Journalisten Salah Zater blieb nur noch die Flucht.
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54 Romane rühren an Tabus Indonesische Schriftstellerinnen setzen sich kritisch mit dem Suharto-Regime auseinander. 57 Monolog mit China Was hat der »Menschenrechtsdialog« mit China gebracht? 58 »Gerechtigkeit ist möglich« »Das Kongo Tribunal« ist das jüngste Theaterprojekt des Schweizer Regisseurs und Autors Milo Rau. 60 Viel Pragmatismus, wenig Strafe Was ist »Transitional Justice«? Und warum ist sie so erfolgreich? 63 Die Produktion von Menschenrechtsverletzungen »Landraub« ist ein eindrucksvoller Dokumentarfilm über Vertreibungen bei der Jagd nach Agrarflächen.
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AMNESTY JOURNAL | 10-11/2015
ES SIND DRAMATISCHE BILDER … Titelbildgestaltung: Heiko von Schrenk
RUBRIKEN 04 Weltkarte 05 Good News: Erstaunlicher Rückzieher 06 Panorama 08 Interview: Dinara Yunus 09 Nachrichten 11 Kolumne: Sabine Küper-Büsch 12 Einsatz mit Erfolg 13 Selmin Çalışkan über die Grenzen des Erträglichen 61 Rezensionen: Bücher 62 Rezensionen: Film & Musik 64 Briefe gegen das Vergessen 66 Aktiv für Amnesty 67 Impressum
… die uns täglich erreichen. Flüchtlinge, die verzweifelt versuchen, die Grenze zu Ungarn oder den Nachbarstaaten zu überwinden, die auf Straßen und Wiesen übernachten, weil sie nicht mehr weiter wissen. Europa macht dicht: Rund ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kontrollieren europäische Staaten wieder ihre Grenzen und errichten Zäune. Doch die Maßnahmen verschärfen die Lage der Hilfesuchenden nur, ohne die Probleme zu lösen. Auch in Deutschland ist die Lage angespannt. Viele Bürgerinnen und Bürger zeigen eine überwältigende Hilfsbereitschaft, heißen Flüchtlinge willkommen und unterstützen sie vor Ort. Zugleich brennen fast täglich Unterkünfte und kommt es zu rassistischen Übergriffen. Mittlerweile sind Gesetzesänderungen geplant, die grundlegende Rechte einschränken, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ebenso verankert sind wie im Grundgesetz: Es ist die Aufgabe jedes Staates, die Würde und Rechte jedes Menschen zu garantieren. Dazu gehören selbstverständlich das Recht auf Asyl und der Schutz vor Verfolgung. Wie dringend Menschen auf den Schutz vor Verfolgung angewiesen sind, zeigt das Porträt des libyschen Journalisten Salah Zater in dieser Ausgabe (Seite 48). Nach kritischen Berichten über lokale Milizen musste er um sein Leben fürchten. Amnesty und andere Organisationen unterstützten ihn dabei, der unmittelbaren Gefahr zu entkommen. Zudem berichten wir in diesem Heft über die Frankfurter Buchmesse (ab Seite 50), deren Gastland in diesem Jahr Indonesien ist. Gleichzeitig jähren sich die Massaker, denen vor 50 Jahren Hunderttausende zum Opfer fielen. Viele indonesische Autorinnen und Autoren setzen sich in ihren Büchern kritisch mit dieser Vergangenheit auseinander. Nicht zuletzt ein Hinweis in eigener Sache. Ramin Nowzad, ehemaliger Volontär des Amnesty Journals, ist nach einem längeren Aufenthalt beim Journal der Schweizer Amnesty-Sektion wieder in unsere Redaktion zurückgekehrt. In den kommenden Ausgaben wird er sie hier begrüßen.
Fotos Seite 2: Christian Ditsch | Gustav Pursche | Knut Henkel | Edgard Garrido / Reuters | Anne-Cecile Esteve / AJAR Foto Editorial: Amnesty
INHALT
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EDITORIAL
Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals.
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WELTKARTE
USA Die Foltervorwürfe scheinen längst belegt, nun prüft das US-Militär erneut, was sich während der Stationierung einer Spezialeinheit in den afghanischen Orten Nerkh and Maidan Shahr zwischen November 2012 und Februar 2013 abspielte. Amnesty hatte bereits 2014 die Aussagen von Augenzeugen und Betroffenen veröffentlicht: Zwölf US-Soldaten sollen Zivilisten gefoltert haben und für das Verschwindenlassen und die Tötung von bis zu 18 Menschen verantwortlich sein. Bis heute warten Betroffene und Angehörige auf Aufklärung und eine Verurteilung der Täter. !
IRAN Eigentlich hätte sich das höchste Gericht noch zu seinem Fall äußern wollen, aber da war Behrouz Alkhani bereits hingerichtet worden. Dem 30-jährigen Iraner kurdischer Abstammung wurde Unterstützung kurdischer Oppositionskräfte und »Feindschaft zu Gott« zur Last gelegt. Nach der Exekution weigerten sich die Behörden, seinen Leichnam der Familie auszuhändigen. Etwa 700 Menschen wurden allein in diesem Jahr im Iran hingerichtet, nur in China waren es mehr. "
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PARAGUAY Ein elfjähriges Mädchen brachte Mitte August per Kaiserschnitt ein Kind zur Welt. Mainumby war im Alter von zehn Jahren schwanger geworden, nachdem ihr Stiefvater sie mehrfach vergewaltigt hatte. Die Behörden untersagten ihr trotz der physischen und psychischen Risiken einen Schwangerschaftsabbruch, für den sich vor allem ihre Mutter eingesetzt hatte. Mainumby und das Neugeborene sind in einem stabilen Zustand. Die Gegner des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch führen Mainumby nun als Beispiel dafür an, dass Mädchen in ihrem Alter ohne Risiko entbinden könnten.
BURUNDI Ob mit Batteriesäure oder Eisenstangen – burundische Sicherheitskräfte foltern immer häufiger Inhaftierte, um Geständnisse und Aussagen zu erpressen. Dies dokumentiert Amnesty in einem neuen Bericht, der auf Gesprächen mit Folteropfern und Polizisten beruht. »Die Zeugenaussagen sind niederschmetternd und verstörend. Folter und Misshandlungen sind auch laut burundischer Verfassung verboten«, sagte die Ostafrika-Expertin von Amnesty, Sarah Jackson. »Die burundische Regierung muss sofort handeln. Sie muss die Verantwortlichen vor Gericht stellen und die Folteropfer entschädigen.«
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ISRAEL Mordechai Vanunu, Israels bekanntester Whistleblower, ist erneut ins Visier der Justiz geraten: Der 60-Jährige wurde Anfang September für eine Woche unter Hausarrest gestellt, weil er dem israelischen TV-Sender Channel 2 ein Interview gegeben hatte und damit nach Ansicht der Behörden gegen Auflagen verstieß. Vanunu saß 18 Jahre hinter Gittern, davon elf Jahre in Einzelhaft. 1986 hatte er in einer britischen Zeitung Informationen über Israels geheimes Atomwaffenprogramm enthüllt. Im selben Jahr wurde er von Agenten des Mossad in Rom entführt und in Israel vor Gericht gestellt. Amnesty betrachtet Vanunu als gewaltlosen politischen Gefangenen.
AMNESTY JOURNAL | 10-11/2015
GOOD NEWS
Foto: Amnesty
MYANMAR Nach einer Amnestie des Präsidenten wurden Anfang August vier Vertreter der Rohingya-Minderheit aus der Haft entlassen. Sie waren im April 2013 festgenommen worden, als sie gegen eine von der Regierung geplante Bevölkerungsregistrierung demonstriert hatten, bei der die Rohingya nicht als offizielle Minderheit erfasst wurden. Amnesty hatte kritisiert, dass die vier Männer ausschließlich wegen ihres Einsatzes für die Anerkennung ihrer Bevölkerungsgruppe inhaftiert wurden. In letzter Instanz hatten die Männer noch im März Haftstrafen von bis zu acht Jahren erhalten. +
»Wohnen ist ein Menschenrecht«. Amnesty-Aktion in Amsterdam.
ERSTAUNLICHER RÜCKZIEHER
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Ausgewählte Ereignisse vom 6. August bis 11. September 2015
WELTKARTE
SERBIEN Die Häuser der Roma im Belgrader Bezirk Zemun werden nicht zwangsgeräumt. Die serbische Regierung hat die zuständigen Behörden aufgefordert, die erlassene Abrissanordnung zu stoppen. Erst müsse geklärt sein, wo die 130 Menschen zukünftig leben können. Im Juli sah das noch anders aus: Die 53 Familien waren angewiesen worden, ihre Häuser wegen fehlender Baugenehmigungen selbst abzureißen und zwar innerhalb eines Tages nach Erhalt der Anordnung. Eine Vorwarnung hatten sie nicht erhalten. Die Bewohner ignorierten das Schreiben. Schließlich drohten die Behörden, die Häuser zwangsweise zu räumen und abzureißen. Damit wären die Betroffenen von einem auf den anderen Tag obdachlos geworden. Die Roma hatten seit mehr als 15 Jahren auf dem Areal gelebt, das zwischen zwei Gleistrassen liegt und der serbischen Bahn gehört. Sie waren aus dem Kosovo geflohen, als Roma zunehmend Opfer gezielter Entführungen, Morde und Vergewaltigungen wurden. Nur wenige der Tausenden Vertriebenen fanden eine neue, sichere Existenz. Wie die Anwohnerinnen und Anwohner des Belgrader Bezirks leben viele Roma nach wie vor unter äußerst prekären Bedingungen und erleben täglich Diskriminierung. Umso erstaunlicher ist der Sinneswandel der Politik, die Räumung zu stoppen, verbunden mit dem Vorhaben, zukünftige Räumungen nur in Übereinstimmung mit geltenden Menschenrechtsstandards vornehmen zu wollen. Hierzu zählt neben einem angemessenen Ersatz auch ein ordnungsgemäßer Räumungsbescheid. Eine von der Regierung eigens dafür eingesetzte Arbeitsgruppe soll Standards erarbeiten, wie diese Kriterien künftig eingehalten werden können. Wegen Zwangsräumungen von Roma standen die serbischen Behörden und auch die Regierung in Belgrad wiederholt in der Kritik, etwa nach der Räumung der mitten in Belgrad gelegenen Siedlung Belvil vor mehr als drei Jahren. Der Großteil der Menschen, die damals betroffen waren, lebt seither in behelfsmäßigen Containersiedlungen weitab von Schulen, sozialen Einrichtungen und Beschäftigungsmöglichkeiten. Amnesty hatte dies in einem Bericht scharf kritisiert, in Zemun könnte es nun anders laufen.
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Foto: George Osodi / Panos PIctures
NIGERIA: FRAGWÜRDIGE SANIERUNG
Der nigerianische Präsident Muhammadu Buhari kündigte einen Treuhandfonds an, der mit der Sanierung des ölverseuchten Ogonilands betraut werden soll. Am Fonds beteiligt seien Betroffene aus dem Ogoniland, Regierungsvertreter, Ölfirmen sowie die Vereinten Nationen. Wieviel Geld Shell und andere Konzerne dem Fonds zur Verfügung stellen werden, ist noch nicht klar. Nach wie vor reagieren die Ölkonzerne auf Lecks in Pipelines im gesamten Nigerdelta unzureichend. Es bestehen daher Zweifel daran, dass die verheerenden Ölverschmutzungen der vergangenen Jahrzehnte professionell und entschlossen gereinigt werden. Zuletzt dokumentierte Amnesty Verschmutzungen an Stellen, die als frisch saniert galten.
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PANORAMA
LIBANON: ALLES ANDERE ALS MÜLL
»Du stinkst« lautete der Slogan, mit dem die Bewohner Beiruts wochenlang gegen das Behördenversagen bei der Müllentsorgung und das eklatante Ausmaß der Korruption protestierten. Nach der Schließung einer Deponie hatte sich der Müll in den Straßen getürmt und war wiederholt im Meer, in Seen und auf Feldern entsorgt worden. Die Sicherheitskräfte gingen gegen die vorwiegend friedlich Demonstrierenden mit teils exzessiver Gewalt vor: Allein am 22. und 23. August mussten sich 343 Protestierende ambulant ärztlich versorgen lassen, weitere 59 kamen ins Krankenhaus. Die Polizisten setzten Wasserwerfer, Gummigeschosse und Tränengas ein, zudem schossen sie mit scharfer Munition in die Luft und schlugen Demonstrierende zusammen. Foto: Bilal Hussein / AP / pa
PANORAMA
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INTERVIEW DINARA YUNUS
for Peace and Democracy« und beschäftigt sich schon seit mehr als 30 Jahren mit Menschenrechten in Aserbaidschan – sie kennt die Situation in den Haftanstalten. Das Gefängnis des Ministeriums für Nationale Sicherheit ist eine komplett andere Einrichtung und berüchtigt wegen der Anwendung von Folter.
Foto: Ralf Rebmann
Wie geht es Ihren Eltern gesundheitlich? Mein Vater sitzt seit seiner Festnahme in Einzelhaft. Er hat starken Bluthochdruck und braucht dringend ärztliche Versorgung. Während der Urteilsverkündung verlor er das Bewusstsein. Es wurden Sanitäter gerufen, aber das Verfahren ging weiter, obwohl er starke Schmerzen hatte. Meine Mutter hat ebenfalls Bluthochdruck. Noch gefährlicher sind ihr Diabetes und ihre Hepatitis C. Sie benötigt eine spezielle Diät und Medizin, die sie seit ihrer Inhaftierung jedoch nur von uns bekommen hat. Lokale Ärzte haben sie nicht behandelt. Mittlerweile hat sie 16 Kilogramm an Gewicht verloren. Ihr Zustand hat sich auch verschlimmert, weil sie von einer Wärterin und einer Mitgefangenen körperlich angegriffen wurde.
»ES IST NOCH ZEIT, IHR LEBEN ZU RETTEN« Die bekannte aserbaidschanische Menschenrechtlerin Leyla Yunus und ihr Ehemann Arif Yunus wurden nach mehr als einem Jahr in Haft am 13. August 2015 wegen »Steuerhinterziehung« und »Betrug« zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Der Gesundheitszustand von beiden ist kritisch. Ein Gespräch mit ihrer Tochter Dinara Yunus. Sie leben seit 2009 in den Niederlanden, wo sie politisches Asyl erhalten haben. Stehen Sie in Kontakt mit Ihren Eltern? Nein, seit der Festnahme meines Vaters im August 2014 hatten wir keinen Kontakt. Auch mit meiner Mutter habe ich keinen direkten Kontakt. Meine Eltern sind zudem in unterschiedlichen Gefängnissen untergebracht. Das Gefängnis meines Vaters untersteht dem Ministerium für Nationale Sicherheit und nicht dem Justizministerium, wie im Fall meiner Mutter. Über die Anwälte meiner Eltern erhalte ich jedoch Informationen. Warum wurden sie in unterschiedliche Gefängnisse verlegt? Das weiß ich nicht. Es könnte darum gehen, meine Mutter unter Druck zu setzen. Sie ist Vorsitzende der NGO »Institute
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Am 13. August 2015 wurde Ihre Mutter zu achteinhalb Jahren, Ihr Vater zu sieben Jahren Haft verurteilt. Wie haben Ihre Eltern das Urteil aufgenommen? Sie wussten, dass es ein hartes Urteil werden würde. Sie wussten, dass sie für ihre Menschenrechtsarbeit bestraft würden. Das Verfahren war alles andere als fair. Die Regierung bestraft meine Eltern, indem ihre Gesundheit gefährdet wird, bis zu dem Punkt, an dem sie sterben könnten. Am letzten Prozesstag hat mein Vater gesagt, dass er sehr stolz sei, an der Seite meiner Mutter zu stehen – auch in dieser schwierigen Zeit. Ich denke, er hatte die Befürchtung, dass dies das letzte Mal gewesen sein könnte, dass sie sich sahen. Die aserbaidschanische Regierung ging in den Monaten vor den Europaspielen 2015 massiv gegen die Zivilgesellschaft vor. Ist Kritik überhaupt noch möglich? Viele haben Angst. Aserbaidschan könnte als ein Land enden, dem man von außen nicht mehr ansieht, was im Inneren passiert. Die Regierung ist gegen alle prominenten kritischen Stimmen vorgegangen, Menschenrechtsanwälte, Journalisten und Aktivisten. Auch meine Eltern wurden in dieser Zeit festgenommen. Es ist noch Zeit, ihr Leben zu retten, wenn sich europäische Regierungen endlich vehement für ihre sofortige Freilassung einsetzen. Europäische Politiker dürfen ihre Augen nicht vor dem verschließen, was derzeit in Aserbaidschan geschieht. Fragen: Ralf Rebmann
AMNESTY JOURNAL | 10-11/2015
»Ich möchte ein neues Leben in Frieden beginnen … Sie behandeln uns wie Tiere, schlimmer als Tiere.« DINA, 46, IN DEM AMNESTY-BERICHT »ZÜGE INS NIRGENDWO – UNGARNS HARTES WILLKOMMEN FÜR FLÜCHTLINGE«
SPUR DES TODES Im Jemen bekämpfen sich die Bürgerkriegsparteien ohne jede Rücksicht auf zivile Opfer. Dies geht aus einem neuen Amnesty-Bericht hervor. Recherchen der Organisation ergaben, dass bei Luftangriffen des von Saudi-Arabien geführten Militärbündnisses und bei Kämpfen zwischen Huthi-Rebellen und deren Gegnern am Boden in den vergangenen Wochen Hunderte Unbeteiligte getötet oder verletzt wurden, darunter viele Kinder. In dem Bericht heißt es, durch die Städte Taiz und Aden ziehe sich eine »Spur des Todes und der Zerstörung« aufgrund der »rechtswidrigen Angriffe, von denen viele Kriegsverbrechen darstellen«. Die Luftangriffe richteten sich gegen Wohngebiete, Schulen und Moscheen. So seien bei acht Bombardements der Militärkoalition mehr als 140 Zivilisten getötet worden, darunter viele Kinder und Frauen. Zudem feuerten Huthi-Rebellen und regierungstreue Kämpfer in dicht besiedelten Gebieten Raketen ab. Vier Fünftel der Menschen im Süden des Landes benötigen humanitäre Hilfe, da sie keinen Zugang zu sauberem Wasser
und Elektrizität haben. Amnesty rief den UNO-Menschenrechtsrat auf, die mutmaßlichen Kriegsverbrechen zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Im Jemen kämpfen die Truppen von Präsident Abd-Rabbu Mansour Hadi mit Unterstützung einer arabischen Militärkoalition seit Monaten gegen die Huthi-Rebellen und die mit ihnen verbündeten Armee-Einheiten des ehemaligen Staatsoberhaupts Ali Abdullah Saleh. Der seit Jahren schwelende Konflikt zwischen den Huthis und der Zentralregierung war im Januar eskaliert, als die Aufständischen aus dem Norden des Landes Sanaa eroberten. Als sie Ende März auf die südliche Hafenstadt Aden vorrückten, floh Hadi nach Saudi-Arabien und bat das Königreich um Hilfe. Seither fliegt ein von Saudi-Arabien geführtes Militärbündnis regelmäßig Luftangriffe auf Stellungen der Rebellen im Jemen. Nach UNO-Angaben wurden in dem Konflikt bislang mindestens 4.300 Menschen getötet, die Hälfte davon Zivilisten.
Foto: Tyler Hicks / The New York Times / Redux / laif
JEMEN
Saudische Bomben. Zerstörter Straßenzug in Sa’da im Nordwesten des Jemen, einer Hochburg der Huthi-Rebellen.
INTERVIEW
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NACHRICHTEN
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IN DER FAVELA VON ACARI SCHEINT ES SICH BEI
9 VON 10
»ANTITERRORGESETZ« GEBILLIGT
Präsident Abdel Fatah al-Sisi hat Mitte August ein neues »Antiterrorgesetz« unterzeichnet, das der ägyptischen Verfassung und internationalen Menschenrechtsstandards widerspricht. Die Unterzeichnung erfolgte unmittelbar vor dem zweiten Jahrestag einer Polizeioperation in Kairo, bei der Protestcamps der Muslimbrüder auf den Plätzen Rabaa al-Adaweya und Nahda aufgelöst worden waren. Dabei waren mindestens 600 Personen getötet und unzählige weitere festgenommen worden. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte wurde bis heute nicht untersucht. Das neue Gesetz gibt den Sicherheitsorganen weitreichende Vollmachten zur Unterdrückung jeglicher Kritik an der Regierung, schränkt die Meinungs- und Versammlungsfreiheit weitreichend ein und zementiert die Straflosigkeit für Angehörige der Sicherheitskräfte. Damit leistet es weiteren Menschenrechtsverletzungen Vorschub. Amnesty International fordert die ägyptische Regierung auf, das Gesetz wieder abzuschaffen oder grundlegend zu überarbeiten.
ÄGYPTEN
16%
ALLER TÖTUNGSDELIKTE.
TÖTUNGEN DURCH DIE MILITÄRPOLIZEI UM AUSSERGERICHTLICHE HINRICHTUNGEN ZU HANDELN.
Quelle: Amnesty
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PERSONEN WURDEN IN DEN VERGANGENEN FÜNF JAHREN IN RIO DE JANEIRO VON POLIZISTEN IM DIENST GETÖTET – DAS SIND FAST
NIEMAND WIRD VERSCHONT
In kaum einem anderen Land werden so viele Menschen zum Tode verurteilt wie in Saudi-Arabien. In einem aktuellen Bericht wirft Amnesty dem Land eine »erschreckend willkürliche Anwendung der Todesstrafe« vor. Demnach betrifft fast die Hälfte aller Todesurteile Ausländer, die weder die Sprache beherrschen noch die Gesetze kennen. Zunehmend werden Menschen wegen Delikten zum Tode verurteilt, die nicht den internationalen Straftatbestand des »sehr schweren Verbrechens« erfüllen. Todesurteile werden unter anderem wegen Fremdgehens, Raubüberfalls, Vergewaltigung, Zauberei oder »Abfall vom Glauben« verhängt. Auch bei Drogenvergehen droht die Todesstrafe: 2010 lag der Anteil der wegen Drogendelikten vorgenommenen Hinrichtungen noch bei vier Prozent, in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits bei 47 Prozent. Generell werden Geständnisse oft unter Folter oder Misshandlungen erpresst, vor Gericht aber dennoch als gültige Beweise gewertet. In grober Verletzung der UNO-Kinderrechtskonvention werden zudem regelmäßig minderjährige Straftäter zum Tode verurteilt. Geistig Behinderte werden von der Todesstrafe ebenfalls nicht verschont. Nach Schätzungen von Amnesty wurden seit Januar 1985 mindestens 2.208 Menschen in Saudi-Arabien hingerichtet. Die meisten von ihnen wurden enthauptet. SAUDI-ARABIEN
MEXIKO Er war aus dem Bundesstaat Veracruz nach Mexiko-Stadt geflohen, doch seine Häscher ließen nicht locker: Am 31. Juli 2015 wurde der Fotojournalist Rubén Espinosa in der mexikanischen Hauptstadt erschossen, mit ihm starben die Menschenrechtsaktivistin Nadia Vera sowie drei weitere Frauen. Espinosa hatte die massiven Menschenrechtsverletzungen in Veracruz dokumentiert. »Wer die schlechte Regierung von Gouverneur Javier Duarte kritisiert, wird attackiert«, erklärte er. Nachdem der 31-Jährige immer wieder verfolgt worden war, ging er in die vermeintlich sichere Hauptstadt. Man fand die fünf Personen ermordet in einer Wohnung, vor ihrem Tod waren sie gefoltert worden. Mexiko zählt weltweit zu den gefährlichsten Staaten für Journalistinnen und Journalisten. Nach Angaben der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft wurden in den vergangenen 15 Jahren 103 Pressemitarbeiter ermordet, 25 sind verschwunden.
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Foto: Oscar Martinez / Reuters
WER KRITISIERT, WIRD ATTACKIERT
Trauermarsch. Demonstrantin mit Rubén-Espinosa-Maske im mexikanischen Xalapa.
AMNESTY JOURNAL | 10-11/2015
Zeichnung: Oliver Grajewski
KOLUMNE SABINE KÜPERBÜSCH
DER PROVOZIERTE BÜRGERKRIEG
Nach den gescheiterten Koalitionsverhandlungen eskaliert die Gewalt in der Türkei keineswegs unerwartet. Die Eskalation wurde gezielt provoziert – vor allem von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, dessen »Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt« (AKP) bei den Wahlen im Juni die absolute Mehrheit verloren hatte. Die pro-kurdische »Demokratiepartei des Volkes« (HDP) zog mit 80 Sitzen erstmalig in die Nationalversammlung in Ankara ein und wurde gleich drittstärkste Partei. Nun soll am 1. November neu gewählt werden. Die türkischen Medien verbreiten derzeit fast täglich Beschuldigungen wie »Achtzig Sitze haben sie und alles ist schlimmer geworden« oder »Terrorbefürworter sitzen in unserem Parlament«. Objektive Nachrichten gibt es in der Türkei nicht mehr. Die Medien werden entweder direkt von der AKP kontrolliert oder mit Gerichtsverfahren und Gewalt auf Linie gebracht. Anfang September stürmte ein Mob gleich zweimal hintereinander das Redaktionsgebäude der Tageszeitung »Hürriyet«. Die Polizei, sonst nicht zimperlich beim Zurückdrängen von Demonstranten, greift in solchen Fällen immer erst in letzter Minute ein. »Hürriyet« hatte gewagt, die Zusammenhänge zwischen den gescheiterten Koalitionsverhandlungen und Erdoğans Destabilisierungspolitik zu thematisieren. Die Eskalation der Gewalt folgt perfiden Mustern. Die Hintergründe des Selbstmordattentates in Suruç auf junge prokurdische Aktivisten, die beim Wiederaufbau im syrischen Kobane helfen wollten, sind nach wie vor ungeklärt. 34 Menschen starben, mehr als 70 wurden zum Teil schwer verletzt. Die Türkei verkündete der Weltöffentlichkeit, den »Islamischen Staat«, dem das Attentat zugeschrieben wurde, wirksam bekämpfen zu wollen. Doch die türkische Luftwaffe fliegt seit Ende Juli fast ausschließlich Bombenangriffe gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Die PKK hatte nach dem Anschlag in Suruç zwei türkische Polizisten erschossen. Die Organisation wirft der Polizei vor, mit der Terrormiliz IS kollaboriert zu haben. Den Friedensprozess mit den Kurden kündigte die Türkei daraufhin auf. Die HDP wird trotz einer stringenten Friedenspolitik systematisch diffamiert, gegen die Parteispitze ermittelt die Staatsanwaltschaft. Und im Osten der Türkei will die Regierung offenbar gezielt Gewalt schüren – wie in Cizre, einer Stadt nahe der syrischen und der irakischen Grenze. Die Regierung erklärte lapidar, dass sich in Cizre PKK und Militär bekämpften. Doch Augenzeugen berichten, dass zunächst türkische Sicherheitskräfte und regierungstreue Milizen mit scharfer Munition auf unbewaffnete Demonstrierende geschossen hätten. Erst daraufhin hätten Jugendliche, die der PKK nahestehen, sogenannte Volksverteidigungskräfte gegründet, die Sprengsätze zündeten. Die Sicherheitskräfte rückten mit Panzerfahrzeugen an und schossen auch auf Zivilisten mit scharfer Munition. Die türkische Regierung erklärte am 14. September, bis zu 32 Kämpfer der PKK seien während der neuntägigen Ausgangssperre in Cizre getötet worden. Am selben Tag wurden dort sechzehn Menschen beerdigt. Fünf der Toten waren älter als siebzig, vier unter fünfzehn, darunter ein 35 Tage altes Baby, das aufgrund der Ausgangssperre an medizinischer Unterversorgung starb. Die zehnjährige Cemile verblutete, weil sie beim Spielen auf der Straße aus einem gepanzerten Fahrzeug angeschossen worden war. Die Eltern hatten ihre Kinder aufgrund der Ausgangssperre nicht in ein Krankenhaus bringen können. Vergeltungsschläge der PKK, wie der Angriff auf eine Militäreinheit in Dağlıca an der irakischen Grenze, bei dem 16 Soldaten getötet wurden, tragen zur Eskalation der Gewalt bei. Eigentlicher Auslöser ist jedoch die aggressive Politik der türkischen Regierung. Erdoğan destabilisiert die Region – zum eigenen Machterhalt. Die Autorin ist Journalistin und lebt in Istanbul.
NACHRICHTEN
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KOLUMNE
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Foto: Zach Gibson / The New York Times / Redux / laif
»SCHRITT FÜR SCHRITT WIRD ES BESSER«
Endlich in Sicherheit. Mohamed Soltan vor seinem Appartement in Falls Church im US-Bundesstaat Virginia.
Fast zwei Jahre lang wurde der USStaatsbürger Mohamed Soltan in einem ägyptischen Gefängnis festgehalten und misshandelt. Mit einem 16-monatigen Hungerstreik protestierte er gegen seine Haft. Nun durfte er in die USA ausreisen. Mohamed Soltan ist seit Anfang Juni wieder in den USA. Der politische Aktivist saß 21 Monate in einem ägyptischen Gefängnis. Aus Protest gegen seine Haftbedingungen trat er in einen Hungerstreik, der 16 Monate andauerte. Bleibende Organschäden habe er nicht, aber sein Körper müsse sich erst wieder darauf einstellen, dass die Tortur vorbei sei, sagt der 27-Jährige: »Schritt für Schritt wird es besser, auch mit dem Schlafen.« Mohamed Soltan wurde im August 2013 festgenommen, als Sicherheitskräfte in das Haus seiner Familie eindrangen auf der Suche nach seinem Vater, einem bekannten Mitglied der Muslimbruderschaft. Als sie ihn nicht fanden, nahmen sie stattdessen den Sohn sowie drei seiner Freunde mit. Amnesty setzte sich mit einer »Urgent Action« für ihn ein. Auch die US-Regierung forderte eine Freilassung aus humanitären Gründen, denn Mohamed Soltan besitzt auch die USamerikanische Staatsbürgerschaft. Mit einem Hungerstreik protestierte er
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gegen seine willkürliche Inhaftierung und die Haftbedingungen. Erst verweigerte er Fleisch, dann Kohlehydrate und schließlich auch Milchprodukte. Zur Strafe landete er in Einzelhaft. Während seiner Haft wurde Mohamed Soltan wiederholt misshandelt. Gleich bei seiner Ankunft verprügelten ihn das Sicherheitspersonal und Mitgefangene zwei Stunden lang mit Stöcken, Peitschen und Gürteln. Über diese und andere Foltererfahrungen berichtete er nach seiner Freilassung der »New York Times«: Schlafentzug durch Dauerbeleuchtung und Blitzlicht, Selbstmordaufforderungen durch die Wärter, die auch Rasierklingen unter seiner Zellentür durchschoben, weitere Schläge. Einmal wurde ihm über Nacht ein krebskranker Mitgefangener zum Sterben in die Zelle gelegt. Ein Gericht verurteilte Mohamed Soltan im April 2015 zu lebenslanger Haft. Ihm wurden die Finanzierung eines Sitzstreiks sowie die »Verbreitung falscher Informationen zur Destabilisierung des Landes« vorgeworfen. Dies sind nach internationalen Standards keine Straftaten, aber Mohamed Soltan ist nicht der einzige, der aufgrund solcher Anschuldigungen in Ägypten inhaftiert wurde. Viele der Protestierenden, die 2011 Hosni Mubarak aus dem Amt vertrieben, sind
inzwischen inhaftiert, stellt ein AmnestyBericht fest: »Die Massen auf den Straßen sind zu Massen hinter Gittern geworden«. Offizielle Zahlen fehlen, aber Schätzungen gehen inzwischen von bis zu 41.000 Protestierenden aus, die inhaftiert, angeklagt oder verurteilt wurden. Dass Mohamed Soltan nun wieder in Freiheit ist, hat er wohl der Tatsache zu verdanken, dass er die doppelte Staatsangehörigkeit besaß. Nach seiner Verurteilung legte er seine ägyptische Staatsbürgerschaft ab. Als Ausländer wurde er schließlich in die USA ausgewiesen, wo er aufgewachsen war und später Wirtschaft studiert hatte, bevor er für einen Job nach Ägypten ging. Nicht nur seine drei Freunde sitzen noch in Haft, sondern auch sein Vater, der inzwischen zum Tode verurteilt wurde. Amnesty fordert die Behörden auf, alle Personen, die ausschließlich wegen friedlicher Ausübung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit inhaftiert wurden, bedingungslos freizulassen. Amnesty appelliert auch an die internationale Gemeinschaft, nicht den gleichen Fehler zu machen wie zu Zeiten Mubaraks, als sie Menschenrechtsverletzungen in Ägypten über Jahrzehnte duldete. Text: Andreas Koob
AMNESTY JOURNAL | 10-11/2015
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.
AMNESTIE STATT STRAFLAGER
Yury Rubtsou war über seine Freilassung aus einer belarussischen Strafkolonie selbst überrascht. Nach einer von Präsident Alexander Lukaschenko erlassenen Amnestie kamen er und fünf weitere Oppositionelle Ende August vorzeitig frei. Rubtsou war 2014 festgenommen worden, weil er auf einer Kundgebung ein T-Shirt mit einer aufgedruckten Rücktrittsforderung an Lukaschenko getragen hatte. Während des Verfahrens, bei dem er zu einer Verwaltungshaftstrafe von 25 Tagen verurteilt wurde, hatte er den Richter kritisiert, woraufhin er in einem weiteren Verfahren zu zweieinhalb Jahren Haft in einem Straflager verurteilt wurde. BELARUS
SANKTIONEN NACH FOLTER
PHILIPPINEN Zwei Polizisten, die Alfreda Disbarro in Polizei-
gewahrsam folterten, sind um einen Dienstgrad herabgestuft worden. Ihnen wurden Körperverletzung und Verstöße gegen die Dienstpflicht nachgewiesen. Disbarro hatte mit Erfolg eine Verwaltungsbeschwerde eingereicht – ein Vorgang, der sonst nur äußerst selten Konsequenzen nach sich zieht. Amnesty drängt darüber hinaus auf eine Verurteilung der Polizisten nach dem philippinischen Antifoltergesetz und setzt sich weiterhin für die nach wie vor inhaftierte Mutter ein.
LEBEND ZURÜCKGEKEHRT
SYRIEN Fast dreieinhalb Jahre galt Mazen Darwish als vermisst. Mitte August wurde der bekannte syrische Menschenrechtsanwalt freigelassen. Er war im Februar 2012 vom Geheimdienst der syrischen Luftwaffe verschleppt worden. Trotz Nachfragen erhielten weder seine Familie noch seine Rechtsbeistände Auskunft über seinen Verbleib. Darwish ist Mitbegründer des »Syrian Centre for Media and Freedom of Expression«. Er hatte zu Anfang des Bürgerkriegs kritisch über das Vorgehen der Sicherheitskräfte berichtet und für die Freilassung politischer Gefangener demonstriert. Amnesty hatte sich seit seinem Verschwinden für ihn eingesetzt. Während seiner Haft zeichnete ihn sowohl die englische Sektion der Schriftstellerorganisation PEN als auch die UNESCO für sein Engagement für die Meinungs- und Medienfreiheit aus.
AUS DER HAFT ENTLASSEN
DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO Der Aktivist Bienvenue Matumo ist nach mehrtägiger Haft wieder frei. Der kongolesische Geheimdienst hatte ihn Anfang August inhaftiert, nachdem er an einer Veranstaltung teilgenommen hatte, die unter anderem vom nationalen Jugendparlament organisiert worden war. Die Gründe seiner Inhaftierung sind nicht bekannt, er wurde auch nicht angeklagt. Der Aktivist ist mit zwei gewaltlosen politischen Gefangenen befreundet, die seit März in Haft sitzen und die er seither regelmäßig im Gefängnis besucht.
EINSATZ MIT ERFOLG
SELMIN ÇALIŞKAN ÜBER
DIE GRENZEN DES ERTRÄGLICHEN
Foto: Amnesty
EINSATZ MIT ERFOLG
Nie war es so deutlich wie heute: Die europäische Flüchtlingspolitik ist gescheitert. Und was machen die Regierungen der EU-Staaten? Sie streiten, zögern, vertagen sich. Allein in Bezug auf weitere Abschottungsmaßnahmen herrscht Einigkeit. So sollen Länder, in denen Roma und Homosexuelle ständiger Diskriminierung ausgesetzt sind, nun zu »sicheren Herkunftsstaaten« erklärt werden. Die Grenzschutzagentur Frontex, die in einem menschenrechtlichen Vakuum ohne substanzielle Kontrolle agiert, soll ausgebaut werden. Selbst eine engere Kooperation mit »Drittstaaten entlang der Fluchtrouten« wird angestrebt: afrikanische Länder, aus denen selbst Tausende Menschen fliehen müssen, weil der Staat der Verfolger ist. Die EU-Mitgliedstaaten verweigern schutzbedürftigen Menschen aus Syrien oder Eritrea weiterhin einen sicheren Zugang zu einem fairen Asylverfahren – und treiben die Flüchtlinge damit in die Hände jener Schlepper, die man militärisch noch stärker bekämpfen will. Ungarn schießt mit Tränengas und errichtet Stacheldrahtzäune, an der griechisch-türkischen Grenze steht längst einer, in ganz Europa fallen die Schlagbäume. Europa setzt eine seiner größten Errungenschaften aufs Spiel: die Freizügigkeit. An alledem ist auch Angela Merkel nicht unbeteiligt – jene Politikerin, die derzeit weit über die europäischen Grenzen hinaus als Heilsbringerin der Flüchtenden verehrt wird und sich dazu bekannt hat, Menschen in Not helfen zu müssen. Die fatale EU-Abschottungspolitik der vergangenen Jahre wäre nicht möglich gewesen, hätte Berlin ihr nicht zugestimmt, sie sogar vorangetrieben. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, endlich umzudenken und die eigene Durchsetzungskraft auf europäischer Ebene für eine menschenrechtskonforme Flüchtlingspolitik zu nutzen. Am 3. Oktober feiern wir den Tag der deutschen Einheit. Es ist das 25. Mal seit dem Fall der Mauer. Grenzen überwinden – so lautet denn auch das diesjährige Motto. Wer zu den Feierlichkeiten aus dem Ausland anreisen möchte, sollte seinen Ausweis bei sich führen. Erst recht, wenn man »zu dunkel« aussieht. Es wird wieder kontrolliert. Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
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TITEL
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AMNESTY JOURNAL | 10-11/2015
Willkommen in Deutschland
Viele Bürgerinnen und Bürger zeigen eine überwältigende Hilfsbereitschaft angesichts der extremen Lage von Flüchtlingen. Zugleich nimmt aber auch die Zahl der Anschläge auf Unterkünfte drastisch zu. Und viele europäische Regierungen beginnen wieder, Grenzen zu kontrollieren und Zäune zu errichten.
»Wenn es so weitergeht, werden wir alle krank.« Notaufnahmelager in einer Turnhalle der TU Chemnitz. Foto: Christian Ditsch
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»Wie geht es Dir?« Deutschunterricht auf der Wiese vor der Flüchtlingsunterkunft in Heidenau.
Willkommen in Deutschland Sie leben in Baumärkten, Turnhallen, Zelten oder sogar unter freiem Himmel: Trotz großer Anstrengungen sind die Behörden mit der Unterbringung der zum Teil traumatisierten Flüchtlinge oftmals überfordert. Derweil gehen die rassistischen Anschläge weiter. Von Heike Kleffner (Text) und Christian Ditsch (Fotos)
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ine Wiese, auf der sich an diesem letzten heißen Augustabend kleine Gruppen von jungen Männern, Frauen und Kindern aus Syrien, dem Irak und Afghanistan niedergelassen haben. In einer der Gruppen sitzt Periwan* aus Syrien mit Kai und lernt Deutsch. Auf einer tragbaren weißen Tafel notiert der schlaksige 19-Jährige immer neue Sätze. Das achtjährige Mädchen, ihr Onkel Hozan Kadr und die anderen Flüchtlinge schreiben sorgfältig mit: »Wie geht es Dir? Mir geht es gut.« Dann sprechen sie die Sätze nach und lachen. Kai sei »the best teacher of the world«, ruft einer der jemenitischen Männer, der bis zu seiner Flucht selbst als Englischlehrer gearbeitet hat. Und Deutschland »the land of my dreams«, das Land seiner Träume. Alle aus der Gruppe nicken – und dennoch: Diese Wiese, mitten in der 16.000-Einwohnergemeinde Heidenau, ist nicht nur Ort von ersten Begegnungen mit Anwohnern wie Kai. Der junge Deutschlehrer kennt viele persönlich, die nach Periwans Ankunft Ende August auf dieser Wiese standen und »Nein zum Heim« brüllten. Gerade deshalb setzt er sich für alle sichtbar mit den Flüchtlingen auf das heruntergetrampelte Gras. Die Grünfläche neben dem ehemaligen Baumarkt, in dem die zierliche Periwan, ihr Onkel und sechshundert weitere Flüchtlinge seit dem 23. August untergebracht sind, markiert aber auch eine unsichtbare Grenze: Wer die Schnellstraße zum gegenüberliegenden Einkaufszentrum überquert, muss damit rechnen, beleidigt, angespuckt und bedroht zu werden. Seine Nichte habe sich auf ihrem Feldbett panisch an ihn geklammert, als sie am Abend ihrer Ankunft die »Ausländer Raus«-Parolen, Feuerwerkskörper, Steinwürfe, Sirenen und klirrende Flaschen hörten, berichtet Hozan Kadr. Er selbst habe sich in der stickigen Baumarkthalle wie im Gefängnis gefühlt – eingesperrt und unsicher. Die Tage des rassistischen Hasses und der zurückweichenden Polizisten, die Besuche von Vize-Kanzler Sigmar Gabriel und Bundeskanzlerin Angela Merkel, das von »Dresden Nazifrei« organisierte und erst nach bundesweiten Protesten durchgesetzte »Willkommensfest« – diese erste Woche in Heidenau liegt jetzt hinter den unfreiwilligen Bewohnern des Baumarkts. Die Hälfte kommt aus Syrien, auch Afghanen bilden eine größere Gruppe. Ein Sechstel sind Kinder, die meisten zwischen sechs und zwölf Jahre alt. Er sei Deutschland sehr dankbar, dass die Flucht ein Ende und er mit seiner Nichte endlich ein festes Dach über dem Kopf habe, sagt Hozan Kadr. Und dennoch: Die nahezu fensterlose Baumarkthalle, in der Plastikplanen die langen Reihen von Feldbetten unterteilen, die knapp bemessenen Sanitäreinrichtungen, die stickige Luft, ein ständiger Geräuschteppich wirkt auf viele entmutigend. Bislang haben alle aus Kais Deutschkurs lediglich ein kopiertes Papier, das sie als »registrierte Asylbewerber« ausweist und eine Plastikkarte für die Essensausgabe. Der Mangel an Privatsphäre, die Ungewissheit über das weitere Verfahren und die bislang fehlende medizinische Erstuntersuchung machen allen hier Sorgen: »Wenn es so weitergeht, werden wir alle krank. Entweder, weil es unter uns Menschen mit ansteckenden Krankheiten gibt, oder weil wir krank im Kopf werden«, sagt Hozan Kadr.
Durch Europa gelaufen Solange das Wetter noch gut ist, bleiben ihnen die Wiese und der angrenzende Parkplatz als Fußballplatz und Open-Air-Klassenzimmer. In Syrien lebte Periwan in einem kurdischen Dorf nahe der irakischen Grenze. Eine Schule hat sie nie besucht. Arabisch zu lesen und zu schreiben, hat die Achtjährige in einem Flücht-
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lingslager im Nordirak gelernt, in das sie mit ihrer Familie geflohen war, nachdem der »Islamische Staat« ihr Dorf angegriffen hatte. Hier traf sie auch Hozan Kadr wieder. Der 26-Jährige wollte eigentlich seine Radiologen-Ausbildung beenden. Stattdessen arbeitete er in einem medizinischen Team zur Unterstützung der kurdischen Peschmerga im Kampf gegen den »Islamischen Staat« – bis er sich gemeinsam mit Periwans Familie zur Flucht nach Europa entschloss. An der Grenze zwischen dem Nordirak und der Türkei wurden Hozan Kadr und Periwan im Gedränge zwischen türkischen Soldaten und Hunderten Flüchtlingen von den Eltern des Mädchens getrennt. Seitdem, sagt Hozan Kadr, ist die Achtjährige »fast immer gelaufen«. Hozan Kadr und seine Nichte hoffen jetzt auf ein Lebenszeichen von den Eltern des Mädchens und darauf, dass Periwan in einer richtigen Schule Deutsch lernen kann. Wann dies der Fall sein wird, kann keiner der dreißig Helfer des Roten Kreuzes sagen, die die Flüchtlinge im Schichtbetrieb betreuen. Zwischen sechs Wochen und drei Monaten blieben die Flüchtlinge derzeit in den Notunterkünften, heißt es bei der für die Unterbringung zuständigen Landesdirektion Sachsen. Erst dann haben sie einen Anspruch auf mindestens sechs Quadratmeter pro Person, ein Mindestmaß an Privatsphäre. Erst dann dürfen Flüchtlingskinder in Sachsen zur Schule gehen. Auch verlässliche Prognosen über die Dauer der Asylverfahren kann derzeit niemand treffen. Die Dresdener Anwältin Kati Lang hat die Erfahrung gemacht, dass eine Verfahrensdauer von sechs Monaten bis zu einem Jahr bei syrischen Flüchtlingen inzwischen normal geworden ist. »Das Nadelöhr« sei derzeit das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das in ganz Sachsen lediglich über eine Außenstelle in der Zentralen Erstaufnahmestelle in Chemnitz verfügt. Es ist sowohl für die Annahme der Asylanträge als auch für die Anhörung und die Entscheidung über die Anträge zuständig. Lediglich bei Asylsuchenden aus sogenannten »sicheren Herkunftsländern« gebe es sehr schnell negative Entscheidungen. Seit den rassistischen Angriffen sind Polizeibeamte in Mannschaftswagen vor dem Baumarkt in Heidenau stationiert. Während Periwan und ihr Onkel von ihrer Flucht berichten, setzen die Polizisten plötzlich ihre Helme auf und rennen los. Wenig später berichtet ein Bekannter von Hozan Kadr, es habe eine Prügelei bei der Essensausgabe gegeben. Andreas Heinz, Amnesty-Mitglied und Leiter der Klinik für Psychologie und Psychiatrie an der Berliner Charité, kennt Berichte von Gewaltausbrüchen in Massenunterkünften: »Hier sind die Flüchtlinge einerseits in Sicherheit, andererseits verlieren sie plötzlich die Kontrolle über ihr Leben«, sagt er. Depressionen und Rückzugstendenzen seien häufige Symptome. Wenn Menschen mit unterschiedlichsten Traumata und Gewalterfahrungen auf engstem Raum zusammenleben, steige der Stresspegel für alle enorm.
Zeltstädte, Turnhallen, Baumärkte »Rein technisch gesprochen«, sagt Kai Kranich, Pressesprecher des Roten Kreuzes Sachsen, »ist der Baumarkt in Heidenau eine bessere Lösung als die Unterbringung in Turnhallen oder in Zelten.« Es gebe genügend Platz für die Essensausgabe, abtrennbare Bereiche, Stromanschlüsse und Heizmöglichkeiten müssten nicht extra installiert werden und der Boden werde bei Regen nicht zur Schlammwüste wie beispielsweise in den Notunterkünften in Chemnitz. »Von menschenwürdig sind wir noch weit entfernt«, meint Kranich. »Wir wollen keine Zelte, aber die Alternative wäre derzeit vielerorts, dass Menschen auf der Straße schlafen müssten.«
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»Wenigstens ein Dach über dem Kopf.« Erstaufnahmestelle des Landes Thüringen in Eisenberg.
Hozan Kadr und Periwan überlegen, ob ein Ausflug nach Dresden eine »Pause vom Camp« bringen könnte. Doch der Fußweg bis zum Bahnhof, die Frage, ob sie unter der Residenzpflicht für Asylbewerber überhaupt den Landkreis verlassen dürfen und die Fahrtkosten – nach einer Flucht über Tausende Kilometer scheint Dresden plötzlich eine Weltreise von Heidenau entfernt. »Mein letztes Geld hat der Schlepper bekommen«, erzählt Hozan Kadr. Das wöchentliche Taschengeld von 33 Euro, das alleinstehende Asylbewerber bekommen, gibt es in Sachsen erst nach der medizinischen Erstuntersuchung. »Und zu Fuß zu gehen, erscheint mir hier nicht sehr sicher.« Vier Brandanschläge und 49 Aufmärsche vor Flüchtlingsunterkünften, 61 Angriffe auf Flüchtlinge, die Hälfte davon Körperverletzungen, hat die Amadeu Antonio Stiftung in den ersten acht Monaten des Jahres allein in Sachsen registriert. In Heidenau und zwei weiteren Unterkünften wurden Security-Mitarbeiter entlassen, nachdem sie als Neonazis enttarnt wurden. Hinzu komme ein großes Dunkelfeld nicht angezeigter Bedrohungen und Gewalttaten, sagt Andrea Hübler von der Opferberatung der Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie in Sachsen. Hübler erinnert daran, dass in Orten wie Freital oder Meißen den Brandanschlägen monatelange »Nein zum Heim«-Kampagnen vorausgegangen waren, denen Kommunen und Strafverfolgungsbehörden nicht entschieden genug entgegengetreten seien.
Reis und Fladenbrot Fero, ein 19-jähriger kurdischer Medienaktivist aus Damaskus und die zehn Jahre älteren Hassan und Suleiman aus Bagdad, die seit zwei Wochen mit knapp 950 weiteren Geflüchteten in der »Dresdener Zeltstadt« leben, sind sichtlich glücklich, als ih-
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nen im kleinen Garten des kurdischen Kulturvereins im Dresdener Stadtteil Pieschen ein Stuhl und ein Teller mit Reis, Fladenbrot und gekochtem Rindfleisch angeboten werden. So unterschiedlich wie ihre Fluchtgründe ist jetzt auch ihr Umgang mit dem Leben in den Zelten. Hassan, bis vor wenigen Wochen noch Leiter einer Bankfiliale, hat seine Flucht mit dem Smartphone so präzise dokumentiert wie vor ein paar Monaten noch die Kontobewegungen seiner Kunden und postet jetzt Fotos auf Facebook. Suleiman, der Lebensmittelingenieur aus Bagdad, der in einem der zahllosen illegalen Gefängnisse schiitischer Milizen interniert war und sah, wie seinem jüngeren Bruder glühende Zigaretten auf dem Hodensack ausgedrückt wurden, berichtet leise, wie ängstlich er war, als ihm deutsche Polizisten Plastikfesseln anlegten. Fero, der zu einem Kollektiv syrischer Aktivisten gehörte, die im Internet Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg dokumentieren, floh erst, als er an den »Islamischen Staat« verraten und seine Cousins bei einem ISMassaker in Tal Abyad ermordet wurden. Er träumt von einem Journalistik-Studium in Deutschland – um dann irgendwann »in einem demokratischen Syrien« als Journalist arbeiten zu können. Einig sind sich die drei in ihrem Wunsch nach einer warmen Dusche. »Wir schämen uns, anderen zu nahe zu kommen, weil wir stinken«, sagt Hassan. Die anderen beiden nicken und fügen hinzu, dass sie »auf gar keinen Fall« nach Heidenau oder in eine Turnhalle nach Chemnitz umverteilt werden wollen. Dort leben 250 Männer und drei Jungen. »Schau dir meinen Käfig an«, meint ein Zwölfjähriger und zeigt auf übereinandergestapelte Feldbetten mitten in der Halle. Im knapp 180 Kilometer entfernten Eisenberg wartet Kerstin Dämmrich, die kommissarische Leiterin der Zentralen Erstauf-
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nahmeeinrichtung in Thüringen, auf Nachrichten über die zu diesem Zeitpunkt noch im Budapester Bahnhof festsitzenden Flüchtlinge. Sie bereitet sich darauf vor, den bevorstehenden Ausnahmezustand zu bewältigen. Für den Nachmittag ist ein Unwetter vorhergesagt. Die ehemalige Polizistin warnte schon vor zwei Jahren, dass die Flüchtlingszahlen steigen würden und es an Ressourcen mangele. Während die Neuankömmlinge vor der Pforte warten, versucht Dämmrich diejenigen, die auf dem Gelände nicht in Gebäuden oder Containern, sondern in Zelten untergebracht sind oder im Freien warten, nach Suhl zu bringen. Doch die Nachricht, dass sich in der dortigen Unterkunft mit über 1.200 Flüchtlingen eine Massenschlägerei ereignete, hatte sich schnell verbreitet. Es dauert, bis die Menschen überzeugt werden können, in die Busse einzusteigen, die sie in die voll belegte ehemalige Kaserne in Suhl bringen sollen. »Dabei haben sie dort wenigstens ein Dach über den Kopf«, sagt Kerstin Dämmrich erschöpft. Mehr als 150 Menschen kommen täglich in Eisenberg an – manche werden von Schleppern an der nahen A4 ausgesetzt und dann von der Polizei gebracht, andere kommen mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder aus der Umverteilung zwischen den Bundesländern. Längst sind in Eisenberg die Grenzen der Unterbringungsmöglichkeiten erreicht. Kerstin Dämmrichs Traum: mindestens zehn weitere Vollzeit-Mitarbeiter – und mehr Anerkennung für ihr Team, dessen Überstunden sie schon gar nicht mehr zählen kann. Und Zeit, »um mal wieder mit den Menschen, die hier ankommen, zu sprechen«. Im Baumarkt von Heidenau warten die Flüchtlinge Mitte September immer noch auf die medizinische Erstuntersuchung. Hozan Kadr und Periwan träumen inzwischen von warmen Decken. Mit einer Menschenkette geben die Flüchtlinge öffentlich bekannt: »Wir frieren.« Auf ein Schild hat ein syrischer Mann geschrieben: »We die slowly – wir sterben langsam.« Einige Stunden später marschieren erneut 250 Leute mit »Nein zum Heim«-Parolen durch Heidenau. * Alle Namen von der Redaktion geändert. Die Autorin ist Journalistin und betreut seit über zehn Jahren das Rechercheprojekt »Todesopfer rechte Gewalt seit 1990«.
Überfälliger Perspektivwechsel Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine Flüchtlingsunterkunft angezündet wird. Flüchtlinge und die, die für Flüchtlinge gehalten werden, müssen befürchten, bedroht, beleidigt oder geschlagen zu werden. Die Brutalität und der Hass, die sich ihnen gegenüber entladen, fußen auf einer jahrzehntelangen Verharmlosung und Verleugnung rassistischer Einstellungen in allen Teilen der Gesellschaft. Die rassistische Gewalt fühlt sich bestärkt durch eine Politik, die lange Zeit einseitig auf Abschottung gesetzt und Flüchtlinge überwiegend als Bedrohung und Problem thematisiert hat. Gegenwärtig sind Anzeichen für einen überfälligen Perspektivwechsel erkennbar, wie die beispiellose und großartige Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Diese Ehrenamtlichen brauchen gleichwohl Unterstützung: Zivilgesellschaftliche Programme zur Rassismusprävention müssen dauerhaft gefördert und flächendeckend ausgebaut werden. Flüchtlinge müssen angemessen untergebracht und versorgt sein – auch medizinisch und psychologisch – und an der Gesellschaft teilhaben können. Damit ist es aber nicht getan: Denn Rassismus ist kein Monopol von gewalttätigen Neonazis, die sich als Vollstrecker einer schweigenden Mehrheit fühlen, was die in weiten Kreisen salonfähigen »Ich habe nichts gegen Flüchtlinge, aber …«-Sätze mehr als deutlich zeigen. Wenn rassistische Ressentiments sich als »Ängste besorgter Bürgerinnen und Bürger« tarnen, darf es kein Verständnis dafür geben. Statt verharmlosend von Feindlichkeit gegenüber vermeintlich Fremden zu sprechen, muss die Politik sich klar auf die Seite der Bedrohten stellen und ihre Ängste ernstnehmen. Das ist auch menschenrechtlich geboten. Denn von Rassismus Betroffene tragen weltweit ein besonders hohes Risiko, in ihren Menschenrechten verletzt zu werden – deshalb haben Staaten eine besondere Verantwortung für ihren Schutz. Lange genug ging es um die Frage, wie viele Flüchtlinge kommen. Jetzt muss die Frage in den Mittelpunkt rücken, wie wir sie gut aufnehmen. Dorothee Haßkamp ist Sprecherin der Themenkoordinationsgruppe Antirassismus der deutschen AmnestySektion.
Leben in der Zeltstadt. Hassan.
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ÂťDamals gab es Essensund Kleidermarken, aber nicht die Hilfe, die es heute gibt. Das macht einen deutlichen Unterschied.ÂŤ Moro, Berlin-Moabit 20
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Alles, was geht Überall in Deutschland setzen sich Menschen für Flüchtlinge ein und leisten Außerordentliches. Auch dort, wo sie mit Widrigkeiten und Anfeindungen zu kämpfen haben. Von Andreas Koob (Text) und Gustav Pursche (Fotos)
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ie duzen sich untereinander und loten aus, was sie gemeinsam mit Flüchtlingen verändern können. Überall in Deutschland engagieren sich Menschen vor der eigenen Haustür und bestimmen damit, was im ganzen Land passiert. Den Meinungsmachern, die von einem drohenden Stimmungsumschwung in Anbetracht steigender Flüchtlingszahlen sprechen, beweisen die Engagierten täglich das Gegenteil. Der Rassismus ist damit nicht aus der Welt, aber ihm bleibt weit weniger Raum. Solange die Freiwilligen aktiv bleiben, geschieht selbst an Orten, wo Hass und staatliches Versagen nicht zu übersehen sind, verblüffend viel Gutes.
Berlin-Moabit: Was Ehrenamtliche leisten, wenn die Behörden versagen Moro schreibt seinen Namen auf ein Stück Paketband, das er auf sein buntes Hemd klebt. Es ist sein erster Tag als Helfer, hier auf dem weitflächigen Gelände des Landesamts für Gesundheit und Soziales in Berlin-Moabit. Ohne Umschweife geht es los: Er betreut mit fünf anderen Helferinnen und Helfern die Ausgabe der gespendeten Kindersachen, die »Moabit Hilft« gesammelt hat. Nur ein dünner Faden sperrt den Zugang zum Areal der Kleiderausgabe ab, das einem winzigen Flohmarkt gleicht: Kinderkleidung liegt nach Größe sortiert auf hohen Stapeln, daneben stehen Kinderwagen und Buggys. Nur drei bis vier Flüchtlinge dürfen auf einmal rein, um dann selbst aussuchen zu können. So wie Moro kommen unzählige Menschen hierhin, um mitzumachen – manche täglich, manche an ihren arbeitsfreien Tagen, einige schon seit mehreren Wochen, andere zum ersten Mal. »Moabit hilft« leistet Beachtliches: Ehrenamtliche organisieren und verteilen Essen und Getränke, übersetzen und betreuen Kinder. Auch eine medizinische Versorgung gibt es für die zum Teil verletzten und traumatisierten Flüchtlinge. Völlig erschöpft warten sie vor der zentralen Erstaufnahmestelle, stunden-, manchmal auch tagelang, erst auf ihre Wartenummer, dann auf ihre Registrierung, bevor sie einer Berliner Flüchtlingsunterkunft zugeteilt werden. Für die vielen hundert
Menschen, die das weitläufige Areal jeden Tag und bei jedem Wetter füllen, ist dieser Zustand eine wahnsinnige Geduldsprobe. Die meisten von ihnen tragen kaum etwas bei sich. »Für jedes Kind gibt es ein Paar Schuhe, ein Oberteil, eine Hose. Mehr nicht, damit es für alle reicht«, erklärt Moro immer wieder, abwechselnd auf Arabisch, Französisch, Englisch und Deutsch, wenn er die Leute in den Bereich mit den Spenden lässt. Er ermahnt jene, die mehr wollen, genauso wie jene, die sich zu wenig nehmen. Das macht er unaufdringlich und zugleich so bestimmt, dass er sich nicht wiederholen muss. Für ihn sei es logisch, hier zu helfen, sagt Moro, der Anfang der neunziger Jahre selbst als Flüchtling nach Deutschland kam. »Das war, als Amadeu Antonio Kiowa in Eberswalde totgeprügelt wurde«, sagt Moro, der auch selbst rassistische Gewalt erlebte. »Damals gab es Essens- und Kleidermarken, aber nicht die Hilfe, die es heute gibt. Das macht einen deutlichen Unterschied.«
»Ich bin nach wie vor sehr vorsichtig, mit wem ich hier rede.« Haydar, Freital WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND
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Spenden zu verteilen, ist nur eine der vielen Aufgaben der Freiwilligen. Über Wochen hinweg koordinierten und organisierten Ehrenamtliche alles, was Flüchtlinge hier an Unterstützung bekamen. Mit Spenden und Hilfsbereitschaft arbeiteten sie gegen einen Zustand an, den die Initiative als »unterlassene Hilfeleistung in katastrophalem Ausmaß« bezeichnet. Mitten in Berlin werde fundamental gegen Menschenrechte verstoßen. »Amtlich scheint alles völlig unorganisiert, die Helfenden hingegen sind erstaunlich organisiert«, sagt Moro in einer kurzen Pause am frühen Nachmittag. Plötzlich schallen Sprechchöre über das Gelände. Gut sechzig Flüchtlinge protestieren dagegen, dass heute keine weiteren Wartenummern ausgegeben werden. Die Anspannung, die aus dem Warten entsteht, entlädt sich. Einer der Männer, der eben noch skandiert hat, wird jetzt von zwei Polizisten verfolgt. »Ich schwör dir, du kriegst Pfeffer«, droht ein Polizist, der mit dem Mann rangelt und ihm Pfefferspray vor das Gesicht hält. Der Mann zieht sich zurück, er wird morgen wiederkommen müssen. Dann werden auch die Helferinnen und Helfer wieder da sein. Ab 8 Uhr, wenn es neue Wartenummern gibt und es an so wenig wie möglich fehlen wird, solange Moabit hilft.
Freital dort tobte, und sprachen mit den Flüchtlingen. Zuletzt fuhren sie zu den Asylsuchenden in Heidenau, als sich bei einem Willkommensfest viele erstmals nach den rassistischen Randalen wieder ins Freie begaben. Angepöbelt wurden Haydar und Ole auch dort, aber das kennen die beiden inzwischen.
Nauen: Wie es nach dem Brandschlag auf die geplante Unterkunft weitergehen kann Es hat gebrannt in Nauen. Um 6 Uhr las Nico die Nachricht auf Facebook. Da war die Turnhalle, in der die Flüchtlinge ab der kommenden Woche provisorisch unterkommen sollten, schon abgebrannt. Jetzt, zwölf Stunden später, steht er in einer Menschentraube von mehr als 400 Leuten, die zu einer spontanen Mahnwache gekommen sind. An diesem Abend erkennt man viele der in der Willkommensinitiative Engagierten an ihren knallorangenen Warnwesten. Die Kleinstadt ist jetzt Teil einer erschreckenden Chronik: 45 Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte haben Pro Asyl und die Amadeu Antonio Stiftung bis Anfang September gezählt. Im gesamten Vorjahr waren es 36. Die ersten Ermittlungsergebnisse in Nauen deuten auf eine detailliert geplante Tat hin. So manche
Freital: Was trotz Rassisten vor der Tür noch möglich ist Auf dem grünen Gartentisch steht eine üppig gefüllte Schale mit Lammfleisch und Couscous. Haydar* und Ole greifen zu. Sie sitzen hinter der Freitaler Flüchtlingsunterkunft, deren hintere Fassade zum Garten hin der Hausfront gleicht, vor der sich wochenlang rassistischer Protest formierte. Bäume spenden Schatten. Zehn Leute sitzen im Stuhlkreis mit Haydar und Ole, teils sind es Flüchtlinge, teils Unterstützende. Sie plauschen und planen. Heute ist Zeit zum Austausch, morgen folgt eine Aktion: Sie wollen ein bisher ungenutztes Zimmer zum Aufenthaltsraum für Kinder und Familien umgestalten. Auch sonst gibt es Sport, Begleitung zu Behörden oder Sprachkurse. Es ist eine Arbeit, wie sie viele Engagierte auch andernorts leisten, die sich hier in Freital aber in einem besonders menschenfeindlichen Umfeld behaupten muss. Seit dem Frühjahr häufen sich die Übergriffe auf Flüchtlinge. Ende Juni erschien Pegida-Initiator Lutz Bachmann vor dem umfunktionierten Hotel. Immer mehr Rechte und Rassisten waren präsent. Die ersten Leute, denen der hagere Haydar in Freital begegnete, gehörten jenem Mob an. Er war schockiert darüber, wie sie ihn den Hass spüren ließen. Zehn Tage lang ging der syrische Anwalt nicht vor die Tür. »Ich bin nach wie vor sehr vorsichtig, mit wem ich hier rede«, sagt Haydar, der sich bei seiner Flucht vier Mal ins Schlauchboot gesetzt hatte, bis er es endlich nach Europa schaffte. Auch die Menschen, die die Flüchtlinge unterstützten, wurden mehr und mehr zur Zielscheibe von Gewalt: Rechte drängten etwa ein Auto der Helfenden von der Straße, um es mit einem Baseballschläger zu demolieren. Auch Ole hat nicht vergessen, wie sie herumpöbelten, als er begann, hier mitzumachen. Es hat den Dresdner aber nicht abgehalten, sich zu engagieren. Er begleitet die Leute ins Krankenhaus, wenn die Sozialarbeiter wie so oft nicht aufzufinden sind, und schickt auch noch das zwanzigste Fax, wenn es Probleme mit offiziellen Dokumenten gibt. »Der Staat muss in diese Aufgaben hineinwachsen, das kann er nicht nur Freiwilligen überlassen«, meint Ole. Wenn Zeit bleibt, machen er und Haydar auch Ausflüge. So waren sie vor der Dresdner Zeltstadt, als der rechte Mob statt in
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»Das alles sollte losgehen, sobald die Menschen da sind.« Nico, Nauen AMNESTY JOURNAL | 10-11/2015
»Wir versuchen die Lage grundsätzlich zu verändern.« Bethi (re.), Eisenhüttenstadt
im Ort erinnert die Tat an eine Serie von Brandanschlägen, die rechte Jugendliche zwischen 2003 und 2004 in Nauen und Umgebung auf türkische und vietnamesische Restaurants verübten. Schon als die Stadtverordnetenversammlung im Februar zur lokalen Flüchtlingsunterbringung tagte, hatten Rechte die Sitzung mit Parolen unterbrochen. Das Parteibüro der Linken war zuletzt wiederholt attackiert worden und auch Nico wurde jüngst auf rechten Webseiten bedroht. Trotzdem standen die Engagierten in den Startlöchern. Deutschkurse, Patenschaften, Unternehmungen waren angedacht. »Das alles sollte losgehen, sobald die rund 120 Menschen da sind«, sagt Nico. Wann und wo die Asylsuchenden nun in Nauen unterkommen, ist auch zwei Wochen nach dem Brandanschlag noch völlig unklar. Nur dass mehr Menschen sie unterstützen wollen, scheint sicher. Bei einem ersten Treffen der Aktiven wird es eng im Raum.
Eisenhüttenstadt: Wie die eigene Heimerfahrung zum Mittel für Veränderung wird Schnurstracks schreitet Bethi über das Gelände der Erstaufnahme für Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt. Kurz darauf sitzt sie einer Gruppe von Frauen gegenüber und fragt: »Habt ihr Angst vor Übergriffen, wenn ihr nachts auf die Toilette geht?« Ohne Umschweife wirft sie Fragen wie diese in die Runde, was die Frauen zunächst verblüfft. Der Raum füllt sich, inzwischen sitzen elf Bewohnerinnen in dem kleinen Zimmer des Wohncontainers, dicht an dicht auf den sechs Betten, die fast lückenlos aneinandergereiht die eine Hälfte des Zimmers füllen.
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Bethi gründete im Jahr 2002 mit anderen Aktivistinnen die Initiative »Women in Exile«, um auf die besonders schutzlose Situation von Frauen in Unterkünften aufmerksam zu machen. Bethi hat ihr großes schwarzes Notizbuch auf dem Schoß liegen und den Stift im Anschlag. Aber auf ihre ersten Fragen bekommt sie keine Antworten. Vom Flur hallt grelles Kindergeschrei herüber. Unbeirrt fragt Bethi weiter: »Könnt ihr nachts gut schlafen?« Es folgt Kopfschütteln und plötzlich ist das Gespräch in vollem Gange. Die Frauen berichten ihr von rassistischen Anwohnerinnen und Anwohnern, von wochenlangen Stromausfällen und fehlenden Rückzugsräumen. Jetzt füllt sie die Seiten in ihrem dicken Notizbuch. »Wir versuchen diese unwürdigen Bedingungen politisch zu artikulieren«, sagt Bethi. »Women in Exile« agiere auf einer anderen Ebene als die Willkommensinitiativen. »Aber wir ergänzen uns sehr gut: Wir versuchen die Lage grundsätzlich zu verändern«, während die Mehrheit der Initiativen konkrete Abhilfe schaffe und das Allernötigste tue. Bethi hat selbst sieben Jahre mit ihren beiden Kindern in einem Heim in Prenzlau gelebt. An diese Zeit denkt sie nur ungern zurück. Trotzdem verbringt sie in den Unterkünften Berlins und Brandenburgs erneut viel Zeit und vernetzt sich mit geflüchteten Frauen. Jeden Mittwoch besuchte sie in den vergangenen Monaten eine andere Unterkunft. Dass sich die Situation für Flüchtlinge derzeit wieder verschärft, erfüllt sie mit Sorge. Zwar erhielten die meisten Flüchtlinge statt Gutscheinen und Sachleistungen inzwischen endlich Bargeld, aber kaum sei das umgesetzt, stelle es die Politik schon wieder infrage. Auch die Trennung zwischen schutzbedürftigen und nicht schutzbedürftigen Flüchtlingen führe »nicht nur zu Rassismus vor den Unterkünften, sondern auch in den Unterkünften, wo die hohe Aus- und Überlastung ohnehin Probleme mit sich bringt«. Gemeinsam mit den Frauen schaut sich Bethi auch in den anderen Gebäuden der weitläufigen Erstaufnahme um. Mit der Kamera in der Hand steht sie auf den glitschig dreckigen Fliesen einer Herrentoilette, die auch Frauen und Mädchen nutzen müssen, seit ihr Sanitärbereich wegen eines Defekts vor drei Wochen geschlossen wurde. Auch zum Duschen müssen sie zu den Männern ausweichen, ohne dass es irgendeinen Sichtschutz oder Türen gibt. Bethis Kamera verschwindet wieder im Rucksack. Die Situation im Bad wird bald wohl nicht mehr nur den Bewohnerinnen Probleme bereiten, sondern auch den Verantwortlichen. * Name von der Redaktion geändert. Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals. Sie wollen selbst aktiv werden? Hier finden Sie Tipps sowie Kontakte zu Gruppen vor Ort: www.proasyl.de/mitmachen
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»Die Mitte ist Teil Fast täglich werden Flüchtlingsunterkünfte überfallen, die Zahl der Angriffe ist dramatisch angestiegen. Rechtsextreme Einstellungen sind in allen Schichten der Gesellschaft verbreitet, hat der Sozialpsychologe Oliver Decker von der Universität Leipzig festgestellt. Die Uni Dresden fürchtet um ihren Ruf, weil viele ausländische Wissenschaftler wegen der rassistischen Umtriebe nicht mehr in die Stadt kommen wollen. Fühlen Sie sich in Leipzig noch wohl? Ich fühle mich hier sehr wohl. Wieso haben sich Bewegungen wie Pegida oder Legida ausgerechnet in Städten wie Dresden oder Leipzig etablieren können, die immer als sehr weltoffen galten? Man darf nicht den hohen Anteil derjenigen vergessen, die für Pegida- und Legida-Demonstrationen aus dem Umland anreisten. Natürlich gibt es auch in Leipzig eine rechtsextreme Szene und Einwohner, die, vielleicht ohne es selbst zu wissen, rassistisches und rechtsextremes Gedankengut teilen. Aber ihr Anteil ist, wie im gesamten Bundesgebiet, in den Städten geringer als auf dem Land – auch in Leipzig und Dresden. Gilt im Osten Deutschlands die Faustregel: Je weniger Ausländer in der Region leben, desto höher ist die Ablehnung? In der Forschung wurden deutliche Belege für die sogenannte »Kontakthypothese« gefunden: Menschen mit Kontakt zu Migrantinnen und Migranten haben in der Regel weniger Vorurteile. Es gibt aber auch Menschen, die ihre Vorurteile selbst im Kontakt mit stigmatisierten Menschen nicht aufgeben. Gerade diejenigen, die autoritär orientiert sind oder davon ausgehen, dass die Zugehörigkeit zu Gruppen wichtig ist, profitieren wenig von Kontakten mit denen, die sie abwerten. In Bayern haben wir beispielsweise die Situation, dass trotz eines hohen Anteils von Migrantinnen und Migranten rechtsextreme und ausländerfeindliche Einstellungen weit verbreitet sind. Was verbindet Sachsen und Bayern? Entscheidend für die politische Kultur sind sozialräumliche und historisch gewachsene Unterschiede. Manche Regionen im eigentlich wirtschaftlich starken Bayern sind von Veränderungen bedroht, die die ostdeutschen Bundesländer schon durchlaufen haben, etwa die Abwanderung von hochqualifizierten
»Bis zur Hälfte der Bevölkerung teilen, je nach politischer Lage, rassistische Positionen.« 24
jungen Menschen aus ländlichen Regionen. Was auf den ersten Blick als Gemeinsamkeit zwischen Sachsen und Bayern ins Auge fällt, ist die starke hegemoniale Position einer Partei über Jahrzehnte. Die Normalität einer – auch kontroversen – öffentlichen Debatte und eine parlamentarische Auseinandersetzung über unterschiedliche Positionen, mit der Aussicht auf wechselnde Mehrheiten, ist Luft, die die Demokratie zum Atmen braucht. Das trifft eben nicht nur auf ostdeutsche Bundesländer zu. In Bayern wäre das die Dominanz der CSU? Zum Beispiel. Ministerpräsident Horst Seehofer ist sicher kein Rassist. Aber wenn Großprojekte der CSU, wie zum Beispiel die Maut oder das Betreuungsgeld, scheitern, dann kann man beobachten, dass »rigorose Maßnahmen« gefordert und ausländer- oder migrationsfeindliche Inhalte bedient werden. Auch die Forderung der CSU nach einer Deutschpflicht für Migranten hing mit weit verbreiteten Ressentiments zusammen. Sogar Vertreter demokratischer Parteien bedienen diese – oder leugnen sie. Der frühere sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf etwa erklärte während seiner Amtszeit, dass es in Sachsen keinen Rechtsextremismus gäbe. Diese faktische Relativierung antidemokratischer Einstellungen setzte sich lange Zeit fort. Am Beispiel der Pogrome in der sächsischen Kleinstadt Mügeln kann man gut zeigen, wie die Probleme in Sachsen 20 Jahre lang verschleiert wurden. Das hatte zur Folge, dass rassistische Einstellungen – weil toleriert – als akzeptabel erscheinen, und das macht es heute schwierig, angemessen auf die zunehmende Artikulation der extremen Rechten zu reagieren. Sind Rechtsextremismus und extreme ausländerfeindliche Einstellungen mittlerweile gesellschaftsfähig geworden? Mit unseren »Mitte«-Studien zur rechtsextremen Einstellung dokumentieren wir seit 2002, wie weit verbreitet diese Orientierung ist. Deshalb auch der Studientitel: »Die Mitte.« Denn die Mitte der Gesellschaft ist kein Schutzraum der Demokratie, sondern selbst Teil des Problems. Hinzu kommt seit vergangenem Jahr wieder die Gewalt gegen Migranten. Pogromartige Ausschreitungen hatten wir bereits in den neunziger Jahren, es war eine Situation, die der heutigen nicht unähnlich ist. Dabei wird körperliche Gewalt von zumeist jüngeren Männern ausgeübt. Für diese muss es aber ein Umfeld geben, das Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung befürwortet. Und da der Anteil von Menschen, die rassistische Positionen vertreten, in der Bevölkerung groß ist, fühlen sich extrem-rechte Gewalttäter durch unterschiedliche soziale Gruppen legitimiert. Es sind eben nicht nur sozial Deklassierte, die rechtsextreme Einstellungen aufweisen. Vielmehr teilen bis zur Hälfte der Bevölkerung, je nach politischer Lage, rassistische Positionen.
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Foto: Gustav Pursche
des Problems«
»In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?« Mahnwache nach dem Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Nauen, 25. August 2015.
Nach jahrzehntelanger Vergangenheitsbewältigung in Deutschland könnte man ein anderes Ergebnis erwarten … Man muss dafür auch die Entwicklung des politischen Klimas und der Kultur in der Bundesrepublik Deutschland betrachten. An deren Anfang stand ein Ende, das von vielen Deutschen schmerzlich empfunden wurde: Das Ende der Herrenrasse-Ideologie des Nationalsozialismus, die jeden Volksgenossen automatisch als Mitglied einer höherwertigen Volksgemeinschaft definierte. Stattdessen hätte Schuld anerkannt und Scham ausgehalten werden müssen. In der Nachkriegszeit füllte der Wirtschaftsaufschwung, symbolisiert durch die harte D-Mark, die Lücke im Selbstwert und eine Aufarbeitung des Mordens fand nicht statt. Wir bezeichnen dieses Phänomen als narzisstische Plombe, die nach dem Zusammenbruch des NSStaates wieder ein neues Selbstwertgefühlt garantierte, von Schuld und Scham ablenkte und zugleich den neuen Staat und die Gesellschaft in Westdeutschland legitimierte. Die Gesellschaft integrierte und legitimierte sich, indem sie dem Einzelnen das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer starken Nation, zu einer starken Wirtschaftsmacht verschaffte. In Westdeutschland hat in den späten sechziger und den siebziger Jahren dann ein Liberalisierungsschub eingesetzt, und es kam zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Nazideutschland. Aber bis heute zeigt sich immer wieder, die nationalsozialistische Vergangenheit ist nicht, was ihr Name behauptet: vergangen.
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Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist Deutschland ökonomisch ja tatsächlich eine Insel der Seligen. Flüchtlinge werden dennoch als Bedrohung für diese starke Wirtschaft gesehen. Aber sie lösen auch noch aus anderen Gründen Wut aus. Flüchtlinge werden von vielen Menschen wahrgenommen, als verfügten sie über Privilegien, die man sich selbst in den vergangenen Jahren versagt hat. Deutschland hat nach dem unsäglichen Asylkompromiss in den neunziger Jahren eine gesellschaftliche Veränderung erlebt, die man als sukzessive Entsolidarisierung beschreiben kann. Viele Menschen mussten in ihrem Lebensalltag deutliche Abstriche bei Wünschen und Ansprüchen hinnehmen – sei es bei ihrem sozialen Status, der Verdichtung und Beschleunigung von Arbeitsprozessen oder bei materiellen Bedürfnissen. Das provozierte zugleich auch autoritäre Aggressionen gegenüber jenen, die vermeintlich ein schönes Leben ohne Arbeit haben, die angeblich vom Staat alimentiert werden. Gleichzeitig fordert doch die Wirtschaft, dass wir dringend Zuwanderung brauchen. Dabei handelt es sich um die andere Seite derselben Medaille. 1992 sagte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl bei seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Mit viel Widerspruch der Opposition musste er damals nicht rechnen. 20 Jahre später erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Integrations-
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Liegt dem aktuellen Rassismus also ein ökonomisches Kalkül zugrunde, in dem Sinne, wer nützlich ist und wer nicht? Wirtschaftschauvinismus ist sicher ein wichtiger Aspekt. Aber man darf auch nicht vergessen, dass in Deutschland weiterhin eine starke ethnisch geprägte Vorstellung von Nationen existiert. Lange Zeit ging die Forschung davon aus, dass diese Vorstellung abnimmt. Das heißt, Rassismus wurde nicht mehr biologisch begründet, sondern kulturell. Die Fremden würden nicht in unseren Kulturkreis passen, seien kulturell rückständig etc. Spätestens seit der Debatte um die Bücher von Thilo Sarrazin aber kann man deutlich sehen, dass biologistische Argumente noch immer angeführt werden: Nach wie vor existiert in vielen Köpfen die Vorstellung einer ethnisch geprägten Volksgemeinschaft, die von außen, von dem Fremden, bedroht wird. In der Auseinandersetzung um die Migrationsbewegung tauchen nun wieder der Begriff von Nation und Volk als Schicksalsgemeinschaft auf, die sich gegen äußere Bedrohungen abgrenzen muss. Wie kann man gegen diese Einstellungen vorgehen? Ist es überhaupt möglich, eine Auseinandersetzung zu führen, ohne diese Positionen aufzuwerten? Wir leben in einer Demokratie und das bedeutet, dass die Auseinandersetzung im politischen Raum geführt werden muss. Das bedeutet aber auch, klare Kante zu zeigen und sehr deutlich auf den antidemokratischen und rassistischen Gehalt solcher Positionen hinzuweisen. Das alleine wird viel verändern. Trotzdem bleibt es eine große Herausforderung: Menschen sind nicht rassistisch, weil es ihnen an Informationen fehlt. Die Ursachen liegen woanders. Aber man muss deutlich machen, welche politischen Inhalte hegemonial sein müssen, damit wir weiterhin in einer Demokratie leben können. Auf welche Milieus muss man sich beziehen, wenn die Ressentiments bereits die bürgerliche Mitte stark beeinflussen? Wir haben tatsächlich die Situation, dass zum Beispiel auch viele SPD-Wähler Aussagen rechtsextremen Inhalts teilen. Die nächste größere Gruppe, die diese Aussage teilt, tendiert dazu, die CDU zu wählen. Insgesamt ist der Anteil der Menschen, die rechtsextreme Aussagen teilen, in der Bevölkerung sehr hoch. Das macht aber auch deutlich, dass viele Menschen mit rassistischen oder rechtsextremen Einstellungen etwas ganz anderes verbinden als ihr eigenes Denken. Das heißt, sie teilen rechtsextreme Ansichten, halten sich selbst aber für Demokraten. Eine der zentralen Aufgaben der politischen Auseinandersetzung liegt darin, dass man im Zweifelsfall sogar den eigenen Anhängern erklären muss, dass ihre Einstellungen teilweise rechtsextreme oder rassistische Inhalte aufweisen. Dieser Aufgabe müssen sich die Parteien und andere gesellschaftliche Institutionen stellen. Es gibt genügend Menschen, die bereit und wil-
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lens sind, in diese Auseinandersetzung zu treten. Und das wäre eine gute Gelegenheit, um die wesentliche Frage zu stellen: In was für einer Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? Werden sich diese Auseinandersetzungen verschärfen? Die extreme Rechte hat in den vergangenen Jahren neue Strukturen verfestigen können, etwa die Organisierung ohne Organisation in sogenannten Freien Kameradschaften. Das sind gut vernetzte, oft neonazistische Gruppierungen mit hoher Gewaltbereitschaft. Gleichzeitig sind sie wegen ihrer Organisationsstruktur schwer zu fassen. Daher ist eine weitere Zuspitzung zu befürchten. Wie wir mittlerweile wissen, hat sich zum Beispiel auch eine Terrororganisation wie der Nationalsozialistische Untergrund sehr lange halten können. Der gegenwärtige Prozess gegen den NSU hat eines sichtbar gemacht: Diese Rechtsterroristen hätte ohne einen entsprechenden Hintergrund nicht agieren können. Wir müssen damit rechnen, dass es zu einer weiteren Radikalisierung kommen kann und damit auch zu einem erneuten extrem-rechten Terror. Wo sehen Sie langfristige Perspektiven? Trotz der klaren Befunde und der gegenwärtigen Situation bin ich nicht pessimistisch. Die Aufklärung geht langsam voran, aber sie findet statt. Ein gesellschaftlicher Fortschritt, den man nicht hoch genug einschätzen kann, ist beispielsweise die Einführung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit für Kinder, indem Mitte der siebziger Jahre das Züchtigungsrecht der Eltern abgeschafft wurde und dann kurz nach der Jahrtausendwende endlich Misshandlungen verboten wurden. Mangelnde Anerkennung, autoritärer Erziehungsstil und die Erfahrung von Gewalt in der Kindheit sind häufig Bedingung dafür, warum Menschen im Erwachsenenalter Macht und Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von Interessen akzeptieren. Aber gerade die Einführung von Kinderrechten macht sichtbar, wie lange es dauert, um demokratische Erziehungsbedingungen zu etablieren. Und es ist noch viel nachzuholen, etwa in Bildungseinrichtungen. Aber kurzfristig bedarf es der unmittelbar politischen Auseinandersetzung. Es bringt nichts, wenn man nach Dresden fährt, um mit »besorgten Bürgern« zu sprechen. Aber man kann hinfahren und mit den Bürgern sprechen, die sachliche Auseinandersetzung suchen, klar machen, was an Positionen rassistisch und antidemokratisch ist. Fragen: Anton Landgraf
INTERVIEW OLIVER DECKER Foto: privat
gipfel das genaue Gegenteil. Dass Einwanderung notwendig ist, um die wirtschaftliche Stärke abzusichern, wird inzwischen anerkannt. Deswegen sind aber die Vorurteile und Aggressionen nicht plötzlich weg. Sobald diese Migranten und Migrantinnen den Verdacht wachrufen, dass sie der deutschen Wirtschaft nicht genügend bieten können oder sie gar bedrohen, ziehen sie weiterhin den Hass auf sich. Anerkennung von Menschen, weil sie der eigenen Gruppe etwas bringen, ist keine. Das zeigt sich dann an anderer Stelle, etwa bei der zunehmenden Abwertung von ganz spezifischen Gruppen, insbesondere der Roma.
Oliver Decker forscht an der selbstständigen Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig und ist Gründungsmitglied des »Kompetenzzentrum für Demokratieforschung und Rechtsextremismus«. Seit 2002 ist er an der Durchführung und Publikation der »Mitte«Studien zur rechtsextremen Einstellung und ihren Einflussfaktoren in Deutschland beteiligt. Die siebte und jüngste Studie erschien 2014.
AMNESTY JOURNAL | 10-11/2015
Gefangen im Niemandsland Rückschiebung, Ausbeutung, Misshandlung: Ein Bericht von Amnesty International dokumentiert die unmenschlichen Bedingungen, denen Flüchtlinge auf der Balkanroute ausgesetzt sind. Von Stefan Wirner
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Bisherige Route
Ungarn Slowenien
Alternativen
Kroatien BosnienHerzegowina Serbien
Montenegro
Kosovo Mazedonien
Albanien
Quelle: Amnesty
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ie Aussagen der Flüchtlinge sind erschütternd. Ein Afghane, der mit Frau und vier Kindern auf der Flucht ist, schildert die Lage an der griechisch-mazedonischen Grenze: »Die ersten beiden Male, als wir gefangen wurden, verbrachten wir die Nacht auf einer kleinen Polizeistation, die Familien drinnen, die Männer draußen. Die 28 Männer wurden von der mazedonischen Polizei sehr schlecht behandelt. Ich sah, wie Männer heftig geschlagen wurden. Sie haben auch meinen 13-jährigen Sohn geschlagen. Und sie schlugen mich, als ich gerade mein Gesicht waschen wollte. Ich hatte nichts getan.« Ein aktueller Amnesty-Bericht dokumentiert Erfahrungen von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und anderen Ländern, die auf ihrem Weg nach Norden von Griechenland durch Mazedonien und Serbien nach Ungarn kamen. Die Menschen sind vor Krieg, Gewalt und Armut geflohen, nehmen gefährliche Reisen auf sich, über Berge und durch Flüsse, bei Wind und Wetter, oft ohne ausreichend Wasser und Nahrung. An den Grenzen Griechenlands, Mazedoniens, Serbiens und Ungarns aber erwarten sie menschenunwürdige Bedingungen und Rechtlosigkeit. Spätestens, wenn sie Ungarn erreichen, das mittlerweile seine Grenze zu Serbien geschlossen hat, landen sie in einer Sackgasse, im »Niemandsland Balkan«, wie der Bericht es nennt. Mehr als 100 Flüchtlinge wurden zwischen Juli 2014 und März 2015 im Rahmen von vier Forschungsprojekten befragt. Ihre Aussagen fügen sich zu einem erschreckenden Bild: An den Grenzen der genannten Länder kommt es regelmäßig zu ungesetzlichen Rückschiebungen, sogenannten »push backs«. Die Menschen werden von Sicherheitskräften misshandelt, willkürlich eingesperrt und finanziell ausgebeutet. Auch von den Schleusern werden sie traktiert, betrogen oder im Nirgendwo zurückgelassen. Die Gefahr, von bewaffneten Banden überfallen zu werden, ist groß. Diese Balkanroute war für die Flüchtlinge lange Zeit die Hauptroute. Nach Schätzungen von Amnesty International kamen 2014 etwa 42.000 Menschen über Serbien nach Ungarn, allein im ersten Halbjahr 2015 waren es bereits mehr als 60.000. Die Chance, auf dieser Route irgendwo Asyl zu bekommen, ist äußerst gering. Im vergangenen Jahr hat Mazedonien zehn Asylbewerber anerkannt, Serbien einen einzigen. »Flüchtlinge, die vor Krieg und Verfolgung in die EU fliehen wollen, sitzen in Mazedonien und Serbien in der Falle«, sagt Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. »Sie haben keine Chance auf ein faires Asylverfahren, das ihnen nach internationalem Recht zusteht.« Es dürfe
Griechenland
nicht sein, »dass die Europäische Union sich weiter abschottet und ihre Verantwortung für den Schutz von Flüchtlingen auf die Nachbarstaaten abschiebt«. Tatsächlich ist es so, dass Mazedonien und Serbien, die keine Mitgliedstaaten der EU sind, mit den Folgen einer EU-Flüchtlingspolitik zu tun haben, auf die sie selbst keinen Einfluss haben. Dabei haben beide Länder mit eigenen Problemen zu kämpfen. Der Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo ist nicht gelöst, in Mazedonien hat sich die innenpolitische Lage nach einem blutigen Polizeieinsatz gegen angebliche albanische Terroristen im Mai verschärft. Dennoch fordert Amnesty International von den beiden Ländern, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, damit die Rechte der Flüchtlinge respektiert und ordnungsgemäße Asylverfahren möglich werden. Die Rückschiebungen müssten eingestellt, Misshandlungen unterbunden und bestraft werden, heißt es in dem Bericht. Aber Forderungen werden vor allem auch an die EU gestellt. Sie müsse endlich sichere Fluchtwege schaffen und Flüchtlingen einen effektiven Zugang zum EU-Asylsystem ermöglichen. »Die europäischen Politiker tragen sonst eine Mitverantwortung für die vielen Kettenabschiebungen auf dem Westbalkan und die schweren Menschenrechtsverletzungen in Serbien, Mazedonien und Ungarn, sagte Çalışkan. Der Bericht »Europe’s Borderlands: Violations against migrants and refugees in Macedonia, Serbia and Hungary« ist zu finden unter: www.amnesty.org
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Europas Grenze Beim Thema Flucht und Asyl reagieren europäische Regierungen mit Abwehr und Abschottung. Überall in Europa werden Grenzen geschlossen und Zäune errichtet. Vor allem Ungarn schürt Angst vor »Überfremdung« und »falschen Flüchtlingen«. Von Ralf Rebmann und Andreas Koob
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tacheldraht und Gatter schließen die letzte Lücke des Grenzzauns an der ungarisch-serbischen Grenze nahe Röszke. Das Dorf war zuletzt zum Nadelöhr geworden für Flüchtlinge, die über die sogenannte Balkanroute Richtung Norden flohen. Sie suchen sich nun andere Wege, denn die ungarische Regierung will Flüchtlinge nach Serbien abschieben, das als sicheres Herkunftsland gilt. Für den illegalen Grenzübertritt drohen fortan Haftstrafen von bis zu fünf Jahren. Es sind drastische Maßnahmen, die zugleich wenig verwundern: Die rechtsnationale ungarische Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán hatte schon zuvor mit Plakaten eine landesweite Kampagne gegen Flüchtlinge initiiert. Aber auch über die Grenzschließung hinaus bringt das osteuropäische Land erstaunlich viel Bewegung ins europäische Asylsystem. Schon lange äußern ungarische NGOs Kritik an den Zuständen, denen Asylsuchende in Ungarn ausgesetzt sind. Die jüngsten Bilder, etwa aus Röszke, aus dem Lager in Bicske oder vom Budapester Ostbahnhof, machten die menschenverachtende Asylpolitik einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Flüchtlinge wurden teilweise ohne Essen und Trinken, ohne sanitäre Anlagen und ohne Schlafmöglichkeiten festgehalten. Polizisten attackierten jene, die versuchten, der unerträglichen Situation zu entkommen. Die verheerenden Konsequenzen der DublinRichtlinien, die seit Jahren vor allem in Griechenland deutlich sichtbar sind, offenbarten sich nun auch in Ungarn, wo die Eskalation zudem politisch gewollt scheint. Während diese Zustände die Regierungen in Österreich und Deutschland zeitweise bewogen, Züge mit Asylsuchenden ent-
gegen den Dublin-Regeln durchzuwinken und sogar Busse zu schicken, findet die Asylpolitik Ungarns vor allem in Osteuropa großen Anklang. Auch CSU-Chef Horst Seehofer lud Orbán zu sich ein und signalisierte Sympathie. »Ungarn fährt schon lange eine Abschottungspolitik nach innen und außen«, stellt Andreas Zick fest, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. »In den meisten anderen europäischen Ländern orientiert man sich ebenfalls an einem überbordenden Kontroll- und Sicherheitsparadigma.« Orbán sei nicht allein, auch der britische Premierminister David Cameron habe schon früher gegen Migration und Multikulti gewettert. Diese ablehnende Haltung hatte Cameron zuletzt Ende Juni bekräftigt. Mitarbeiter des Fährdienstes »MyFerryLink« hatten den Eingang zum Euro-Tunnel sowie eine Zufahrtsstraße zum Hafen von Calais blockiert. Die Aktion löste einen massiven Verkehrsstau aus. Hunderte Asylsuchende, die in der Nähe des Hafens in improvisierten Camps ausharrten, nutzten die Gelegenheit, um sich in den wartenden Lastwagen zu verstecken. Die Entschlossenheit der Asylsuchenden, selbst unter Lebensgefahr nach Großbritannien zu gelangen, führte zu dramatischen Szenen. Im Laufschritt versuchten sie, die Hecktüren der Lkws zu öffnen. Manche schafften es bis auf das Dach eines Anhängers, an dem sie sich festklammerten. Der Großteil flüchtete jedoch vor intervenierenden Lkw-Fahrern und Polizeibeamten. David Cameron forderte daraufhin »mehr Grenzschutz« und bezeichnete Asylsuchende als »Schwarm«, der sich nach Großbritannien aufmache. Die britische Innenministerin warnte,
»Abschottungspolitik nach innen und außen.« Flüchtlinge im ungarischen Grenzort Röszke.
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dass Großbritanniens Straßen nicht »mit Gold gepflastert« seien. Dem rhetorischen Rundumschlag folgten schon bald Ankündigungen, die Sozialleistungen von Asylsuchenden in Großbritannien zu kürzen und irregulär eingereiste Personen gegebenenfalls zu inhaftieren. Dabei wurden im Vereinigten Königreich im zweiten Quartal 2015 lediglich 7.470 Asylsuchende registriert – ein »Schwarm« sieht anders aus. Dem Statistikdienst Eurostat zufolge beantragten im selben Zeitraum in der gesamten EU rund 213.000 Personen Asyl, davon 80.900 in Deutschland und 32.700 in Ungarn. Und um die europäische Hysterie ins Verhältnis zu setzen, lohnt sich ein Blick auf die Nachbarstaaten Syriens: Der Libanon hat bereits mehr als eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen, die Türkei rund zwei Millionen. Die reflexartigen Abwehrreaktionen europäischer Regierungen beim Thema Immigration, Flucht und Asyl sind nicht neu. »In Europa hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg nie eine richtige Einwanderungs- und Immigrationspolitik entwickelt«, sagt Konfliktforscher Zick. »Europa kommt mit den heutigen Wanderungen nicht zurecht. Wenn die Politik dann Stereotype über Immigranten bedient, will sie sich als kontrollfähig zeigen.« Die Instrumentalisierung echter oder behaupteter Missstände hat Konsequenzen. Steigende Asylzahlen werden so zur »Flüchtlingskrise« und zu einem »Problem«, das »gelöst« und »bekämpft« werden muss. Im Visier stehen dann wahlweise »Wirtschaftsflüchtlinge« oder »kriminelle Schleuser«. Eine Meinungsumfrage des Eurobarometers vom Mai 2015 spiegelt diese Rhetorik wider: 38 Prozent der Befragten gaben an, das »wichtigste Problem« der EU sei derzeit die »Zuwanderung«. Hier können populistische Parteien ansetzen und gleichzeitig das subjektive Gefühl der Bedrohung und Überforderung befeuern – wie in Dänemark, wo bei den Parlamentswahlen im Juni die rechtspopulistische Dänische Volkspartei als zweitstärkste Kraft ins Parlament einzog. Der Wahlkampf wurde von der Frage dominiert, welche Partei am effektivsten gegen Asylsuchende vorgeht. Ob Front National in Frankreich, Jobbik in Ungarn, Vlaams Belang in Belgien oder UKIP in Großbritannien: Rechte Parteien mit nationalistischer, anti-europäischer und auch rassistischer Rhetorik sitzen in zahlreichen Parlamenten. Seit 2015 sind in Finnland mit der Partei Wahre Finnen und in Griechenland mit Anel rechtspopulistische Parteien an der Regierung beteiligt.
»Für den illegalen Grenzübertritt drohen fortan Haftstrafen von bis zu fünf Jahren.« In Frankreich, Großbritannien und Dänemark überflügelten bei den Europawahlen 2014 rechtspopulistische Parteien sogar die damals amtierenden Regierungsparteien. Auch wenn ihr tatsächlicher politischer Einfluss gering sein mag, rhetorisch können sie etablierte Parteien unter Druck setzen. Eine jüngst veröffentlichte Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung kommt zum Schluss, dass sich »Ton und Inhalte in der Einwanderungsund Grenzkontrollpolitik« in diesen drei Ländern deutlich verschärft haben – vor allem durch den »anhaltenden Druck von rechts«. Die Entwicklung in Ungarn zeigt, wohin das führen kann. Ralf Rebmann ist freier Journalist, Andreas Koob ist Volontär des Amnesty Journals.
TRAISKIRCHEN Von »strukturellem Versagen« sprach eine Amnesty-Delegation, die am 6. August das Erstaufnahmezentrum im österreichischen Traiskirchen besuchte. Rund 1.500 Menschen übernachteten im Freien. Die medizinische Versorgung war unzureichend, die Sanitäranlagen verschmutzt. Besonders prekär war die Situation für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sowie weitere besonders schutzbedürftige Gruppen wie schwangere Frauen, Familien, Kranke oder Folterüberlebende. Durch administrative Fehler und eine mangelnde Versorgungslage »verletzt Österreich derzeit Menschenrechtsstandards in der Unterbringung und Verwaltung von Asylsuchenden«.
Foto: Craig Ruttle / Redux / laif
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Wo sich die Gesell Rassisten und »besorgte Bürger« nutzen die Online-Netzwerke, um gegen Flüchtlinge zu hetzen und rassistische Aktionen zu organisieren. Politiker und Unternehmen wie Facebook wollen nun härter gegen »Hate Speech« vorgehen. Doch Verbote allein werden nicht ausreichen. Von Maik Söhler
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iesmal also Freital. Oder Dresden. Auch im Westen der Bundesrepublik brennen Unterkünfte für Asylbewerber. Neonazis zeigen in Dortmund den Hitlergruß. Hooligans rufen Nazi-Parolen in Köln. Die organisierte extreme Rechte in Deutschland ist wieder da. Nur teilweise neu sind die handelnden Personen, neu aber ist der Grad der Vernetzung. Es ist zur Mode geworden, Online-Netzwerken, Videoportalen, Foren und Chat-Software eine Mitverantwortung für die Vernetzung von Neonazis, Rassisten und »besorgten Bürgern« zuzusprechen, die Flüchtlinge bedrohen, attackieren und die Proteste in fast allen Regionen organisieren. Und diese Mode hat durchaus ihre realen Ursprünge. Zuletzt forderte Bundesjustizminister Heiko Maas das Online-Netzwerk Facebook wegen der Quantität und Qualität rassistischer, gegen Flüchtlinge gerichteter Beiträge zum Handeln auf. Facebook scheint einsichtig zu sein und kündigte an, bei solchen Posts aufmerksamer zu reagieren. Die Ankündigung erfolgt spät. Schon die von diffus bis extrem rechts reichenden Demonstrationen in Dresden im Winter 2014/15 haben gezeigt, dass Pegida und ähnliche Vereinigungen verstanden haben, wie man im Internet Interessierte anlockt und Sympathisanten in ihrer Überzeugung bestärkt. PegidaAnhänger gründeten Facebook-Gruppe um Facebook-Gruppe, breiteten dort ihren Hass aus und versuchten ihre Verachtung darüber hinaus in die Kommentarspalten vieler Medienpräsenzen auf Facebook zu tragen. Die Betreiber des Netzwerkes reagierten kaum auf Kritik, Löschanträge für rassistische Posts wurden überwiegend abgewiesen, da Facebook ein US-Unternehmen ist und die Meinungsfreiheit in der US-Verfassung und ihren Zusätzen noch stärker geschützt ist als im deutschen Grundgesetz. Ein Sprecher von Facebook betonte im August, Löschanträge aus Deutschland würden meist in den USA bearbeitet. In den USA steht »Hate
Akteure der Zivilgesellschaft können weitaus schneller und effizienter handeln als der Justizminister. 30
Speech« unter Strafe, und dies spiegelt sich in den Nutzungsbedingungen von Facebook wider. »Hate Speech« ist jedoch im Vergleich zu den klar definierten Paragrafen bezüglich nationalsozialistischer Hetze im deutschen Strafrecht ein recht schwammiger Begriff. Es kann nicht schaden, wenn Justizminister Maas darüber mit Facebook sprechen will. Denn auch in der jüngsten Debatte über Flüchtlinge ist es wiederum dieses Netzwerk, das sich mit heftiger Kritik auseinandersetzen muss. »Facebook – Der Platz, wo Du Rassenhygiene fordern kannst, ohne belangt zu werden«, schrieb die Autorin Marie von den Benken in einem vielbeachteten Artikel auf »Mobilegeeks.de«. Und weiter: »Facebook hält nackte Brüste (…) offensichtlich für gefährlicher als einen Aufruf, Asylanten (…) nach Auschwitz zu deportieren und dort ›die Duschen wieder anzustellen‹.« Sascha Lobo, Deutschlands wohl bekanntester Blogger, schrieb auf »Spiegel-Online«: »Facebook hat (…) ein völlig ungelöstes Hate Speech-Problem. Mit der Folge, dass die Aber-Nazis dort beinahe ungehindert Stimmungen produzieren und verstärken können.« Als »Aber-Nazis« bezeichnet Lobo all jene, die sagen, »Ich bin ja kein Nazi, aber …«. Wer sich mal die Mühe macht, in die Facebook-Suche das Wort Heidenau einzugeben, wird sie schnell finden: Gruppen wie »Heidenau Asyl-frei«, »Widerstand Heidenau« und »Bürgerinitiative Heidenau – Nein zu dieser Asylpolitik«. Was diese Suche aber auch zeigt, ist, dass Akteure der Zivilgesellschaft weitaus schneller und effizienter handeln können als der Justizminister. Denn all diese rechten Facebook-Gruppen können ihre Propaganda nicht unbehelligt verbreiten. Hunderte Facebook-Nutzer drücken hier ihren Protest gegen Rassismus aus. Antifaschistische Gruppen, engagierte Bürger und Journalisten sind längst dazu übergegangen, die braunen Bereiche von Facebook zu beobachten, zu dokumentieren, im Netzwerk zu melden, eine Löschung zu fordern oder eine Polizeidienststelle zu informieren. Auch das ist Vernetzung, und sie funktioniert. »Jedes Like bei Facebook zu einer entsprechenden volksverhetzenden Äußerung ist strafbar, das bedenken viele User im scheinbar anonymen Internet nicht«, sagte der designierte Abteilungsleiter Staatsschutz in Stuttgart, Hans Matheis, Ende August. Bis Ende Juli habe es allein in Baden-Württemberg schon rund 1.000 Hinweise im Bereich Rechtsextremismus gegeben. »Ich rechne auch mit weiter steigenden Zahlen.« Andere Möglichkeiten, die Online-Kommunikation und -Vernetzung rechtsextremer Gruppen zu stören, bestehen darin, rassistische Leserkommentare in Online-Medien an die jeweiligen Redaktionen heranzutragen und auf ein rasches Entfernen
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Foto: Mark Mühlhaus / attenzione / Agentur Focus
schaft spiegelt
»Ich bin ja kein Nazi, aber …« Heidenau, 28. August 2015.
zu drängen. Häufig begehen rechtsextreme Blogs, Foren und Social-Media-Gruppen Urheberrechtsverstöße, indem sie Texte, Textauszüge oder Fotos ihrer Gegner unautorisiert übernehmen – das sind strafbare Handlungen. Man kann Firmen, die OnlineWerbung schalten, darauf hinweisen, in welcher Umgebung ihre Werbung auftaucht. Zuletzt war auch vermehrt zu beobachten, dass rassistische Äußerungen von Facebook-Nutzern von Akteuren der Zivilgesellschaft an deren Arbeitgeber gemeldet werden; Entlassungen können die Folge sein. Es ist wichtig, überall dort dagegenzuhalten, wo der Rechtsextremismus im Netz tobt. Auch Online-Netzwerke wie Twitter haben ein Problem mit Neonazis und ihren Anhängern, doch fällt es im Vergleich zu Facebook weitaus geringer aus, da Twitter-Nutzer früher, in größerer Anzahl und konsequenter gegen rassistische und den Nationalsozialismus verherrlichende Äußerungen und Profile vorgehen und Twitter nach anfänglichem Zögern mittlerweile häufig mit Sperrungen und Löschungen reagiert. »Wenn sich nichts ändert, wird Facebook als der bedeutendste Helfer einer Gesinnungskultur in die Geschichte eingehen, die jeder klar denkende Deutsche und jeder klar denkende
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Mensch als die größte Katastrophe der Nachkriegsgeschichte einordnen wird«, schreibt Marie von den Benken in ihrem Text auf »Mobilegeeks.de«. Das ist zugleich übertrieben und wahr. Es ist wahr, weil Facebook derzeit von allen größeren Netzwerken am wenigsten gegen Rassismus unternimmt. Und es ist übertrieben, weil Facebook doch nur abbildet, was in der deutschen Gesellschaft vorhanden ist – unabhängig vom Internet. Rassismus, Antisemitismus, Hetze und Gewalttaten gegen Flüchtlinge – all das zeigt sich in Deutschland seit Jahren und Jahrzehnten. Als im August 1992 Neonazis mehrere Tage lang ein Flüchtlingsheim in Rostock-Lichtenhagen angriffen, war das Internet kaum mehr als ein Forschungsverbund von Universitäten und ein Kommunikationsnetz von US-Militärs; Facebook wurde erst zwölf Jahre später gegründet. Die Bilder aus RostockLichtenhagen zeigen neben unendlichem Hass auch, dass damals kaum jemand ein Mobiltelefon hatte. Organisiert haben sich Rechtsextreme trotzdem im großen Umfang. Bei aller berechtigten Aufregung um Rassismus im Netz sollte man das nicht vergessen. Der Autor ist Journalist.
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Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung
JEDER MENSCH HA IN ANDEREN LÄNDE VOR VERFOLGUNG ASYL ZU SUCHEN U
der Menschenrechte:
AT DAS RECHT, ERN
UND ZU ERHALTEN.
THEMEN
Zeugin des Genozids. Cecilia Vacana Galego hat in dem Prozess gegen RĂos Montt ausgesagt. Sie selbst wurde von Soldaten vergewaltigt.
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Der Völkermordprozess gegen Guatemalas Ex-Diktator Efraín Ríos Montt soll im Januar 2016 wiederholt werden. Die Opfer kämpfen für die historische Wahrheit: Die guatemaltekische Gesellschaft soll erfahren, wie die Armee versuchte, das Volk der Ixil-Maya auszulöschen. Von Knut Henkel (Text und Fotos)
»Die Wahrheit lassen wir uns nicht nehmen«
Machete, Zange und einen Hammer hält Teburcio Utuy in der Hand, als unser Kleinbus aus Nebaj an ihm vorbeifährt und ein paar Meter weiter zum Stehen kommt. Soeben hat der 73-jährige den Zaun repariert, der die Straße von der Weide trennt, auf der seine Familie ein paar Ziegen und Schafe hält. Es ist früh am Morgen. Der Nebel hat sich noch nicht ganz aus den Tälern rund um Nebaj verzogen. Die kleine quirlige Provinzstadt ist das Tor zum Ixil-Dreieck im Norden Guatemalas. Sechs Stunden Busfahrt sind es von Guatemala-Stadt bis in die bergige Region, wo das Volk der Ixil-Maya in rund zwei Dutzend Dörfern lebt. Xix ist eines davon und Teburcio Utuy ist hier aufgewachsen. Er gehört zu den Alten des Dorfs und ist überaus beliebt. Nicht nur, weil der kräftige Mann von etwas über 1,60 Meter stets gut gelaunt und hilfsbereit ist, sondern auch weil er sich für die Zukunft seines Dorfes engagiert. Beim Bau der Straße und der Schule hat er mit angepackt, später dafür gesorgt, dass das Dorf wieder an die Trinkwasserversorgung angeschlossen wurde. »Das war 1999. Drei Jahre waren wir da schon wieder hier und hatten einen Teil des Dorfes wiederaufgebaut. Nun brauchten wir den Wasseranschluss, denn den alten hatte die Armee zerstört«, erklärt er, stellt das Werkzeug in eine Ecke der Terrasse und verschwindet in dem mintgrün gestrichenen Haus. Das liegt auf einem Hügel und von dort hat man einen prächtigen Blick über das grüne zerklüftete Tal. Wenig später tritt Teburcio Utuy wieder aus der Tür, er hat die Gummistiefel gegen Straßenschuhe getauscht und reicht ein paar Stühle heraus, um sich mit den Gästen auf der Terrasse in die Morgensonne zu setzen. Teburcio kann sich noch exakt erinnern, wie die Soldaten zum ersten Mal ins Dorf kamen und nach den Guerilleros fragten. »Im Sommer 1980 war das, und wir wussten nicht einmal, was das Wort bedeutet. Wir haben gefragt, ob es sich um Tiere oder Menschen handelt?«, sagt er und lächelt. Als Händler war er damals in der Region unterwegs, lieferte Salz und Zucker in die abgelegenen Ecken des Ixil-Dreiecks, wo die rund 20.000 Angehörigen der Maya-Ethnie unter einfachsten Bedingungen lebten. Viele der Dörfer sind in etwa so groß wie Xix, wo heute rund 250 Ixil wohnen. An den Lebensverhältnissen hat sich in den vergangenen dreißig Jahren kaum etwas geändert, erklärt er mit einem bitteren Lächeln. »Aber nichts ist mehr wie vor dem Februar 1982.«
Auftakt für die Massaker Damals kamen die Soldaten dreimal hintereinander in das Dorf, dessen Häuser verstreut entlang der Straße nach Nebaj liegen. Teburcio Utuy hatte an diesem Tag Wache. »Wir trauten den Soldaten nicht mehr über den Weg, nachdem sie Padre José María
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»Das Urteil ist wie eine Bibel.« Juan Velasco (links) und Teburcio Utuy.
Gran Cirera erschossen und in Chajul und Cocop Dutzende von Ixil massakriert hatten.« In Chajul hatte im August 1980 das erste Massaker der Armee an der indigenen Ethnie stattgefunden – nur weil die Ixil im Verdacht standen, die in der Region aktive Guerilla zu unterstützen. Beweise dafür gab es nicht. Es reichte, dass bekannt war, dass sich in den Reihen der Guerilla viele indigene Kämpfer fanden. Die hatten die Nase voll vom Rassismus der Eliten, der latenten Diskriminierung und der Ausbeutung. Das Gros der Überlebenden der Massaker aus Chajul und Cocop suchte damals Zuflucht in Xix. Juan Velasco war einer von ihnen. Heute ist der 51-Jährige Koordinator der AJR (»Asociación para la Justicia y Reconciliación«), der »Vereinigung für Gerechtigkeit und Versöhnung«, und regelmäßig in der Region unterwegs, um mit Opfern und Zeitzeugen zu sprechen. »Die Gerichte haben Ende August entschieden, dass am 11. Januar 2016 der zweite Prozess gegen den ehemaligen Diktator Efraín Ríos Montt kommen soll. Dann müssen die Zeugen bereit sein«, erklärt Velasco und fährt sich nachdenklich über den dünnen Schnurrbart. Teburcio Utuy gehörte zu den 98 Zeugen, die im ersten Prozess gegen Ríos Montt aussagten. Das Gerichtsverfahren endete Anfang Mai 2013 mit einem historischen Urteil: Der Ex-Diktator wurde zu achtzig Jahren Haft wegen Völkermord an den Ixil-Maya und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. »Dieses Urteil ist für uns Ixil wie eine Bibel. Endlich, nach dreißig Jahren, hat man uns zugehört, uns geglaubt. Das ist in Guatemala etwas vollkommen Neues«, sagt Teburcio Utuy. Doch zehn Tage nach der Urteilsverkündung annullierte das Verfassungsgericht das Urteil wegen vermeintlicher Formfehler. Deshalb soll es im kommenden Januar eine Neuauflage des Jahrhundertprozesses geben. Viele Menschen im Ixil-Dreieck wollen das erste Urteil schlicht bestätigt sehen. Längst nicht alle hatten den Mut, für Gerechtigkeit und Versöhnung einzutreten, wie es Don Teburcio, wie er respektvoll genannt wird, immer wieder gemacht hat. Auch er hatte Angst vor Vergeltung, doch gehörte er im Jahr 2000 zu den Gründern der AJR und fährt immer noch regelmä-
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ßig nach Nebaj, um sich politisch zu engagieren. »Wir müssen der jungen Generation erzählen, was vor 33 Jahren in Xix und den anderen Dörfern passiert ist«, sagt er. Der Mord an dem spanischen Pfarrer José María Gran Cirera, einem Befreiungstheologen, war rückblickend der Auftakt für den Völkermord an den Ixil. Der Genozid fand vor allem unter der Regie des von März 1982 bis August 1983 regierenden PutschGenerals Efraín Ríos Montt statt. In Xix hatte die Dorfgemeinschaft entschieden, Wachen aufzustellen, um nicht von der Armee überrascht zu werden. Geholfen hat es nicht. »Ich schob Anfang Februar 1982 Wache«, erinnert sich Teburcio Utuy. »Als ich die Soldaten kommen sah, lief ich ins Dorf, schrie und blies auf meiner Tröte, um die Leute zu warnen. Doch es war zu spät, die Soldaten hatten die zwei Häuser am Ortseingang schon umstellt«, erzählt er mit belegter Stimme. »Der ersten Frau spalteten sie den Kopf mit einer Machete, die schwangere Bewohnerin des zweiten Hauses hielten sie fest, schnitten ihr den Bauch auf, warfen ihr ungeborenes Kind auf den Boden und zertrümmerten dessen Kopf. Ich habe alles gesehen, von einem Hügel aus. Was hat ein Ungeborenes mit der Guerilla zu tun?«, fragt der alte Mann. Eine Antwort darauf hat er nie erhalten – auch nicht vor Gericht, als er seine Aussage machte. Zweimal kamen die Soldaten in den folgenden Tagen des Februars 1982 noch nach Xix – insgesamt 57 Menschen wurden binnen zehn Tagen massakriert, Frauen, Kinder, Alte und Männer. »Es wurde kein Unterschied gemacht und für uns war klar, dass wir nicht bleiben konnten. Sie wollten uns auslöschen«, sagt Teburcio Utuy. Er war auch bei den Exhumierungen zugegen, die viele Aussagen der Opfer vor Gericht bestätigten. Nach den Massakern flüchteten die Überlebenden, rund 1.000 Menschen, in die unzugänglichen Berge von Santa Clara. Teburcio Utuy führte den Marsch an, dank seiner Handelstätigkeit kannte er sich in der Gegend gut aus. Die Armee verfolgte sie, warf Brandbomben über den Wäldern nahe Xix ab, wollte die Flüchtenden auslöschen, die sich über einen Fluss vor den Flammen retteten. Mehrere Dörfer passierte der Treck und schwoll an. »Am dritten Tag des Marsches waren es
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1.999 Menschen, die sich vor den Soldaten in Sicherheit bringen wollten. Wir hatten Sumalito passiert und Visich erreicht, wo die Berge beginnen.« Über kleine, abgelegene Wege führte der pfiffige Mann, dessen Eltern und fünf Geschwister bei einem der Massaker starben, die Flüchtlinge in die damals noch sichere Berglandschaft um Santa Clara. Da gab es einige wenige Dörfer, wo die Flüchtlinge um Aufnahme baten. Auf fünf, sechs Dörfer wurde der Zug schließlich verteilt und umgehend wurden »Milpas« angelegt, kleine Parzellen, auf denen Bohnen, Mais und Kartoffeln angebaut wurden. »Der Hunger war neben den Soldaten unser größter Feind«, erinnert sich Juan Velasco, der zu den Flüchtlingen gehörte und in den Bergen um Santa Clara aufwuchs. Mehr als 14 Jahre, vom Februar 1982 bis zum September 1996, lebte er in einem der Ixil-Flüchtlingslager in den Bergen, und manchmal gab es nichts zu essen, außer Früchten aus dem Wald und Wurzeln.
In die Arme der Soldaten Der Hunger war es auch, der Teburcio Utuy im Herbst 1983 aus den Bergen in eines der Täler trieb, wo er mit zwei mutigen Freunden Zuckerrohr schlagen wollte. Doch er lief einer Armeepatrouille in die Arme und konnte mit seinen Schreien nur noch seine beiden Freunde warnen, die entkommen konnten. Der damals 41-Jährige wurde in ein nahegelegenes Armeecamp geschleppt und als vermeintlicher Guerillero gefoltert. »Sie wollten wissen, wo die Waffenlager und die Camps sind, wo die nächsten Angriffsziele lagen. Doch ich habe immer nur wiederholt, dass wir vor ihnen in Todesangst in die Berge geflüchtet waren. Dann haben sie mich gefoltert.« Heute trägt er ein künstliches Gebiss, auch die Brandnarben an den Beinen, am Kopf und auf dem Bauch zeugen von der Folter. »Sie haben mich an Armen und Beinen aufgehängt, so dass sich mein Bauch wie ein Fußball hervorwölbte. Dann haben sie mich geschlagen, mit Feuer traktiert. Irgendwann ist mein Bauch aufgeplatzt und die Gedärme hingen heraus«, sagt er mit leiser Stimme und lässt seinen Blick in die Ferne schweifen. Elf Monate war er in den
Händen der Armee, die ihn immer wieder aufgepäppelt, immer wieder gefoltert hat. Der sympathische Mann, der so hartnäckig für die historische Wahrheit eintritt, gehörte beim Prozess gegen Efraín Ríos Montt zu den wichtigsten Zeugen, so Edgar Pérez, Anwalt der Ixil in dem in Guatemala als Jahrhundertprozess bezeichneten Verfahren. »Für Schlagzeilen hat auch gesorgt, dass die Opfer im Anschluss an das Urteil keine Entschädigungszahlungen reklamiert haben, sondern wollten, dass ihre Geschichte niedergeschrieben wird und in den Schulbüchern Erwähnung findet«, so der 46-jährige Jurist. Nach drei Jahrzehnten, in denen der Völkermord an den Ixil systematisch geleugnet wurde, ist es den Opfern viel wichtiger, dass ihnen geglaubt wird. Das hat der Prozess, der im April und Mai 2013 in Guatemala die Schlagzeilen beherrschte, zweifellos erreicht. Das ist auch bei den jüngsten Protesten gegen die Korruption und gegen den mittlerweile verhafteten Ex-Präsidenten Otto Pérez Molina kaum zu übersehen. Transparente, die den Ex-General Pérez Molina für die Massaker an den Ixil mitverantwortlich machen, zeugen davon. Doch Juan Velasco und Teburcio Utuy ist das nicht genug. »Wir wollen, dass das illegal annullierte Urteil wieder in Kraft gesetzt wird, wir wollen, dass die historische Wahrheit nicht mehr angezweifelt werden kann«, sagen sie unisono. Ob der zweite Prozess tatsächlich stattfinden wird, daran zweifeln viele Experten aufgrund der Verschleppungsstrategie der Anwälte von Efraín Ríos Montt. Auch Edgar Pérez ist sich nicht sicher. Guatemala befindet sich im Wandel und niemand weiß, in welche Richtung es gehen wird. Doch Edgar Pérez hat schon die Akten anderer indigener Ethnien Guatemalas auf dem Schreibtisch. Die Ixil sind nicht die Einzigen, die in dem 36 Jahre dauernden Bürgerkrieg erbarmungslos verfolgt wurden. Der Autor berichtet als Journalist regelmäßig aus Lateinamerika. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen: www.amnesty.de/app
GUATEMALA
Nebaj
Guatemala-Stadt
»Erzählen, was passiert ist.« Teburcio Utuy und seine Enkel.
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»Mit Willkür kann man Boko Haram nicht besiegen« Im Kampf gegen die islamistische Terrormiliz Boko Haram beging das nigerianische Militär mutmaßlich Kriegsverbrechen. Die neue Regierung unter Präsident Muhammadu Buhari will die Gräueltaten aufarbeiten. Ein Gespräch mit Daniel Eyre, Amnesty-Researcher für Nigeria. Im Nordosten Nigerias gibt es ständig neue Angriffe von Boko Haram auf die Zivilbevölkerung – trotz des Einsatzes des nigerianischen Militärs. Wie ist die Lage im Moment? Anfang des Jahres waren viele Gebiete im Nordosten des Landes unter der Kontrolle von Boko Haram. Seit Februar konnte das Militär sie jedoch aus den größeren Städten zurückdrängen. Boko Haram konzentriert sich deshalb auf die ländlichen Gebiete, um zu beweisen, dass sie immer noch fähig sind, Menschenleben zu gefährden. Es gab vermehrt Bombenanschläge und Überfälle auf Dörfer, die stets nach einem ähnlichen Muster ablaufen: Sie stürmen die Orte, manchmal mit Hunderten von Kämpfern, erschießen Männer im wehrfähigen Alter, stehlen Waffen, Munition und Vorräte und ziehen sich dann wieder zurück. Seit März 2014 hat Boko Haram mehr als 5.500 Menschen bei solchen Überfällen getötet. Im April 2014 wurden in Chibok mehr als 270 Schülerinnen verschleppt. Was weiß man über deren Situation?
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Wir haben keine genauen Informationen über den Aufenthaltsort der Schülerinnen. Diese Entführungen gehören jedoch zur Strategie von Boko Haram. Wir vermuten, dass mindestens 2.000 Frauen und Mädchen verschleppt wurden. Die Bedingungen, unter denen sie leben müssen, sind erschreckend. Sie werden gezwungen, Kämpfer von Boko Haram zu heiraten. Es gibt viele Fälle von Vergewaltigung. Das nigerianische Militär konnte Boko Haram aus einigen Gebieten zurückdrängen und damit auch Frauen und Mädchen befreien, die dann medizinisch und anderweitig versorgt wurden. Das Militär ging bei seinem Einsatz gegen Boko Haram selbst brutal gegen Zivilisten vor. In einem neuen Bericht spricht Amnesty von mutmaßlichen Kriegsverbrechen. Die Vorgehensweise des Militärs war ausgesprochen grausam. Das Militär führte Vergeltungsaktionen und großangelegte Razzien in Orten oder Nachbarschaften durch, um Anhänger von Boko Haram ausfindig zu machen. Junge Männer mussten sich ausziehen, wurden einzeln vorgeführt und willkürlich festgenommen. In der Haft wurden sie gefoltert. Sie hatten keinen Zugang zu einem Anwalt und es gab auch keine Gerichtsverfahren. In den Gefängnissen erhielten sie nicht genügend Wasser oder Nahrung. In den vergangenen vier Jahren wurden mehr als 20.000 Personen inhaftiert. Aufgrund der Haftbedingungen
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»Unabhängige Untersuchungen sind notwendig. Das Militär kann nicht gegen sich selbst ermitteln.«
Wie sehen die Vergeltungsaktionen des Militärs aus? Im März 2014 griff Boko Haram ein Militärgefängnis an, um Gefangene zu befreien und sie als neue Kämpfer zu rekrutieren. Die Mehrheit der Gefangenen floh jedoch in die Stadt auf der Suche nach Wasser, Nahrung und Kleidung. Das Militär durchsuchte anschließend die Gegend und versuchte so viele Gefangene wie möglich festzunehmen und zusammenzutreiben. Mehr als 640 Personen wurden an jenem Tag vom Militär erschossen. Einen ähnlichen Fall gab es bereits 2012, als das Militär bei einer Vergeltungsaktion willkürlich in ein Dorf feuerte und mehr als 200 Menschen tötete. Nach unseren Recherchen hat das nigerianische Militär mehr als 1.200 Männer und Jungen außergerichtlich hingerichtet. Dafür gibt es auch Videobeweise. Hochrangige Militärs wussten davon und haben dies nicht verhindert. Wen genau macht Amnesty International für diese Gräueltaten verantwortlich? In unserem jüngsten Bericht nennen wir neun Militärvertreter, die sich wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten sollten. Darunter sind beispielsweise der amtierende Generalstabschef, der Stabschef des Heeres sowie Militärs und Kommandeure, die für die Gefängnisse im Nordosten des Landes verantwortlich waren oder Operationen leiteten. Gab es explizite Anweisungen, so brutal vorzugehen? Wir sagen nicht, dass diese Verbrechen von ihnen angeordnet wurden. Jedoch wusste die Militärführung, was vor Ort passierte, und hat nichts unternommen, um dies zu stoppen. Wir wissen, dass es Feldberichte gab, die an die Zentrale weitergeleitet wurden. Amnesty hat die Militärführung im Oktober 2013 über Todesfälle in Gefängnissen informiert. Doch wurde seither niemand zur Verantwortung gezogen und Gefangene mussten weiter sterben. Wie hat das nigerianische Militär auf die Anschuldigungen reagiert? Das Militär sagte, dass der jüngste Bericht keine neuen Informationen enthielte. Auf der einen Seite stimmt das. Es sind dieselben Vorwürfe, die wir bereits in der Vergangenheit geäußert haben. Jedoch ist dieser Bericht weit umfassender und er zeigt auch, dass das Militär diese Vorfälle nicht aufgearbeitet hat. Wir waren deshalb froh, dass sich der neue nigerianische Präsident Muhammadu Buhari positiv zu den Veröffentlichungen geäußert hat. Er sagte, dass er nichts unversucht lassen wolle, um die
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DANIEL EYRE
Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Notwendig sind unabhängige Untersuchungen, die von der nigerianischen Regierung selbst angestrengt werden. Das Militär kann nicht gegen sich selbst ermitteln. Einerseits muss die nigerianische Regierung hochrangige Militärs zu Verantwortung ziehen, andererseits ist sie im Kampf gegen Boko Haram auf das Militär angewiesen. Gibt es dabei Interessenskonflikte? Es ist nicht einfach, während laufender Militäroperationen Untersuchungen durchzuführen. Klar ist jedoch, dass Boko Haram durch die willkürliche Festnahme von Zivilisten kaum besiegt werden kann. Die hohe Anzahl von Todesfällen in Haft könnte verhindert werden, wenn Inhaftierte Zugang zu medizinischer und rechtlicher Hilfe bekämen und die Bedingungen in den Gefängnissen verbessert würden. Diese Maßnahmen lassen sich auch umsetzen, ohne die laufenden Militäroperationen gegen Boko Haram zu beeinträchtigen. Welche Rolle spielt die nigerianische Zivilgesellschaft bei der Aufarbeitung der Verbrechen? Sie spielt eine wichtige Rolle, denn die Aussagen von Augenzeugen und Betroffenen sind für die Untersuchungen ausschlaggebend. Die Arbeit von Amnesty beruht auf einem großen Netzwerk von Personen, die uns täglich über die Angriffe von Boko Haram und über die des Militärs informieren. Für den Bericht wurden Interviews mit rund 400 Zeugen, Betroffenen, Journalisten, Anwälten, Menschenrechtsverteidigern und auch Militärs geführt. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen in Nigeria haben unsere Veröffentlichungen unterstützt und konnten sie durch eigene Recherchen bestätigen. Amnesty hat jüngst auch einen Bericht zu den Verbrechen von Boko Haram veröffentlicht, um beide Seiten des Konflikts zu beleuchten. Die Menschen im Nordosten Nigerias verdienen Gerechtigkeit, egal durch wen sie Opfer geworden sind. Fragen: Ralf Rebmann
INTERVIEW DANIEL EYRE Foto: Amnesty
und infolge der Folter sind schätzungsweise mehr als 7.000 Personen in den Gefängnissen gestorben.
Daniel Eyre ist Amnesty-Researcher für Nigeria im Internationalen Sekretariat in London. Zuvor unterstützte er den KampagnenBereich bei Amnesty. Von 2009 bis 2012 war er am Sondergerichtshof für Sierra Leone in Freetown tätig.
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»Strafen helfen nicht«
»Gesetze müssen Ausbeutung und Misshandlung verhindern.« Rotlichtviertel im südkoreanischen Seoul.
Amnesty-Mitglieder aus der ganzen Welt trafen sich im August 2015 zur Internationalen Ratstagung (ICM) in Dublin. Dort berieten sie unter anderem über eine Resolution zum Schutz der Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern, die am Ende der Tagung auch verabschiedet wurde. Im Kern wird darin die vollständige Entkriminalisierung aller Aspekte einvernehmlicher Sexarbeit gefordert. Auf Grundlage dieser Resolution wird nun der Internationale Vorstand eine Position ausarbeiten. Ein Gespräch mit Kate Schuetze, Beraterin in Rechts- und Strategiefragen von Amnesty International in London. In vielen deutschen Medien war im August zu hören und zu lesen, dass Amnesty sich für die Entkriminalisierung von Sexarbeit einsetzt. Das hat viele Menschen überrascht. Warum ist Sexarbeit für Amnesty ein Thema? Amnesty International ist eine Menschenrechtsorganisation und hat als solche den Schutz der Rechte aller Menschen zum Ziel. Wir setzen uns auch für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter ein, da sie in hohem Maße Gewalt, Stigmatisierung und Diskriminierung erfahren. Weil ihre Arbeit als Straftat eingestuft wird, haben sie oft keine Möglichkeit, juristisch gegen die Verletzung ihrer Rechte vorzugehen. Personen, die andere zu Sexarbeit zwingen, müssen natürlich kriminalisiert werden, aber nicht die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter selbst. Viele von ihnen
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üben ihre Tätigkeit aus, weil sie infolge von Ausgrenzung kaum andere Möglichkeiten haben. Wenn man sie für ihre Arbeit bestraft, wird ihnen das nicht helfen. Im Gegenteil: Es macht es ihnen nur noch schwerer, eine alternative Tätigkeit zu finden, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Stattdessen sollten Regierungen dafür sorgen, dass die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Betroffenen geschützt werden und ihnen beispielsweise Sozialleistungen, Bildungschancen und Ausbildungsmöglichkeiten anbieten, damit sie ihre Tätigkeit aufgeben können, wenn sie möchten. Amnesty International steht mit der Forderung nach einer Entkriminalisierung von Sexarbeit übrigens nicht alleine da. Weitere Organisationen, die dies fordern, sind unter anderem die Weltgesundheitsorganisation, UNAIDS, die Internationale Arbeitsorganisation, die Weltkommission für HIV und das Recht, der UNO-Sonderberichterstatter über das Recht auf Gesundheit, Human Rights Watch, die Open Society Foundations, die Global Alliance Against Traffic in Women sowie Anti-Slavery International. Bevor Amnesty diese Resolution verabschiedete, gab es in vielen Ländern Recherchen und Diskussionen. In welchem Maße waren die Mitglieder an diesem Prozess beteiligt? 2013 wurde ein Entwurf ausgearbeitet, der auf Erkenntnissen aus der Wissenschaft und aus verschiedenen UNO-Einrichtungen sowie auf internationalen Menschenrechtsstandards
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Foto: Jean Chung / The New York Times / Redux / laif
beruhte. Daraufhin befragten Amnesty-Büros auf der ganzen Welt die Mitglieder sowie weitere Akteure, ob sie der Ansicht sind, dass Amnesty eine solche Position vertreten sollte. Außerdem recherchierte Amnesty, wie die Realität von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern in Argentinien, Hongkong, Norwegen und Papua-Neuguinea aussieht. Wir stellten fest, dass Regierung und Polizei sich in diesen Ländern stärker auf das Verbot von Sexarbeit konzentrieren als darauf, die Betroffenen vor Gewalt und anderen Misshandlungen zu schützen. Oft war die Polizei selbst für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Der Positionsentwurf wurde dementsprechend ständig neu geprüft, überarbeitet und abgeändert. Auf der Internationalen Ratstagung von Amnesty im August wurde dann eine Resolution verabschiedet und der internationale Vorstand beauftragt, eine Position zum Schutz der Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern auszuarbeiten. War die Entscheidung innerhalb von Amnesty umstritten? Die Position war nicht unumstritten, sie wird aber von dem überwiegenden Teil der Amnesty-Bewegung und anderen Personen und Organisationen unterstützt. Wir haben im Zuge des Diskussionsprozesses eine ganze Reihe von Themen miteinbezogen, zum Beispiel Faktoren wie Gewalt gegen Frauen, wirtschaftliche Not und verschiedene Arten von Diskriminierung, die zu Sexarbeit führen können. Darüber hinaus haben wir Maßnahmen vorgeschlagen, um Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter vor Gewalt und Diskriminierung zu schützen und um sicherzustellen, dass niemand aufgrund einer Notlage zu Sexarbeit gezwungen ist. Was bedeutet diese Entscheidung für Amnesty als Organisation? Die Resolution ist ein positiver Schritt für die Organisation, weil damit eine Position zum Schutz der Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern beschlossen wurde. Amnesty hat im Namen der Menschenrechte schon häufiger couragierte und nicht unumstrittene Positionen eingenommen, so zum Beispiel bei der Forderung nach der Abschaffung der Todesstrafe und der Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Mit dieser Resolution wird diese Tradition fortgesetzt. Kritiker sagen, damit mache sich Amnesty International zum Fürsprecher von Zuhältern und Freiern und sei für Menschenhandel und Zwangsprostitution mitverantwortlich … Bei dieser Resolution geht es einzig und allein darum, die Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern zu schützen. In den meisten Ländern wird nicht der direkte Verkauf von Sex kriminalisiert, sondern all die Aktivitäten drumherum. Mit der Resolution wird anerkannt, dass die Kriminalisierung den Betroffenen schadet. Sie verstärkt die Stigmatisierung und Diskriminierung, indem sie Razzien, Festnahmen, Schikanen und Misshandlungen durch die Polizei Vorschub leistet. Sie führt auch dazu, dass Maßnahmen, die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter zu ihrer Sicherheit ergreifen möchten, kriminalisiert werden. Außerdem werden dadurch die Möglichkeiten für Polizeischutz eingeschränkt und diejenigen, die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter in ihren Rechten verletzen, gehen straflos aus. Der Aspekt der Entkriminalisierung hat großes Aufsehen erregt. In der Resolution sind aber auch eine ganze Reihe von Maßnahmen aufgelistet, die Staaten unserer Meinung nach ergreifen müssen, um zu verhindern, dass Menschen zum Überleben auf
INTERVIEW
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KATE SCHUETZE
»Amnesty nahm häufig couragierte Positionen ein. Diese Tradition wird fortgesetzt.« Sexarbeit zurückgreifen müssen. Gesetze müssen so formuliert sein, dass Ausbeutung und Misshandlung, zum Beispiel durch Menschenhandel, verhindert und bestraft werden, statt Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern mit Strafen zu drohen und ihr Leben noch gefährlicher zu machen. Die Probleme Ausbeutung, Menschenhandel und geschlechtsspezifische Diskriminierung löst man nicht durch die Kriminalisierung marginalisierter Personengruppen. Wie sehen die nächsten Schritte aus? Nun wird der internationale Vorstand eine Position zum Schutz der Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern ausarbeiten, die auf der Wahrung der Menschenrechte und auf anerkannten Erkenntnissen basiert. Die Amnesty-Mitglieder in aller Welt haben vor der endgültigen Verabschiedung dieser Position die Möglichkeit, den Entwurf erneut zu prüfen und Rückmeldung zu geben. Wie wird Amnesty International sich in Zukunft für Frauenrechte und gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution einsetzen? Mit dieser neuen Position wird Amnesty besser in der Lage sein, für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter die Einhaltung der Menschenrechte zu fordern. Auf der Internationalen Ratstagung wurden auch die strategischen Ziele der Organisation für die kommenden Jahre beschlossen. Dabei spielen die Förderung der Frauenrechte und Geschlechtergleichstellung eine zentrale Rolle. Darüber hinaus sollen Staaten dazu gebracht werden, Schwangerschaftsabbrüche zu entkriminalisieren, besseren Zugang zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen zu gewähren und Antidiskriminierungsgesetze zu verabschieden und umzusetzen. Interview: Maja Liebing
INTERNATIONALE RATSTAGUNG (ICM) Amnesty International ist basisdemokratisch organisiert: Alle zwei Jahre treffen sich Amnesty-Mitglieder aus aller Welt, um über die politische Ausrichtung der Menschenrechtsorganisation zu entscheiden. Das »International Council Meeting« (ICM), auf Deutsch: »Internationale Ratstagung«, ist das höchste beschlussfassende Gremium von Amnesty auf internationaler Ebene. Am 7. August war es wieder soweit: Rund 400 internationale Delegierte reisten nach Dublin, um die Weichen für die zukünftige Arbeit der Menschenrechtsorganisation zu stellen.
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»Die härteste Entscheidung meines Lebens«
Das Visum läuft im Januar ab. Der libysche TV-Journalist Salah Zater im Hamburger Exil.
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Foto: Roland Magunia
Er hat in TV-Reportagen Korruption aufgedeckt, über Waffenhändler, Kinderarbeit, Folter berichtet und die Mächtigen in Libyen zur Verantwortung gezogen. Mehrmals hat man ihm deshalb die Waffe an den Kopf gehalten, ihn zusammengeschlagen. Schließlich blieb dem Journalisten Salah Zater nur noch die Flucht. Weiterkämpfen will er trotzdem. Von Alexandra Mankarios Zwei Mörder seien gefasst, erfährt Salah Zater aus Milizkreisen in der libyschen Hauptstadt Tripolis. Als der Journalist nachfragt, ob die Milizionäre ihren Verdacht beweisen könnten, führt man ihm die vermeintlichen Schuldigen vor. »Das waren ganz junge Männer, vielleicht 18 Jahre alt«, erinnert sich Zater. »Das Blut lief an ihnen herunter, sie konnten kaum stehen. Mir war sofort klar, dass die Miliz sie gefoltert hatte.« Heimlich filmt Zater die Szene, die sich im Sommer vergangenen Jahres ereignete, mit dem Handy. Nicht zum ersten Mal – der damals 28-jährige Journalist war landesweit bekannt für seine mutigen Reportagen, in denen er Missstände und Menschenrechtsverletzungen aufdeckte. Dieses Mal allerdings misslang das riskante Manöver. Zater flog auf, wurde stundenlang festgehalten, bedroht, misshandelt. Zwar ließ man ihn schließlich laufen, aber die Gefahr war nicht gebannt: Er erfuhr, dass der Anführer einer der berüchtigtsten Milizen nach ihm suchen ließ. Gleichzeitig wandelte sich die Stimmung im Sender. Anstelle kritischer Beiträge sollte Zater einen Gefälligkeitsbericht über eben den Milizchef produzieren, der hinter ihm her war. Zater weigerte sich und entschloss sich zur Flucht. Nur seinen Pass holte er noch aus seiner Wohnung, dann floh er nach Tunesien. Reporter ohne Grenzen, Amnesty und die NGO »Committee to Protect Journalists« (CPJ) unterstützten ihn in diesen dramatischen Tagen. »Alle ein bis zwei Stunden riefen meine Ansprechpartner an, um zu checken, ob es mir gut geht und ich in Sicherheit bin«, erzählt Zater. Im Februar 2015 kam der Journalist in Deutschland an. Als Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte darf er ein Jahr lang in der Hansestadt bleiben, sich erholen, Pläne schmieden. »Es war die härteste Entscheidung meines Lebens, Libyen zu verlassen«, berichtet Zater. »Ich habe mich gefühlt, als würde ich aufgeben. So vielen Menschen dort geschieht Unrecht. Sie brauchen jemanden, der ihnen eine Stimme gibt.« Aber nun sitzt er hier, in der kleinen Mansardenwohnung unweit des Hamburger Schanzenviertels. Über dem schwarzen Ledersofa hängen kleine Bilderrahmen mit Rosendarstellungen, drei leere Buntglasvasen zieren die Fensterbank – so unpersönlich wie eine Beispielwohnung im schwedischen Möbelhaus, eine Durchgangswohnung eben. Im Januar 2016 wird ein anderer politisch Verfolgter hier für ein Jahr einziehen. Während Zater Kaffee kocht, erzählt er im Plauderton von einem Erlebnis am Morgen im Park. Eigentlich habe er nur ein wenig abschalten wollen. Aber dann habe er eine junge Frau gesehen, die im Gras saß und weinte. Erst sei er unsicher gewesen, ob es in Deutschland angemessen sei, sie einfach anzusprechen, dann habe er es aber doch gewagt. 20 Minuten lang schüttet sie ihm ihr Herz aus, erzählt von Problemen im Job. Zater hört zu, tröstet, spricht Mut zu. Dann versiegen die Tränen. »Nur 20 Minuten! Das reicht manchmal schon aus, um etwas zu verändern!« ruft Zater leidenschaftlich. So als ließe sich mit genug Zeit und Entschlossenheit eigentlich auch die ganze Welt retten. Nicht zusehen, sondern eingreifen – genau diese Haltung ist es, die dem jungen Libyer erst eine steile TV-Karriere und dann
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Misshandlungen, Morddrohungen und Flucht eingebracht hat. Über einen Freund sei er 2011, kurz nach der Revolution, mit Fernsehleuten in Kontakt gekommen, erzählt er. Die Journalisten witterten Talent in Zater, boten dem 23-Jährigen eine zehntägige Kurzausbildung beim Fernsehen an. Er nahm an. »Nach drei Tagen habe ich meinem Chef gesagt, dass ich bereit sei zu arbeiten. Ich benötigte die restliche Ausbildung nicht«, erinnert er sich. »Das war natürlich eine totale Fehleinschätzung, aber ich wollte unbedingt sofort loslegen.« Schnell erarbeitete sich Zater eine feste Position bei den Privatsendern Al-Aseema und Al-Nabaa, indem er tat, was sich in der chaotischen Bürgerkriegslage im Land sonst kaum jemand traute: Er recherchierte investigativ. Vor der Kamera konfrontierte er Drogenfahnder damit, dass Haschischkonsumenten berichteten, ihre Drogen bei der Polizei zu kaufen. Als das Arbeitsministerium behauptete, in Libyen existiere keine Kinderarbeit, stellte er in einer Reportage Zehnjährige vor, die eben doch arbeiten. Es dauerte nicht lange, bis Zater damit sowohl bei der Regierung aneckte als auch bei den bewaffneten Milizen, die große Teile des Landes kontrollieren und für Hunderte Entführungen und Morde verantwortlich sind. An der politischen Gesamtlage kann auch Zater mit seiner Arbeit wenig ändern. Aber an der Lebenssituation einzelner Menschen schon: »Das Schönste an meiner Arbeit war, wenn sich Betroffene nach meinem Bericht gemeldet und bedankt haben. Eine obdachlose Familie etwa, die ein neues Zuhause gefunden hat, ein Kranker, der endlich eine Behandlung erhielt. Ich bin überzeugt, dass man mit Worten viel verändern kann.« Mit seinen Worten kämpft er auch von Deutschland aus weiter, in Vorträgen, an Universitäten, in sozialen Netzwerken, im Freundeskreis. Wer ihm zuhört, merkt schnell: Er kann gar nicht anders. »Manchmal frage ich mich, wieso ich das alles tue«, sagt Zater leise. »Ich bin doch noch jung, ich sollte mein Leben genießen, reisen, es mir gut gehen lassen. Aber ich muss ständig daran denken, wie vielen Menschen es in Libyen und anderswo schlecht geht.« Also engagiert er sich, trifft sich mit Flüchtlingshelfern oder versucht, deutsche Journalistinnen und Journalisten zum Einsatz für Gerechtigkeit und Menschenrechte zu bewegen. Nur sich selbst kann der junge Libyer kaum helfen. Die politische Lage in seinem Land hat auch aus der Ferne ihren Schrecken nicht verloren. Im Juni haben Kämpfer des Islamischen Staats bei Gefechten seinen Bruder erschossen. Seine Zukunft: völlig ungewiss. Zaters Visum läuft im Januar ab, was danach kommt, weiß er nicht. Nach Libyen kann er vorerst nicht zurückkehren. »Das ist im Moment unmöglich. Die Gefahr ist für mich noch größer geworden, seit ich hier bin. Sie wissen dort, dass ich hier alles erzählt habe, über die Milizen, den Islamischen Staat, die Politiker. Sie würden mich nicht in Frieden leben lassen.« Einer Sache aber ist er sich sicher: »Wo immer ich ab Januar lebe, ich werde weiter für die Wahrheit und die Menschenrechte kämpfen.« Die Autorin ist freie Journalistin.
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KULTUR
Imagination und grausame Vergangenheit
»Meinem Vater wurde nicht erlaubt, außerhalb des Hauses zu arbeiten. Wenn sie ihn gesehen hätten, hätten sie ihn zu Tode geprügelt. Meine Mutter kümmerte Er wurde 1965 festgenommen und inhaftiert. Kina übernahm die wirtschaftliche Verantwortung für ihre Familie. Heute arbeitet sie als Landarbeiterin und wird von
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Indonesien ist in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Gleichzeitig jähren sich die Massaker, denen vor 50 Jahren Hunderttausende reale und vermeintliche Kommunisten in dem südostasiatischen Land zum Opfer fielen. Von Maik Söhler (Text), mit Fotos von Anne-Cécile Esteve
sich um das Baby. Ich war 15 Jahre alt.« Kinas Vater stand unter Verdacht, mit der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI) in Verbindung zu stehen. ihren Söhnen unterstützt.
BUCHMESSE
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Foto: Anne-Cecile Esteve / AJAR
»Ich verkaufe Saté und Curry im Prambanan Markt. Meine finanziellen Mittel reichen gerade so zum Leben.« Sumilah war 14 Jahre alt, als sie 1965 mit etwa 50 anderen Personen aus benachbarten Dörfern festgenommen wurde. Später erfuhr sie, dass man sie verwechselt hatte.
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s ist ein kleines Video, das auf der Webseite der Frankfurter Buchmesse für Indonesien wirbt, den diesjährigen Ehrengast: Aus Buchseiten werden Wellen, Bootsfahrer und ein Wal konkurrieren in einer farbenfrohen Welt um Dynamik, während ein Bonmot aus Goethes »West-östlichem Diwan« eingeblendet wird: »Wer das Dichten will verstehen, muss ins Land der Dichtung gehen«. Bunte Vögel tauchen auf – und werden plötzlich von Dunkelheit geschluckt, in der sich zahlreiche Augen bewegen. »Indonesien – 17.000 Inseln der Imagination«, lautet das Motto, unter dem sich das Land vom 14. bis zum 18. Oktober in Frankfurt präsentiert. Das ist eine schöne Botschaft. Überlassen wir aber die Imagination den Dichtern und wenden uns der Menschenrechtslage in dem asiatischen Inselstaat zu, interpretiert sich die plötzliche Dunkelheit im Buchmessen-Werbevideo wie von selbst. Im »Amnesty Report 2014/15« ist zu lesen, dass indonesischen Sicherheitskräften »Folter und andere Misshandlungen« vorgeworfen werden. Es gibt »mindestens 60 gewaltlose politische Gefangene«. Religiöse Minderheiten werden »weiterhin eingeschüchtert und angegriffen«. Die UNO-Sonderberichterstatterin über angemessenes Wohnen äußerte sich 2014 besorgt über die »erzwungene Umsiedlung religiöser Minderheiten«. Auf der Grundlage sogenannter »Blasphemie-Gesetze« befinden sich mindestens neun Personen in Polizeigewahrsam oder im Gefängnis. Wegen Vergehen gegen Scharia-Vorschriften wurden 2014 mindestens 76 Personen mit Stockschlägen bestraft. Auch gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen und der »Austausch von Intimitäten zwischen unverheirateten Paaren« können mit Prügel geahndet werden. In mindestens 140 Fällen sind Todesurteile anhängig, vollstreckt wurde die Todesstrafe im Jahr 2014 allerdings nicht.
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Soweit zu den nüchternen Fakten des Amnesty-Reports. Neben alldem ragt ein weiterer Satz aus dem Bericht hervor: Es gebe »kaum Fortschritte bei der Gewährleistung von Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen«. Dabei rückt – neben Menschenrechtsverletzungen der neunziger und nuller Jahre – das wohl düsterste Kapitel der indonesischen Geschichte in den Mittelpunkt. Die systematische Verfolgung tatsächlicher und vermeintlicher Kommunisten ab Oktober 1965 durch General Suharto und seine Verbündeten. Der neue Sammelband »Indonesien 1965ff.« liefert zum 50. Jahrestag des Auftakts zum Massaker eine Bestandsaufnahme. Er versammelt Texte von indonesischen Autorinnen und Autoren. Herausgeberin Anett Keller schreibt im Vorwort, dass Schätzungen über die Anzahl der Todesopfer von 500.000 bis zu drei Millionen reichen. »Weitere hunderttausende Menschen wurden in Gefängnisse und Arbeitslager gesperrt, wo sie zum Teil mehr als zehn Jahre verbrachten, ohne dass ihnen je ein juristischer Prozess gemacht worden wäre.« Der Historiker Baskara T. Wardaya SJ erklärt, was den Massenmorden vorausging. Der Auslöser war die Ermordung von sechs Generälen und einem Leutnant am 1. Oktober 1965. Als Täter gelten andere Militärs, die später aussagten, sie hätten einen Putsch rechter Generäle gegen den damaligen Präsidenten Sukarno verhindern wollen. Umgehend zog General Suharto die Macht an sich, beließ aber Sukarno anfangs formell und ohne Machtbefugnisse im Amt. Suharto bezichtigte die Kommunistische Partei Indonesiens (PKI) der Täterschaft und ließ Armee, Polizei, Geheimdienst und Milizen losschlagen – gegen die PKI und alle Organisationen, die in seinen Augen PKI-nah waren. Auch die Unterstützer Sukarnos wurden verfolgt. Die USA und Großbritannien unterstützten Suharto indirekt.
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Foto: Anne-Cecile Esteve / AJAR
»Als ich geschlagen wurde, habe ich nicht geweint, aber in Wirogunan. Warum? Der Dreck war unerträglich. Der Gestank. Deshalb musste ich weinen.« Sri Wahyuningsih war Künstlerin, Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin. 1965 wurde sie festgenommen und im Gefängnis gefoltert.
In der Folge kam es monatelang in fast allen Teilen des Landes zu Morden, Folter und Menschenrechtsverletzungen in ungeahntem Ausmaß, jegliche Opposition wurde zerschlagen. Stanley Adi Prasetyo, der ehemalige Vorsitzende der Nationalen Menschenrechtskommission, schreibt, auch systematische sexuelle Gewalt sei dokumentiert. Vergewaltigung und sexuelle Sklaverei als Waffe, Strafe, Folter und Demütigung zugleich. Die Kommission gelangte 2012 zur Schlussfolgerung, dass es Anfangsbeweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit gebe. Die Historikerin I Gusti Agung Ayu Raith nimmt die Verfolgung von Frauen genauer in den Blick. Die damals bedeutendste Frauenorganisation »Gerwani« gefährdete aus der Sicht Suhartos die »Sicherheit von Staat und Volk«; daher galt »jede Frau, die sich politisch engagiert, erst recht in linken Zusammenhängen, als Gefahr, die das indonesische Volk in den Abgrund des Verderbens führe«. Das von Suharto ausgerufene Entwicklungsmodell der »Neuen Ordnung« habe Indonesien auf Jahrzehnte geprägt: »Eine feudale, paternalistische Kultur und einen unbedingten Gehorsam erzwingender Militarismus gingen fortan eine Symbiose ein.« Oei Hiem Hwie, einer der politisch Verfolgten jener Zeit, gibt zu Protokoll: »Das Zeitalter der Dummheit war gekommen. (…) Ich sah, wie der Brantas-Fluss sich vom Blut der Ermordeten rot färbte. Es gab kein Recht und keine Gerechtigkeit.« Selbst nach seiner Freilassung wurden ihm Bürgerrechte verwehrt. »In meinem Ausweis prangte der Stempelvermerk ET (eks tapol, ehemaliger politischer Häftling).« Damit einher gingen ein regelmäßiger Meldezwang und staatliche Überwachung. Erst im Jahr 2001 erhielt er einen regulären Pass. Bis zum Rücktritt Suhartos 1998 waren öffentliche Debatten über die Repression nach 1965 verboten, es herrschte eine verordnete Geschichtsschreibung vor. Der Philosoph Wijaya Her-
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lambang wendet sich deswegen der Rolle der Medien, des Films und der Literatur zu. Es seien über Jahre Hetzkampagnen gestartet worden, die Indoktrination habe viele Bereiche des Lebens umfasst und wirke teilweise bis heute nach. »Es ist bequemer und angenehmer, mit einer altbekannten Lüge zu leben, als sich einer beunruhigenden neuen Perspektive zu öffnen«, lautet sein Fazit angesichts der vielen Kollaborateure und Profiteure des Massakers. Doch die Zeitzeugen, Wissenschaftler und Menschenrechtler in »Indonesien 1965ff.« schauen nicht nur zurück. YPKP 65, eine Stiftung zur Forschung zu den Opfern der Morde von 1965/66, plant zum 50. Jahrestag des Beginns der Massenmorde und der damit verbundenen Straflosigkeit ein Tribunal in Den Haag. Ihr Vorsitzender Bedjo Untung schreibt: »Bleibt zu hoffen, dass uns noch genug Zeit gegeben ist, um das Ende der Straflosigkeit zu erleben.« Und so könnte auch die Frankfurter Buchmesse einen guten Anlass bieten, staatliche und halbstaatliche Kulturfunktionäre Indonesiens mit der Vergangenheit zu konfrontieren. Einer Vergangenheit, die keine Imagination ist, sondern zu den dunklen Realitäten des Landes gehört. Frankfurter Buchmesse wirbt für Indonesien: www.buchmesse.de/de/ehrengast/ Werbevideo für Indonesien auf der Buchmesse: www.youtube.com/watch?t=90&v=A_93e7X_I-k Amnesty Report 2014/15: Indonesien www.amnesty.de/jahresbericht/2015/indonesien Anett Keller (Hg.): Indonesien 1965ff. Die Gegenwart eines Massenmordes. Ein politisches Lesebuch. Regiospectra, Berlin 2015. 214 Seiten, 19,90 Euro.
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»Gerechtigkeit ist möglich« Sie bezeichnen sich als Künstler, Philosoph und Kriegsreporter, Sie machen Theater, drehen Filme, schreiben Bücher. Was treibt Sie an? Ich denke, es ist ganz klassisch das Wissenwollen. Beim »Kongo Tribunal« etwa: Was passiert im Ostkongo? Warum starben dort in den vergangenen 20 Jahren sechs Millionen Menschen? Was sind die Gründe dafür? Und dann kommt natürlich so eine Art Abenteuerlust dazu – im Fall des »Kongo Tribunal« eigentlich die schiere Unmöglichkeit, in einem Bürgerkriegsgebiet wie dem Ostkongo ein Tribunal mit Richtern aus Den Haag, mit einer Jury aus Regierung und Opposition, einen Dreh mit sieben Kameras und 1.000 Statisten auf die Beine zu stellen … Was uns gelungen ist! Und schließlich bin ich ja auch noch Künstler, der versucht, gute Filme, gute Stücke und gute Bücher zu machen. Warum die Demokratische Republik Kongo? Zentralafrika ist ein Gebiet, mit dem ich mich seit Längerem befasse, das begann mit »Hate Radio« über den Genozid in Ruanda. Der Krieg im Ostkongo ist ein Folgekonflikt dieses Genozids, das war also sozusagen ein logisches Anschlussprojekt. Inwieweit haben Sie sich bei Ihrem »Kongo Tribunal« an Bertrand Russels berühmtem Vietnam-Tribunal orientiert, das sich mit US-amerikanischen Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg beschäftigte? »Das Kongo Tribunal« steht in direkter Tradition des Vietnam-Tribunals, was seine beabsichtigte politische Wirksamkeit angeht, aber auch sein ganz bewusster Verzicht auf institutionelle Verankerung. Sartre, damals ein Mitstreiter Russels, schrieb über das Vietnam-Tribunal: »Seine absolute Machtlosigkeit begründet seine Universalität.« Das gilt auch für unser »Kongo Tribunal«. Darüber hinaus ist die Mischung aus internationalem und nationalem Recht typisch für das Tribunal, die Form des Volksgerichts mit Jury und Publikum. Anders als Sartre haben wir das Tribunal allerdings zunächst auch vor Ort abgehalten – das scheint mir das große Versäumnis des Vietnam-Tribunals und auch der folgenden Russell-Tribunale zu sein.
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Wie verstehen Sie Ihre Rolle in diesem Tribunal: Sind Sie Staatsanwalt, Zeuge oder Richter? Ich verstehe mich als Moderator, der die Zeugen zusammenbringt und – gemeinsam mit den beteiligten Richtern und Anwälten – die Gerichtsordnung ausarbeitet. Zudem bin ich Regisseur, der einen Film über diesen Konflikt dreht, und in dieser Hinsicht bin ich natürlich, im übertragenen Sinn, auch Zeuge. Richter oder Staatsanwalt bin ich, über meine persönliche Meinung hinaus, keinesfalls. Eher, wie alle westlichen Zuschauer, Mit-Angeklagter. Auf der Bühne im Ostkongo und in Berlin standen Akteure aus dem realen, politischen Leben: Anwälte, Verfassungsrichter, Zeugen, Lokalpolitiker, Polizisten. Beeinflusst die Auswahl der Beteiligten bereits den möglichen Ausgang eines fiktiven Prozesses? Im Gegensatz zu vielen anderen dokumentarisch arbeitenden Regisseuren ist in meiner Ästhetik ja normalerweise die Arbeit mit Schauspielern zentral. Eine Ausnahme bilden meine drei Prozessprojekte: »Die Zürcher Prozesse«, »Die Moskauer Prozesse« und nun »Das Kongo Tribunal«. Was diese Projekte angeht, suche ich natürlich bewusst »gute Darsteller«: also Anwälte oder Zeugen, die ihre Sicht der Dinge gut und überzeugend darstellen können und die durch ihre »Performance« auch Einfluss auf die Jury nehmen können. Und natürlich ist ein Prozess oder Tribunal schon per se dramatisch – vielleicht sogar die ursprünglichste Theaterform überhaupt: Zwei Ideen, zwei Sichtweisen einer Sache treten gegeneinander an – einer wird gewinnen. Was mich aber eigentlich interessiert, ist nicht der Urteilsspruch, sondern das, was während und in der Verhandlung passiert, der Prozess als solcher. Ursprünglich sollten UNO-Vertreter die Sicherheit des Tribunals im Kongo garantieren – wie erklären Sie sich den Rückzieher der UNO? Das war eine gewaltige Enttäuschung für uns. Wir hatten gemeinsam ein recht ausgefeiltes Zeugenschutzprogramm entwickelt. Ein paar Tage vor dem Tribunal im Ostkongo entschied die New Yorker Zentrale dann aber, sich aus dem Projekt zurückzuziehen, wohl aus politischen Gründen, sicher auch aus Angst vor schlechter Presse. Übrigens sehr zur Verzweiflung ihrer lokalen Mitarbeiter. Wir haben das dann im Alleingang durchgezogen, zwei unserer Anwälte hatten bereits Prozesse zu Massenund Kriegsverbrechen betreut. In Berlin schien das Publikum fast die wichtigste Rolle zu spielen – unmerklich wurde es hineingezogen in eine große Anklage gegen die westliche Konsumgesellschaft. Wie waren die Reaktionen darauf?
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Foto: Fruitmarket / Langfilm & IIPM / Eva-Maria Bertschy
»Das Kongo Tribunal« ist das jüngste Theaterprojekt des Schweizer Regisseurs und Autors Milo Rau. Es kam in diesem Sommer im Osten der Demokratischen Republik Kongo und in Berlin auf die Bühne. Ein Gespräch mit Milo Rau über Theaterästhetik und Wirtschaftskriminalität.
Dicht an der Realität. Milo Rau (2. von rechts) bei einem Recherche-Dreh mit kongolesischen Soldaten.
Die Reaktionen in den Medien waren sehr unterschiedlich – das ging vom Vorwurf des Größenwahns bis zu einer Art überbordender Dankbarkeit, einer Begeisterung, dass das endlich mal gemacht wird. Denn das Fehlen einer Gerichtsbarkeit für die internationale Wirtschaftskriminalität ist wohl der Skandal unseres globalisierten Zeitalters. Was das Publikum angeht: Es war verrückt, wie diese Menschen den insgesamt 30-stündigen, oft sehr trockenen und detaillierten Verhandlungen gefolgt sind. Ein Tribunal scheint eine große Sogkraft zu haben …
lungsanweisung. Wir haben vor Ort Richter, eine gemischte Jury, Zeugen und Experten bestimmt, jahrelang recherchiert, die Rechtslage sondiert und am Ende ein sechstägiges Tribunal vor Ort in Anwesenheit der Beklagten organisiert, die auch alle gehört wurden. Die Botschaft ist: So müsste es aussehen, Gerechtigkeit ist möglich, auch mitten im Bürgerkrieg! Dieses Modell der »chambres mixtes«, also einer gemischt national-internationalen Gerichtsform, soll nun im gesamten Kongo weitergeführt werden. »Das Kongo Tribunal« war nur das Vorbild.
Wie unterschieden sich die beiden Tribunale im Ostkongo und in Berlin in ihrer Eigendynamik und Außenwirkung? Das waren zwei völlig unterschiedliche Erfahrungen. Die »Bukavu Hearings« im Ostkongo waren antagonistische Verhöre, in denen Regierungs- und Militärvertreter mit Zeugen von Massakern oder Wirtschaftsverbrechen konfrontiert wurden. Extrem heiße Verhandlungen waren das, mitten im Bürgerkriegsgebiet, und parallel dazu wurden die Lokalwahlen vorbereitet. Verglichen damit war der Berliner Teil eine eher analytische Veranstaltung: Es ging um Hintergründe, um Zusammenhänge, um eine Reflexion der Ergebnisse aus dem Kongo. Aber das eine war so nötig wie das andere: ohne Berlin kein Bukavu und umgekehrt.
Fragen: Cordelia Dvorák
Was erhoffen Sie sich von Projekten wie dem »Kongo Tribunal«? Ich denke tatsächlich, dass ein Projekt wie »Das Kongo Tribunal« eine symbolische Handlung darstellt, eine Art Hand-
INTERVIEW
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MILO RAU
INTERVIEW MILO RAU Der Schweizer Regisseur und Autor (38) befasst sich in seinen Werken intensiv mit Menschenrechtsthemen. Dazu gehören Stücke über die Kunstfreiheit in Russland (»Die Moskauer Prozesse«), die politische Diskriminierung von Ausländern in der Schweiz (»City of Change«), der Untergang des kommunistischen Regimes in Rumänien (»Die letzten Tage der Ceauşescus«), der Genozid in Ex-Jugoslawien (»The Dark Ages«) und der Genozid in Ruanda (»Hate Radio«).
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Viel Pragmatismus, wenig Strafe Was ist »Transitional Justice«? Und warum ist sie so erfolgreich? Die Rechtssoziologin Fatima Kastner untersucht ein weitverbreitetes Konzept zur Aufarbeitung von systematischen Menschenrechtsverletzungen. Von Maik Söhler
K
Fatima Kastner: Transitional Justice in der Weltgesellschaft. Hamburger Edition, Hamburg 2015. 400 Seiten, 35 Euro.
Foto: Abdlhak Senna / AP / pa
leiner Anlass, große Analyse: Am Anfang des neuen Sachbuchs »Transitional Justice in der Weltgesellschaft« der Rechtssoziologin Fatima Kastner steht eine simple Frage. Warum hat das Königreich Marokko als einziges islamisch geprägtes Land eine Wahrheits- und Versöhnungskommission eingesetzt, um die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit aufzuarbeiten? Zuerst einmal ist zu klären, was »Transitional Justice« ist. Kastner definiert sie als Modell zur Konfliktbewältigung in Übergangsgesellschaften. Im Vordergrund steht dabei nicht die täterorientierte Strafjustiz, wie zum Beispiel bei den Prozessen in Nürnberg und Tokio gegen Verantwortliche des NS-Regimes und des faschistischen Japans, sondern die kollektive, an den Opfern orientierte Aufarbeitung, Wiedergutmachung und Aussöhnung. Gleichzeitig grenzt sie »Transitional Justice« ab von der These des Historikers Christian Meier, der die Ansicht vertritt, es sei nach den Weltkriegen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht um »die Bewältigung und Bewusstmachung historischen Unrechts« gegangen, sondern um »ein Nichterinnern und Vergessen ›schlimmer Vergangenheiten‹«. »Transitional Justice« ist somit ein eigenes System, das Menschenrechtsverletzungen aufarbeiten will und dabei auf vielfältige Erfahrungen zurückblicken kann: Von Südafrika bis Osteuropa und von Südamerika bis Asien reichen die Verfahren, mit denen Übergänge von Diktaturen zu Demokratien oder vom Krieg zum Frieden juristisch und zivilgesellschaftlich begleitet wurden und an deren Ende mal mehr, mal weniger die Offenle-
gung von Verbrechen und die Anerkennung der Opfer stehen. Mal mehr, mal weniger bedeutet: Jedes Land bestimmt selbst, mit welchen Mitteln und Zielen Aufarbeitung erfolgen soll, und die Ergebnisse fallen je nach der Situation eines Landes in der Tat sehr unterschiedlich aus. Kastner bezeichnet »Transitional Justice« denn auch als ein in der Regel »restauratives« und pragmatisches System von Normen, Werten und Prozessen. Dabei zeigt sich aber, wie stark der Bezug auf Menschenrechte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch für jene Staaten geworden ist, die den Menschenrechten über lange Zeit kaum Beachtung schenkten oder mit eigenen Definitionen ihren Umfang oder Inhalt einzuschränken versuchten. Braucht ein Staat Unterstützung von anderen, so gehören neben politischen, ökonomischen und juristischen Forderungen auch Maßnahmen zur Achtung der Menschenrechte zum Repertoire dessen, was die UNO, die EU, die USA oder der Internationale Währungsfonds verlangen. Gleichzeitig haben sich in der Weltgesellschaft große NGOs etabliert, die ihrerseits immer stärker auf die Achtung von Menschenrechten drängen. Marokko hat sich also, wie Kastner im Fazit schreibt, mit seinem »Transitional Justice«-Programm als islamische Monarchie völkerrechtlich etabliert und zugleich hat sich der marokkanische König im Land wie außerhalb als »eine über den Parteien und parteipolitischen Interessen stehende Instanz« erwiesen, »die die gesellschaftliche Stabilität und Ordnung garantieren kann«. Kurz gesagt: Ein pragmatischer Umgang mit Menschenrechtsverletzungen kann einen Zugewinn an Souveränität mit sich bringen. Kastners Buch fördert das Verständnis von komplexen politischen und gesellschaftlichen Prozessen. Für eine gewinnbringende Lektüre sind allerdings gewisse soziologische und völkerrechtliche Vorkenntnisse hilfreich.
Aufarbeitung. Betroffene verfolgen eine Anhörung der marokkanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission in Rabat, 2004.
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Wie die Kurden die Krise nutzen
Schleuser in der Kritik
Während nur wenige Kilometer entfernt der »Islamische Staat« seinen mittelalterlichen Terror verbreitet, die Staaten Irak und Syrien zerfallen, der Iran unter internationalem Druck steht und die Türkei an der Autokratie Erdoğans leidet, ruht im Zentrum all dieser Ereignisse eine Region in sich: die kurdischen Autonomiegebiete im Irak. Hans-Joachim Loewer, langjähriger Reporter beim »Stern«, hat einige Monate dort verbracht und was er berichtet, kommt einem Wunder gleich. Inmitten von Krieg und Zerfall bilden die Kurden eine Insel an Beständigkeit, Solidarität und Prosperität. Mehr als eine Million Flüchtlinge wurden aufgenommen, Städte wie Erbil, Sulaimania und Kirkuk boomen dank kurdischer Verwaltung und den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft. Loewer hat mit kurdischen Politikern, Militärs, Unternehmern, Wissenschaftlern und Vertretern der Zivilgesellschaft gesprochen und zeichnet das Bild eines entstehenden kurdischen Staates, dem nur noch die Anerkennung fehlt. Die PKK, ihr syrisches Pendant PYD und der türkische Staatsapparat als Gegner kommen allerdings viel zu kurz. Loewers Berichtsgebiet ist die kurdische Autonomieregion im Nordirak, sein Interesse gilt den dort regierenden kurdischen Parteien DPK, PUK und der recht jungen »Gorran«. Ohne die PKK und ihre Bündnispartner aber schwinden die Chancen auf ein starkes, friedliches und geeintes Kurdistan.
Im Jahr 2014 ist die Zahl der Flüchtlinge auf einen Rekordwert gestiegen. Nach Angaben des UNHCR waren Ende des Jahres weltweit 59,5 Millionen Menschen auf der Flucht. 2013 lag ihre Zahl bei 51,2 Millionen. Dies bedeutet einen Anstieg um 16 Prozent – einen höheren Zuwachs gab es noch nie. Die EU reagiert darauf mit einem Programm zur Bekämpfung der »Schleuserkriminalität«. Was aber verbirgt sich hinter diesem Wort? Das Sachbuch »Bekenntnisse eines Menschenhändlers« des italienischen Kriminologen Andrea Di Nicola und des Fotografen Giampaolo Musumeci bemüht sich, Fakten zu Schleusern zu liefern und Hintergründe zu erklären. Beide haben mit Flüchtlingen, Schleusern, Schiffskapitänen, Staatsanwälten und polizeilichen Ermittlern gesprochen, um Analysen und Organigramme der »größten kriminellen Reiseagentur der Welt« abzugeben. Es bleibt bei Bemühungen. Die Autoren plappern oft unkritisch nach, was Polizei, Geheimdienste und die europäische Grenzschutzagentur »Frontex« vorgeben. Zwar werden vereinzelt Details internationaler Schleppernetzwerke sichtbar, doch sie gehen unter zwischen pathetischem Duktus und mangelnder Erzählstruktur. Der reißerische Titel »Bekenntnisse eines Menschenhändlers« passt leider allzu gut zu diesem Buch.
Hans-Joachim Löwer: Die Stunde der Kurden. Wie sie den Nahen Osten verändern. Styria, Wien 2015. 208 Seiten, 24,99 Euro.
Andrea Di Nicola/Giampaolo Musumeci: Bekenntnisse eines Menschenhändlers. Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen. Aus dem Italienischen von Christine Ammann. Kunstmann, München 2015. 206 Seiten, 18,95 Euro.
Unsichtbar in China
Real Fiction
»Glaub bloß nicht alles, was man dir erzählt. Es gibt immer eine Geschichte hinter der Geschichte. Und dahinter gibt es noch ein paar mehr. Hey, das ist China.« Mit diesem Dialogfetzen endet »Wolkenläufer«, ein neues Sachbuch über China, verfasst von Angela Köckritz, der ehemaligen Peking-Korrespondentin der »Zeit«. Sie hat China Ende 2014 verlassen, nachdem ihre Assistentin Zhang Miao infolge der Hongkonger »Occupy Central«-Proteste festgenommen wurde – sie kam erst im Juli 2015 wieder frei. Köckritz hätte also Grund genug, eine politische Abrechnung zu verfassen. Aber das macht sie nicht. Stattdessen nimmt sie Menschen und Orte in China in den Blick, die in der Berichterstattung sonst eher selten vorkommen: einen Wandersänger, eine Mätresse, einen Museumsgründer, ein »Medium«. Ihre Geschichten führen in abgelegene Klöster und Stadtteile Pekings, in kleine Clubs und vor große, abgeschirmte Fabriken. Köckritz erzählt aus dem Leben von Vagabunden, Alteingesessenen, Aufsteigern und Verlierern und sie erzählt so souverän, dass die politische Repression und der ökonomische Boom am Rande stets mitklingen. »Wolkenläufer« ist auch deshalb unterhaltsam, weil das Buch zwar den Alltag der Gegenwart spiegelt, Rückgriffe in die Vergangenheit und Ausblicke in die Zukunft eines der mächtigsten Länder der Welt sich dabei aber häufig von selbst ergeben.
Don Winslows neuer Roman »Das Kartell« beginnt mit einer sehr langen Liste mexikanischer Journalisten, die dem Drogenkrieg in ihrer Heimat zum Opfer fielen. Nicht nur der dokumentarische Bezug zu Beginn des mehr als 800 Seiten langen Buchs ist ungewöhnlich, sondern auch der schonungslose Stil, in dem es geschrieben ist. Fünf Jahre lang recherchierte der US-Autor über die fast allmächtigen Drogenkartelle, die längst auch die staatlichen Institutionen unterwandert haben. Heraus gekommen ist dabei ein beeindruckendes Panoptikum des Drogenkriegs in Mexiko. Winslow beschreibt eine Gewaltorgie, die nicht der Fantasie des Autors, sondern der alptraumhaften Realität entspringt. Seiner Ansicht nach handelt es sich dabei allerdings nicht um ein »mexikanisches Drogenproblem«. In einem Interview sagte der Erfolgsautor, das Land habe nur das Pech, »eine Grenze mit dem weltweit größten Supermarkt für Kokain zu teilen«. In den USA und auch in Europa lebten schließlich die zahlungskräftigen Konsumenten, ohne die das Geschäft nicht existieren würde. Zudem würden dort die Drogengelder in Immobilien und Unternehmen investiert. Winslow entlarvt so den »Krieg gegen die Drogen« als eine blutige Farce, da er nicht die Ursachen bekämpft. Winslows Befund ist deprimierend, umso empathischer schildert er mutige Journalisten, Bauern und Aktivisten, die sich mit dem Wahnsinn nicht abfinden wollen. Unbedingt lesenswert.
Angela Köckritz: Wolkenläufer. Geschichten vom Leben in China. Droemer, München 2015. 304 Seiten, 19,99 Euro.
Don Winslow: Das Kartell. Droemer Verlag, München 2015. 832 Seiten, 16,99 Euro.
Bücher: Maik Söhler, Anton Landgraf BÜCHER
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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de
AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) 64
Foto: privat
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
IRAN OMID KOKABEE Omid Kokabee wollte im Januar 2011 nach einem Besuch bei seiner Familie im Iran gerade die Rückreise in die USA antreten, als er am Flughafen von Teheran festgenommen wurde. Er war zu diesem Zeitpunkt Doktorand der Physik an der Universität von Texas. Nach 15 Monaten in Untersuchungshaft fand im Mai 2012 ein Gerichtsverfahren statt. Man warf ihm »Kontakt mit feindlich gesinnten Ländern« und »Erhalt verbotener Zahlungen« vor. Bei diesen Zahlungen handelt es sich um das Stipendium der Universität Texas. Vor Gericht wurde kein Beweismaterial gegen ihn vorgelegt und es wurde ihm untersagt, vor der Verhandlung mit seinem Rechtsbeistand zu sprechen. Omid Kokabee wurde in Einzelhaft festgehalten, über lange Zeiträume hinweg verhört und unter Druck gesetzt, um ein »Geständnis« abzulegen. Er berichtete, dass die Behörden ihn nötigten, Einzelheiten über Personen aufzuschreiben, die er in Botschaften oder bei Konferenzen gesehen hatte. Die Beamten beschuldigten anschließend einige dieser Menschen, für den US-Geheimdienst CIA zu arbeiten. Im Januar 2015 wurde die zehnjährige Haftstrafe gegen Omid Kokabee von einem Berufungsgericht in Teheran bestätigt. Er ist zunehmenden Schikanen durch die Gefängnisbehörden ausgesetzt. So wird er beispielsweise immer öfter daran gehindert, wissenschaftliche Zeitschriften und Bücher zu lesen, die er größtenteils von seiner Familie erhält. Amnesty International geht davon aus, dass es sich bei Omid Kokabee um einen gewaltlosen politischen Gefangenen handelt, der sich nur deshalb im Gefängnis befindet, weil er sich weigerte, für das iranische Militär an Nuklearprojekten zu arbeiten, und weil er legitime akademische Verbindungen mit Hochschulinstitutionen im Ausland unterhält. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Obersten Religionsführer des Iran und fordern Sie darin die Freilassung von Omid Kokabee, die Aufhebung des Schuldspruchs und damit auch der Haftstrafe. Bis zur Entlassung aus der Haft muss ihm der regelmäßige Besuch seines Rechtsbeistands gestattet werden. Schreiben Sie in gutem Persisch, Englisch oder auf Deutsch an: Ayatollah Sayed ’Ali Khamenei Leader of the Islamic Republic Islamic Republic Street – End of Shahid Keshvar Doust Street Tehran, IRAN E-Mail: über die Website: www.leader.ir/langs/en/index.php?p=suggest Twitter: @khamenei_ir (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Islamischen Republik Iran S.E. Herrn Ali Majedi Podbielskiallee 65–67, 14195 Berlin Fax: 030 - 84 35 35 35 E-Mail: info@iranbotschaft.de
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Die Organisation COFADEH (Comité de Familiares de DetenidosDesaparecidos en Honduras) setzt sich für Familienangehörige von Inhaftierten und »Verschwundenen« ein und zählt zu den wichtigsten Menschenrechtsorganisationen in Honduras. Seit einigen Jahren greift COFADEH nicht nur Fälle von Verschwindenlassen auf, sondern auch von Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, Drohungen und Drangsalierungen gegen Menschenrechtsverteidiger, unverhältnismäßiger Gewalt von Polizei und Sicherheitskräften, Landstreitigkeiten und schlechten Haftbedingungen. COFADEH arbeitet mit internationalen Organisationen zusammen, um auf Menschenrechtsverletzungen in Honduras aufmerksam zu machen, und spielt eine wichtige Rolle bei der Übermittlung von Fällen an das Interamerikanische Menschenrechtssystem. Aufgrund der Arbeit von COFADEH hat die Interamerikanische Menschenrechtskommission die honduranische Regierung angewiesen, Schutzmaßnahmen für zahlreiche Menschenrechtsverteidiger zu ergreifen. Mitglieder von COFADEH und deren Angehörige werden seit vielen Jahren immer wieder bedroht, überwacht, drangsaliert und angegriffen. Seit 2011 hat jedoch sowohl die Anzahl als auch die Schwere der Übergriffe zugenommen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von Honduras, in denen Sie ihn dazu auffordern, den Empfehlungen der UNO-Sonderberichterstatterin über die Lage von Menschenrechtsverteidigern vom Dezember 2012 nachzukommen und die wichtige und legitime Arbeit von Menschenrechtsverteidigern öffentlich anzuerkennen. Fordern Sie ihn zudem auf, eine Erklärung abzugeben, in der er die Drohungen und Angriffe gegen Mitglieder der COFADEH und andere Menschenrechtsverteidiger verurteilt. Bitten Sie ihn, die Angriffe umfassend zu untersuchen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen, und erinnern Sie ihn daran, dass Menschenrechtsverteidiger das Recht haben, ihre Arbeit ohne unfaire Einschränkungen oder Angst vor Vergeltungsmaßnahmen auszuüben, wie es die UNO-Erklärung zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern von 1998 vorschreibt. Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Juan Orlando Hernández Presidente de Honduras, Casa Presidencial, Barrio Las Lomas Boulevard Juan Pablo II, Tegucigalpa, HONDURAS Fax: 005 04 - 22 90 50 88 E-Mail: www.facebook.com/juanorlandoh Twitter: @JuanOrlandoH (Anrede: Dear Presidente / Señor Presidente / Sehr geehrter Herr Präsident) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Honduras S. E. Herrn Ramón Custodio Espinoza Cuxhavener Straße 14, 10555 Berlin Fax: 030 - 39 74 97 12 E-Mail: informacion.embahonduras.de@gmail.com
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
Fotos: privat
Foto: Amnesty
HONDURAS COFADEH
MAROKKO WAFAE CHARAF UND OUSSAMA HOUSNE Wafae Charaf und Oussama Housne setzen sich für Menschenrechte ein und sind politisch aktiv. 2014 wurden sie nach friedlichen Protesten willkürlich festgenommen und gefoltert. Als sie dies öffentlich machten, verurteilte man sie wegen »falscher Anschuldigung« zu zwei beziehungsweise drei Jahren Haft. Obwohl keiner der beiden Polizeikräfte beschuldigt hatte, wurden sie zudem wegen »Verleumdung der marokkanischen Polizei« zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt. Wafae Charaf und Oussama Housne sind gewaltlose politische Gefangene. Wafae Charaf hat angegeben, nach der Teilnahme an einem Arbeiterprotest in Tanger am 27. April 2014 von zwei Männern verschleppt worden zu sein. Man habe sie mehrere Stunden geschlagen und ihr mit weiterer Gewalt gedroht, sollte sie sich weiterhin politisch engagieren. Am 12. August 2014 wurde sie wegen »falscher Anschuldigungen über Folter« und »Verleumdung« zu einem Jahr Haft und einer Geldstrafe von 1.000 Dirham (etwa 95 Euro) verurteilt. Zudem verurteilte man sie zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von 50.000 Dirham (etwa 4.700 Euro) an die Polizei wegen »Verleumdung«, obwohl sie keine Anschuldigungen gegen Polizeikräfte erhoben hatte. In einem Rechtsmittelverfahren wurde ihre Haftstrafe auf zwei Jahre erhöht. Oussama Housne wurde eigenen Angaben zufolge am 2. Mai 2014 verschleppt und gefoltert, als er sich auf dem Rückweg von einer Protestveranstaltung befand, bei der Solidarität mit inhaftierten Aktivisten zum Ausdruck gebracht worden war. Er hat angegeben, dass seine beiden Entführer ihm mit einem heißen Metallrohr Verbrennungen zugefügt und ihn mit Fingern vergewaltigt haben. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Justizminister von Marokko, in denen Sie ihn darum bitten, sicherzustellen, dass Wafae Charaf und Oussama Housne sofort und bedingungslos freigelassen werden, da es sich bei ihnen um gewaltlose politische Gefangene handelt. Schreiben Sie in gutem Arabisch, Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: El Mustapha Rashid Minister of Justice and Liberties Ministère de la Justice et des Libertés Place El Mamounia – BP 1015, Rabat, MAROKKO Fax: 002 12 - 53 - 773 47 25 E-Mail: cabinet@justice.gov.ma (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des Königreichs Marokko S.E. Herrn Omar Zniber Niederwallstraße 39, 10117 Berlin Fax: 030 - 20 61 24 20 E-Mail: kontakt@botschaft-marokko.de
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Foto: Sven Mesch / Amnesty
Emotionale Debatten. Über Abtreibung und sexuelle Aufklärung wurde in Ghana besonders intensiv diskutiert.
»AKWAABA!« Junge Amnesty-Mitglieder aus Deutschland reisten Anfang August nach Westafrika, um sich mit jungen ghanaischen Amnesty-Aktivisten auszutauschen. Eine lehrreiche Woche – für beide Seiten. Die Anreise war beschwerlich: 17 Stunden dauerte es, bis die kleine Amnesty-Delegation aus Deutschland in der ghanaischen Stadt Ejisu ankam. Doch die Strapazen waren schnell vergessen: Mit einer musikalischen Zeremonie begrüßte die ghanaische Sektion die Gruppe: »Akwaaba!« – Willkommen in Ghana! Seit Anfang 2011 besteht eine Partnerschaft zwischen Amnesty Deutschland und Amnesty Ghana. Beim diesjährigen »Youth Camp« der ghanaischen Sektion nahmen deswegen Anfang August neben rund achtzig ghanaischen Jugendlichen auch fünf Delegierte aus Deutschland teil, um sich über die Jugendarbeit von Amnesty und andere Themen auszutauschen. Schon seit mehr als vierzig Jahren ist Amnesty in Ghana vertreten. Noch ist die Amnesty-Bewegung dort in vielen Bereichen nicht so stark aufgestellt wie in Deutschland. Doch das ändert sich im Eiltempo. Gerade in Sachen Jugendarbeit kann sich die deutsche Sektion in Ghana einiges abschauen: »43 Prozent unserer Mitglieder sind Jugendliche«, sagt Frank Doyi, der bei Amnesty Ghana für Wachstum und Aktivismus verantwortlich ist. »Die jungen Menschen sind für Amnesty besonders engagiert – sowohl in ihren Schulen als auch außerhalb. Sie sind das Rückgrat unserer Organisation. Wir schätzen, dass sich rund 8.000 Jugendliche im vergangenen Jahr auf die eine oder andere Weise für Amnesty Ghana eingesetzt haben.« Amnesty hat es in Ghana geschafft, mit Schulen zu kooperieren und dadurch Jugendliche sehr früh für die Menschen-
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rechte zu sensibilisieren. Nicht zuletzt deswegen erhält die ghanaische Sektion starken Zulauf – wie beispielsweise von Nannette Annafo, die vor sieben Jahren durch ein Schulprojekt zu Amnesty fand: »Von Menschenrechten hatte ich vorher wenig Ahnung«, sagt die 22-Jährige. Inzwischen verbreitet sie unter anderem Amnesty-Themen über soziale Netzwerke. Das Beispiel Ghana macht deutlich, wie wichtig eine engagierte Jugend für die Zukunft von Amnesty ist. Auch in Deutschland wäre ein Schulprojekt wünschenswert, wie es in Ghana bereits Realität ist. Sowohl, um neue Mitglieder zu gewinnen, als auch, um jungen Menschen schon auf der Schulbank ein Bewusstsein für Menschenrechte zu vermitteln. Nicht nur Amnesty-interne Themen standen während des »Youth Camps« auf der Agenda. Insbesondere die Debatte über sexuelle und reproduktive Rechte wurde während des einwöchigen Treffens intensiv diskutiert. Die äußerst emotional vorgebrachten Argumente machten deutlich, wie wichtig eine offene Auseinandersetzung zu Themen wie Abtreibung und sexuelle Aufklärung in Ghana ist – und nicht nur dort. In Zukunft soll die Kooperation intensiviert werden. Bereits heute sind drei deutsche Amnesty-Gruppen mit Amnesty-Gruppen aus Ghana vernetzt, tauschen sich regelmäßig aus – und können so viel über die Menschenrechtsarbeit im jeweils anderen Land lernen. Ziel ist es, weitere Gruppen langfristig miteinander zu verbinden. Denn die Partnerschaft zwischen Ghana und Deutschland nützt beiden Sektionen enorm. Und sie zeigt: Amnesty International ist tatsächlich eine globale Organisation. Text: Marlene Braun, Sven Mesch, Anna Weßling, Johannes Wirkert und Maike Wohlfarth
AMNESTY JOURNAL | 10-11/2015
BND AN DIE KETTE!
BERLIN »Privatsphäre schützen« forderten am 5. September
rund 150 Aktivistinnen und Aktivisten vor der neuen Zentrale des Bundesnachrichtendiensts (BND) in Berlin-Mitte. Unter dem Motto »BND an die Kette« bildeten die Protestteilnehmer eine Menschenkette, um gegen die Verstrickung der Behörde in die Massenüberwachung durch internationale Geheimdienste zu protestieren. Wie inzwischen bekannt ist, hat der BND dem US-Nachrichtendienst NSA jahrelang geholfen, deutsche und europäische Ziele auszuspähen. Die Aktivistinnen und Aktivistinnen forderten die Bundesregierung auf, die Affäre aufzuklären und Verstöße gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und Privatsphäre zu stoppen. »Die willkürliche Überwachung von E-Mails, Telefonaten, SMS und Chats ist eine millionenfache Verletzung des Menschenrechts auf Privatsphäre«, sagte Lena Rohrbach, AmnestyExpertin für Menschenrechte im digitalen Zeitalter. »Überwachung darf nur stattfinden, wenn ein konkreter Verdacht vorliegt und die Überwachung gezielt, notwendig, verhältnismäßig und richterlich angeordnet ist. Die globale Massenüberwachung durch westliche Geheimdienste erfüllt keines dieser Kriterien.« Zu der Kundgebung, die wenige Tage vor der Wiederaufnahme des NSA-Untersuchungsausschusses stattfand, hatte Amnesty International gemeinsam mit der Humanistischen Union, Reporter ohne Grenzen und weiteren Organisationen aufgerufen.
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Foto: HU Kampa (CC BY-NC 2.0)
Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender »NSA-Affäre aufklären!« Demonstrierende ziehen zur BND-Zentrale.
IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Markus N. Beeko, Jessica Böhner, Andreas Koob, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Katrin Schwarz
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Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Marlene Braun, Selmin Çalışkan, Cordelia Dvorák, Dorothee Haßkamp, Knut Henkel, Bernhard Hertlein, Heike Kleffner, Jürgen Kiontke, Sabine Küper-Büsch, Maja Liebing, Alexandra Mankarios, Sven Mesch, Dirk Pleiter, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Anna Weßling, Johannes Wirkert, Stefan Wirner, Maike Wohlfarth Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin
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ES GIBT MENSCHEN, DIE STERBEN FÜR BÜCHER. In vielen Ländern werden Schriftsteller verfolgt, gefoltert oder mit dem Tode bedroht. Jetzt mit 5 Euro die Menschenrechte unterstützen! SMS mit Kennwort Amnesty an 81190* senden. * von den 5 Euro gehen 4,83 Euro direkt an Amnesty, Kosten zzgl. einer Standard-SMS.