Amnesty Journal Dezember 2010/Januar 2011

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das maGazin fÜr die menschenrechte

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amnesty journal

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2011 dezember januar

der sound der freiheit musik und menschenrechte

PaPua-neuGuinea wie frauen zu opfern einer hexenjagd werden

schÜler in uniform menschenrechtsbildung bei der Polizei

tom tykwer warum der regisseur künstler in kenia unterstützt


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EDITORIAL

Foto: Amnesty

Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals

Grosse veränderunGen… …beginnen mit kleinen Schritten: Am Anfang standen eine Idee und der Wunsch einer Handvoll engagierter Menschen, die Welt zu verändern. Was zunächst wie ein unwirklicher Traum erschien, hat sich zu einer Bewegung entwickelt, die tatsächlich viel verändert. Nicht nur das Schicksal unzähliger politischer Gefangener und Opfer staatlicher Willkür. Sondern auch die Ohnmacht, die man angesichts der täglichen Schreckensmeldungen erlebt. Aus der privaten Initiative von einigen wenigen hat sich die weltweit größte Menschenrechtsorganisation entwickelt, zu der heute mehr als 2,8 Millionen Mitglieder und Unterstützer in über 150 Ländern zählen. Die Gründung von Amnesty International jährt sich bald zum 50. Mal. Wir werden in den kommenden Ausgaben auf diese Geschichte zurückblicken und zugleich den Blick nach vorne richten: Denn der beste Beweis, dass es sich lohnt, sich zu engagieren, ist die Geschichte von Amnesty selbst (siehe auch Seite 78). Eine gute Möglichkeit, sich einzusetzen, bietet der »Briefmarathon« in dieser Ausgabe. Menschen auf der ganzen Welt werden gleichzeitig Zehntausende von Briefen zugunsten von Personen schreiben, die als politische Gefangene inhaftiert sind, die gefoltert werden oder die sich wegen ihres friedlichen Engagements für die Menschenrechte in Gefahr befinden. Der Briefmarathon findet weltweit jedes Jahr anlässlich des Tages der Menschenrechte am 10. Dezember statt (siehe auch Seite 82). Falls Sie nicht zu Papier und Stift greifen wollen, können Sie auch über eine eigens für den Briefmarathon entwickelte Website direkt am Bildschirm Briefe verfassen, individuell gestalten und verschicken (www.amnesty.de/briefmarathon). »Wenn eine einzelne Person protestiert, bewirkt das nur wenig«, schrieb der Gründer von Amnesty International, Peter Benenson, vor fast einem halben Jahrhundert in seinem Gründungsaufruf. »Aber wenn es viele Menschen gleichzeitig tun würden, könnte es einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.« Millionen Menschen haben sich diesem Aufruf angeschlossen und gezeigt, dass sie die Welt verändern können. Das ist ein Grund zur Freude. Feiern Sie im neuen Jahr mit uns zusammen. Werden Sie aktiv, machen Sie mit!

editorial

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inhalt

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Titelfoto: Motiv aus der Kampagne »make some noise« von Amnesty International.

titel 21 Say it Loud

Von Anton Landgraf

22 Blinder Fleck

Die Zensur von Musik und die Unterdrückung von Musikern weist eine Tradition auf, die von der Antike über den Nationalsozialismus bis in die Gegenwart reicht. Die dänische Organisation »Freemuse« unterstützt verfolgte Musiker weltweit. Von Daniel Bax

rubriken 06 Reaktionen 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: Bei Ling 15 Porträt: Mohammad Mostafaei 17 Kolumne: Heike Kleffner 73 Rezensionen: Bücher 74 Rezensionen: Film & Musik 76 Briefe gegen das Vergessen 78 50 Jahre Amnesty 80 Aktiv für Amnesty 81 Monika Lüke über Friedensnobelpreise 82 Aktion

28 »Spüren, was die Musik sagen will«

Der Starviolinist Daniel Hope über gesellschaftliches Engagement im Konzerthaus, kulturbeflissenes Publikum und darüber, was Musik bewegen kann.

31 Raise Your Voice!

Musik und Menschenrechte ist eine erfolgreiche Verbindung. Das zeigen die zahlreichen Konzerte und Aktionen, mit denen Künstler weltweit Amnesty International unterstützen. Von Peter Litschke

32 Gefährliche Stimmen

Frauen dürfen nicht öffentlich singen und Musiker müssen sich an Regeln halten, die sie nicht verstehen: Im Iran sind Jugendliche einem rigiden Sittenkodex unterworfen. Doch sie erkämpfen sich immer wieder kleine Freiheiten. Von Martin Weiss

34 Krieg der iPods

In Guantánamo und anderen Gefängnissen wurde auch Musik als Folterinstrument eingesetzt – ohrenbetäubend laut und manchmal tagelang, bis die Opfer jede Orientierung verloren. Von Tobias Rapp

Fotos oben: Wrasse Records | Carsten Stormer | Robin Hammond | Achim Multhaupt / laif

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berichte

kultur

40 Hexenjagd

62 Jenseits der Gönnergeste

In Papua-Neuguinea ist der Glaube an schwarze Magie und Hexen weit verbreitet. Hunderte Menschen fallen ihm jedes Jahr zum Opfer. Von Carsten Stormer

48 Tödliche Grenze

An der ägyptisch-israelischen Grenze kommen zahlreiche afrikanische Flüchtlinge ums Leben. Die Wachen haben Schießbefehl – und kennen keine Gnade. Von Robin Hammond

54 Schüler in Uniform

Wie werden angehende Polizisten in ihrer Ausbildung auf Großeinsätze vorbereitet? Und wie reagieren sie auf die Amnesty-Kampagne gegen rechtswidrige Polizeigewalt? Daniel Kreuz hat sich in einer Polizeischule in Schleswig-Holstein umgesehen.

58 Wasser für alle

UNO-Gremien haben Wasser und Sanitärversorgung als Menschenrecht anerkannt. Von Inga Winkler

Der deutsche Regisseur Tom Tykwer leitet in Nairobi Filmworkshops, in denen kenianische Künstler ihre Sicht der Dinge darstellen. Nun ist das erste Ergebnis zu besichtigen: der Spielfilm »Soul Boy«.

66 Auf den Leib geschrieben

Derzeit sind viele internationale Tanzstücke zu sehen, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema Menschenrechte auseinandersetzen. Politisiert sich die Tanzszene? Von Katrin Bettina Müller

68 Keine, die aufgibt

Die georgische Übersetzerin Naira Gelaschwili setzt sich für die Völkerverständigung im Kaukasus ein. Von Barbara Oertel

70 Spiel mit und ohne Grenzen

Das Computerspiel »Frontiers« zielt darauf ab, die Festung Europa zu überwinden. Von Maik Söhler

72 Zwischen Morgen- und Abendland

Thomas Lehrs jüngster Roman »September. Fata Morgana« formuliert auf sehr poetische Weise die Trauer zweier Väter, die ihre Töchter bei einem Attentat in Bagdad und dem Anschlag auf das World Trade Center in New York verlieren. Von Ines Kappert

75 Schule des Lebens

Ein soziales Gewissen und politische Haltung sind das Markenzeichen der senegalesischen HipHopBand Daara J Family. Nun haben sie ihr zweites internationales Album veröffentlicht. Von Daniel Bax

inhalt

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reaktionen

usa

Grossbritannien

tÜrkei

Als Omar Khadr im Juli 2002 von US-Soldaten in Afghanistan festgenommen wurde, war er 15 Jahre alt. Danach verbrachte er mehr als acht Jahre hinter den Gefängnismauern von Guantánamo. Im Oktober 2010 gestand Khadr, als 15-Jähriger einen US-Soldaten getötet zu haben. Amnesty International kritisierte die US-Behörden dafür, internationale Regeln im Umgang mit Kindern und Jugendlichen missachtet zu haben. Khadr ist in Kanada geboren. Den Rest seiner Strafe, vermutlich weitere sieben Jahre, wird er dort verbüßen müssen.

Misshandlung und Folter. Das sind die Vergehen, die britische Einheiten im Rahmen ihrer Auslandseinsätze im Anti-TerrorKampf begangen haben sollen. Bereits im Juli hat Premierminister David Cameron eine Untersuchung der Vorfälle angekündigt. Jetzt haben Amnesty International und acht weitere NGOs in einem Brief an den Leiter der Untersuchung, Sir Peter Gibson, die vollständige und transparente Aufklärung der Vorwürfe gefordert. Wann die Untersuchung beginnen soll, ist noch unklar.

Die türkische Regierung trägt eine Teilverantwortung am Mord des Journalisten Hrant Dink. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden und die Türkei zu Schadenersatzzahlungen in Höhe von 105.000 Euro verurteilt. Nach Meinung der Richter hätten die türkischen Behörden nicht eingegriffen, obwohl sie von einer Gefährdung des Journalisten wussten. Amnesty International begrüßte das Urteil und forderte die türkischen Behörden gleichzeitig auf, alle Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen.

Ausgewählte Ereignisse vom 2. September bis 10. November.

ParaGuay Die Mitglieder der Xákmok Kásek, einer indigenen Bevölkerungsgruppe in Paraguay, haben das Recht, in ihr urspüngliches Siedlungsgebiet zurückzukehren. Das hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica entschieden. Seit über 20 Jahren verwehren die Behörden den Familien den rechtmäßigen Zugang zu ihrem Land. Amnesty International forderte die Regierung auf, die Rechte der indigenen Bevölkerung nicht länger zu ignorieren. Bereits zweimal wurde Paraguay wegen ähnlicher Fälle verurteilt.

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demokratische rePublik konGo Die UNO hat den bisher umfangreichsten Bericht zu Menschenrechtsverletzungen in der Demokratischen Republik Kongo veröffentlicht. Der Report, der den Zeitraum von 1993 bis 2003 abdeckt, verweist außerdem auf die mangelnde Funktionsfähigkeit des kongolesischen Justizsystems. Die Veröffentlichung sei ein wichtiger Schritt zur Aufklärung, sagte Salil Shetty, Generalsekretär von Amnesty International. Nun müssten die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

vietnam Weil drei Vietnamesen ihrer Arbeit als Gewerkschafter nachgingen, müssen sie sieben- bis neunjährige Haftstrafen verbüßen. Mit der Begründung, die »Sicherheit zu gefährden«, wurden sie in einem gerichtlichen Schnellverfahren verurteilt. Die Gewerkschafter hatten in einer Fabrik Flugblätter verteilt und sich für die Rechte der Arbeiter eingesetzt. Amnesty International verurteilte die Inhaftierung und forderte die sofortige Freilassung.

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Foto: Amnesty

erfolGe

Erste Zugeständnisse der Baubehörden. Die Familie Okpabio musste ihre Wohnung in der Siedlung Njemanze verlassen.

transParenz statt zwanGsräumunG

auszeichnunG fÜr mutiGen journalisten

Sein unermüdlicher Einsatz hat sich gelohnt: Am 5. Dezember 2010 wird der mexikanische Journalist Pedro Matías Arrazola den Johann-Philipp-Palm-Preis für Presse- und Meinungsfreiheit in Empfang nehmen. »Der Preis ist sehr wichtig für mich«, sagte der 46-Jährige, als er die Nachricht erhielt, »aber noch wichtiger ist er für den unabhängigen Journalismus in Mexiko.« Arrazola kommt aus dem Bundesstaat Oaxaca, wo es immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen kommt. Der Journalist berichtet über brisante Themen wie soziale Missstände oder das organisierte Verbrechen. Seit 1986 macht er diese Arbeit, zum Beispiel für das unabhängige Magazin »Proceso«. Welcher Gefahr man sich als Journalist in Mexiko aussetzt, erfuhr er im Oktober 2008, als er entführt und gefoltert wurde. »Ich sollte einge-

mexiko

reaktionen

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erfolGe

lichten Amnesty-Bericht »Just move them. Forced Evictions in Port Harcourt, Nigeria«. Darin kritisiert Amnesty eine Zwangsräumung von Bewohnern der Siedlung Njemanze im nördlichen Hafengebiet im August 2009. Eine bereits für den vergangenen September von den nigerianischen Behörden angekündigte Zwangsräumung konnte zunächst verhindert werden. Amnesty und andere zivilgesellschaftliche Gruppen hatten vehement dagegen protestiert und in einer Eilaktion fast 30.000 Unterschriften gesammelt. Die große internationale Aufmerksamkeit konnte bislang verhindern, dass diese Bewohner ihre Häuser verlassen müssen.

schüchtert werden«, sagt Arrazola heute. Nach seiner Freilassung ging er ins Exil – auch nach Deutschland, wo er für den Preis der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte nominiert war. Wenn Arrazola den Preis entgegennimmt, wird er gemeinsam mit der Iranerin Mahboubeh Abbasgholizadeh auf der Bühne stehen. Auch sie hat sich um die Meinungsfreiheit verdient gemacht. Bei der Suche nach Kandidaten wird die Palm-Stiftung, die den Preis auslobt, von Amnesty unterstützt. Pedro Matías Arrazola.

Foto: Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte

Etappensieg für die Bewohner von Port Harcourt. Die Baubehörden der nigerianischen Hafenstadt haben versichert, die Pläne für die Umgestaltung des Hafengebiets zu veröffentlichen und in einer einfachen Kurzfassung für Bewohner und zivilgesellschaftliche Gruppen zugänglich zu machen. Auf dem betreffenden Gelände im Hafengebiet soll ein Geschäfts- und Freizeitzentrum errichtet werden. Nach Informationen von Amnesty International müssen mehr als 200.000 Einwohner befürchten, ihre Wohnung zu verlieren und Opfer von Zwangsräumungen zu werden. Die Zugeständnisse der Baubehörde sind auch eine Reaktion auf den Ende Oktober veröffent-

niGeria

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Foto: Petterik Wiggers / Panos Pictures

Offensichtlicher Wahlbetrug. Demonstranten fordern in Addis Abeba die Freilassung von Oppositionsführerin Birtukan Mideksa, April 2009.

einsatz mit erfolG Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

oPPositionsfÜhrerin wieder frei

Birtukan Mideksa, Vorsitzende der größten äthiopischen Oppositionspartei »Union für Demokratie und Gerechtigkeit« (UDJ), ist nach 22 Monaten Gefängnis Anfang Oktober freigelassen worden. Sie hatte im November 2005, nach dem offensichtlichen Wahlbetrug der Regierungspartei, Demonstrationen mit angeführt, die niedergeschlagen wurden und knapp 200 Menschen das Leben kosteten. Tausende Regimegegner wurden damals verhaftet, darunter auch Mideksa, die kurz darauf zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Gemeinsam mit anderen Oppositionspolitikern wurde sie 2007 begnadigt, saß aber bereits ein Jahr später erneut im Gefängnis. »Mideksa wurde inhaftiert, nur weil sie friedlich ihr Recht auf Meinungsäußerung in An-

äthioPien

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spruch nahm«, erklärte ein AmnestySprecher. Die Parlamentswahlen im Frühjahr 2010 gewann die Regierungspartei von Premierminister Meles Zenawi mit 99,6 Prozent. Die Opposition ist noch mit einem Sitz im Parlament vertreten.

erfolG fÜr das internationale recht

Als 114. Staat hat die Republik Moldau im Oktober das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes unterzeichnet. Der Unterzeichnung gingen zehn Jahre voraus, in denen Amnesty International in dem osteuropäischen Land zusammen mit anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen für Zustimmung geworben hatte. »Langsam, aber sicher unterzeichnen immer mehr Staaten das Statut«, erklärte AmnestySprecher Christopher Keith Hall. Er zeigte sich zugleich besorgt darüber, dass viele dieser Staaten ihr jeweiliges Rechtssystem noch nicht den Statuten angepasst haben. »So ist auch in Moldau die Reform des nationalen Rechts Voraussetzung dafür, dass das Land in vollem Umfang mit dem Strafgerichtshof kooperieren kann«, sagte Hall. Nur so könnten die rePublik moldau

nationalen Gerichte ihre Verpflichtungen erfüllen und Fälle von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuchen und verfolgen.

aus der haft entlassen

toGo Vier Männer, die im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im März festgenommen worden waren, kamen im September wieder frei. Die Mitglieder der politischen Bewegung »Mouvement Citoyen pour l’Alternance« (Bürgerbewegung für den Wechsel) mussten insgesamt sechs Monate in Haft verbringen. Sie wurden wegen des »Versuchs der Untergrabung der Staatssicherheit« unter Anklage gestellt, die bislang auch nicht fallengelassen wurde. Zwölf weitere Aktivisten, die zur gleichen Zeit festgenommen worden waren, kamen bereits nach einem Monat in Haft wieder frei.

aus der haft entlassen

syrien Der syrische Kurde ’Abd al Karim Hussein wurde am 2. September ohne Anklageerhebung aus der Haft entlassen. Hussein war im Februar 2006 nach Norwegen gereist und hatte dort Asyl bean-

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erfolG fÜr indiGene Gemeinschaft Amnesty International hat eine Entscheidung der indischen Behörden begrüßt, die dem britischen Unternehmen Vedanta Resources verbietet, seine Bergbauaktivitäten im indischen Bundesstaat Orissa auszuweiten. Sterlite Industries India, ein Tochterunternehmen von Vedanta Resources, hatte angekündigt, seine Aluminium-Raffinerie im Gebiet Lanjigarh stark auszubauen. Das indische Umweltministerium wies das Vorhaben als rechtswidrig zurück. »Das Verbot ist für die indigene Bevölkerung ein Meilenstein in ihrem jahrelangen Kampf gegen die Pläne des Bergbauunternehmens«, sagte Madhu Malhotra, Asien-Pazifik-Experte von Amnesty International. Schon seit acht Jahren wehren sich die Betroffenen gegen die Aktivitäten der Bergbauindustrie. Einem anderen Vorhaben, dem Abbau von Aluminiumerzen am heiligen Niyamgiri-Berg, wurde im August 2010 eine Absage erteilt. Das Ministerium stärkte damit gleichzeitig die Rechte indigener Gemeinschaften, für die sich auch Amnesty International mehrfach eingesetzt hat. Das Grundproblem des Rohstoffabbaus ist die Umweltverschmutzung, die damit einhergeht. Sie gefährdet die Gesundheit und Lebensgrundlage der Men-

Foto: Sanjit Das

indien

Versammlung von Bergbaugegnern in Lanjigarh.

erfolGe

milie bedankte sich bei Amnesty International für die Unterstützung während der Gefangenschaft. Shiva Nazar Ahari wurde am 20. Dezember 2009 zusammen Shiva Nazar Ahari. mit weiteren Mitgliedern der CHRR im Zentrum von Teheran festgenommen. Sie befanden sich in einem Bus auf dem Weg zur Beisetzung des Regierungskritikers und Großayatollahs Montazeri. Weitere Mitglieder der CHRR wurden später festgenommen, gegen Kaution aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Einige von ihnen haben danach das Land verlassen.

textilarbeiterinnen sind wieder frei

banGladesch Sechs Textilarbeiterinnen und der Gewerkschaftsanwalt Montu Ghose wurden Mitte Oktober gegen Kaution freigelassen. Sie waren Ende Juli im Zusammenhang mit Straßenprotesten in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs, festgenommen worden. Einige der Festgenommenen, darunter eine schwangere Frau, sollen im Polizeigewahrsam geschlagen worden sein. Die Proteste hatten Ende Juni zur zeitweiligen Schließung von etwa 700 Textilfabriken in dem Land geführt. Die Bewegung für mehr Arbeitsrechte hatte eine Erhöhung des monatlichen Mindestlohns auf 5.000 Taka (etwa 55 Euro) gefordert, um die Lebenshaltungskosten decken zu können. Die Textilindustrie macht fast 80 Prozent der Exporteinnahmen von Bangladesch aus und beschäftigt bis zu 40 Prozent aller Arbeitnehmer des Landes, darunter zahlreiche Frauen.

ende der einzelhaft

iran Die iranische Journalistin und Menschenrechtsverteidigerin Shiva Nazar Ahari wurde am 13. September gegen Kaution freigelassen. Sie ist Mitglied der iranischen Menschenrechtsorganisation »Committee of Human Rights Reporters« (CHRR) und hat die meiste Zeit ihrer Gefangenschaft im Teheraner Evin-Gefängnis in Einzelhaft verbracht. Ihr Prozess fand vor der Abteilung 26 des Revolutionsgerichts in Teheran statt. Die Anklagen lauteten auf »Versammlungen und Konspiration mit dem Ziel, ein Verbrechen zu begehen«, »Propaganda gegen die Regierung«, »Feindschaft mit Gott« und »Störung der öffentlichen Ordnung«. Sie wies alle Vorwürfe zurück und wartet gegenwärtig auf das Gerichtsurteil. Im Fall eines Schuldspruchs droht ihr eine langjährige Haftstrafe. Durch den Verkauf von drei Grundstücken konnte die Familie der Menschenrechtsverteidigerin die Kaution in Höhe von fünf Milliarden Rials (rund 385.000 Euro) aufbringen. Ihre Fa-

Foto: privat

schen. Der Sprecher der indigenen Gemeinschaft, Kumti Majhi, freute sich über die jüngste Entscheidung, fügte jedoch hinzu: »Wir leiden nach wie vor unter den gesundheitlichen Folgen der Wasser- und Luftverschmutzung. Solange diese Probleme nicht gelöst sind, werden wir uns weiter zur Wehr setzen.«

Präsident GeGen todesstrafe

Foto: John Vizcaino / Reuters

tragt, was jedoch abgelehnt wurde. Zwischenzeitlich fungierte Hussein als stellvertretender Direktor des Vereins syrischer Kurden in Norwegen. Im vergangenen August wurde er schließlich in Oslo festgenommen und in Begleitung von zwei Polizisten in ein Flugzeug nach Damaskus gesetzt. Dort wurde er sofort verhaftet und vom syrischen Geheimdienst in Gewahrsam genommen. Während seiner Haft hatte er keinen Kontakt zur Außenwelt. Amnesty hatte energisch gegen die Abschiebung protestiert.

Guatemala Präsident Álvaro Colom hat sein Veto gegen die am 5. Oktober vom Kongress angenommene Gesetzesinitiative, welche die Wiederanwendung der Todesstrafe in Guatemala ermöglichen würde, angekündigt. Colom sagte, er sei der Ansicht, dass der Präsident nicht das Recht habe, über Leben und Tod anderer Staatsbürger zu entscheiden. Amnesty International begrüßt dieses Bekenntnis des Präsidenten zur Ablehnung der Todesstrafe. Artikel 18 der guatemaltekiÁlvaro Colom. schen Verfassung erlaubt die Todesstrafe grundsätzlich. Jedoch wird sie seit dem Jahr 2002 nicht mehr angewendet. Damals war auf Initiative der Regierung Alfonso Portillo das Recht des Präsidenten, über Gnadengesuche zu entscheiden, ausgesetzt und die Todesstrafe aufgrund der entstandenen Gesetzeslücke faktisch abgeschafft worden. Am 5. Oktober hatte der Kongress mit einer Zweidrittelmehrheit ein Gesetz verabschiedet, das durch die Einführung eines Begnadigungsverfahrens diese Gesetzeslücke schließen und damit die Wiederanwendung der Todesstrafe ermöglichen sollte. Im Jahr 2008 hatte Colom schon einmal eine ähnliche Gesetzesinitiative zur Wiederanwendung der Todesstrafe durch sein Veto verhindert.

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Panorama

Foto: CKN / Getty Images

serbien: zeichen der hoffnunG , Zum ersten Mal seit einer Dekade konnte im Oktober wieder ein »Belgrade Pride« stattfinden, allerdings nur unter massivem Polizeischutz. Auch eine Delegation von Amnesty International nahm an der Parade von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender (LGBT) in der serbischen Hauptstadt teil und bewertete sie als ein Zeichen der Hoffnung. »Heute war ein historischer Moment für Serbien – es war das erste Mal seit einem Jahrzehnt, dass sich die LGBT-Gemeinschaft und ihre Unterstützer frei versammeln und ihre Vielfalt feiern konnten – und dies unter vollem und aktivem Polizeischutz. Wir hoffen, dass dies in Zukunft die Messlatte für Dialog und Toleranz in Serbien sein wird«, sagte ein Sprecher der Organisation. Am Tag vor der Parade hatten nationalistische Organisationen und serbisch-orthodoxe Kirchenführer auf Demonstrationen gefordert, die Parade zu verbieten. Die etwa tausend Teilnehmer des »Belgrade Pride« mussten von 5.600 Polizisten beschützt werden. Ihnen standen schätzungsweise 6.000 Randalierer gegenüber. Die Gegendemonstranten riefen »Tod den Homosexuellen«, demolierten Autos, plünderten Geschäfte, setzten Müllcontainer in Brand und warfen Steine und Molotowcocktails.

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% myanmar: aunG suu kyi ist frei Amnesty International hat die Freilassung von Aung San Suu Kyi begrüßt, forderte die Regierung von Myanmar aber zugleich auf, alle gewaltlosen politischen Gefangenen sofort und bedingungslos freizulassen. »Die Freilassung ist kein Entgegenkommen der Behörden oder der Regierung. Aung San Suu Kyi hat ihre Strafe abgesessen, nicht mehr und nicht weniger«, sagte Monika Lüke, Generalsekretärin von Amnesty in Deutschland. »Der Hausarrest war das Ergebnis eines unfairen Prozesses. Die Behörden hätten weder sie noch andere politische Gefangene je verhaften und aus dem politischen Prozess ausschließen dürfen.« Nach Informationen von Amnesty sind in Myanmar mehr 2.200 Menschen wegen ihrer politischen Überzeugung in Haft. Die Regierung von Myanmar hat eine Reihe Gesetze erlassen, die es ihr einfach machen, Oppositionspolitiker, Anwälte, Journalisten und auch Mönche wegen ihrer Kritik an der Regierung ohne weiteres zu inhaftieren. In den Gefängnissen herrschen katastrophale Bedingungen: Folter während Verhören und als Strafmaßnahme gehören zum Alltag.

Foto: Darko Vojinovic / AP

Panorama

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Foto: Peter Sibbald / Redux / laif

nachrichten

»Blogfather« der iranischen Internet-Dissidentenszene. Aufnahme von Hossein Derakhshan vor dem Rathaus in Toronto aus dem Jahr 2005.

19 jahre haft fÜr bloGGer Wegen seiner Online-Kommentare ist der iranisch-kanadische Blogger Hossein Derakhshan zu über 19 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Nach Angaben der iranischen Website Mashreghnews wurde er von der Abteilung 15 des Revolutionsgerichts u.a. folgender Anklagepunkte für schuldig befunden: »Propaganda gegen die Regierung«, »Beleidigung von Heiligkeiten« sowie »Gestaltung und Verwaltung vulgärer und obszöner Websites«. Zudem wurden ein fünfjähriges Verbot politischer und journalistischer Aktivitäten sowie eine hohe Geldstrafe gegen ihn verhängt. iran

Pressefreiheit in euroPa Gefährdet Uneingeschränkte Pressefreiheit ist in Europa keine Selbstverständlichkeit, stellt die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) fest. Vor allem in Italien und Griechenland gebe es anhaltenden Druck, heißt es in einem Bericht über die Lage der Pressefreiheit weltweit, der Ende Oktober veröffentlicht wurde. In einer Rangliste wird die Situation der Pressefreiheit in 178 Staaten und Regionen

euroPa

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»Soweit wir es beurteilen können, ist seitens der iranischen Behörden nach einem unfairen Verfahren ein überaus hartes Urteil gegen Hossein Derakhshan ergangen – nur weil er sein Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen hat«, erklärte Hassiba Hadj Sahraoui, stellvertretende Leiterin der Abteilung Naher Osten und Nordafrika im Internationalen Sekretariat von Amnesty International in London. »Wir wissen aus langjähriger Erfahrung, dass die Verfahren vor den Revolutionsgerichten grob unfair sind.« Der Blogger sei über ein Jahr ohne Anklageerhebung festgehalten worden,

ohne dass ihn seine Familie und sein Anwalt besuchen konnten. Der 35-Jährige, der seine WebKommentare überwiegend im Ausland schrieb, soll 2001 eine Welle von Blogs zu Reformfragen im Iran ausgelöst haben, indem er Anleitungen in persischer Sprache ins Netz stellte, wie man eine Website einrichtet und Online-Kommentare verfasst. Er arbeitete anfangs in Teheran als Journalist, ehe er im Jahr 2000 nach Kanada umsiedelte. Ende Oktober 2008 kehrte er in den Iran zurück. Doch schon am 1. November 2008 wurde er im Haus seiner Familie festgenommen.

verglichen. Zwar befinden sich viele EUStaaten, darunter auch Deutschland, unter den ersten 20 Plätzen der Rangliste. Allerdings fielen einige europäische Länder im Vergleich zu früheren Erhebungen deutlich zurück. Besonders schlecht schnitten Griechenland und Bulgarien ab, die sich den 70. Platz teilen. Auch Frankreich und Italien liegen mit den Plätzen 44 und 49, wie bereits 2009,

weit hinten. »Grundlegende Probleme wie die Verletzung des Quellenschutzes, die zunehmende Konzentration von Medieneigentum sowie gerichtliche Vorladungen von Journalisten dauern an«, sagte ROGGeneralsekretär Jean-François Julliard. »Wenn die EU-Staaten keine Anstrengungen unternehmen, setzen sie ihre weltweit führende Position bei der Einhaltung von Menschenrechten aufs Spiel.«

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Regierungskritischer Autor. Bei Ling wurde am 4. November auf dem Weg nach Taipeh bei einem Zwischenstopp in Peking festgenommen und anschließend nach Deutschland ausgewiesen. Er wurde bei dem Zwischenfall verletzt.

interview

bei linG

Der chinesische Dichter und Publizist Bei Ling kehrte nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 von einem USA-Aufenthalt nicht nach China zurück. Nachdem er im Jahr 2000 bei einem Besuch seiner Eltern in Peking verhaftet wurde, setzten sich Amnesty International und bekannte Autoren wie Günter Grass für ihn ein. Bei Ling ist Begründer der namhaften Exil-Literaturzeitschrift »Qingxiang« (»Tendency«) und seit langem mit Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo befreundet. Was bedeutet die Verleihung des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo für China? Für die demokratiefreundlichen Kräfte innerhalb des Systems sowie für die gemäßigten Befürworter eines Wandels in China ist es eine gute Nachricht, nicht so sehr für die radikalen kritischen Stimmen. Was bedeutet der Nobelpreis für Liu Xiaobo selbst? Es ist für ihn eine Bestätigung seiner politischen Anstrengungen. Gleichzeitig zeigt die Vergabe, welche Rolle er in der chinesischen Oppositionsbewegung eingenommen hat. Anfänglich war er ein wichtiger Intellektueller und Publizist, der an der Studentenbewegung 1989 beteiligt war. Später wandelte er sich von einem radikalen zu einem eher gemäßigten Regimekritiker. Dies alles wurde durch die Preisverleihung gewürdigt, insbesondere seine jetzige Rolle als gemäßigte kritische Stimme. Wirkt sich der Preis auf seine Behandlung im Gefängnis aus? Natürlich bedeutet es für ihn eine sehr große psychologische Unterstützung. Er wird nun vermutlich im Gefängnis weniger hart angefasst, falls die chinesische Regierung nicht alle Menschlichkeit verloren hat. In Bezug auf seine elfjährige Freiheitsstrafe mache ich mir keine Illusionen, dass er früher entlassen wird. Auf jeden Fall wird ihm der Nobelpreis aber zusätz-

nachrichten

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interview

Foto: Marius Becker / dpa

»eine Gute nachricht fÜr die demokratiebeweGunG« liche Kraft geben, die lange Zeit im Gefängnis durchzustehen. Er wird nicht mehr das Gefühl zu haben, völlig isoliert zu sein. Es gab auch kritische Stimmen, die mit der Preisverleihung an Liu Xiaobo nicht einverstanden waren. Sie werfen ihm eine viel zu gemäßigte Haltung gegenüber der Kommunistischen Partei vor. So haben unter anderem die in Deutschland lebenden Publizisten Zhong Weiguang und Huan Xuewen einen offenen Brief an das Nobelpreiskomitee verfasst und die Preisverleihung an Liu Xiaobo darin kritisiert. Viele Beobachter der chinesischen Exil-Szene haben den Eindruck, dass alle heillos untereinander zerstritten sind. Teilweise mag die Geheimpolizei diese Konflikte schüren, aber dieses Phänomen gibt es in allen oppositionellen Exil-Gemeinden. Zudem kommen diese Exilanten aus einem Land mit Jahrtausende alten autokratischen Traditionen. Ich hoffe aber, dass der Friedensnobelpreis für Liu Xiaobo, der ja nicht nur für ihn allein, sondern für ganz China sehr viel bedeutet, zu einer neuen Bürgerbewegung führen wird. Man darf aber auch nicht vergessen, dass die Nobelpreisvergabe in China hauptsächlich bei den Intellektuellen auf Resonanz stößt und weniger bei den Geschäftsleuten und den gewöhnlichen Bürgern – dafür ist dieser Preis doch zu abgehoben. Haben Sie Hoffnung, ihn einmal wiedersehen zu können? Selbstverständlich. Ich war nicht nur mit ihm sehr gut befreundet, sondern auch mit seiner Frau. Natürlich gab es später zwischen uns auch einige Kontroversen und ich konnte auch nicht immer alle seine Wandlungen nachvollziehen. Aber ich betrachte ihn nach wie vor als meinen alten Freund und ich hoffe, er wird später das Gleiche über mich sagen können. Fragen: Martin Dlugosch

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schlePPende ermittlunGen

tueller Bericht von Amnesty International belegt, dass den Angehörigen der Opfer und den Überlebenden der Anschläge fast zwei Jahre später noch immer keine Gerechtigkeit widerfahren ist. Die Gründe hierfür sind vor allem die Unerfahrenheit der ungarischen Behörden und ihre Weigerung, die Taten als sogenannte »hate

Foto: Laszlo Balogh / Reuters

unGarn Als im Februar vergangenen Jahres ein fünfjähriges Kind und sein Vater durch Brandsätze aus dem Haus getrieben und anschließend erschossen wurden, erregte diese Tat weltweit Entsetzen und Abscheu. Insgesamt sechs Todesopfer forderte damals eine Serie brutaler Anschläge auf ungarische Roma. Ein ak-

Vertuschen und verfälschen. Roma-Familie in einer ungarischen Kleinstadt.

willkÜr und folter in irakischen GefänGnissen

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von Gefangenen in irakischen Haftanstalten wussten«, sagte Monika Lüke, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. Bis jetzt konnte Amnesty die Wikileaks-Dokumente noch nicht prü-

fen. Sie erhärten jedoch auf den ersten Blick die Auffassung, dass die USA gegen internationales Recht verstoßen haben, als sie Tausende Gefangene an die irakischen Behörden übergaben.

Foto: Sabah Arar / AFP / Getty Images

irak In den Gefängnissen des Landes sind 30.000 Menschen inhaftiert – darunter viele ohne Kontakt zur Außenwelt, ohne Strafverfahren oder Anklage. Misshandlungen und Folter, erzwungene Geständnisse und Willkürakte durch irakische Sicherheitskräfte sind an der Tagesordnung. Die Verantwortlichen werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Dies belegt ein Amnesty-Bericht, der im September veröffentlicht wurde. Die Erkenntnisse von Amnesty wurden nun durch die Enthüllungen von Wikileaks bestätigt. Die Internetplattform veröffentlichte rund 400.000 geheime US-Dokumente aus dem Irakkrieg. Sie liefern weitere Beweise dafür, dass den US-Behörden die über Jahre andauernden systematischen Menschenrechtsverletzungen an Gefangenen bekannt waren. »Amnesty International fordert die USA auf, aufzuklären, was US-Verantwortliche über Folter und Misshandlung

crimes« zu verfolgen – also als Verbrechen, die aus Hass gegenüber einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe begangen werden. Die Opfer werden dabei in der Regel willkürlich ausgewählt. In Ungarn gibt es für Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte keine Richtlinien, um diesem besonderen Tatbestand Rechnung zu tragen. Weil solche Taten kaum verfolgt werden, ist das öffentliche Interesse an ihrer Aufklärung verhältnismäßig gering. So schlossen die Ermittler in vielen Fällen von Anfang an jede rassistische Motivation aus. Bereits bei der Ankunft am Tatort behinderten Polizeibeamte die Untersuchungen oder versuchten gar, sie zu verfälschen, indem sie z.B. die Aufnahme von Beweisen und Zeugenaussagen verweigerten. Während der Prozesse ließen auch Staatsanwälte und Richter in vielen Fällen den rassistischen Charakter der Angriffe bewusst außer Acht. Außerdem erhielten Opfer und Angehörige in vielen Fällen keinerlei staatlich organisierte psychologische Betreuung, geschweige denn eine angemessene Beratung zur Beantragung von Entschädigungszahlungen. Die betroffenen Roma machten auf diese Weise kurz nach der Tat erneut die Erfahrung, wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert zu werden.

Systematische Menschenrechtsverletzungen. Szene vor der Haftanstalt Al-Rusafa in Bagdad.

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Foto: Hakon Mosvold Larsen / Scanpix / Reuters

Porträt

mohammad mostafaei

anderes land, Gleiche mission Der Menschenrechtsanwalt Mohammad Mostafaei setzte sich im Iran jahrelang gegen die Todesstrafe ein. Ende Juli musste er nach Norwegen fliehen.

iran

Ein Rucksack, ein Laptop und ein Satz Unterwäsche. Mehr ist Mohammad Mostafaei von seinem alten Leben nicht geblieben. Es musste schnell gehen, als der Anwalt Ende Juli aus dem Iran in die Türkei und von dort nach Norwegen floh. Jahrelang hatte sich der 37-Jährige gegen die Todesstrafe und für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen im Iran eingesetzt. Bis er selbst ins Visier der Behörden geriet. Und das nur, weil er Unrecht nicht tatenlos zusehen wollte: »Viele Frauen und Kinder in unserem Land sind Opfer eines fehlerhaften Rechtssystems. Ihre eigene Gesellschaft hat sie zu Opfern gemacht.« Weil Mostafaei zur Steinigung Verurteilte und politische Gefangene verteidigte, war er 2009 schon einmal kurzzeitig festgenommen worden. Nach den landesweiten Protesten gegen die umstrittene Wiederwahl von Präsident Ahmadinedschad im Juli 2009 und die anschließende Repressionswelle gegen die Opposition waren viele Menschenrechtsverteidiger gezwungen, das Land zu verlassen. Doch Mostafaei blieb. Trotz aller Schikanen. Bis es im Sommer auch für ihn zu gefährlich wurde. Zuletzt verteidigte er Sakineh Mohammadi Ashtiani, die wegen Ehebruch zum Tod durch Steinigung verurteilt wurde, was weltweit zu heftigen Protesten führte. Amnesty International und andere Organisationen veranstalteten Unterschriftenund Solidaritätsaktionen für die zweifache Mutter, Politiker forderten Ashtianis Freilassung. Als die Behörden drei Angehörige Mostafaeis inhaftierten und gegen ihn einen Haftbefehl ausstellten, flüchtete er zu Fuß und auf einem Pferd über die Berge in die Türkei. Dort wurde er wegen illegalen Grenzübertritts festgenommen. Sieben Tage lang schwebte er in Gefahr, in den Iran abgeschoben zu werden, ehe er aufgrund diplomatischen Drucks nach Norwegen ausreisen durfte.

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Porträt

Nun lebt er in einem fremden Land, getrennt von seiner Familie. Aber seine Mission ist die gleiche geblieben: Er versucht, Ashtiani vor der grausamen Strafe zu retten, indem er auf ihr Schicksal aufmerksam macht. Vorerst haben die iranischen Behörden dem öffentlichen Druck nachgegeben und die Steinigung ausgesetzt. Doch Mostafaei weiß, dass Ashtiani dadurch keinesfalls gerettet ist, zumal sie nach vagen Vorwürfen der Justizbehörden der Mittäterschaft bei dem Mord an ihrem Ehemann beschuldigt wird. Zu oft schon haben die Behörden Hinrichtungstermine verschoben, um die internationale Gemeinschaft zu besänftigen, das Todesurteil dann aber doch kurzfristig vollstreckt. So wie bei der 22-jährigen Delara Darabi, die am 1. Mai 2009 wegen Mordes hingerichtet worden war. Mostafaei hatte ihren Fall, der weltweit für viel Aufsehen sorgte, lange begleitet. In ihrem letzten Gespräch mit ihrer Mutter machte sie noch Pläne für die Zukunft: »Wenn ich aus dem Gefängnis freikomme, möchte ich meine Ausbildung fortsetzen. Ich wäre gern frei. Einer der Richter hat versprochen, dass ich begnadigt werde«, und sie fügte hinzu: »Mutter, ich bin unschuldig.« Einen Tag später war Delara Darabi tot. »Wenn jemand hingerichtet wurde, konnte ich weder essen noch schlafen«, erzählt Mostafaei. 50 bis 60 Menschen konnte er laut eigener Aussage vor der Todesstrafe retten. Seine Flucht ist ein großer Verlust für die Zivilgesellschaft. Aber er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, eines Tages zu seiner Familie zurückkehren und seine Arbeit fortsetzen zu können. »Ich habe nur humanitär gearbeitet und mich nie politisch engagiert. Mein Ziel war es, Menschen vor dem Tod zu retten.« Doch im Iran kann man dadurch selbst in Lebensgefahr geraten. Aktuelle Informationen zum Fall Ashtiani finden Sie auf www.amnesty.de Text: Daniel Kreuz

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Foto: Charlotte Bohl / Romawood 2010

Keine Schule, keine Arbeit. Roma-Kinder erhalten im Kosovo kaum Zugang zu Bildung.

abGeschoben ins nirGendwo Ein aktueller Bericht von Amnesty International dokumentiert die systematische Diskriminierung von Roma im Kosovo. Von Imke Dierßen Besim Ayolli hat lange in Deutschland gelebt, bevor er aufgefordert wurde, in den Kosovo zurückzukehren. 2007 ist er mit seiner Familie abgeschoben worden. Für die Kinder ist das Leben in der kleinen Balkanrepublik besonders schwierig, denn sie sind nicht in den Kosovo »zurückgekehrt«, sondern wurden in Deutschland geboren. Die 17-jährige Tochter hat immer noch keine kosovarischen Dokumente erhalten und ohne Papiere kann sie im Kosovo nicht zur Schule gehen. Doch selbst wenn sie entsprechende Dokumente besitzen, haben Roma-Kinder, die aus dem Ausland abgeschoben wurden, oft keinen Zugang zu Bildung. Die verarmten Familien können das Schulmaterial nicht bezahlen, auch für den Schulbus reicht das Geld meistens nicht. Sprachbarrieren kommen hinzu, weil die Kinder kein Albanisch gelernt haben. Förderprogramme für diese Kinder existieren nicht. So schätzt UNICEF, dass etwa drei Viertel der RomaKinder, die aus Deutschland in den Kosovo abgeschoben wurden, dort keine Schu-

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le mehr besuchen. Eine Abschiebung beendet ihre Bildungskarriere. Bundesaußenminister Guido Westerwelle hat im Oktober vor der parlamentarischen Versammlung des Europarates zurecht deutlich gemacht, dass Roma-Kinder nur dann in die Gesellschaft integriert werden, wenn sie zur Schule gehen können. Nur wenige Tage später forderte die Versammlung in einer Resolution, Roma nicht in den Kosovo abzuschieben. Diese Aufforderung ist nicht neu. Der Menschenrechtskommissar des Europarates fordert schon seit langem, die zwangsweisen Rückführungen auszusetzen. UNICEF hat sich dem angeschlossen und auch der UNHCR hat erklärt, dass Kosovo-Roma Schutz brauchen. Trotzdem hält Deutschland daran fest, Roma abzuschieben. Fast 10.000 Kosovo-Roma, die oft seit zehn Jahren oder länger hier leben, sind davon betroffen. Sowohl die Mehrheit der Bundesländer als auch die Bundesregierung bestreiten, dass Roma im Kosovo verfolgt werden, obwohl sie dort systematisch diskriminiert werden. Roma werden nicht nur bei der Bildung, sondern auch beim Zugang zu Arbeit, zu einer Unterkunft, zu Sozialleistungen und zum Gesundheitswesen

diskriminiert. Eine Reintegration der Roma, die jahrelang im Ausland gelebt haben, weil sie vor Krieg und Gewalt fliehen mussten, findet nicht statt. In vielen Fällen können zurückkehrende Roma nicht in ihre alten Häuser einziehen, da sie zerstört oder von anderen besetzt wurden. Die zahlreichen, durch den Krieg bedingten, ungelösten Eigentumsfragen betreffen vor allem ethnische Minderheiten, denn Roma verfügen traditionell oft nicht über einen Nachweis für ihren Besitz. Viele haben nach wie vor Angst, in ihre ehemaligen Heimatdörfer zurückzukehren. Sie mussten Vertreibung und Gewalt am eigenen Leib erfahren – im Krieg von 1999 und noch einmal im März 2004 – und erkennen, dass die Täter nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Manche Rückkehrer sind mangels Alternativen in die mit Blei verseuchten Lager im Norden der Stadt Mitrovica gezogen, weil sie sonst keinen Ort haben, an dem sie willkommen sind. Den vollständigen Bericht »Not welcome anywhere« finden Sie auf www.amnesty.org Die Autorin ist Europa-Referentin der deutschen Amnesty-Sektion.

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Zeichnung: Oliver Grajewski

kolumne heike kleffner

rassismus: eine fraGe der wahrnehmunG

Die Bilanz des alltäglichen Normalzustands zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung fällt erschreckend aus: Täglich ereignen sich in Deutschland zwei bis drei politisch rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierte Gewalttaten. Hunderte von Menschen – Punks, Obdachlose, Flüchtlinge – werden jedes Jahr angegriffen und zum Teil erheblich verletzt. Seit 1990 starben mindestens 137 Menschen infolge von rechtsradikalen und rassistischen Gewalttaten. Manchmal ist es nur einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass rechte Gewalt nicht tödlich endet. So wie beispielsweise am 28. April 2010 in Nürnberg: Dort wurde ein 17-jähriger, antifaschistisch engagierter Jugendlicher kurdischer Herkunft beim U-Bahnfahren durch einen stadtbekannten Neonazi aus Fürth so massiv geschlagen und getreten, dass Passanten ihn zwei Mal reanimieren mussten. Zwei Tage lang verschwieg die Polizei den Angriff, dann präsentierte sie ihn der Öffentlichkeit als unpolitische U-Bahnschlägerei mit einem »Linksextremisten« als Opfer. Noch vor wenigen Jahren hätten derartige Angriffe eine Welle der Aufmerksamkeit in überregionalen Medien nach sich gezogen. Doch offensichtlich gibt es inzwischen eine fortschreitende Gewöhnung daran, dass Brandanschläge auf Läden von Migranten, alternative Kultur- und Wohnprojekte und jüdische Einrichtungen sowie Bedrohungen und Gewalt durch neonazistische Kameradschaften gegen alternative Jugendliche und deren Familien den Alltag vieler in Ost- und Westdeutschland bestimmen. »Aus Brandreden werden Brandsätze«, lautete einer der Slogans, mit denen Zehntausende Anfang der neunziger Jahre gegen die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl und die damit einhergehende Welle rassistischer Gewalt protestierten. Die Ablehnung von Minderheiten durch die gesellschaftliche Mitte und der entsprechende politische Diskurs ist aktueller denn je. Denn immer sind es die aktuellen Debatten, die die Begleitmusik zu Mord und Todschlag liefern. So stellten die Wissenschaftler Elmar Brähler und Oliver Decker von der Universität Leipzig in ihrer Langzeitstudie »Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland« fest, dass ein Viertel der Befragten ausländerfeindlichen Aussagen zustimmt. Noch breiter ist die Zustimmung zu islamfeindlichen Positionen: Der Aussage »Für Muslime in Deutschland sollte die Religionsausübung erheblich eingeschränkt werden« stimmten – schon lange vor der Debatte um die rassistischen Thesen von Thilo Sarrazin – mehr als die Hälfte der Befragten zu. Am 6. Dezember jährt sich der Todestag des angolanischen Vertragsarbeiters Amadeu Antonio Kiowa zum zwanzigsten Mal. Der 25-Jährige wurde Ende November 1990 in der brandenburgischen Kleinstadt Eberswalde von rund 50 Naziskins gehetzt und zu Tode getreten. Polizeibeamte hatten damals nicht den Mut, sich dem rassistischen Mob entgegenzustellen. 20 Jahre später ist genau dieser Mut im Alltag mehr denn je gefragt. Die Autorin ist Journalistin und lebt in Berlin. Zusammen mit anderen hat sie für »Zeit-online« und den »Tagesspiegel« die Bilanz der Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 recherchiert. www.zeit.de/2010/38/Rechte-Gewalt

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Titel: Musik und Menschenrechte

Sie lassen sich den Mund nicht verbieten und handeln sich mit ihren Songs mächtigen Ärger ein. In vielen Ländern werden Musiker verfolgt, zensiert oder verjagt, weil sie eine unbequeme Meinung vertreten. Oft werden diese Fälle jedoch kaum wahrgenommen. Dabei sind Musiker so wichtig wie Journalisten: Sie geben jenen, die sich nicht ausdrücken können, eine Stimme.

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Play

Say it Loud Alles begann mit ein paar frechen Versen über den Präsidenten. Dann wurde er überwacht, eingeschüchtert, seine Konzerte verboten. Am Ende wurde er unter fadenscheinigen Gründen verhaftet und angeklagt. Freie Meinungsäußerung gilt im Reich von Präsident Alexander Lukaschenko nicht viel, vor allem, wenn man seine Regierung kritisiert. So wie dem Sänger Igor Koktisch aus Belarus (Weißrussland) geht es vielen Musikern, die sich mit den schlechten Zuständen nicht abfinden können, die sich einmischen, die sich mit den Mächtigen anlegen. Sie zahlen oft einen hohen Preis dafür – weil ihre Stimmen gefährlich sind. Schließlich ist Musik eines der wichtigsten Kommunikationsmittel, die wir besitzen. In ihr kann die Hoffnung nach einem besseren Leben mitschwingen, nach einer Welt frei von Not, Elend und Willkür. Kritische Töne kommen auch dort an, wo es ansonsten nur wenige Möglichkeiten gibt, Meinungen auszutauschen. Musik respektiert keine Grenzen und keine falschen Autoritäten. Das macht sie so interessant, vielfältig und gefährlich. Eine Tatsache, die vor allem in den westlichen Ländern oft nicht mehr wahrgenommen wird. Dort sind die rebellischen Zeiten der Rockmusik längst vorbei und auch hinter aufmüpfigen Geistern verbirgt sich oft nicht mehr als ein cleveres Marketing-Konzept. Dabei werden auf allen Kontinenten unbequeme Musiker mehr denn je verfolgt und ihre Lieder verboten. In Kuba dürfen die Songs der Rap-Gruppe Los Aldeanos nicht öffentlich gespielt werden, weil sie den Behörden zu kritisch erscheinen. »Ich werde mich der Realität nicht verschließen, auch wenn sie mich zensieren und unterdrücken«, heißt es in einem ihrer Stücke. In Afghanistan werden Musikgeschäfte immer häufiger von radikalen Fundamentalisten attackiert, und es kommt zu Bombenanschlägen auf Konzerte. In Kamerun sitzt der Sänger Lapiro de Mbanga seit über zwei Jahren in Haft, weil er gegen den autokratischen Präsidenten Paul Biya protestierte. Dennoch lässt er sich nicht einschüchtern. Mitte November ist er sogar auf einem Solidaritätskonzert, das in New York für ihn organisiert wird, präsent: Er singt in seiner Zelle, die Musik wird via Mobiltelefon übertragen. Dass Musik aber auch anders eingesetzt werden kann, zeigen die erschütternden Berichte über musikalische Foltermethoden in Guantánamo und anderen Gefangenenlagern. Erst später erfuhren viele Künstler, für welche Zwecke ihre Werke missbraucht wurden. Auch dieses Thema ist ein blinder Fleck in der öffentlichen Wahrnehmung. Text: Anton Landgraf

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»Hör dir die Zensierten an.« Lapiro de Mbanga, Farhad Darya, Ferhat Tunc.

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Blinder Fleck Die Zensur von Musik und die Unterdrückung von Musikern weist eine Tradition auf, die von der Antike über den Nationalsozialismus bis in die Gegenwart reicht. Die dänische Organisation »Freemuse« unterstützt verfolgte Musiker weltweit. Von Daniel Bax

Fotos: Promo

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ch habe mich entschieden, vorerst in Mali zu bleiben«, erklärt der ivorische Reggae-Star Tiken Jah Fakoly. »Meine Freunde und meine Familie wollen zwar gerne, dass ich wieder nach Côte d’Ivoire zurückkehre. Und die Dinge haben sich dort seit dem Friedensvertrag von 2007 ja auch geändert«, räumt er ein. Tatsächlich nahm der Musiker damals sogar an dem großen Versöhnungskonzert in der Hauptstadt Abidjan teil. »Aber ich konnte mich bisher nicht zu einer endgültigen Rückkehr durchringen«, gibt er zu. »Vielleicht sage ich ja etwas Falsches, und dann gibt es wieder Ärger?« Tiken Jah Fakoly zählt in Westafrikas Musikszene zu den ganz Großen. Doch als die bürgerkriegsähnlichen Wirren in seinem Heimatland Côte d’Ivoire im Jahr 2002 eskalierten und Freunde von ihm von anonymen Banden ermordet wurden, flüchtete er ins benachbarte Mali, wo er politisches Asyl erhielt und bis heute lebt. Mit seinen kritischen Texten, in denen er die Korruption der politischen Klasse anprangert oder an anderen Tabuthemen kratzt, ist der Reggae-Musiker mit der Reibeisenstimme in seiner Region schon häufig angeeckt. Ob die Käuflichkeit religiöser Autoritäten, die europäische Einwanderungspolitik oder die weibliche Genitalverstümmelung in Westafrika – Tiken Jah Fakoly lässt kein heißes Eisen aus. Die Reaktionen ließen dann auch meist nicht lange auf sich warten. Mal waren seine Songs im Tschad auf dem Index, mal in Guinea. Selbst im vergleichsweise demokratischen Senegal galt er 2007 eine Weile lang als Persona non grata, nachdem er es gewagt hatte, den Präsidenten des Landes öffentlich zu kritisieren.

Tiken Jah Fakoly war der erste Künstler, der mit dem »Freemuse Award« ausgezeichnet wurde. Er erhielt den Preis im März 2008 in Oslo für seine Rolle als Kämpfer für künstlerische Ausdrucksfreiheit und Streiter gegen jede Form der Unterdrückung und Zensur, wie es in der Begründung hieß. Der »Freemuse Award« ist die jüngste Idee, mit der die Menschenrechtsorganisation »Freemuse« die Öffentlichkeit für das Thema »Musik und Meinungsfreiheit« sensibilisieren will. Ein Thema, das oft viel zu kurz kommt, meint die Direktorin der Organisation, Marie Korpe. »Musiker sind genauso wichtig wie Journalisten: Sie sprechen für jene, die sich nicht selbst ausdrücken können. Gerade in Ländern, in denen viele Menschen weder lesen noch schreiben können, spielen sie eine große Rolle. Und sie unterliegen manchmal weniger Beschränkungen als jene, die sich allein in staatlich kontrollierten Medien äußern können.« Doch wenn es darum gehe, auf ihre Verfolgung und Unterdrückung aufmerksam zu machen, seien sie gegenüber ihren schreibenden Kollegen im Nachteil. »Das Thema Kunstfreiheit genießt bei vielen klassischen Menschenrechtsorganisationen keine so hohe Priorität«, so ihre Einschätzung. Und ihr Kollege Ole Reitov, Programmdirektor von »Freemuse«, sekundiert: »Zensur von Musik scheint so etwas wie ein blinder Fleck zu sein.« Freemuse wurde 1999 gegründet, um das zu ändern. »Wir sind die einzige Organisation, die sich gezielt um verfolgte Musiker kümmert«, betont Marie Korpe. Freemuse möchte für verfolgte Musiker gerne das sein, was der internationale PEN-

»Musiker sind genauso wichtig wie Journalisten: Sie sprechen für jene, die sich nicht selbst ausdrücken können.«

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Club für verfolgte Schriftsteller und Reporter ohne Grenzen für die Presse ist: eine weltweit agierende Organisation von Musikern, die sich für bedrängte Musiker in aller Welt einsetzt. Beim Start half einst das dänische Außenministerium, heute finanziert sich die Mitgliederorganisation aus diversen privaten und öffentlichen Töpfen. Ihre Arbeit betrachten die Freemuse-Aktivisten als notwendige Ergänzung zu klassischen Menschenrechtsorganisationen. Zu diesem Zweck dokumentiert die Organisation, die in Kopenhagen ihren Sitz hat, akribisch alle Fälle von staatlicher Willkür, juristischer Verfolgung, persönlicher Drangsalierung und gewaltsamer Einschüchterung bis hin zur Ermordung von Musikern, die sie in Erfahrung bringt, und macht sie einer möglichst breiten Öffentlichkeit bekannt. Darüber hinaus setzt sie sich aktiv für bedrohte Musiker ein, nimmt etwa als Beobachter an laufenden Gerichtsverfahren teil und organisiert internationale Unterstützung für sie. »Für viele Künstler ist es schwierig, wenn sie angeklagt werden«, sagt Ole Reitov. »Sie müssen einen Anwalt engagieren und verlieren viel Zeit und Geld mit den Verfahren. Da versuchen wir zu helfen.« Auf der Website von Freemuse werden Fälle von Zensur und Verfolgung genannt. So zum Beispiel der des bekannten Sängers Lapiro de Mbanga, der bereits seit zwei Jahren in Kamerun im Gefängnis sitzt, weil er sich die Freiheit nahm, ein freches Spottlied auf den Präsidenten seines Landes, Paul Biya, zu singen. Sein Song »Constitution Constipée« avancierte zur Hymne jener Demonstranten, die 2008 in Kamerun gegen eine Verfassungsänderung auf die Straße gingen, die es dem Präsidenten ermöglichen sollte, noch länger im Amt zu bleiben. Auch der kurdische Musiker Ferhat Tunc muss sich seit Jahren immer wieder vor türkischen Gerichten verantworten. Obwohl die kurdische Sprache und kurdischer Gesang in der Türkei schon seit Mitte der neunziger Jahre offiziell erlaubt sind, findet der türkische Staat immer wieder Mittel und Wege, kurdischen Musikern das Leben schwer zu machen. Ferhat Tunc etwa wird

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die Unterstützung der PKK und ihrer separatistischen Bestrebungen vorgeworfen, seine Konzerte wurden von der Polizei gestört und der Musiker festgenommen. Der afghanische Sänger Farhad Darya gilt als einer der bekanntesten und einflussreichsten Musiker seines Landes, seit er in den frühen achtziger Jahren dort seine ersten Aufnahmen machte. Während der Herrschaft der Taliban emigrierte er, kehrte aber nach dem Sturz des fundamentalistischen Regimes 2001 wieder aus den USA zurück; seine Stimme im Radio von Kabul kündete vom Anbruch einer neuen Zeit. Jüngst aber explodierte bei einem seiner Auftritte in der westafghanischen Stadt Herat eine Bombe, 13 Menschen wurden verletzt: ein Zeichen für das Vorrücken der Taliban auch in dieser Region. Im Fall des kurdischen Sängers Ferhad Tunc wandte sich Freemuse in einem Brief an den türkischen Premier Erdoğan und an die Europäische Kommission in Ankara, zudem holte man sich Unterstützung durch den internationalen PEN-Club. »Von Fall zu Fall suchen wir andere Partner«, erklärt Ole Reitov das Vorgehen: Mal kontaktiert man Berufsorganisationen wie den britischen Schauspielverband, mal Anwälte und Plattenfirmen in Frankreich. Für die Zukunft werden derzeit drei regionale Unterstützernetzwerke aufgebaut – für Afrika, den Nahen Osten und Südasien. Zuletzt veröffentlichte Freemuse in diesem Jahr den CDSampler »Listen to the Banned« – der Titel spielt mit der Redewendung »Hör dir die Band an« und wandelt sie um in den Appell: »Hör dir die Zensierten an.« Der Sampler versammelt Künstler, die in der einen oder anderen Weise mit Zensur zu kämpfen hatten, sowie Lieder, die in ihren jeweiligen Ländern für mächtig Ärger sorgten – zum Beispiel »Quitte le Pouvoir« von Tiken Jah Fakoly oder ein berühmtes Stück von Marcel Khalife, das dem Lautenspieler im Libanon einst ein Verfahren wegen Blasphemie einbrachte, weil er darin auch Zeilen aus dem Koran zitiert hatte. Es sind fast ausschließlich Künstler aus islamischen sowie afrikanischen Ländern, die auf »Listen to the

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Foto: Wrasse Records

Banned« zu hören sind, was der ausgesprochen liebevoll aufgemachten CD einen überraschend homogenen Charakter verleiht. Weil er so gut anzuhören ist, wurde der Sampler von führenden Radiojournalisten Europas nach seinem Erscheinen an die Spitze der Weltmusik-Radiocharts gewählt. Die Compilation macht deutlich, dass es durchaus nicht die schlechtesten Lieder sind, die da zensiert wurden. Dabei ist die Zensur von Musik fast so alt wie die Musik selbst. Schon dem griechischen Philosophen Plato waren bestimmte Musikstile suspekt, auch dem orthodoxen Islam und den christlichen Kirchen waren viele musikalische Traditionen ein Graus. Von der Antike bis zur Neuzeit nahmen sich religiöse und weltliche Autoritäten das Recht, über den Musikgeschmack ihrer Mitmenschen zu richten, ihn zu kontrollieren und zu steuern. Umfassend war die musikalische Zensur unter den totalitären Regimen des 20 Jahrhunderts. Während des Nationalsozialismus stand das gesamte musikalische Leben in Deutschland unter der Kontrolle der »Reichsmusikkammer«, die vom Propagandaminister Joseph Goebbels beaufsichtigt wurde. Jüdische Folklore, jüdische Komponisten und amerikanische Unterhaltungsmusik galten bis 1945 als »Entartete Musik« und waren verboten, stattdessen wurden politisch genehme Künstler gefördert. Schon die musikalische Leidenschaft der Swing-Jugend und der Edelweißpiraten, die für ihren Protest gegen Hitler auch auf populäre Volkslieder der bündischen Jugend zurückgriffen, wurde als Form des Widerstands gesehen, die die Fans ins Gefängnis bringen konnte. In den sozialistischen und kommunistischen Diktaturen des Ostblocks und anderswo waren nicht nur die Massenmedien, sondern auch die Produktion und der Vertrieb von Tonträgern gewöhnlich in staatlicher Hand: Das machte ein Musikleben jenseits der offiziellen Parteilinie praktisch unmöglich. Grenzgänger wie der 1980 verstorbene russische Songwriter Vladimir Vysotsky, der in der Sowjetunion zwar beim staatseigenen Plat-

Kämpfer für künstlerische Ausdrucksfreiheit.Tiken Jah Fakoly.

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Die gravierendsten Formen musikalischer Zensur finden sich noch immer in Diktaturen wie in Simbabwe, Belarus oder Myanmar.

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die Situation in den letzten Dekaden spürbar verbessert«, sagt Ole Reitov, »dafür sorgt der Aufstieg des religiösen Fundamentalismus für neue Probleme.« Zudem richtet sich die Repression häufig gegen Angehörige von ethnischen Minderheiten, die auch sonst unterdrückt werden: gegen Uiguren und Tibeter in China, Kurden in der Türkei oder Musiker aus der West-Sahara in Marokko. Die gravierendsten Formen musikalischer Zensur finden sich aber noch immer in Diktaturen und autoritären Regimen wie in Simbabwe, Belarus oder Myanmar. So startete Amnesty International im vergangenen Jahr eine Eilaktion für Igor Koktisch aus Belarus. Der Sänger der mittlerweile verbotenen Rockband »Mlechny Put« (Milchstraße) hatte sich immer wieder kritisch über das politische System in seinem Land geäußert und versucht, eine unabhängige Jugendorganisation zu gründen. Im Jahr 2001 wurde er unter merkwürdigen Umständen wegen Mordes angeklagt, aber wenig später freigesprochen, weil er nachweislich nicht an der Tat beteiligt gewesen sein konnte. Dennoch legte die Generalstaatsanwaltschaft Berufung gegen das Urteil ein – und erwirkte ein Auslieferungsgesuch an die Ukraine, wohin der Sänger nach dem Prozess gezogen war. Koktisch wurde erneut verhaftet und saß zweieinhalb Jahre in der Stadt Simferopol unter miserablen Bedingungen in Untersuchungshaft. Im Februar 2010 wurde er schließlich entlassen, nachdem der Europäische Gerichtshof ein entsprechendes Urteil erlassen hatte, das Koktisch auch Schadensersatz für seine Haft zusprach. Doch nicht immer werden Musiker offensichtlich zensiert und unterdrückt. Vieles spielt sich in einer Grauzone von Marktzwängen und Konformitätsdruck ab, wie etwa im Fall der Dixie Chicks. Das weibliche Countrytrio aus den USA war bei patriotischen Radiosendern und christlichen Fundamentalisten während des Irakkriegs in Ungnade gefallen, weil es sich auf einer Europatournee von der Politik des damaligen US-Präsidenten George W. Bush distanziert hatte. »Man muss die Fälle immer im Verhältnis zum jeweiligen Land betrachten«, sagt Ole Reitov, »den Fall der Dixie Chicks kann man natürlich nicht vergleichen mit der Zensur in Simbabwe.« Selbst die Indizierung von rechtsradikalen Rockbands oder homophoben Reggaekünstlern wird von Freemuse notiert. »Man sollte immer skeptisch sein, wenn Musik zensiert wird«, sagt Ole Reitov. »Aber wir sind keine Menschenrechts-Fundamentalisten. Warum sollen wir die Ausdrucksfreiheit von Leuten verteidigen, die anderen Menschen ihr Existenzrecht absprechen?« Mehr unter: Freemuse.org Sampler: »Listen to the Banned« (Grappa Musikverlag) Der Autor ist Meinungsredakteur bei der taz.

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Fotos: Promo, dpa

tenlabel Melodija veröffentlichen durfte, aber über Tabuthemen wie Prostitution und Verbrechen sang, blieben eine geduldete Ausnahme und avancierten dadurch schon zu Lebzeiten zur Legende. Auch in anderen Ländern stiegen Musiker zu Volkshelden auf, weil sie durch die jeweiligen Machthaber verfolgt wurden. Seine Opposition zum Obristenregime ließ den Stern des griechischen Komponisten Mikis Theodorakis nur noch heller strahlen. Die Generäle, die sich 1967 in Griechenland an die Macht putschten, verboten nicht nur seine Musik, sondern stellten auch den Besitz seiner Platten sowie das Hören und Singen seiner Lieder unter Strafe. Auch deshalb wird Theodorakis in Griechenland noch heute als eine nationale Ikone angesehen. Vergleichbares gilt für den chilenischen Liedermacher Victor Jara, der 1973 im Fußballstadion von Santiago de Chile von den Schergen des Putsch-Generals Pinochet gefoltert und ermordet wurde. 30 Jahre später, im September 2003, wurde dieses Stadion von einer nunmehr demokratischen Regierung offiziell nach Jara benannt. Die Militärdiktaturen, die in den siebziger Jahren in Lateinamerika herrschten, trieben damals ganze Musikgenres ins Exil – etwa die Stars der Tropicalia-Bewegung wie Caetano Veloso oder Gilberto Gil in Brasilien oder die führenden Vertreter des Nueva Canción in Argentinien und Chile. Sie konnten aber nicht verhindern, dass diese im Ausland dafür umso mehr Gehör fanden. Die Sängerin Mercedes Sosa etwa stieg im spanischen Exil zur Stimme des Widerstands gegen die argentinische Putschregierung auf – so wie schon zuvor die Sängerin Miriam Makeba in den USA an der Seite von Harry Belafonte zur führenden Aktivistin gegen das Apartheidregime in Südafrika wurde. In den vergangenen Jahren ist es vor allem der radikale Islamismus, der viele Musiker bedroht – und manchen von ihnen das Leben gekostet hat. Während des algerischen Bürgerkriegs fielen im Jahr 1994 nicht nur der bekannte Rai-Produzent Rachid Baba Ahmed, sondern auch der populäre Sänger Cheb Hasni einem Attentat zum Opfer. Obwohl Hasni hauptsächlich romantische Liebesballaden sang, machte ihn das zur Zielscheibe. Vier Jahre später wurde in Algerien auch der kabylische Sänger Lounes Matoub, der als Star und Sprachrohr der Berber-Bevölkerung galt, von Unbekannten ermordet. Unklar ist bis heute, ob staatliche Stellen oder radikale Fundamentalisten dahinter standen. Und während der Terrorherrschaft der Taliban bestand in Afghanistan sogar quasi ein komplettes Musikverbot – ähnliche Verhältnisse streben radikale islamistische Gruppen derzeit offenbar auch in jenen Regionen Somalias oder Pakistans an, die sie kontrollieren. Auch der weltweite Umgang mit Heavy Metal, der in manchen Ländern des Nahen Ostens besonders stark verteufelt wird, findet bei Freemuse Beachtung. »In bestimmten Regionen, etwa in Lateinamerika, hat sich


rewind Nationale Ikonen. Victor Jara, Mercedes Sosa, Mikis Theodorakis.

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forward Stargeiger mit Engagement. Daniel Hope in Ulrichshusen,Tempelhof und bei der Verleihung des Amnesty-Menschennrechtspreises 2008 (von links).

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»Spüren, was die Musik sagen will« Der Starviolinist Daniel Hope über gesellschaftliches Engagement im Konzerthaus, kulturbeflissenes Publikum und darüber, was Musik bewegen kann.

Fotos: NDR, danielhope.com, Amnesty

Ihre Großeltern, deutsche Juden, mussten unter dem Nationalsozialismus nach Südafrika fliehen. Ihr Vater, Apartheidsgegner, emigrierte 1975 nach London. Die Geschichte Ihrer Familie ist von Flucht und Marginalisierung geprägt. Sie engagieren sich heute gesellschaftspolitisch sehr stark, unter anderem auch für Amnesty. Hat das eine mit dem anderen zu tun? Ganz sicher. Mein Vater ist ein sehr politischer Mensch und er hat mich und meinen Bruder schon als Kinder immer dazu ermutigt, über Politik zu sprechen, uns eine Meinung zu bilden. Als meine Eltern Südafrika verließen, war ich noch ein Baby. Aber ich bin in London aufgewachsen als Kind eines Mannes, der vor einem politischen Regime in die Emigration gezwungen wurde. Das prägt, und auch die vielen politischen Diskussionen früher, zu Hause, haben sicher eine große Wirkung auf das, was ich heute tue. Neben dem Mainstream der Klassik, neben Vivaldi, Beethoven und Händel, bringen Sie immer wieder die »vergessene Musik« von Komponisten zur Aufführung, die durch Nationalsozialisten ermordet wurden. Etwa Erwin Schulhoff, der in dem bayerischen KZ Wülzburg ums Leben kam, oder Hans Krása, der im KZ Theresienstadt die berühmte Kinderoper »Brundibár« schrieb und in Auschwitz vergast wurde. Politik auf der Bühne – wie reagieren Ihre Zuhörer auf die »vergessene Musik«? Das kommt sehr auf das Publikum an. Sind es Zuhörer, die eigens zu einem solchen Konzert gekommen sind, oder handelt es sich um ein Publikum, das ich in der Zugabe mit einem Stück »vergessener Musik« überrasche. Meistens jedoch sind die Reaktionen sehr positiv, sehr bewegend – und das weltweit. Dazu

muss man wissen, dass die »vergessene Musik« emotional sehr stark ist, sie bringt Melancholie, Verzweiflung, aber auch Kampfgeist zum Ausdruck und ist getragen von einer unglaublichen Energie. Ich bin wegen ihrer Musik zu den von den Nationalsozialisten verfolgten Komponisten gekommen, nicht wegen ihrer Geschichte. Als ich das erste Mal Gideon Klein im Radio gehört habe, musste ich auf einer Autofahrt rechts ranfahren, so beeindruckt war ich. In Deutschland ist bei solchen Konzerten oft eine große Betroffenheit im Publikum zu spüren. In den USA, in einem Land, in dem viele Überlebende des Holocausts heute noch leben, sind die Reaktionen meist sehr persönlich. Da kommen nach dem Konzert Menschen zu mir auf die Bühne und erzählen mir von ihrer Zeit in Theresienstadt, in Auschwitz. Das ist erschütternd. Teure Abendgarderobe, feingeistige Gespräche mit den Nachbarn, Abschalten vom Alltagsstress – unter dem Publikum klassischer Musik stellt man sich nicht gerade einen Pool gesellschaftspolitischer Aktivisten vor. Ist das nur ein Vorurteil? Das kann man so pauschal nicht sagen. Das ist von Land zu Land, sogar von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich. In den Niederlanden, vor allem in Amsterdam, haben Sie ein sehr junges, politisch waches Konzertpublikum. In Berlin treffen Sie in der Regel auf ein sehr disparat besetztes Haus – engagierte und bildungsbewusste Altachtundsechziger, bürgerliches Publikum und junge, unangepasste Leute. In anderen deutschen Städten begegnet man dagegen häufiger dem sogenannten Abonnementpublikum, das sich in erster Linie auf schöne Musik und einen schönen Abend freut.

»In Amsterdam haben Sie ein sehr junges, politisch waches Publikum. In deutschen Städten begegnet man dagegen häufiger dem Abonnementpublikum.«

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»Dass klassische Musik häufig nicht mit gesellschaftlichem Engagement verbunden wird, liegt auch an den künstlerischen Kollegen.«

Sie haben schon öfter prominente Kollegen für Ihre Benefizkonzerte auf die Bühne geholt. Die eingespielten Gelder kommen Initiativen zum Klimaschutz oder gegen das Vergessen des Holocausts zugute. Als Zuhörer weiß ich, mein Vergnügen dient einem guten Zweck. Ist das – aus Sicht der Zuhörer – ein überaus bequemes gesellschaftliches Engagement unterhalb des Spendenniveaus? Diesen Aspekt muss man in Kauf nehmen, um überhaupt Menschen für ein Thema gewinnen zu können. Ich bin ja kein Politiker, ich will lediglich Auskunft geben über ein gesellschaftliches Problem, zu dessen Lösung wir alle beitragen können. Und ich lerne selbst etwas dabei. Wenn die Leute einfach nur ein Konzert von mir wollen, dann gibt es genügend Abende, die nicht thematisch gebunden sind. Wer aber etwas tun will, kommt in meine Benefizkonzerte. Da steht schon eine bewusste Entscheidung dahinter. Kann Musik selbst gesellschaftspolitisch etwas bewegen? Haben Sie hier persönlich schon Momente erlebt, gewissermaßen als Zeitzeuge, die Sie tief berührt haben? Ja. Ich habe mit anderen Musikern zum 60. Jahrestag der Befreiung von Dachau ein Konzert gegeben. Wir haben vor fünfhundert Überlebenden gespielt, die zum ersten Mal nach ihrer Haft wieder das Konzentrationslager gesehen haben. Wir haben dort Musik gespielt, die von Häftlingen im KZ Theresienstadt komponiert wurde – sperrige Musik, die es einem gewiss nicht leicht macht, einen Zugang zu finden. Die Reaktion des Publikums war erstaunlich, es war mitgerissen. Viele sagten hinterher, sie hätten gespürt, was diese Musik sagen will. Das war für mich sehr bewegend, zu erleben, dass Musik eine eigene Sprache spricht. Fragen: Uta von Schrenk

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Foto: Christian Jungeblodt / laif

Ist dieses Publikum zu bewegen? Davon bin ich überzeugt. Man kann ein Publikum vielleicht nicht von einer Sache komplett überzeugen, aber man kann Denkanstöße geben. Dass klassische Musik häufig nicht mit politischem Aktivismus oder gesellschaftlichem Engagement verbunden wird, liegt auch an den künstlerischen Kollegen, die in ihrer Musik voll und ganz aufgehen. Ich will das nicht kritisieren, man muss von der Musik besessen sein, um glanzvoll spielen zu können. Aber viele Kolleginnen und Kollegen trauen sich schlicht nicht, sich offen zu engagieren oder politische Akzente zu setzen. Dabei ist ein volles Konzerthaus ja auch eine Chance: Sie haben einen ganzen Abend Zeit, ein Publikum mit einem Thema vertraut zu machen, es für ein Thema zu gewinnen. Bei meinen »Tu was!«-Konzerten habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Publikum sehr offen für meine gesellschaftlichen Anliegen ist.

interview daniel hoPe Daniel Hope, weltweit gefeierter Violinist, gilt als Ziehsohn von Yehudi Menuhin. Er wurde 1974 in Durban, Südafrika, geboren.

»tu was!« »Tu was!«, heißt die Initiative, mit der Daniel Hope sich gegen das Vergessen des Holocausts und nun auch für den Klimaschutz engagiert. 2008 hat er ein Benefizkonzert mit Starbesetzung im Tempelhofer Flughafen zum Gedenken an die Reichspogromnacht vom 9. November1938 initiiert. Er holte unter anderen Klaus Maria Brandauer, Till Brönner und Thomas Quasthoff auf die Bühne. Der Erlös des Konzertes ging an die Freya von Moltke-Stiftung für den Erhalt der Internationalen Gedenk- und Begegnungsstätte im einstigen Kreisau, heute das polnische Krzyżowa. Ende August gab Daniel Hope mit seiner Initiative im mecklenburgischen Schloss Ulrichshusen ein Konzert zugunsten des Klimaschutzes. Die Arbeit von Amnesty International unterstützt Hope auf vielfältige Weise. So sorgte er 2008 zur Verleihung des Menschenrechtspreises für die musikalische Gestaltung des Abends.

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Raise Your Voice! Musik und Menschenrechte ist eine erfolgreiche Verbindung. Das zeigen die zahlreichen Konzerte und Aktionen, mit denen Künstler weltweit Amnesty International unterstützen. Von Peter Litschke

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as erste Konzert der irischen Rockband U2 in Russland war mit Spannung erwartet worden. Gemeinsam mit Amnesty setzten sich Bono und seine Bandkollegen auf ihrer 360°-Tour für die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi ein. Doch während es auf den Konzerten zuvor keine Probleme mit der Polizei gab, wurden Ende August in Moskau fünf Amnesty-Aktivisten, die vor dem Auftritt Unterschriften sammelten, vorläufig festgenommen. So nervös sind die Behörden bei Amnesty-Konzerten eher selten. Und es gab im Laufe der mittlerweile fast 50-jährigen Amnesty-Historie viele Kooperationen mit Musikern, Produzenten und Künstlern, um Musik und Menschenrechte miteinander zu verbinden. Meist waren es Benefizkonzerte, die die Botschaft von Amnesty verbreiteten und Menschenrechte in den Fokus der Medien rückten. Die Veranstaltung »The Secret Policeman’s Ball« aus dem Jahr 1979 kann als die erfolgreichste AmnestyKonzertreihe gelten, die von der britischen Sektion veranstaltet wurde. Gastgeber war Monty-Python-Comedian John Cleese; musikalische Gäste waren u.a. Sting, Peter Gabriel, Bono und Bob Geldorf. Der ersten Show folgten im Laufe der Jahre weitere, zuletzt der Secret Policeman’s Ball 2008. Das musikalisch-menschenrechtliche Engagement von Amnesty beschränkt sich aber nicht nur auf Konzerte. So wurde im Juni 2007 der Musiksampler Make Some Noise – Save Darfur veröffentlicht, der aus einer Kooperation von Amnesty, Yoko Ono sowie nationalen und internationalen Künstlern hervorging. Die Bandbreite reichte von Tokio Hotel über die Flaming Lips und Snow Patrol bis hin zu The Cure, U2, R.E.M. und Aerosmith. Die Musiker coverten für die Compilation John-LennonSongs, der Reinerlös geht an Amnesty, um auf die Menschenrechtslage in Darfur aufmerksam zu machen. Im Rahmen der Make Some Noise-Kampagne wurden zahlreiche Petitionen, Eilaktionen sowie Appelle unterzeichnet und verschickt. Es fanden auch Benefizkonzerte statt, so zum Beispiel im vergangenen Jahr in Hamburg. Andere Musiker versteigern Devotionalien und spenden die Erlöse an Amnesty. So hat die britische Indie-Band The XX Anfang Oktober zugunsten von Amnesty zwei Lichtboxen auf eBay versteigert. Konzerte bieten eine gute Möglichkeit, Musik mit Aktionen zu verknüpfen. So können bei einem Konzert neben Unterschriften auch Spendengelder gesammelt werden. Eine der größten Musikveranstaltungen war die Human Rights Now!Tournee, die 1988 sechs Wochen lang durch 15 Länder auf vier Kontinenten führte. Headliner waren unter anderem Tracy Chapman, Bruce Springsteen sowie Youssou N’Dour. Zwei Jahre zuvor gab es während einer US-Benefizkonzertreihe für Amnesty unter dem Namen »A Conspiracy of Hope« ein

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musik und menschenrechte

Reunion-Konzert von The Police. Größere internationale Musikveranstaltungen werden meistens von Art for Amnesty koordiniert. Nicht zu unterschätzen sind aber neben den internationalen Großveranstaltungen die zahlreichen Kooperationen, die regelmäßig auf lokaler Ebene stattfinden und meist von ehrenamtlichen Amnesty-Mitgliedern veranstaltet werden, in Berlin z.B. zuletzt im SO36 mit lokalen Bands. Die erfolgreiche Verbindung von Musik und Menschenrechten wird auch zukünftig von Amnesty fortgesetzt. Besonders für das Jubiläumsjahr 2011 sind national und international viele interessante Projekte in Planung. Bis dahin gilt: Raise your voice for human rights! Die fünf russischen Amnesty-Aktivisten sind übrigens nach kurzer Zeit wieder freigelassen worden. Noch während des Konzerts rief Bono den Besuchern zu: »Amnesty, keep up the campaign!« Der Autor ist Politikwissenschaftler und lebt in Berlin. Mehr unter: www.amnesty.de/musik

Musik und Aktionen. Illustration für den Secret Policeman’s Ball.

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»Es ist so wunderschön, auf der Bühne zu stehen.« Sara Naini, Konzert in Teheran, Omid Hajili.

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Gefährliche Stimmen Frauen dürfen nicht öffentlich singen und Musiker müssen sich an Regeln halten, die sie nicht verstehen: Im Iran sind Jugendliche einem rigiden Sittenkodex unterworfen. Doch sie erkämpfen sich immer wieder kleine Freiheiten. Von Martin Weiss

Fotos: SWR

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en Sport musste Sara nach einem schweren Unfall aufgeben – sie war vom Dach ihres Elternhauses gestürzt. Mühsam steigt sie auf Krücken die Treppen hoch. Die Abendluft genießen viele Teheraner auf den Dächern ihrer Häuser. Nach dem Sturz ging die ehemalige Leistungssportlerin einer anderen großen Leidenschaft nach, dem Singen. Das ist aber gar nicht einfach in einem Land, in dem es Frauen verboten ist, als Sängerin aufzutreten. »Es ist mir wirklich peinlich, das zu sagen«, erklärt Sarah Naini, »doch es hieß, dass Männer durch den Gesang einer Frau erregt würden, und das sei nicht gut. Mir wird ganz anders, wenn ich das erzähle, dies soll wirklich der Grund dafür sein. warum wir Frauen nicht singen dürfen – echt peinlich.« Sara ist 26 Jahre alt und hat einen Traum, den viele in ihrem Alter haben: Sie möchte Sängerin werden. Sie trotzt dem Regime und den Verboten, indem sie unermüdlich weiterübt. Neben Popmusik auch traditionelle Lieder, begleitet von ihrem Bruder. Eines Tages, sagt sie mit Nachdruck in der Stimme, werde sie als Frontsängerin auftreten. Denn bislang dürfen Frauen nur im Chor, im Hintergrund singen. Auch Omid Hajili hat einen Traum. Der Musiker möchte eines Tages von seiner eigenen Musik leben können. Vor sieben Jahren hat er eine CD aufgenommen und wartet seither vergeblich auf die Genehmigung, seine Songs vermarkten zu dürfen. Das Ministerium für Islamische Erziehung zensiert Medien, Theater, Bücher und genehmigt auch Musikstücke. Für die Künstler ist oft nicht nachzuvollziehen, nach welchen Kriterien: »Wir wissen nicht, welche Rhythmen wir verwenden dürfen und welche nicht«, sagt Omid, »oder welche Worte. Es ist reine Willkür. Wir würden sogar rigoros Selbstzensur betreiben, nur damit unsere CD eine Genehmigung erhält. Aber es gibt keine Regeln, an denen wir uns orientieren können.« Trotzdem, so erzählt Omid, gebe es im heutigen Iran kleine Veränderungen: Früher wurde man mit einem Musikinstrument in der Hand festgenommen. Jetzt könne man mit seiner Trompete seelenruhig in der Stadt umherlaufen. Seit ein paar Jahren darf man auch wieder Instrumente aus dem Ausland einführen. Manche Regeln wurden inzwischen gelockert, andere wiederum verschärft. Unter Präsident Ahmadineschad gilt jede Form von Individualität als Rebellentum. Vor ein paar Wochen wurden die neuen Haarschnitte vorgestellt, die die Machthaber gern sehen würden: Nicht zu lang und nicht zu kurz, alle schön einheitlich. Frisuren mit wilden, toupierten oder schräg gestylten Haaren sind dagegen verpönt. Immer wieder gibt es abendliche Polizeikontrollen auf Teherans Straßen. Wer erwischt wird, wie er von Auto zu Auto flirtet, wird bestraft. Auch Zivilpolizisten sind im Einsatz. Und wenn sie Männer beim Flirten erwischen, werden diese als »belästigende Person« abgestempelt und bekommen ein postergroßes Schild auf ihrem Auto angebracht, damit es alle in der Stadt sehen können. Autos der teuren Marken bekommen gleich eine

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Wegfahrsperre. »Was wollen die bloß von uns«, ruft ein Mädchen in einer Gruppe Teenager, » ich habe doch lange Strümpfe an, meine Haare schauen nicht raus«. Bei Mädchen und Frauen achtet das Regime auf den Hejab, die islamische Kleiderordnung. Der Sitz des Kopftuchs und die Länge der Kleidung müssen stimmen. Nagellack, gezupfte Augenbrauen, zu kurze oder zu enge Mäntel sowie zu viele sichtbare Haare – alles verboten. Wer zu aufreizend ist, wird festgenommen. Es drohen hohe Geldstrafen, ja sogar Peitschenhiebe. Omid, der Sänger, hat Glück. Überraschend bekommt er im Juli eine Genehmigung und darf vier Konzerte geben, die alle nach kurzer Zeit ausverkauft sind. Ein Ticket kostet umgerechnet 40 Euro. Das ist zwar sehr viel Geld für die jungen Menschen in Teheran, doch sie alle sehnen sich nach Abwechslung. Ende Juli findet dann das erste Popkonzert seit den blutigen Auseinandersetzungen im Anschluss an die Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr statt. Nach sieben Jahren im Studio darf Omid endlich seine Musik und seine Texte einem großen Publikum vorstellen. Doch er muss seine Freude im Zaum halten, denn im Saal sind auch Aufpasser, die das Regime geschickt hat. Sie achten auf den Sänger und auf das Publikum: Keine zu lauten Rufe, keine tanzenden Bewegungen und keine zu großen Emotionen! Würde Omid zum Beispiel tanzen, würde er die Genehmigung für weitere Konzerte riskieren. Plötzlich riskiert er etwas ganz anderes: Er lässt seine Backgroundsängerin Sara ein kurzes Solo singen. Die Passage ist zwar nur wenige Sekunden lang und ohne Text, die Zuschauer sind dennoch begeistert. Sie wissen, dass sie sich mit diesen Sekunden erneut ein Stück Freiheit erkämpft haben. Nach der Pause bleibt die Stimmung weiter aufgeheizt. Für viele ist es eine Ablenkung von den schrecklichen Nachrichten über Folter, Verhaftungen und Repressionen gegen Freunde, Nachbarn und Kollegen. Und dann bekommt Sara eine zweite Chance, allein zu singen. Eine kleine Kulturrevolution für die Menschen hier, die sich alle nach Freiheit sehnen, und sei es nur für einen kurzen Augenblick. Auch Sara genießt ihren kurzen Soloauftritt: »Es ist so wunderschön, auf der Bühne zu stehen, es gibt einem soviel Energie, das Publikum glücklich zu sehen. Eines Tages werde ich auch ein Konzert geben, entweder hier oder im Ausland.« Bislang haben Sara und Omid keine weiteren Konzerte im großen Rahmen geplant. Nachricht vom zuständigen Ministerium haben sie bisher auch nicht bekommen. Aber wenn sie das nächste Mal um eine Genehmigung anfragen, wird sich zeigen, ob sie bei diesem Konzert »über die emotionale Stränge« geschlagen haben und zu »zügellos« auf der Bühne waren. Der Autor ist ARD-Korrespondent und berichtet unter anderem aus dem Iran. Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags aus der Sendung »Weltspiegel«.

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Standard Operating Procedure. The Bee Gees, Eminem, Britney Spears.

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Krieg der iPods In ihrem »Krieg gegen den Terror« verwendete die US-Armee verschiedene Methoden, um Verdächtige gefügig zu machen. In Guantánamo und anderen Gefängnissen wurde auch Musik als Folterinstrument eingesetzt – ohrenbetäubend laut und manchmal tagelang, bis die Opfer jede Orientierung verloren. Von Tobias Rapp

Fotos: Promo

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m Frühjahr 2003 wird Ruhal Ahmed aus seiner Zelle im Block Delta des Militärgefängnisses von Guantánamo geholt und in eine Verhörzelle gebracht. Er muss sich hinhocken, der Militärpolizist, der ihn geholt hat, fesselt seine Fußschellen an einen Ring im Boden, seine Arme müssen die Beine von hinten umfassen, dann werden seine Handschellen ebenfalls am Bodenring befestigt. Eine sogenannte »stress position«: Der Gefangene kann nicht sitzen, nicht stehen, nicht knien. Er kann nur in einer Zwischenposition kauern, rasch bekommt er Krämpfe. Ahmed kennt die Prozedur, sie ist Teil der so genannten »standard operating procedure«, schmerzhafte Fesselungen gehören zur normalen Verhörvorbereitung. Er ist schon über ein Jahr in Guantánamo, über Wochen musste er immer wieder die gleichen Fragen beantworten, was er und seine zwei Freunde, die mit ihm gefangen genommen worden waren, im Herbst 2001 in Afghanistan gemacht hätten. Alle drei sind Engländer muslimischer Herkunft, Ahmeds Familie kommt aus Bangladesch. Die »Tipton Three« werden sie genannt, nach ihrem Herkunftsstädtchen in der Nähe von Birmingham in Nordengland. Bei diesem Verhör steht allerdings ein Ghettoblaster in der rund zehn Quadratmeter großen Zelle. Der Soldat macht eine Eminem-CD an. Sehr laut. Dann geht er. Die Musik läuft stundenlang, manchmal tagelang, in ohrenbetäubender Lautstärke. Und nicht nur das. Manchmal bekommt er noch ein Stroboskop vor das Gesicht gestellt. Die Zelle ist dunkel, das Gerät schießt ihm Blitze in die Augen. Zusätzlich regeln die Verhörspezialisten oft die Klimaanlage nach unten. Über Stunden muss er in eisiger Kälte ausharren. Er kann nicht auf die Toilette gehen, muss es einfach laufen lassen, um dann stundenlang in seinem Urin oder seinen Exkrementen zu kauern. In Stresspositionen. Die Fesseln lassen die Beine anschwellen. Bei Musik, die ihn anbrüllt.

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Ruhal Ahmed ist nicht der Einzige. Viele Gefangene des »Kriegs gegen den Terror« erzählen ähnliche Geschichten. Ausgerechnet Musik, die Kunstform, die in den vergangenen Jahrzehnten am häufigsten und wirksamsten zur Weltverbesserung eingesetzt wurde – von Woodstock über »Rock gegen Rechts« bis zu »Live8«, ist zum Mittel im »Krieg gegen den Terror« geworden. Nicht nur, weil mit Musik gefoltert wird. Wenn der VietnamKrieg als der erste »Rock’n’Roll-Krieg« gilt, weil die Musik von den Doors und Jimi Hendrix überall aus den Transistorradios schepperte, ist der »Krieg gegen den Terror« der erste iPodKrieg. Fast jeder Soldat hat ein solches Gerät. Viele nutzen Musik als Gefühlsverstärker: Sie hören aggressive Musik, um sich aufzuputschen, bevor sie auf Patrouille fahren, und ruhige Musik, um danach wieder runterzukommen. Das ist wahrscheinlich normal, in einer Welt, in der Musik omnipräsent ist. Dass Musik aber auch Folter sein kann, ist trotzdem nur schwer vorstellbar. »Wenn ich Leuten erzähle, dass Musik Folter sein kann, schauen sie mich an und denken, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank«, sagt Ruhal Ahmed heute. Er wurde im März 2004 freigelassen und lebt nun wieder in England. »Wie kann eine Kunst, die so viel Freude macht, Folter sein? Aber so ist das: Normale Folter kann man aushalten. Musikfolter nicht. Ich habe alles gestanden, was von mir verlangt wurde. Dass ich Bin Laden und Mullah Omar kenne. Dass ich weiß, was ihre Pläne sind. Alles. Nur damit es aufhört.« In Guantánamo, in Afghanistan, im Irak und in anderen amerikanischen Geheimgefängnissen haben US-Soldaten und Geheimdienstleute Terrorverdächtige gefoltert. Waterboarding und Schlafentzug gehörten zu ihren Methoden und auch laute Musik. Gefangene wurden tagelang an den Handgelenken aufgehängt und mit den Beats von Dr. Dre beschallt. Sie wurden

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»Es fühlt sich an, als hätte man sehr starke Migräne, und dann kommt jemand und schreit dich an – multipliziert mal tausend.«

Foto: Hans-Peter van Velthoven / Hollandse Hoogte / laif

gefesselt und bekamen Kopfhörer aufgesetzt, über die Meat Loaf lief, stundenlang. Sie wurden in Holzkisten gesteckt und mussten nächtelang »Saturday Night Fever« von den Bee Gees ertragen. Es gibt seit langem eine Verbindung zwischen Krieg und Musik. Von den Posaunen, die angeblich die Mauern von Jericho zum Einsturz brachten, über die Militärkapellen, die den Armeen des 19. Jahrhunderts halfen, ihre Gewaltmärsche zu absolvieren, bis zu den Boxentürmen, die die US-Einheiten im irakischen Falludscha aufstellten, um die islamistischen Kämpfer mit AC/DCs »Highway To Hell« in die Flucht zu schlagen. Die Geheimgeschichte von Musik und Folter reicht in die fünfziger Jahre zurück. Was die Verhörspezialisten – damals wie heute – erreichen wollen ist klar: Es geht darum, den Gefangenen zu »brechen«. Wie das genau funktioniert, hat die US-amerikanische Regierung gemeinsam mit britischen und kanadischen Behörden während des Kalten Krieges erforschen lassen. KUBARK hieß damals das Verhör-Handbuch der CIA, das festlegte, wie mit Gefangenen umzugehen ist, ihm waren Forschungen vorausgegangen. Zwar verbot die US-Armee seine Verwendung nach dem Ende des Vietnamkriegs. In anderer Form wurde das Wissen jedoch weitergetragen: In einem Programm namens SERE (»Survive, Evade, Resist, Escape«) wird Mitgliedern von Eliteeinheiten bis heute beigebracht, wie sie der Folter nach einer Gefangenennahme widerstehen können. Etwa im Fall eines Absturzes hinter feindlichen Linien. Tatsächlich war es dann auch ein Psychologe des SERE-Pro-

»Hey, sie haben Metallica ausgewählt!« Sänger James Hetfield.

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gramms, der im Winter 2001 von der CIA beauftragt wurde, Verhörmethoden für den »War On Terror« zu entwickeln. Im Sommer 2002 autorisierte George W. Bush die »speziellen Verhörmethoden«. Den Gefangenen über lange Zeiträume mit lauter Musik zu beschallen, oft in Kombination mit anderen Qualen – unbequemen Fesselungen, extremen Temperaturen oder Lichteffekten – ist dabei ein wichtiger Teil. Die Methode wird auch »no-touch torture« genannt. Sie hinterlässt keine sichtbaren Spuren. Auf den ersten Blick erschließt sich nicht, warum eigentlich mit Musik gefoltert wurde und nicht mit reinem Krach. Tatsächlich treffen sich in der Musikfolter aber Kultur und Krieg: Oft folgte die Musikfolter einer Strategie der kulturellen Demütigung. Für streng gläubige Muslime kann es Sünde sein, bestimmte Musik, wie zum Beispiel Heavy Metal, zu hören. Außerdem kriecht die Musik in anderer Weise in das Bewusstsein des Gefolterten. Manche Gefangenen berichten, die Musik hätte sich als Ohrwurm bei ihnen festgesetzt. Die Regierung Obama nahm als eine ihrer ersten Amtshandlungen dieses Dekret zurück. Ob man sich aber wirklich überall daran hält, ist unklar. Auf der Air Base von Bagram, einem Teil des Kabuler Flughafens, den die Amerikaner kontrollieren, befindet sich immer noch ein Militärgefängnis, in dem Gefangene interniert sind. Ab und zu darf das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ihn betreten. Aber wie die CIA heute an ihre Informationen kommt, wissen nur die Beteiligten. »Es fühlt sich an, als hätte man sehr starke Migräne, und dann kommt jemand und schreit dich an – multipliziert mal tausend«, sagt Ruhal Ahmed. »Du kannst dich nicht konzentrieren, auf nichts. Vorher, wenn ich verprügelt wurde, konnte ich mich oft vom Schmerz wegfantasieren und an andere Dinge denken. Aber mit der Musik verliert man jede Richtung. Die Musik übernimmt dein Gehirn. Du verlierst die Kontrolle und fängst an, zu halluzinieren. Du wirst an eine Grenze gestoßen und merkst, dass dahinter der Wahnsinn lauert. Eine Grenze, hinter der es, wenn man sie einmal überschritten hat, kein Zurück mehr gibt. Diese Grenze habe ich mehrfach gespürt.« Für den Gefolterten ist es ziemlich gleichgültig, welche Musik gespielt wird, das sagen übereinstimmend fast alle, die dieser Qual ausgesetzt worden sind. Entscheidend ist, dass man den Anfang und das Ende der Qual nicht bestimmen kann. Die potentielle Unendlichkeit ist das, was die Folter ausmacht. Man verliert die Herrschaft über die Zeit, damit verliert man die Herrschaft über sein Leben. Aus den Aussagen der Gefangenen lässt sich die Folter-Playlist rekonstruieren. Sie umfasst Stücke von AC/DC, Aerosmith, The Bee Gees, Britney Spears, Bruce Springsteen, Christina Aguilera, David Gray, Deicide, Don McLean, Dope, Dr. Dre, Drowning Pool, Eminem, Hed P. E., James Taylor, Limp Bizkit, Marilyn Manson, Matchbox Twenty, Meat Loaf, Metallica, Neil Diamond, Nine

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Inch Nails, Pink, Prince, Queen, Rage Against the Machine, Red Hot Chili Peppers, Redman, Saliva, die »Sesamstraße«-Musik, Stanley Brothers, die amerikanische Nationalhymne, Tupac Shakur und den »Meow Mix«-Jingle (eine Katzenfutterwerbung). US-Bürgerrechtsorganisationen haben diese Liste zusammengetragen. Ihnen geht es dabei nicht in erster Linie um den Schutz künstlerischer Werke. Sie haben vor allem die am »Krieg gegen den Terror« beteiligten Regierungsbehörden auf Herausgabe der Akten verklagt, in denen die Namen dieser Bands vorkommen. Der »Freedom of Information Act« sieht diese Möglichkeit vor. Es ist ein Spielstein in ihrem Kampf gegen ebenjenen Krieg – denn, je mehr Akten offengelegt werden, desto mehr Einsicht hat man in die Mechanismen des Krieges, desto leichter kann man Verantwortliche dingfest machen. Es ist ein zähes Hin und Her, meistens dauert die Öffnung der Akten Monate, manchmal Jahre. Druck durch die Öffentlichkeit, Unterstützung durch Künstler hilft da natürlich. Aber es geht eigentlich nicht um die Musik selbst. Es geht um Aufklärung. Einige Musiker sind stolz darauf, dass ihre Musik zur Folter eingesetzt wird, wie der Sänger von Drowning Pool, der sagte: »Ein paar Stunden laute Musik hören? Ich kann daran nichts

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musik und menschenrechte

Schlimmes finden, in den USA bezahlen Kids dafür.« Auch die US-amerikanische Metal-Band Metallica gehört dazu. In Interviews freute sich ihr Sänger James Hetfield darüber, dass seine Musik eingesetzt wird, um Gefangene zu quälen. Hetfield sieht sich als jemand, der den US-Truppen dabei hilft, den Feind zu besiegen. »Wir haben unsere Eltern, unsere Ehefrauen, die Menschen, die wir lieben, schon immer mit dieser Musik bestraft. Warum sollte es den Irakern anders gehen?«, sagte er. »Ein Teil von mir ist sogar stolz. Hey, sie haben Metallica ausgewählt!« Andere wehren sich dagegen. »Dass unsere Musik auf diese barbarische Weise missbraucht worden ist, finde ich ekelhaft«, sagte Tom Morello, Gitarrist der linken Band Rage Against The Machine dem amerikanischen Musikmagazin Spin. »Wenn man weiß, wofür wir ideologisch stehen, ist das schwer zu ertragen.« Morello ist mit seiner Band in den orange-farbenen Overalls aufgetreten, die die Gefangenen in Guantánamo tragen. Oder Massive Attack, die Ruhal Ahmed in einem ihrer letzten Videos Raum gaben, um davon zu erzählen, wie es ist, mit Musik gefoltert zu werden. Der Autor ist Kulturredakteur beim »Spiegel«.

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Berichte

40 Papua-Neuguinea: Morden im Namen der schwarzen Magie 48 Israel/Ägypten: Schießbefehl an der Grenze 54 Deutschland: Ausbildung bei der Polizei 58 Wasser: Als Menschenrecht anerkannt

Schattenseite des Paradieses. Monica Paulus besucht die Familie Kiupa, die von ihren Nachbarn beinahe getötet wurde. Foto: Carsten Stormer

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Meistens trifft es alleinstehende Frauen. Beerdigung von Waja Loko.

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Hexenjagd In Papua-Neuguinea ist der Glaube an schwarze Magie und Hexen weit verbreitet. Hunderte Menschen fallen ihm jedes Jahr zum Opfer. Von Carsten Stormer (Text und Fotos) Bevor wir die Tote sehen, riechen wir sie: Seit drei Tagen verwest der Leichnam in dem feucht-heißen Klima des Hochlands. Waja Lokos geschundener Körper liegt auf einer stockfleckigen Matratze in einer Hütte, ihre Beine sind von Striemen bedeckt, der Bauch aufgebläht. Ihre Schwester weint, während einer ihrer Söhne vergeblich versucht, mit einem Erfrischungsspray den Geruch des Todes zu verdrängen. Waja Loko war 55 Jahre alt. Sie wurde ermordet, weil man sie für eine Hexe hielt. Angeblich tötete sie einen jungen Mann aus der Nachbarschaft mit dem bösen Blick. Monica Paulus ist sofort nach Goroka geeilt, als sie von dem Mord erfuhr. Eine befreundete Nonne hatte sie angerufen. Die tote Hexe liege im Dorf Asaroufa, irgendwo dort unten im Tal, erzählte man ihr. Wir hasten durch die Straßen von Goroka, einer kleinen Stadt im Hochland Papua-Neuguineas, nur eine Flugstunde, aber ein gefühltes Jahrhundert von der Hauptstadt Port Moresby entfernt. Es ist acht Uhr morgens. Wir laufen am Markt vorbei, auf dem es Betelnüsse und Gemüse zu kaufen gibt. Betrunkene Männer wanken uns entgegen und lallen »fuck you!«. Uve Loko ermahnt uns, schneller zu gehen. »Die Mörder beobachten uns. Es ist nicht sicher hier!«, flüstert er, dabei wandert sein Blick unruhig über die Straße. Papua-Neuguinea ist eigentlich ein Paradies: Östlich von Indonesien und nördlich von Australien gelegen, 6,3 Millionen Einwohner, achthundert Ethnien, rauchende Vulkane, reißende Flüsse, endloser Dschungel, hohe Berge. Die Menschen sind warmherzig und freundlich, die Uhren laufen langsamer. Doch ist das Land, das erst in den beiden vergangenen Jahrhunderten von der Steinzeit in die Moderne katapultiert wurde, auch Schauplatz des archaischen und blutrünstigen Aberglaubens: Sanguma. So nennt man hier den Glauben an schwarze Magie, böse Geister und Hexen. Hunderte Menschen fallen ihm jährlich zum Opfer, meistens Frauen, aber auch Kinder und manchmal Männer, die man der Hexerei beschuldigt. Sanguma ist die Schattenseite des Paradieses.

berichte

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PaPua-neuGuinea

Uve Loko ist der Neffe der Toten. Der 28-Jährige ist ein kräftiger Mann mit schmutzverkrusteten Händen und fauligen Zähnen. Er trägt eine Häkelmütze in den Nationalfarben Neuguineas: schwarz, rot und gelb. Wir biegen an einem Friedhof links ab, klettern über einen Zaun, laufen durch Bananenplantagen, über Kassavafelder, kämpfen uns durchs Gestrüpp und blicken uns immer wieder um, ob uns jemand folgt. Durch das Dickicht dringt das Wehklagen einer Trauerfeier. Am Ende des Pfads stehen zwei Hütten im Schatten eines Baums. Monica Paulus presst ein Taschentuch vor ihr Gesicht, um das Atmen erträglicher zu machen. Sie ist eine rundliche Frau mit kurz geschorenem Haar und traurigen Augen. Die 42-Jährige kennt den Anblick toter Frauen. Seit vier Jahren kämpft sie gegen den Irrglauben, zieht durch die Dörfer des Hochlands, spricht mit Überlebenden oder Familien von Opfern, schreibt ihre Geschichten auf, vermittelt Anwälte, versteckt vermeintliche Hexen bei sich zu Hause oder bei Freunden, hilft ihnen bei der Polizei gegen die Täter auszusagen oder bringt sie ins nächste Krankenhaus – meistens bezahlt sie all dies aus eigener Tasche. Manchmal arbeitet sie für die Vereinten Nationen als Übersetzerin, ansonsten verkauft sie Gemüse, das sie zu Hause anbaut. Sie hat nur wenige Verbündete: Mitarbeiter von Hilfsorganisationen oder der UNO, Menschenrechtler, Ärzte. Der Leiter der Mordkommission in ihrem Heimatort Kundiawa steht auf ihrer Seite, und ein Arzt, der Sanguma-Opfer im Krankenhaus von Kundiawa kostenlos behandelt. Wie viele Menschen dem Aberglauben jedes Jahr zum Opfer fallen, kann niemand genau sagen. Sie werden willkürlich stigmatisiert, gefoltert und getötet, weil sie angeblich mit schwarzer Magie oder bösem Blick den Tod eines Menschen verursacht oder eine Krankheit ins Dorf gehext haben, wie zum Beispiel Aids, Tuberkulose oder Blutvergiftung. Seitdem sich das Aidsvirus in der Bevölkerung verbreitet, steigt auch die Zahl der Sanguma-Toten. Angebliche Hexen werden auch für schlechte Ernten, Unfälle, Ehebruch und Diebstahl verantwortlich gemacht – alles wird auf Sanguma geschoben. Tritt ein Unglück ein, setzen sich die Clans und Familien zusammen und bestimmen, wer dafür büßen muss. Meistens sind es alleinstehende Frauen,

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Willkürlich stigmatisiert. Lekaphi Loko trauert um ihre Schwester.

Witwen, Kranke, Eigenbrötler, Menschen, die sich von der Gemeinschaft abwenden, Geisteskranke. Inzwischen hat auch die Regierung das Problem erkannt und ein Gesetz gegen Hexenverfolgung erlassen. Lokale Zeitungen berichten wöchentlich über Sanguma-Morde, doch Statistiken gibt es nicht. Auch wer überlebt oder fliehen kann, ist gebrandmarkt. Der Makel überträgt sich selbst auf die Kinder wie ein geerbter Fluch, und das Urteil macht vogelfrei: Wer der Hexerei verdächtigt wird, muss jederzeit mit dem Tod rechnen. Sangumas willige Vollstrecker sind fast immer junge Männer, aufgepeitscht von Drogen und Alkohol, arbeitslos und ungebildet.

Der Fall von Waja Loko So war es auch im Fall von Waja Loko, der angeblichen Hexe von Asaroufa. Mehrere Männer kamen in das Dorf, um den Tod des Nachbarn zu sühnen, der zwei Wochen zuvor an einer sonderbaren Krankheit gestorben war. Niemand wusste, woran er gestorben war, doch eins war gewiss: Es musste Hexerei im Spiel sein.

»Sanguma!«, lallten sich die Mörder zu und suchten eine Erklärung in schwarzer Magie. Jemand sollte büßen. 42

»Ich wollte nicht, dass sie stirbt.« Uve Loko am Grab

»Sanguma!«, lallten sich die Mörder zu und suchten eine Erklärung in schwarzer Magie. Diese Nacht, hatten die Männer beschlossen, war Zahltag im Dorf Asaroufa. Jemand sollte büßen. Sie tranken sich flaschenweise Mut an, rauchten Marihuana und tanzten sich in Stimmung. Sie wankten den Pfad hinunter, wo die drei Frauen, die sie verurteilt hatten, in ihren Hütten schliefen. Mit jedem Schritt schaukelten sich die Männer mehr in Rage. Dann zerrten sie die Frauen aus ihren Hütten und banden sie an einen Baum, zwanzig, vielleicht dreißig Männer, die nach Schweiß, Betel und Fusel stanken. »Hexen, ihr seid Hexen«, schrien sie die Frauen an, spuckten ihnen ins Gesicht und verlangten mit Messern und Knüppeln ein Geständnis. Währenddessen kauerte Lekaphi Loko in ihrer Hütte, hielt sich die Ohren zu und beobachtete durch ein Loch in der Wand, wie man ihre Schwester langsam tötete: Sie schlugen mit Stöcken zu, brachen Rippen, warfen Steine und rammten glühende Drähte unter die Haut der Gefesselten; sechs Stunden lang. Als die Frauen endlich gestanden, holte jemand die Axt aus dem Gebüsch. Waja Loko war sofort tot, die beiden anderen Frauen entkamen, erzählt Lekaphi Loko. Die 65-Jährige ist klein und schmal. Das Leben hat tiefe Furchen in ihr Gesicht gegraben. Sie kauert neben der Ermordeten, streichelt ihr die Wangen und massiert ihre Kopfhaut, so als könne sie ihre Schwester damit wieder zum Leben erwecken Eine der überlebenden Frauen soll sich in dem Dörfchen Kama verstecken, nicht weit von hier. Wo sich die dritte Frau aufhält, weiß niemand. Vielleicht ist sie tot, verblutet im Busch, vielleicht versteckt sie sich auch irgendwo. Monica Paulus bittet einen Verwandten von Waja Loko, sie nach Kama zu führen.

Rose Bob muss sich verstecken Rose Bob liegt auf einer Matratze und starrt ins Leere. Ihr Mund wirkt wie ein Riss im Gesicht, die Arme hat sie um ihren Körper geschlungen; als hätte jemand sie in eine Zwangsjacke gesteckt. Ihr Rücken ist mit blauen Flecken und blutigen Strie-

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seiner Tante.

Niemand fühlt sich verantwortlich. Monica Paulus hat nur wenige Verbündete.

men übersät. Als sie von den Ereignissen vor drei Tagen erzählt, wird ihre Stimme dünner und dünner, bis sie kaum noch zu hören ist. Rose Bob ist 28 Jahre alt und das Leben, das sie bis jetzt kannte, existiert nicht mehr. Wer sie beschuldigt hat, schwarze Magie auszuüben, weiß sie nicht, auch den Grund dafür kennt sie nicht. Ihr neues Leben wird darin bestehen, sich zu verstecken. »Sie werden mich finden und umbringen«, sagt sie, ihre Stimme überschlägt sich, Tränen laufen die Wangen herunter. Als man Rose Bob die Fesseln durchtrennte, um sie zu ermorden, rannte sie weg. Sie blickte sich nicht um, lief, bis sie nicht mehr konnte und versteckte sich im Gebüsch. Zum Glück folgte ihr niemand. Jetzt verkriecht sie sich hier im Dörfchen Kama, eine Ansammlung aus windschiefen Hütten, die sich hinter einem Berghang verschanzen – zwei Stunden Fußmarsch von ihren Verfolgern entfernt. Jeder Schritt ist eine Qual, jede Bewegung mit Schmerzen verbunden. Sie bewegt sich mechanisch. Zur Polizei will sie nicht, denn die würde sie nur in ihrem Dorf abliefern. »Die Polizisten glauben doch auch alle an Sanguma und, dass ich meine gerechte Strafe erhalten soll. Ich habe niemanden getötet, ich bin keine Hexe! Ich bin keine Hexe!« Rose Bob wiederholt dies wie ein Mantra und zeigt dann eine Röntgenaufnahme, die man im Krankenhaus von Goroka gemacht hat – zwei gebrochene Rippen. Sie hat Schnittwunden an beiden Oberarmen – von den Buschmessern. Jetzt ist sie auf Almosen ihrer Familie angewiesen und hofft, dass die Verwandten ihr Versteck nicht verraten. Manchmal sitzt sie nur da, den Mund wie zum Schrei aufgerissen. Rose Bob lebt – aber man hat ihr das Leben gestohlen, denn ab jetzt führt sie ein Dasein in ständiger Todesangst. Monica Paulus sitzt neben Rose Bob, streichelt ihre Hände und hört sich ihre Geschichte an, nur manchmal fragt sie sanft. Diese Hütte, die sich an den Abhang quetscht, ist ein gutes Versteck, findet Monica Paulus, abgeschirmt durch Pinien, Eukalyptusbäume und Büsche, weit weg von ihrem Heimatdorf. Monica

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PaPua-neuGuinea

PaPua-neuGuinea

Highlands Goroka

Das Land, das im 19. Jahrhundert eine niederländische Kolonie war, hat heute die höchste Aids-Rate im gesamten pazifischen Raum. Die Regierung spricht von zwei Prozent Infizierten, doch diese Zahl ist mit Sicherheit stark untertrieben. Hilfsorganisationen zufolge ist jede dritte junge Frau HIV-positiv. Bis 2025, so schätzen Experten, könnte es eine halbe Million Infizierte geben. Die Bergbewohner können der Krankheit nichts entgegensetzen. Zur Schulmedizin haben die 5,5 Millionen Menschen kaum Zugang. Von der Hauptstadt Port Moresby führen bis heute keine Straßen ins Landesinnere. Das Gesundheitswesen ist völlig unzureichend, die Menschen sind auf sich allein gestellt. Viele flüchten sich daher in alte Traditionen. Amnesty International hat die Behörden des Landes wegen der ungestraften Morde mehrfach kritisiert. Die Menschen trauen oft den Behörden nicht und suchen stattdessen übernatürliche Gründe für die Ereignisse, heißt es dazu in einem Amnesty-Bericht. Die Organisation hat die Regierung mehrfach dazu aufgefordert, effektive Maßnahmen zu ergreifen, um die Gewalt zu unterbinden.

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Paulus schlingt den Arm um Rose Bob, flüstert ihr Mut zu, wischt eine Träne aus dem Gesicht der jungen Frau und drückt ihr, als niemand hinsieht, zwanzig Kina in die Hand, umgerechnet knapp sechs Euro, mehr hat sie nicht bei sich.

Monica Paulus kämpft gegen die Unwissenheit

Einfache Lösung, um Feinde oder Konkurrenten loszuwerden. Rosa Bob Loko konnte vor ihren Verfolgern flüchten.

»Wir müssen für unser Recht kämpfen. Wenn wir uns verstecken, wird niemand von unserem Schicksal erfahren. Wir müssen uns wehren, sonst bringen sie uns um.« 44

Monica Paulus ist eine Einzelkämpferin. Vor vier Jahren ist sie selbst nur knapp dem Tod entronnen, weil ihr Stiefbruder sie der schwarzen Magie beschuldigte, nachdem der Vater an einem Schlaganfall gestorben war. »Er wollte das Erbe für sich haben«, sagt Monica Paulus, ihr Mund lächelt dabei, ihre Augen nicht. Die Gründe sind meistens so banal wie tödlich: Eifersucht, Habgier, Erbschaftsstreitereien, Besitzansprüche. Sanguma ist die einfache Lösung, um Familienangehörige, Feinde, Nebenbuhler oder Konkurrenten loszuwerden. Seit vier Jahren hat Monica Paulus ihre Familie nicht mehr besucht – zu gefährlich. Ihre drei Kinder trifft sie zuweilen heimlich. Der Ehemann, ein Polizist, hat sich von ihr getrennt. Monica Paulus ist allein und alles, was sie aufrecht hält, ist der Kampf gegen den Aberglauben und für dessen Opfer. Sie hat immer noch Angst. Selbst nach vier Jahren bekommt sie Panik, wenn jemand unangemeldet an ihre Tür klopft: Jetzt holen sie mich und bringen mich um, denkt sie dann. Stirbt jemand unerwartet in ihrer Umgebung, befürchtet sie, dass man ihr die Schuld gibt. Wut? »Nein, was geschehen ist, ist geschehen.« Ihr Schicksal habe ihrem Leben eine Richtung gegeben, ein Ziel. Daraus schöpfe sie Kraft. »Niemand hilft uns, aber wir müssen für unser Recht kämpfen. Wenn wir uns verstecken, wird niemand von unserem Schicksal erfahren. Wir müssen uns wehren, sonst bringen sie uns um.« Es ist ein Kampf gegen Gleichgültigkeit und Unwissenheit. Niemand fühlt sich verantwortlich, weil die meisten glauben, dass die Opfer ihre gerechte Strafe bekommen. In der Polizeistation von Goraka sitzt Sergeant Fogi Kotfege an seinem Schreibtisch, vor ihm ein Stapel Akten mit unerledigten Fällen und ein defekter Computer. Der Strom ist gerade mal wieder ausgefallen, Schimmel frisst sich durch den Putz. Monica Paulus erzählt dem Polizisten von der toten Hexe. Ja, sagt er, er habe von dem Mord an Waja Loko gehört, sehr tragisch. Aber bisher sei er leider noch nicht dazugekommen, den Fall zu untersuchen. Er bittet um Nachsicht, denn die wenigen fahrtüchtigen Fahrzeuge seien gerade alle im Einsatz, und der Rest habe kein Benzin. Außerdem habe er nicht genügend Personal, um den Fall zu bearbeiten – und Zeugen gebe es bestimmt auch nicht. Er zuckt mit den Schultern. Mehr Sorgen macht Sergeant Fogi Kotfege, dass die Clans und Familien nun aufeinander losgehen könnten, um abzurechnen. Ansonsten ist der Fall erledigt. Er reicht Monica Paulus die Hand und bittet sie zu gehen. Alltag im Hochland von Neuguinea: Die Opfer werden alleingelassen, die Täter kommen meistens ohne Strafe davon. In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Fälle von Hexenverfolgung: In Mount Hagen, Immeguna, Sirau, Emai, überall. Drei Stunden Busreise und unzählige Schlaglöcher von Goroka entfernt liegt das Städtchen Kundiawa. Monica Paulus möchte dort ihre Freundin Maxi Annah Gelupa besuchen. Die 27-jährige Krankenschwester fürchtet um ihr Leben, seitdem ihre Schwiegereltern sie beschuldigen, das Essen ihres Schwagers mit Aids vergiftet zu haben. Anfang des Jahres brachte man ihn in das Krankenhaus, in dem Maxi arbeitet. Sechs Wochen später war er tot, an Aids gestorben. Seitdem versteckt sich Maxi Annah Gelupa bei einer Freundin.

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Billy Kiupa kennt die Täter Der rostige Laster ohne Türen und Windschutzscheibe rumpelt den Berg hinauf, immer höher und höher. Von hier aus hat man einen atemberaubenden Blick auf das Bergpanorama der Eastern Highlands, im Dunst liegt das Massiv des Mount Wilhelm, des höchsten Berges in Neuguinea, weit unten im Tal glitzert der Fluss Wahgi in der Nachmittagssonne. Monica Paulus wird auf der Ladefläche des Lasters durchgerüttelt, für die Schönheit der Natur hat sie keinen Blick. Ihr Ziel ist das Bergdorf Giu. Dort hat sie eine Verabredung mit der Familie Kiupa, die als Hexer gelten. Der 63-jährige Billy Kiupa und seine Zweitfrau Doris sitzen auf der Terrasse ihres Hauses und trinken selbstangebauten Kaffee. Mühsam erhebt sich Doris aus ihrem Stuhl und humpelt auf einer Krücke in die Wohnstube, um ein paar Avocados zu holen. Dass die 52-Jährige humpelt, ist ein Andenken an die Nacht, die sie beide nur durch Zufall überlebten. Damals umzingelten etwa hundert Männer das Wohnhaus, in dem Billy mit seiner Ehefrau Rose und seiner Zweitfrau Doris schlief. Der Mob wollte die Familie lynchen. Sie drangen in das Haus ein, warfen Doris vom Balkon und brachen ihr Becken und die Hüfte. Mit Macheten schlugen sie auf Billy und Rose ein und bewarfen sie stundenlang mit Steinen. Der Anführer der Bande sagte, die Kiupas seien Hexer und schuld am Tod des Dorfbürgermeisters. Als der Morgen graute, ließen sie von Billy und

Doris ab. Rose banden sie an die Stoßstange eines Autos und schleiften sie die Straße hinunter zum Fluss. Dort warfen sie ihren Leichnam ins Wasser. Schweigen. Monica Paulus nippt an ihrem Kaffee, die Avocados liegen unberührt vor ihr auf dem Teller. Sie ist mit den Kiupas befreundet, seit sie diese kurz nach dem Angriff im Krankenhaus traf. Doris Kiupa wischt sich mit der Hand über ihr Gesicht, Tränen laufen ihr über die Wangen. Der Überfall geschah vor einem Jahr, noch immer leiden die Kiupas an den Folgen. Doris hat jede Nacht Albträume und kann nur unter Schmerzen gehen, die gebrochene Hüfte ist nur schlecht verheilt. Billy zeigt die Narben an seinem Schädel und an den Unterarmen. Im Krankenhaus von Kundiawa wurden sie zwar kostenlos behandelt, wie alle Sanguma-Opfer, aber gegen die psychischen Schäden kann man dort nicht viel tun. Billy Kiupa kennt die Täter alle persönlich, aber bislang wurde niemand verurteilt.

Uve Loko fühlt sich schuldig Während sich Billy und Doris Kiupa in den Trümmern ihres Lebens einrichten, die Krankenschwester Maxi Annah Gelupa sich vor ihren Schwiegereltern versteckt, trauern in Asaroufa Angehörige und Clanmitglieder um Waja Loko. Frauen liegen sich in den Armen und weinen. Verwandte kommen aus Nachbardörfern und sprechen ihr Beileid aus. Die Männer, die den

Die Polizei hat kein Personal und Zeugen gibt es auch nicht. Billy und Doris Kiupa überlebten schwerverletzt.

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Leichnam in den Sarg legen, tragen Atemschutzmasken. Der Verwesungsgeruch mischt sich mit dem Erfrischungsspray. Bunte Falter hüpfen von Busch zu Busch und ein paar Kinder führen ein Ferkel an einer Leine spazieren. Wenige Meter abseits sitzt Uve Loko, der Neffe der Toten, unter einer Pinie und flüstert Monica Paulus etwas ins Ohr. Die Familie der Toten bittet sie, an der Beerdigung teilzunehmen. Er zittert und weint. Monica Paulus streicht ihm übers Haar, nickt ab und zu mit dem Kopf, hört zu und sagt kein Wort. »Ich wollte nicht, dass sie stirbt«, jammert Uve Loko und verbirgt sein Gesicht in den Händen. »Wir wollten ihr doch nur eine Lektion erteilen, damit sie mit Sanguma aufhört.« Ein paar Schritte von ihm entfernt heben zwei junge Männer das Grab aus. »Die beiden waren dabei, als meine Tante ermordet wurde«, sagt Uve Loko in Pidgin und zeigt auf die Männer. »Der da hinten auch, der auch, und der auch«, er zeigt auf Männer, die am Sarg und zwischen den Trauernden stehen; es sind Familienangehörige, Freunde, Nachbarn. Sie rauchen selbstgedrehte Zigaretten aus Zeitungspapier und lachen. »Woher weißt Du das, Uve«, fragt Monica Paulus. Und dann erzählt Uve sein Geheimnis, das an ihm nagt: Er war derjenige, der seine Tante der Hexerei beschuldigte und dem Mob die Erlaubnis gab, sie in der Mordnacht zu verhören. »Ich war mir sicher, dass sie eine Hexe ist! Sie hatte keine Kinder, ihr Mann starb an einer Krankheit, die niemand kannte, ihr Bruder auch. Wer sollte sonst dafür verantwortlich sein?« Uve Loko hat die Männer in der Mordnacht zu seiner Tante geführt und schlief anschließend zu Hause seinen Rausch aus. Er bittet Monica Paulus, es nicht seiner Mutter zu verraten. Sie verspricht es, unter einer Bedingung: Dass er andere Frauen, die man als Hexe verdächtigt, beschützt. Nur so könne er seine Schuld wieder gut machen.

Die Mörder kommen meistens ohne Strafe davon. Tatverdächtige in Untersuchungshaft.

Uve Loko nickt heftig und umarmt Monica Paulus. Dann springt er auf, schnappt sich eine Schaufel und stellt sich zu den Jugendlichen, die seine Tante ermordet haben, um mit ihnen gemeinsam das Grab auszuheben. Als sie den Sarg in die Erde lassen, blickt Uve Loko so lange in die Grube, bis sie zugeschüttet ist. Dann legt er eine Plastikblume auf den Grabhügel. Neben ihm steht seine Mutter und beweint ihre Schwester. Zwei Tage nach der Beerdigung wird eine weitere Frau in der Gegend wegen Sanguma ermordet. Der Autor ist freier Journalist und lebt in Manila.

»Ich war mir sicher, dass sie eine Hexe ist.« Uve Loko nach der Beerdigung.

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Getty Images

MARCELO FR EIXO, BRASIL IEN Setzt sich fßr die Bek ämpfung gefährliche rM erhielt desw ilizen ein und egen Mordd rohungen.

Dave M. Benet t/

WEI JINGSHENG, CHINA SaĂ&#x; wegen seines Engagements in der Demokratiebewegung 18 Jahre in Haft.

, MADELEINE AFITÉ KAMERUN en Deckt seit Jahr sMenschenrecht verletzungen in f. ihrem Land au ng Ist der Regieru ge ein Dorn im Au t. und wird bedroh

PABLO A. JAIMES, KOL UMBIEN Wurde beinahe Op fer eines Mordanschlags, weil er sich fĂźr die Verwirklichung de r Menschenrechte in Kolumbien ein setzt.

SCH AN, BANGLADE MONIRA RAHM er pf O e di Unterstßtzt nschlägen, von Säurea gegen den nicht selten von d an st er id W d Politikern un BehÜrden.

EREN KESKIN, TĂœRKEI Setzt sich fĂźr sexuell misshandelte Frauen ein. Erhielt Morddrohungen und ein einjähriges Berufsverbot als Anwältin.

IRĂˆNE FERNANDEZ, MALAYSIA Kämpft fĂźr das Recht auf freie Meinungsä uĂ&#x;erung und kam dafĂźr ins Ge fängnis.

Amnesty International hat diesen Menschenrechtsverteidigern geholfen – Ć‚ PCP\KGNN NQIKUVKUEJ WPF FWTEJ 'KNCMVKQPGP ,GFGP 6CI DG\CJNGP CPFGTG *GNFGP YGNVYGKV KJTGP 'KPUCV\ HĂ˜T FKG /GPUEJGPTGEJVG OKV 7PVGTFTĂ˜EMWPI (QNVGT QFGT )GHĂ€PIPKU

www.amnesty.de/spenden Spendenkonto 80 90 100 Bank fĂźr Sozialwirtschaft BLZ 370 205 00


Tödliche Grenze An der ägyptisch-israelischen Grenze kommen zahlreiche afrikanische Flüchtlinge ums Leben. Die Wachen haben Schießbefehl – und kennen offenbar keine Gnade. Von Robin Hammond

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Erst schießen, dann fragen Ägyptische Grenzposten schießen an der Grenze zu Israel auf afrikanische Flüchtlinge, die versuchen, nach Israel zu gelangen. Oft wurden die Männer, Frauen und Kinder, die aus afrikanischen Krisengebieten wie dem Südsudan stammen, nach einer beschwerlichen Odyssee von Schleppern einfach an der Grenze abgesetzt. Die ägyptischen Posten haben Schießbefehl – sie kennen keine Gnade und feuern offenbar auf die Flüchtlinge ohne Vorwarnung. Amnesty International hat im vergangenen Jahr insgesamt 19 Todesschüsse auf Flüchtlinge an der ägyptischisraelischen Grenze registriert. Seit 2007 sind nach Angaben von Human Rights Watch 85 Fälle bekannt, die tatsächliche Zahl der Getöteten dürfte aber weitaus höher liegen. Keines der Opfer war bewaffnet. Die ägyptischen Behörden streiten die Schüsse auf afrikanische Flüchtlinge, die die Grenze überqueren wollen, nicht ab. Sie verweisen darauf, dass man die Flüchtlinge als Schmuggler betrachte und die Sicherheitskräfte deshalb ohne Vorwarnung schießen dürften. Bereits im Früjahr hatte Navi Pillay, UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, die ägyptische Regierung dringend dazu aufgefordert, das Vorgehen ihrer Sicherheitskräfte zu untersuchen. »Ich kenne kein anderes Land«, erklärte Pillay, »in dem so viele unbewaffnete Flüchtlinge und Asylsuchende anscheinend absichtlich von Regierungskräften getötet werden.« »Die ägyptischen Grenzposten scheinen in vielen Fällen erst zu schießen und dann zu fragen«, sagte auch die Direktorin der britischen Amnesty-Sektion, Kate Allen, Ende Oktober. Der Menschenrechtsskandal wird noch dadurch verschlimmert, dass es nach Kenntnissen von Amnesty bislang keine einzige offizielle Untersuchung der tödlichen Zwischenfälle an der Grenze gegeben hat. In Israel angekommen, ist der Leidensweg der afrikanischen Flüchtlinge jedoch keineswegs vorbei. Schätzungsweise 17.500 Flüchtlinge kamen in den vergangenen drei Jahren über Ägypten nach Israel. Viele von ihnen landeten in israelischen Gefängnissen. Nach Angaben von Sigal Rozen von der NGO »Hotline for Migrant Workers« in Tel Aviv schieben die israelischen Behörden viele Asylsuchende innerhalb von 24 Stunden wieder nach Ägypten ab. Diese so genannten »Blitzabschiebungen« verstoßen gegen internationales Recht. Auf die steigende Zahl illegaler Grenzübertritte will die israelische Regierung nun mit dem Bau von neuen Überwachungsanlagen reagieren. Es sei »eine strategische Entscheidung, um den jüdischen und demokratischen Charakter Israels zu bewahren«, erklärte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu dazu kürzlich. Die israelischen Behörden wollen auf rund der Hälfte der insgesamt 250 Kilometer langen Grenze zu Ägypten Zäune mit Radargeräten installieren. Noch 2010 soll damit begonnen werden. Damit können frühzeitig Flüchtlinge geortet werden, die sich der Barriere nähern. Text: Anton Landgraf

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Ismail * ist aus Darfur geflohen, er hat dort zahlreiche Familienmitglieder im Bürgerkrieg verloren. Vor 18 Monaten um 12.30 Uhr mittags versuchten Ismail und fünf andere, die Grenze im Sinai zu überqueren. Ohne Warnung eröffneten die ägyptischen Grenzer das Feuer. Einem der sechs wurde beim Sprung über den ersten Zaun in den Kopf geschossen; Ismail schaffte es zwei Meter weiter, bis er getroffen wurde – in den Bauch und ins Bein. Er stolperte, wurde ohnmächtig. Zehn Minuten später erwachte er. Er bastelte sich aus seinem Hemd einen Verband, um die Blutungen zu stoppen. Er zwang sich aufzustehen und weiterzulaufen, Richtung Israel. Zwei Stunden lang quälte er sich vorwärts, nur darauf konzentriert, einen Schritt vor den nächsten zu setzen. Endlich fanden ihn israelische Soldaten, die ihn in ein Krankenhaus brachten. Ismail war zu dieser Zeit 16 Jahre alt.

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Jacob * hat seine Frau in Ägypten kennengelernt, auch sie war aus dem Südsudan geflohen. Zwölf Jahre lang bemühte er sich um einen Flüchtlingsstatus und zahlte schließlich 1.200 Dollar an beduinische Schmuggler, um nach Israel zu gelangen. Jacob erzählt: »Es war zehn Uhr abends. Der Beduine sagte, wir sollten nicht anhalten, wenn jemand schießt. Ihr müsst rennen, schnell rennen – nicht stehenbleiben! Ich hatte keine Angst, denn das war nichts Neues für uns.« Jacob rannte mit dem jüngsten Kind auf dem Arm, sein Freund Eunice trug das zweite. Das dritte Kind rannte an der Hand seiner Frau. Die ägyptischen Wachen eröffneten das Feuer. Am ersten Zaun fiel Eunice mit dem Kind zu Boden, weil er ins Bein getroffen wurde. Die anderen rannten weiter, bis auf israelisches Gebiet. »Mein Sohn rief Mama, Mama, sie hörte ihn und ging zurück, um ihn zu holen.« Dabei wurden sie gefasst. »Ich weinte, aber was sollte ich tun? Sie sagte zu mir, geh weiter mit der Tochter.« Jacob lebt heute in Arad. Freunde in Ägypten sammelten Geld, um seine Frau und die beiden Kinder zurück in den Sudan zu bringen. »Ich weiß nicht, ob das nur für Schwarze gilt: Wir suchen Frieden, aber finden ihn nicht. Ich vermisse meine Familie. Aber ich weiß nicht, ob ich sie wiedersehen werde.«

Wie viele andere Sudanesen ist Ezekiel * auf der Flucht vor einem Konflikt, der kein Ende nimmt. Als ihn die Truppen des sudanesischen Präsidenten Bashir holen wollten, damit er gegen seine eigenen Leute kämpft, entschied Ezekiel, dass er gehen muss. »Ich will meinen Bruder nicht töten – schwarz zu schwarz«, sagt er. Fünf Jahre blieb er in Ägypten. Die Brutalität der ägyptischen Polizei trieb ihn nach Israel. Er ließ seine Frau und sein Baby zurück, weil er dachte, er könne sie später zu sich holen. Das hat er versucht. Sie wurde mit der zweijährigen Tochter an der Grenze festgenommen und 15 Monate im Gefängnis inhaftiert.

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Charles * verliebte sich in ein Mädchen von einer verfeindeten ethnischen Gruppe. In Côte d’Ivoire konnten sie nicht zusammensein, also gingen sie fort. Nach einer Reise durch den ganzen Kontinent standen sie eines Nachts mit anderen Flüchtlingen vor der ägyptisch-israelischen Grenze. Charles und seine Frau sollten sich als erste an den Wachen vorbeischleichen. Als sie kurz vor dem zweiten Zaun waren, hörten sie Lärm hinter sich: Die Ägypter hatten an den Zäunen Blechdosen angebracht. Es waren die anderen der Gruppe, die folgten. Dem Geklapper der Blechdosen folgte das Geratter der Gewehre. »Es war wie Feuer – Licht und Feuer überall, wie im Krieg. Das Schwirren der Kugeln überall, einige Leute riefen: ›Sie haben mich getroffen!‹« Aber Charles war vorn und die Sicherheit des israelischen Zauns war zum Greifen nah. Er drückte den Stacheldraht herunter, um seine Frau durchzulassen, als sie fiel. »Ich nahm sie hoch und es war alles voller Blut, Blut, Blut. Ich rief ihren Namen: nichts. Das Blut floss, mein ganzer Körper war voller Blut.« Er trug sie über den letzten Zaun zu den israelischen Soldaten. Er sah sie nie wieder.

Yossi * hat vor etwa einem Jahr einen Teil seiner Wehrdienstzeit an der israelisch-ägyptischen Grenze verbracht. »Die Ägypter geben keine Warnschüsse ab. Wenn sie jemanden über die Grenze gehen sehen, schießen sie. Die Gegend scheint außer Kontrolle zu sein. Man geht dort hin und hat keine Ahnung, was los ist. Ägypter schießen, überall rennen Flüchtlinge aus Darfur herum und man wartet eigentlich auf Terroristen aus Gaza – es ist verrückt. Als wir in der West Bank kämpften, waren wir zwar mitten in der Zivilbevölkerung, aber wir wussten immerhin, gegen wen wir kämpfen sollten. An der Grenze ist das anders. Für mich steht fest, dass niemand getötet werden darf, nur weil er auf der Suche nach einem Job ist. Der Staat sollte dafür Verantwortung übernehmen. Wenn alle die Augen davor verschließen, wird das immer so weitergehen. Für Israel ist es schlecht, illegale Einwanderer im Land zu haben, aber man hat eine grundsätzliche Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten, so etwas nicht zuzulassen. Es scheint aber niemanden zu interessieren. Wenn es einen einzigen Schuss aus Gaza nach Israel gibt, kommt das überall in den Nachrichten. Aber dort können an einem Tag fünf Leute getötet werden, ohne dass es jemand erfährt. Die Nachrichten berichten nicht darüber.«

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Einen Steinwurf von Tel Avivs riesigem Busbahnhof entfernt liegt der Levinsky Park. Er wurde zur Heimat Hunderter afrikanischer Immigranten. Eritreer, Sudanesen, Äthiopier, Westafrikaner – sie alle kamen auf der Suche nach einer besseren Zukunft und fanden stattdessen die Armut in den Straßen von Israels dynamischster Stadt. Sie schlafen auf Pappkartons und ziehen die Schuhe aus, um sie neben ihr »Bett« zu stellen. Als Kissen dient ihnen die Tasche mit ihren Habseligkeiten, wenn sie im orangenen Schein der Parkbeleuchtung liegen. Die Eritreer liegen auf dem Rasen, während die Sudanesen auf dem Spielplatz unter Schaukeln und Rutschen schlafen. Sie wachen im Morgengrauen auf und warten am Straßenrand auf unterbezahlte Arbeit auf dem Bau. Der 23-jährige Avi * aus Eritrea sagt: »Das ist das Leben eines Hundes. Nein, in Israel geht es den Hunden besser als den Schwarzen. Ein Hund ist teurer als ein Schwarzer. Wenn du ein Hund bist, bist du versichert, du hast ein Krankenhaus, hast Essen, hast ein Haus, ein Bett. Aber die Afrikaner leben hier auf der Straße.«

An der Landstraße von Hatzor nach Ashdod liegt ein malerisch begrünter Friedhof. Die Gräber liegen unter großen Bäumen, der Schatten des dichten Blätterwerks schützt vor der glühenden Sonne. Geht man weiter, enden die Bäume abrupt und enthüllen Reihen von Grabsteinen, die auf rohem Beton nebeneinander liegen: Mamorplatten, zementierte Stücke oder nur einfache Schilder mit gekritzelten Notizen. Auf den meisten Gräbern steht nur ein Wort: »Anonym«. 62 solcher Gräber gibt es auf diesem kleinen Friedhof. * Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

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Schüler in Uniform

»Das war heftig.« In der praktischen Ausbildung in Eutin werden die Polizeischüler auch von einem Wasserwerfer beschossen.

Wochenlang beherrschte der massive Polizeieinsatz gegen Gegner des Bauprojekts »Stuttgart 21« die Schlagzeilen. Bis zu 400 Menschen waren am 30. September von Polizisten mit Schlagstöcken, Pfefferspray und Wasserwerfern verletzt worden. Wie werden angehende Polizisten in ihrer Ausbildung auf solche Großeinsätze vorbereitet? Und wie reagieren sie auf die Amnesty-Kampagne gegen rechtswidrige Polizeigewalt? Daniel Kreuz (Text) und Bernd Hartung (Fotos) haben sich in der Polizeidirektion für die Aus- und Fortbildung und für die Bereitschaftspolizei Schleswig-Holstein in Eutin umgesehen. Lasse Rockel ist heute auf Krawall gebürstet: Sollen ihm die angehenden Polizisten doch zum sechsten Mal sagen, er möge die Sitzblockade auflösen – er wird sitzen bleiben, komme was da wolle, fest eingehakt bei seinen fünf »Mitstreitern«. Dabei müsste der 23-Jährige eigentlich kooperativer sein. Schließlich ist er selbst Polizeischüler. Doch heute steht das Auflösen einer Sitzblockade auf dem Lehrplan – und Rockel übernimmt im Rollenspiel den Part der Demonstrierenden. Und die nehmen ihre Rolle sehr ernst. Als die rund ein Dutzend Polizisten sie umstellen, sitzt die Gruppe bereits auf dem nackten Boden in der zugigen Halle und

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ruft: »Ohne Helm und ohne Knüppel seid ihr nichts!« Nachdem gutes Zureden nichts gebracht hat, greifen die angehenden Beamten durch, verdrehen Handgelenke, halten Augen zu, kneifen in die Oberschenkelmuskulatur oder in Nervendruckpunkte hinter dem Ohr. Faustschläge sind verboten – wie in der Realität auch. Kommandos hallen durch die große Garage, den Polizisten in ihren blauen Uniformen läuft der Schweiß von der Stirn, manch einer verliert beim Handgemenge seine Mütze und das Gleichgewicht, immer wieder versuchen die Demonstrierenden, den Polizisten den Schlagstock aus dem Holster zu ziehen. Die Protestierenden halten sich so lange aneinander fest, wie es nur geht, ihre Köpfe sind knallrot, ihre Frisuren zersaust. Als die Übung nach einigen Minuten vorbei ist und die Nachbesprechung ansteht, sind alle noch außer Atem. Durch Rollenspiele wie diese sollen die Polizeischüler an der Polizeidirektion für Aus- und Fortbildung und für die Bereitschaftspolizei Schleswig-Holstein in Eutin lernen, sich auch in die Gegenseite hineinversetzen zu können, erklärt Ausbilder Lars Lange. »Es geht auch darum, dass die Auszubildenden am eigenen Leib erfahren, welche Auswirkungen ihr Handeln hat«, so der Oberkommissar. »Damit sie genau wissen, bis wohin sie später im Dienst gehen können – und wo definitiv Schluss ist«. Bevor es allerdings in die Übungen geht, müssen die Auszubil-

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»Die Auszubildenden sollen am eigenen Leib erfahren, welche Auswirkungen ihr Handeln hat. Damit sie genau wissen, wo definitiv Schluss ist.« denden stundenlang Theorie pauken, beispielsweise im Fach Eingriffsrecht. Die praxisnahe Ausbildung spielt in Eutin jedoch ebenfalls eine wichtige Rolle (siehe Amnesty Journal 08-09/ 2010). Daher ist die Sitzblockade-Übung an diesem Tag nicht der einzige »Selbsterfahrungstrip« für Lasse Rockel und seine Mitschülerinnen und Mitschüler der Ausbildungsgruppe Vier. In gelbe Regenmäntel gekleidet sitzen sie aneinandergereiht auf der Straße, zwanzig Meter entfernt steht in ihrem Rücken mit brummendem Motor der Wasserwerfer der Ersten Einsatzhundertschaft, nur noch schwach nimmt man das Bellen eines in der Ferne angeleinten Polizeihundes war. Über Lautsprecher werden die Schüler vorgewarnt, mit welchem Druck sie nun beschossen werden, von vier Bar bis 20 Bar. Die Stöße sind kurz, werden aber immer heftiger. Bei jedem Wasserstoß ruckelt das Fahrzeug ein wenig, ein süßlicher Seifenduft erfüllt das Führerhaus des Wasserwerfers, dessen Leitungen erst kurz zuvor gereinigt wurden. Anfangs flachsen die Auszubildenden noch, doch je stärker der Strahl eingestellt ist, desto mehr rücken die Schüler zusammen und halten sich aneinander fest. »Das war schon heftig«, so Rockel nachher. »Hätten wir gestanden, hätte es uns zum Schluss wohl umgehauen.« Knapp zwei Wochen später diskutiert die Öffentlichkeit über den Polizeieinsatz gegen Gegner des Bahnhofsprojekts »Stuttgart 21«, bei dem am 30. September bis zu 400 Menschen verletzt wurden, darunter ein Demonstrant, der vom Strahl eines Wasserwerfers so getroffen wurde, dass er auf einem Auge erblindet ist. Polizisten aus Schleswig-Holstein waren an dem Einsatz nicht beteiligt, dennoch wurden die Vorfälle in Eutin in den Fächern Berufsethik und politische Bildung thematisiert. »Na-

türlich dürfen im Einsatz keine Fehler passieren, aber Polizisten sind keine Roboter in Uniformen«, sagt Ausbilder Lange, der als Mitglied der dritten Einsatzhundertschaft Schleswig-Holsteins regelmäßig an Großeinsätzen teilnimmt. Wenn sich aber Polizisten nicht gesetzeskonform verhielten, müssten sie zur Verantwortung gezogen werden. »Wenn ich neben einem Kollegen stünde, der rechtswidrig zuschlägt, würde das ja auch automatisch auf mich und die gesamte Polizei zurückfallen.« Vor allem aber bei Großeinsätzen ist es oft schwierig, aufgrund der Helme und der verstärkten Uniformen einzelne Be-

Auch Festnehmen will gelernt sein. Polizeischüler bei der Ausbildung.

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deutschland

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»Menschenrechte sind doch unser Job.« amte zu identifizieren, die nicht gesetzeskonform gehandelt haben. Daher fordert Amnesty International in dem im Juli veröffentlichten Bericht »Täter unbekannt« über rechtswidrige Polizeigewalt in Deutschland unter anderem die individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte. Über dieses Thema diskutierten Ende September Polizisten, Gewerkschafter, Wissenschaftler und Menschenrechtsexperten auch auf einer öffentlichen Podiumsdiskussion auf dem Gelände der Eutiner Polizeidirektion. Dazu eingeladen hatte die Polizeidirektion in Zusammenarbeit mit der Amnesty-Gruppe Eutin/Plön. Amnesty-Expertin Katharina Spieß betonte dabei, dass es der Organisation nicht um eine Generalverurteilung der Polizei gehe: »Wir sind überzeugt, dass die große Mehrheit der Polizisten in Deutschland sehr gute Arbeit leistet. Doch jeder Einzelfall ist einer zu viel und muss aufgeklärt werden.« Neben der Kennzeichnungspflicht fordert Amnesty eine Stärkung der Menschenrechtsbildung bei der Polizei, vor allem in der Fortbildung. Nach Erkenntnissen der Organisation ist sie in der Fortbildung in keinem Bundesland verpflichtend. Dabei werden nicht nur junge Beamte nach der Ausbildung im Praxisalltag häufig mit negativen Faktoren konfrontiert, wie etwa einer falsch verstandenen Kameradschaft, der sogenannten »Mauer des Schweigens«, wie der Diplomkriminalist Günter Schicht in einer Studie schreibt: »Nach wie vor tendieren Polizeibeamte

dazu, das Fehlverhalten von Kollegen zu decken. Bei entsprechenden Untersuchungen wird regelmäßig behauptet, nichts gesehen oder gehört zu haben, oder es werden sogar entlastende Falschaussagen gemacht.« Schulungen zum Thema Menschenrechte könnten solche Fehlentwicklungen verhindern. Zumindest in Eutin ist man in Sachen Transparenz und Menschenrechte schon seit längerem auf einem guten Weg. Themen wie die »Mauer des Schweigens« werden offen angesprochen. Anfang Oktober hatte die schwarz-gelbe Landesregierung eine Anhörung im Kieler Landtag über die Kennzeichnungspflicht verhindert. In Eutin sind einige der Ausbilder und Auszubildenden anscheinend aber schon ein Stück weiter als die Politik. Zwar lehnt die große Mehrheit von ihnen eine Kennzeichnung mit vollem Namen auf der Uniform ab, gegen eine individuelle Nummer hat aber nicht jeder etwas einzuwenden. So hat sich beispielsweise Lasse Rockel zu Beginn seiner Ausbildung von seinem Kleidungsgeld ein Namensschild gekauft, das er sich eine Weile mit seinem Zwillingsbruder Leif teilte, der ebenfalls in Eutin zum Polizisten ausgebildet wird. Im Streifendienst wird er es nachher wahrscheinlich nicht tragen, aus Angst vor Racheaktionen bei gefährlichen Einsätzen. Eine individuelle Nummer bei Großeinsätzen wäre für ihn aber okay. Ähnlich sieht das Stimmungsbild in der Ausbildungsgruppe drei aus. Die 17 Auszubildenden haben soeben im Fach Politische Bildung zwei Stunden über die Universalität der Menschenrechte diskutiert, und das so angeregt und differenziert, dass man glauben könnte, man sitze in einem Politikseminar an der Universität – trügen nicht alle Schülerinnen und Schüler ihre blaue Uniform. In wenigen Monaten werden sie ihren Dienst beginnen. Für sie ist das Thema Gewalt gegen Polizisten sehr wichtig. »Die Polizisten tragen die verstärkte Uniform ja nicht, um sich zu verstecken, sondern um sich zu schützen«,

Blattkritik. Ausbilder und Polizeischüler diskutieren über die Journal-Ausgabe zum Thema »Polizeigewalt«.

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Diskussion erwünscht. In der Eutiner Polizei

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Familienbetrieb. Die Brüder Leif und Lasse Rockel.

sagt eine Schülerin. Auf einem unbesetzten Tisch in der letzten Reihe liegt eine Amnesty-Petitionskarte an den Berliner Innensenator, in der die Kennzeichnungspflicht für Polizisten gefordert wird. Sie ist zerrissen. Doch auf Nachfrage lehnen es nur fünf von ihnen ab, im Dienst eine individuelle Nummer zu tragen. Acht sind dafür. Und auf die Frage, wer von ihnen einen konkreten Zusammenhang zwischen Menschenrechtsbildung und der täglichen Arbeit der Polizei sieht, gehen alle Finger hoch. »Menschenrechte sind doch unser Job«, meint einer der Schüler zum Unterrichtsende. Der Autor ist Volontär beim Amnesty Journal.

»Polizisten sind keine Roboter in Uniform.« Ausbilder Lars Lange.

amnesty-fachtaGunG »Polizei und menschenrechte« Muss die Arbeit deutscher Polizisten besser überwacht werden? Über dieses Thema diskutierte Amnesty International am 25. Oktober bei der Fachtagung »Polizei und Menschenrechte« mit Polizeivertretern, Politikern, Wissenschaftlern und Vertretern der Zivilgesellschaft. Veranstaltungsort war die Landesvertretung von Sachsen-Anhalt in Berlin. »Es gibt in Deutschland keine systematische Polizeigewalt«, sagte Monika Lüke, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, zur Eröffnung der Tagung vor rund hundert Teilnehmern. Dennoch gebe es strukturelle Probleme. So sei es zum Beispiel schwierig, rechtswidrige Gewalt von Polizisten aufzuklären, weil die Beamten nicht identifiziert werden könnten. Auf der Konferenz wurde deshalb besonders intensiv über die individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizisten diskutiert sowie über die Frage, ob eine unabhängige Untersuchungskommission notwendig sei. Neben Amnesty International betonten auch Latif Huseynov vom Europäischen Anti-Folter-Komitee und der Polizeiwissenschaftler Dr. Thomas Feltes, wie wichtig eine unabhängige Kommission wäre – nicht zuletzt, um das Vertrauen in die Polizei zu stärken. Dass ein solcher Ansatz funktioniert, bestätigte Nicholas Long, einer von zehn Kommissaren der Independent Police Complaints Commission (IPCC) in England. Eine gegensätzliche Position vertrat der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt: »Wir sind gegen eine generelle Kennzeichnungspflicht, sei es mit Buchstaben oder mit Zahlenreihen«. Die Polizei solle nicht unter Generalverdacht gestellt werden. Auch lehne er unabhängige Untersuchungen ab, was unter den anwesenden Teilnehmern nicht ohne Widerspruch blieb. Am Ende konnte man sich dennoch in einem Punkt einigen: Der sachliche Austausch zwischen Amnesty International, der Polizei, Wissenschaftlern und Politikern ist wichtig und muss fortgeführt werden. Das bestätigten auch die positiven Reaktionen am Ende der Konferenz.

direktion steht auch Menschenrechtsbildung auf dem Stundenplan.

berichte

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Wasser für alle UNO-Gremien haben Wasser und Sanitärversorgung als Menschenrecht anerkannt. Von Inga Winkler In Deutschland fällt es schwer, sich vorzustellen, wie es ist, wenn man keinen Zugang zu Wasser und Sanitärversorgung hat. Denn bei uns ist es selbstverständlich, dass Wasser aus dem Hahn kommt, und die nächste Toilette ist in der Regel nicht weit. Wir werden von dem Wasser, das wir trinken, nicht krank und müssen es auch nicht kilometerweit nach Hause schleppen. Wir sind nicht gezwungen, unsere Notdurft im Freien zu verrichten, wir werden auch nicht auf dem Weg zur Toilette angegriffen oder vergewaltigt. Doch genau das ist die Realität für viele Menschen in weiten Teilen der Welt. So droht zum Beispiel Frauen in den Slums von Nairobi die Gefahr, auf dem Weg zu den Latrinen nachts vergewaltigt oder auf andere Weise angegriffen zu werden, wie ein Amnesty-Bericht jüngst dokumentierte. Der Mangel an Wasser und Sanitärversorgung wirkt sich stark auf die menschliche Gesundheit aus. Viele Krankheiten werden dadurch hervorgerufen. So geht das UNO-Entwicklungsprogramm davon aus, dass allein an Diarrhöe mehr Kinder sterben als an HIV/AIDS, Tuberkulose und Malaria zusammengenommen. Alle 20 Sekunden stirbt ein Kind an den Folgen von mangelhafter Hygiene und verschmutztem Wasser. Das UNOEntwicklungsprogramm schätzt, dass jedes Jahr 443 Millionen Schultage wegen Krankheiten verloren gehen: Zum einen versäumen kranke Kinder den Unterricht, zum anderen stellen fehlende sanitäre Einrichtungen ein Hindernis für den Schulbesuch dar. So verlassen Mädchen oft die Schule, wenn sie die Pubertät erreichen, weil es keine nach Geschlechtern getrennten Toiletten gibt. Der Mangel an Wasser trifft Frauen und Mädchen auch deshalb ganz besonders, weil sie häufig dafür verantwortlich sind, Wasser zu holen und kranke Angehörige zu pflegen. Die UNO-Vollversammlung hat Ende Juli eine Resolution zum Recht auf Wasser und Sanitärversorgung angenommen. Darin erkennen die Staaten ausdrücklich an, dass Wasser und Sanitärversorgung ein Menschenrecht sind. Der UNO-Menschenrechtsrat hat diese wegweisende Entscheidung in einer Resolution Ende September bekräftigt, die im Konsens angenommen worden ist. Von der Anerkennung des Menschenrechts geht eine enorme politische Signalwirkung aus. Die Staatengemeinschaft macht damit deutlich, dass Wasser und Sanitärversorgung von genauso grundlegender Bedeutung sind wie andere Menschenrechte. Besonders hervorzuheben ist, dass die Resolutionen nicht nur Wasser, sondern auch Sanitärversorgung als Menschenrecht anerkennen und beide auf eine Stufe stellen. Dies war bisher nicht immer der Fall, denn Toiletten sind noch immer ein Tabu. Die fehlende öf-

fentliche Aufmerksamkeit trägt dazu bei, dass Sanitärversorgung auch in politischer und finanzieller Hinsicht vernachlässigt wird. Die Resolutionen helfen, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen und bekräftigen, dass die Verwirklichung des universellen Zugangs zu Sanitärversorgung und Wasser eine Aufgabe ist, die mit Priorität angegangen werden muss. Die Resolution des Menschenrechtsrats stellt das Recht auf Wasser und Sanitärversorgung in einen rechtlich verbindlichen Rahmen. Zum einen ist Zugang zu Wasser und Sanitärversorgung unerlässlich für die Verwirklichung anderer Menschenrechte, wie zum Beispiel das Recht auf Gesundheit. Zum anderen bekräftigt die Resolution, dass das Recht auf Wasser und Sanitärversorgung aus dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard abgeleitet wird, das unter anderem im Sozialpakt garantiert ist. Damit ist es Teil des geltenden Völkerrechts. Das Recht auf Wasser besagt, dass jeder Menschen Zugang zu nicht gesundheitsgefährdendem, annehmbarem und bezahlbarem Wasser haben muss, das in ausreichender Menge für die persönlichen und häuslichen Bedürfnisse zur Verfügung steht. Ebenso muss Sanitärversorgung sicher, hygienisch, annehmbar, zugänglich und bezahlbar sein. Das Recht auf Wasser und Sanitärversorgung verpflichtet alle Staaten, es zu achten, zu schützen und nach und nach vollständig zu erfüllen. Die Anerkennung als Menschenrecht ermöglicht, sich auf diese rechtlich verbindliche Garantie zu berufen, führt also zu einem grundlegend anderen Verständnis als die Auffassung, dass Wasser und Sanitärversorgung lediglich Bedürfnisse sind. Diese Garantien sind nicht verhandelbar und geben entsprechenden Forderungen durch ihre normative Basis und Legitimität mehr Gewicht. Wenn andere Mechanismen erfolglos sind, kann dieses Recht letzten Endes auch vor Gericht geltend gemacht werden. In Argentinien, Bangladesch, Frankreich, Indien, Kolumbien, Nepal, Südafrika und vielen weiteren Ländern haben Menschen ihr Recht erfolgreich eingeklagt. Auf internationaler Ebene eröffnet unter anderem das Zusatzprotokoll zum Sozialpakt mit der Möglichkeit der Individualbeschwerde einen Mechanismus, das Recht geltend zu machen. Es ist zu hoffen, dass möglichst schnell weitere Ratifikationen folgen und das Protokoll in Kraft tritt. Die Anerkennung des Rechts auf Wasser und Sanitärversorgung ist nur ein erster Schritt. Entscheidend ist, das Recht umzusetzen und durchzusetzen. Erst dann führen Menschenrechte zu einer spürbaren Verbesserung im Leben all derer, die keinen Zugang zu Wasser und Sanitärversorgung haben. Die Autorin ist Amnesty-Mitglied und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Menschenrechte.

Foto: picture-alliance / CMI / Picture24

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»Aufklärerisch und engagiert wird gezeigt, dass die Welt veränderbar ist.« (NZZ am Sonntag)

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Kosmos Slum. Szene aus »Soul Boy«, Debüt der ghanaisch-kenianischen Regisseurin Hawa Essuman, produziert von Tom Tykwer. Foto: X-Verleih

62 Interview: Tom Tykwer zu Film in Afrika 66 Tanz und Menschenrechte: Politische Körper 68 Porträt: Naira Gelaschwili 70 Serious Games: Frontiers 72 Bücher: Von »September. Fata Morgana« bis »Tauben fliegen auf« 74 Film & Musik: Von »School of Life« bis »Live aus Peepli«

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Will afrikanischen FilmkĂźnstlern eine eigene Perspektive ermĂśglichen. Tom Tykwer.

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Jenseits der Gönnergeste Der deutsche Regisseur Tom Tykwer leitet in Nairobi Filmworkshops, in denen kenianische Künstler ihre Sicht der Dinge darstellen und eigene Erzählformen entwickeln. Nun ist das erste Ergebnis zu besichtigen: der Spielfilm »Soul Boy«. Sie haben Ihren ersten Film in einem afrikanischen Land gedreht – und dann gleich in einem der größten Slums des Kontinents, in Kibera bei Nairobi. Wird es europäischen Filmemachern langweilig im Westen? Na, ich hab den Film ja nicht gemacht! Ich habe nur einen Workshop geleitet und war sozusagen Pate. Mich interessieren die – wie soll ich sagen – ungehobenen Schätze, die es dort gibt.

Foto: Achim Multhaupt / laif

Wie ist das zu verstehen? Es ist für Künstler nicht immer leicht, sich in Kenia oder anderen afrikanischen Ländern über Medien zu äußern. Das sind Dinge, die Geld kosten. Meine Lebenspartnerin Marie Steinmann veranstaltet in Kibera über den Verein »One Fine Day« gemeinsam mit ihren Kollegen Kurse in bildender Kunst, Theater, Musik und Tanz. Dabei ist sie auf sehr viele sehr begabte Kinder gestoßen. Das war für mich ansteckend. Es ging mir darum, die Möglichkeiten junger Leute auszuloten: Gibt es eine originäre ostafrikanische Filmsprache? Oder eine spezifisch kenianische? Wie ist die Sicht der Leute auf die Dinge dort, wenn eine Kamera ins Spiel kommt? Das ist durchaus eigennützig – denn man kann eine Menge lernen, wenn man aus einer ganz anderen Perspektive auf das Medium schaut. Wie sieht der Kinofilm-Workshop aus? Es ist ein zweiwöchiger Intensivkurs, zu dem wir vier bis acht Lehrer mitbringen – einen für Kamera, einen für Ausstattung, einen für Schnitt, einen für Regie, usw. An den Kursen nehmen sieben bis zehn ausgewählte Bewerber teil, dabei findet sich relativ schnell ein Team zusammen, mit dem man den Film machen kann.

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Es verwundert, dass es solche Kurse nicht schon längst gibt … Eine deutsch-kenianische Zusammenarbeit gibt es in der Tat erst jetzt in dieser ausgeprägten Form. Die Berlinale hat da viel Basisarbeit geleistet und vieles erst ins Bewusstsein gebracht. Da es oft an ökonomischen Möglichkeiten und Förderung mangelt, gibt es bislang eben verhältnismäßig wenig künstlerisch autonome Stimmen. Und genau die wollen wir entwickeln. Das Stichwort heißt Nachhaltigkeit. Ich habe von vielen Leuten in Kibera gehört, dass es immer wieder sozial und künstlerisch angehauchte Projekte gegeben habe, von Leuten, die sich eine Art Abenteuerurlaub leisteten mit afrikanischen Armen, damit sie sich selbst besser fühlten. Die Nachhaltigkeit solcher Initiativen erweist sich erst nach drei oder vielleicht sogar erst nach fünf Jahren. Unser Ziel ist es, einen kontinuierlichen Experimentierraum entstehen zu lassen. Von Filmen aus Afrika wird in der Regel erwartet, dass sie soziale Konflikte und Bürgerkriege thematisieren. Hat das bei der Stoffentwicklung eine Rolle gespielt? Ich würde das gerne aus der Diskussion heraushalten, denn damit wird die Idee der freiheitlichen künstlerischen Entwicklung häufig verunstaltet. Es gibt diese Vorstellung, dass es um Katastrophen gehen muss, wenn man in Afrika – zumindest südlich der Sahara – die Kunst fördern will. Das ist eine Überformung

»Es gibt die Vorstellung, dass es um Katastrophen gehen muss, wenn man in Afrika südlich der Sahara die Kunst fördern will.« 63


Szenen aus Soul Boy. Abila (links) will seinen Vater von einem Fluch befreien. Dafür muss er mehrere Rätsel lösen (Mitte). Shiku (rechts) hilft ihm dabei.

»soul boy« One Fine Day e.V. ist ein gemeinnütziger Verein, der im Sommer 2008 von Marie Steinmann und Tom Tykwer gegründet wurde. Ziel des Vereins ist es, durch die Lehre von Kunstpraktiken und die Vermittlung ästhetischer Prinzipien Kindern und Jugendlichen in benachteiligten Regionen der Welt einen Zugang zu den Phantasie- und Entdeckungsräumen der Kunst zu ermöglichen. In diesem Rahmen ist »Soul Boy« entstanden, der Debütfilm der ghanaisch-kenianischen Regisseurin Hawa Essuman. Die Produktionsleitung hatte der Regisseur Tom Tykwer. Gedreht wurde in Kibera, einem der größten Slums des afrikanischen Kontinents, einem Stadtviertel von Kenias Hauptstadt Nairobi. Der kenianische Autor Billy Kahora entwarf mit Tykwer das Konzept für den Film. Der 14-jährige Abila (Samson Odhiambo), der mit seinen Eltern (Joab Ogolla, Lucy Gachanja) in Kibera lebt, findet eines Morgens seinen Vater krank und entrückt vor. Man habe ihm seine Seele geraubt, jammert dieser. Abila will ihm helfen und begibt sich auf die Suche nach einer möglichen Heilung. Er findet heraus, dass der Vater seine Seele bei einer Geisterfrau verspielt hat. So recht will der Junge daran nicht glauben, und macht sich auf die Suche nach der Hexe. »Soul Boy« wurde 2008 in nur zwei Wochen mit Unterstützung der Deutschen Welle gedreht. Der Film lief auf verschiedenen Festivals, etwa der Berlinale. Am 2. Dezember kommt er in die deutschen Kinos.

der Vorstellung, Afrika sei grundsätzlich mit Elend gleichzusetzen, Schönheit darf es nur geben, wenn die Weißen in ihren Camps dinieren oder auf Safari gehen. Afrika ist aber ein wunderschöner Kontinent. Auch die Menschen, die dort leben, genießen die Natur. Doch das wird so nie erzählt. Es gibt auch in Nairobi eine vitale intellektuelle Mittelschicht – Leute, die in Kneipen zusammenhängen und rauchen und aussehen wie wir, wenn wir in Kneipen zusammensitzen. Das gibt es alles, kommt aber nirgendwo vor. Das sind nicht 50, das sind Tausende, und diese Menschen fühlen sich auf kultureller Ebene inexistent. Der nächste Film, den wir machen, spielt deshalb in der Theaterszene von Nairobi, wo man sich mit modernen Stoffen auf einem hohen Niveau auseinandersetzt. Das ist mir fast das Wichtigste: Dass sich diese Perspektive öffnet – und man weder die Mitleids- noch die Gönnergeste raushängen lässt. Es geht also um eine gewisse Normalität, um den Alltag? Ja. Der Film »Soul Boy« ist dafür ein gutes Beispiel. Natürlich bezieht sich jeder interessante Film in irgendeiner Weise auf die soziale Realität. Aber ich gehe nicht los und mache einen politischen Film, sondern ich erzähle. Und das ist das Bedürfnis von »Soul Boy«: Es geht darum, Geschichten zu entwickeln, die aus dieser Welt erwachsen sind, in ihrer plausibelsten Form. Man muss diesen Kosmos einfangen, ohne ihn zu stark zu kommentieren. Kibera ist ein sehr kompaktes, komplexes soziales Gefüge, in dem nicht alle Leute ständig schlechte Laune haben, sondern in dem es tausend menschliche Aspekte gibt. Gerade die Jugendszene ist sehr vital und gutlaunig und liebevoll.

Eine schwierige Suche. Abila und seine Freunde (links), quer durch den Slum mit Shiku (Mitte), Abilas Vater (rechts).

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Der Film schildert die Probleme vor Ort verblüffend einleuchtend: Erstens wird ein Handy geklaut. Zweitens geht es um Schulden beim Vermieter … Die Leute sind pleite, können die Miete für den Laden nicht zahlen … Überall auf der Welt haben die Menschen die gleichen Probleme. Wie stellt sich für Sie Kenias Filmschaffen dar? Es gibt eine vitale Filmproduktionswelt, sie ist im Low-BudgetBereich angesiedelt und funktioniert hauptsächlich übers Fernsehen: Daily Soaps und andere Formate, die irre erfolgreich sind. Die haben eine ästhetische Normierung, fordern aber keine individuelle künstlerische Perspektive heraus. Uns geht es darum, den künstlerischen Film zu fördern. »Soul Boy« war der erste Workshop, nun folgt der zweite. Ab jetzt machen wir das jährlich. Es gibt Millionen Menschen dort, die viele Filme sehen, das darf man nicht unterschätzen. Es gibt jede Menge Kinos, in denen bunte Programme laufen. Manchmal ist es nur ein Fernseher, der in der Mitte steht. Nachmittags laufen Fußballspiele, danach kommt ein Schwarzenegger-Film oder auch mal ein künstlerischer von Paul Thomas Anderson oder anderen. Die Kultur ist eben vielschichtig und unterschiedlich. Ich möchte den Film als Medium stärken, damit die Menschen mehr Möglichkeiten bekommen, von sich zu erzählen, und das heißt ja im weiteren Sinne von ihrer sozialen Wirklichkeit und ihren Phantasien, vielleicht auch den trivialen Sehnsüchten. Ich glaube, das fehlt. Ich habe das Gefühl, Ostafrika ist

so monothematisch zugekleistert in der medialen Öffentlichkeit, dass sich kaum noch jemand bewusst wird: Hier ist eine Welt, in der viele interessante Dinge passieren, jenseits von Elend und Hunger. Besteht nicht die Gefahr, dass man etwas zerstört, indem man es abbildet? Dieser Gedanke war mir immer schon fremd. Man findet einen erzählerischen Weg für die Welt, in der man lebt – das ist für mich eine Bereicherung. Ich wüsste nicht, was daran zerstörerisch sein soll. Es ist doch das Schönste, was es gibt, wenn die Menschen in der Lage sind, auf individuelle Weise ihre Welt zu beschreiben. Fragen: Jürgen Kiontke

interview tom tykwer Tom Tykwer, geboren 1965, ist Filmregisseur, Drehbuchautor, Produzent und – was eher unbekannt ist – Komponist. Seine Karriere begann er als Filmvorführer in Berlin. Zu seinen erfolgreichsten Filmen gehören »Lola rennt« und »Das Parfum – Geschichte eines Mörders«. Tykwer engagiert sich unter anderem für Amnesty International.

Fotos: X-Verleih

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Derzeit sind viele internationale Tanzstücke zu sehen, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema Menschenrechte auseinandersetzen. Politisiert sich die Tanzszene? Von Katrin Bettina Müller

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s gibt wohl kaum ein Kleidungsstück, um das sich derzeit so viele politische Diskussionen ranken, wie die Burka. Im Sommer 2009, der Gesetzentwurf zum Verbot der Burka in Frankreich lag noch nicht auf dem Tisch, bezog Héla Fattoumi, eine französische Tänzerin und Leiterin des Centre choréographique national in Caen, mit ihrem Stück »Manta« deutlich Position in der Debatte um die Burka. Fattoumi, die in muslimisch-arabischer Tradition aufgewachsen ist, belegt in dem Solo ihre Überzeugung, »dass es keinen Vorwand gibt, keinen Kontext und keinen Text, der einem das Tragen von irgendetwas, das den Körper beeinträchtigt, auferlegen kann«. »Manta« ist ein spannendes Solo, mit vielen Bildern der Verfremdung des Körpers. Dazu gehört anfangs ein lustiger Tanz der hochgereckten Pobacken, während der Rumpf der verhüllten Tänzerin vorgeklappt und unsichtbar ist. Dann aber folgen viele Momente, die der These, das verhüllende Gewand biete Schutz vor männlicher Zudringlichkeit und damit einen Freiraum, widersprechen: Fattoumi stellt dar, wie die Verhüllung den Körper ent-individualisieren und fast zur Sexpuppe degradieren kann, bevor sie sogar zu einem Instrument der Bemäntelung von sexueller Gewalt wird. Anschließend arbeitet Fattoumi

»Der zeitgenössische Tanz geht davon aus, dass Körper auch politisch definiert sind. Daher das Thema Menschenrechte.« 66

sich am Falten von gestapelten Stoffgewändern ab, bis das Falten zu einer Einübung in Monotonie wird, eine Wiederholung des Immergleichen, dem die Performerin zunehmend mit Wut begegnet. Die Empathie des Publikums ist ihr gewiss. Die Produktion »Manta« war dieses Jahr zum Festival »Tanz im August« in Berlin eingeladen, dessen Schwerpunkt auf dem Thema Menschenrechte lag. Auffällig viele Berliner Projekte, die mit Laien und Jugendlichen arbeiten, befassen sich derzeit mit dem Bleibe- und Asylrecht. Tanz erweist sich dabei als geeignetes Medium, um Teilnehmer ganz unterschiedlicher kultureller und sozialer Herkunft zusammenzubringen. Ein Beispiel dafür ist die Lis:sanga Dance Company, mit ihren 60 Darstellern aus 15 Nationen. In ihrem Stück »Pass«, das auf Interviews und eigenen Erfahrungen beruht, beschäftigt sie sich mit Abschiebungen in Deutschland. Fast jeden Monat kann man in Berlin ähnlich sozial engagierte Aufführungen besuchen. »Pass« war zwar nicht Teil des Festivals, lief aber zur gleichen Zeit. Auf die biografische Recherche zu setzen, ist heute ein viel beschrittener Weg in der Tanzszene, freilich ein Weg mit offenem Ausgang. Das erfuhren zum Beispiel die Berliner Choreografen Jutta Hell und Dieter Baumann, die unter dem Namen Rubato seit 15 Jahren immer wieder in China arbeiten. Sieben jungen chinesischen Tänzern stellten sie Fragen über ihren Alltag: Sie hofften, auf diese Weise etwas über die Ausbeutung von Wanderarbeitern und die Verletzung der Menschenrechte in China zu erfahren und dieses Material für ihre Stücke verwenden zu können. Dieser Blickwinkel interessierte die jungen Chinesen jedoch überhaupt nicht. Mit Lust und ästhetischer Finesse übten sie sich dagegen in der Karikatur von Markenfälschungen, Billigwaren und im Kopieren und Sampeln unterschiedlicher Lifestyles. »Look at me, I’m Chinese« hieß schließlich das Stück, das bei »Tanz im August« seine Uraufführung erlebte und ursprünglich als Teil des Programmschwerpunkts Menschenrechte gedacht war. Aber die Wege der Selbstbestimmung laufen eben manchmal anders als man denkt. Nur wenige Tanzstücke beziehen so dezidiert Haltung wie Héla Fattoumi oder wie der neuseeländische Regisseur Lemi Ponifasio in seinem Stück »Tempest: Without a Body«, das ebenfalls in Berlin zu Gast war. Er arbeitet dabei mit Tame Iti, einem Maori-Aktivisten, der in seiner Sprache eine an die englische Queen gerichtete Anklage vorträgt: »Unser Land wurde gestohlen / Und unsere Gärten und Äcker / Unsere Vorfahren wurden entführt und aus ihren Häusern vertrieben.« Man kann das nachlesen im Programmheft, aber während der Aufführung rol-

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Foto: Dominik Mentzos

Auf den Leib geschrieben


Von der Mühe, Rechte zu Papier zu bringen. Szene aus dem Tanzstück »Human Writes« von William Forsythe.

len die Worte dunkel, drohend und fremd auf den Zuschauer zu und könnten ebenso gut eine Abrechnung mit den Göttern sein. Tame Iti tritt bei seiner Rede im Anzug auf, zuvor präsentierte er seinen tätowierten Körper. Was man sieht, fühlt und hört in »Tempest: Without a Body«, ist vor allem eine große Klage und Trauer darüber, von den eigenen Wurzeln abgespalten zu sein. Irgendwo an einem sehr verlassenen Ort, in der Tiefe eines Abgrundes spielt das Stück, in dem jede Figur auch von einem großen Geheimnis umgeben ist. Der Schlüssel, um die ritualisierten Formen der Bewegung zu lesen, ist abhanden gekommen. Verantwortlich dafür ist die westliche Kultur der Gegenwart mit ihrem hegemonialen Anspruch. Ponifasio ist ein weltweit tourender Künstler, der seine Auftritte nutzt, um die Folgen des Kolonialismus, die seine Heimat Samoa und andere pazifische Inseln noch heute erleiden, zum Thema zu machen. Etwas, das dem Untergang geweiht wurde, zu leben, müsste doch als Menschenrecht geschützt sein – das ist der Ansatz von Ponifasios Kunst. Einen ganz anderen Ansatz vertritt ein prominentes Tanzstück, nämlich »Human Writes« von William Forsythe. Darin geht es konkret um den Text der 1948 verabschiedeten Menschenrechte und um die Schrift als dem Medium von Gesetzen: »Das Gesetz existiert nicht ohne den Akt des Schreibens«, führte Susanne Baer, Professorin für Recht und Gender Studies an der Humboldt-Universität Berlin, in einem begleitenden Vortrag aus. Und sie zitiert einen Kollegen: »Der Rechtstext ist nicht

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tanz & menschenrechte

Behälter der Rechtsnorm, sondern Durchzugsgebiet konkurrierender Interpretationen.« Dass Sprache und Schrift äußerst fragile Medien sind, die erst in der Auslegung wirkmächtig werden, ist der Punkt, an dem Forsythe mit »Human Writes« ansetzt. In einem Raum voller Tische erlebt das Publikum die Arbeit des Schreibens als ein ständiges Ringen gegen Widerstände. Die mehr als 40 Tänzer, oft mit künstlichen Handicaps, bitten um Mithilfe, wenn sie mit schwarzer Kohle die Buchstaben des Gesetzestextes in vielen Sprachen auf die Tischplatten zeichnen. Die Körper werden dabei schwärzer und schwärzer, am Ende sehen sie aus wie Bergarbeiter. Sie gehen sozusagen mit allen Gliedern durch die Schrift hindurch, jeder Strich und jeder Bogen ist mit Anstrengung verbunden. Am Ende hinterlässt der Text eine Spur von Kampf, von Gemeinsamkeit, die von der Verletzbarkeit der Körper und der Verletzbarkeit der Schrift zeugt. Die Gründe, weshalb sich derzeit so viele Choreografen mit dem Thema Menschenrechte befassen, sind vielfältig. Oft steht das Thema nicht explizit im Vordergrund, sondern wird erst durch eine Bündelung, wie bei dem Berliner Festival, sichtbar. Daraus die These abzuleiten, die internationale Tanzszene würde sich politisieren, wäre zu hoch gegriffen. Doch geht der zeitgenössische Tanz davon aus, dass Körper immer auch politisch definiert sind. Und die Menschenrechte sind eine Facette davon. Die Autorin ist Theaterkritikerin und lebt in Berlin.

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Sie hat Thomas Mann und Rainer Maria Rilke ins Georgische übersetzt. Doch widmet sich Naira Gelaschwili nicht nur den schönen Künsten – sie setzt sich auch für die Verständigung zwischen den verschiedenen Volksgruppen im Kaukasus ein. Von Barbara Oertel

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Foto: Natela Grigalschwili

Keine, die aufgibt amnesty journal | 01/2011


A

ls Naira Gelaschwili die Aula der Schule Nummer 1 in dem georgischen Dorf Nukriani betritt, zieht sie sofort die ganze Aufmerksamkeit auf sich: Neugierig und erwartungsvoll blicken die Kinder auf die kleine, kräftige Frau mit dem kastanienfarbenen halblangen Haar, das sie mädchenhaft mit einer Spange hochgesteckt hat. Erst dann begutachten sie die acht Gäste aus Deutschland und Österreich, die Naira Gelaschwili mitgebracht hat. »Hallo, meine Kinder«, ruft sie und gestikuliert wild mit den Armen. Das tut sie immer, wenn sie sich freut oder echauffiert – was oft der Fall ist. Ihre Schützlinge, rund 40 Mädchen und Jungen im Alter zwischen sechs und 18 Jahren, strahlen. Obwohl noch Ferien sind, harren sie hier schon seit Stunden aus, um einige Tänze vorzuführen. Schon wirbeln die ersten in traditionellen Volkstrachten über den polierten Boden. »Das ist jetzt ein Tanz aus Ossetien«, flüstert Naira Gelaschwili und betont dabei das Wort Ossetien. Seit dem russisch-georgischen Krieg im August 2008 sind Südossetien und Abchasien, deren beider Unabhängigkeit Moskau anerkannt hat, für georgische Staatsbürger unzugänglich. Naira Gelaschwili ist ihr Schmerz anzumerken. Sie hat sich den versöhnlichen Austausch zwischen den Völkern des Kaukasus zur Lebensaufgabe gemacht – einer Region, deren sprachliche, kulturelle und ethnische Vielfalt weltweit ihresgleichen sucht. Nach der Vorstellung führt Naira Gelaschwili ihre Besucher in einen Nebenraum. Auf Tischen liegen selbstgefertigte Mützen, kleine und große Taschen, Schmuck, Pantoffeln und Blumen aus bunt gefärbter Wolle. Als die Anwesenden einige der Exponate kaufen, ist sie sichtlich erleichtert. Die Kinder in Nukriani lernen, tanzen und musizieren in einem renovierten Schulgebäude, einige Frauen im Dorf haben durch ihre Handarbeiten jetzt ein bescheidenes Einkommen. Das haben sie vor allem Naira Gelaschwilis Einsatz zu verdanken und der finanziellen Unterstützung mehrerer westlicher Organisationen, bei denen die 63-Jährige in den vergangenen Jahren immer wieder erfolgreich für ihr Anliegen geworben hat. 1994 gründete Naira Gelaschwili das Zentrum für kulturelle Beziehungen, das »Kaukasische Haus« in Tiflis, das sie bis heute leitet. Doch Naira Gelaschwili als Direktorin zu bezeichnen, greift zu kurz – sie ist vielmehr die Seele des Hauses. Hier, in der Galaktionistraße 20, unweit des Freiheitsplatzes, werden Respekt und Toleranz gegenüber dem Anderen wirklich gelebt. Hier kommen schon seit Jahren alte und junge Menschen unterschiedlicher Herkunft zu Veranstaltungen zusammen, hier werden Bücher von der einen in die andere kaukasische Sprache übersetzt, Dokumentarfilme gedreht, Zeitschriften herausgegeben und Vertriebene aus Abchasien und Südossetien unterstützt. In Naira Gelaschwilis Heimatdorf Nukriani organisiert das »Kaukasische Haus« unter der Leitung ihrer Tochter Anna alljährlich eine Sommerschule für Flüchtlingskinder. Nach dem russisch-georgischen Krieg 2008 standen Naira Gelaschwili und ihre Mitstreiter vor einem Scherbenhaufen. Versöhnung, Ausgleich und all das, wofür sie sich so lange eingesetzt hatten, wurde durch Bomben und Granaten quasi über Nacht zunichte gemacht. Doch Naira Gelaschwili ist keine Person, die aufgibt, und sie nimmt auch kein Blatt vor den Mund: Bei den Protesten gegen den georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili im Mai 2009 warf sie der Polizei Folter vor. Der Flecken Nukriani umfasst 700 Familien und liegt in den Bergen der östlichen Region Kachetien. 1954, als Naira sieben Jahre alt war, zog die Familie in die Hauptstadt Tiflis. Naira Gelaschwili studierte Germanistik und absolvierte nach dem

Porträt

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naira Gelaschwili

Studienabschluss ein dreijähriges Promotionsstudium im Fachbereich westeuropäische und amerikanische Literatur. Ihre Pläne, das Studium in der DDR fortzusetzen, durchkreuzte der Geheimdienst, da Naira Gelaschwili freundschaftliche Kontakte zu westlichen Wissenschaftlern unterhielt. Naira Gelaschwili zeigt ihren westlichen Besuchern ihr Elternhaus, während sie über ihr Studium plaudert. Ihre bereits fertige Dissertation »Hölderlins späte Dichtung – das Rätselhafte und das Rettende« durfte sie nicht verteidigen, da der Inhalt nicht den strengen Grundsätzen der marxistisch-leninistischen Literaturwissenschaft entsprach. »So etwas muss man sich einmal vorstellen«, sagt Naira Gelaschwili und verzieht das Gesicht. Wehmütig zieht sie einen Band aus dem Regal – ihre Doktorarbeit, die mittlerweile als Buch erschienen ist. Sieben Jahre lang arbeitete Naira Gelaschwili als Dozentin für deutsche und westeuropäische Literatur an der Universität in Tiflis. Doch 1982 hieß es, wieder einmal, ihre Vorlesungen entsprächen nicht der marxistisch-leninistischen Weltanschauung. Was tun? Naira Gelaschwili begann noch im gleichen Jahr als Redakteurin und Übersetzerin im staatlichen Übersetzerkollegium. Unter ihrer Leitung übertrug eine Gruppe von Übersetzern Rainer Maria Rilkes Gesamtwerk ins Georgische. Das Aus für das staatliche Übersetzerkollegium kam 1990. Dieses Mal war es der multikulturelle Charakter der Organisation, der die georgischen Nationalisten und den sowjetischen Schriftstellerverband auf den Plan rief. Doch Naira hatte längst gelernt, einfach weiterzumachen. Sie übersetzt nicht nur, sondern schreibt auch Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays und wissenschaftliche Aufsätze. Sieben Bände mit ihren gesammelten Werken sind bereits herausgegeben worden, 13 warten noch auf Veröffentlichung. Naira Gelaschwili ist den Widrigkeiten der Politik immer wieder begegnet – das letzte Mal vor einigen Monaten, als die Regierung sich anschickte, das »Kaukasische Haus« aus seinen Räumlichkeiten zu vertreiben. »Wir, die wir uns für die Verständigung zwischen den Völkern einsetzen, sind dieser Regierung, diesen Pseudodemokraten, ein Dorn im Auge. Sie wollen unsere Arbeit unterbinden. Aber so leicht geben wir uns nicht geschlagen«, sagt sie und bittet ihre Besucher im Innenhof ihres Elternhauses an den üppig gedeckten Tisch. Die Autorin ist Journalistin mit dem Schwerpunkt Osteuropa und Balkan und lebt in Berlin.

Porträt naira Gelaschwili geboren 1947, ist Schriftstellerin, Germanistin und Übersetzerin. Sie wurde mehrfach für ihre Werke ausgezeichnet – zuletzt 2010 mit dem georgischen Literaturpreis »Saba« für ihren Roman »Die ersten zwei Kreise und alle anderen«. Sie war mit dem georgisch-deutschen Schriftsteller Giwi Margwelaschwili verheiratet. Das Paar hat eine Tochter. Seit 1993 leitet sie das »Kaukasische Haus« in Tiflis, eine kulturelle Begegnungsstätte, die sich unter anderem für georgische, abchasische und südossetische Flüchtlingskinder einsetzt. Von 1992 bis 1994 war sie Beraterin des georgischen Präsidenten für Kulturpolitik und nationale Minderheiten.

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und Spiel mit Bittere Virtualität. Screenshots aus dem Computerspiel »Frontiers«, hier die Grenze von Ceuta, Südspanien.

Computerspiele sind angesagt, aus Sicht von Menschenrechtlern jedoch problematisch: »EgoShooter« sind dumm und brutal, pädagogische »Serious Games« gut gemeint und langweilig. »Frontiers« versucht einen neuen Weg – das digitale Spiel zielt darauf ab, die Festung Europa zu überwinden. Von Maik Söhler

reits dazu geführt, dass in Seniorenstiften Wii-Bowling-Meisterschaften durchgeführt werden. Serious Games sind – wie andere digitale Spiele auch – nicht per se gut oder schlecht. Schüler können in die Rollen unterschiedlicher politischer Akteure schlüpfen und sich so spielerisch ein eigenes Bild von komplizierten Konflikten machen; sei es im Nahen Osten und in Lateinamerika, wie in der »Global Conflicts«-Reihe, oder im Sudan, wie in »Darfur Is Dying«. Doch auch »America’s Army«, eine Trainingssimulation zur Ausbildung und Rekrutierung von Soldaten, oder »Virtuelles Training für Polizeieinsatzkräfte« werden als Serious Games geführt.

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»Frontiers – You’ve Reached Fortress Europe«

an muss kein Menschenrechtler sein, um nach dem Konsum von Computer- und Videospielen wie »Killzone« die am Bildschirm erlebte Gewalt abstoßend zu finden und zu der Erkenntnis zu kommen: »Stumpf ist Trumpf!« Man muss aber auch kein Videospieler sein, um zu begreifen, dass spielerische Virtualität und gesellschaftliche Realität nicht deckungsgleich sind. Die Reihe der Un- und Missverständnisse zwischen Videospielern und Menschenrechtlern ist jedenfalls lang und wird mit jedem neuen Ballerspiel länger. Weil sich aber Videospiele als Medium von Jugendlichen und jungen Erwachsenen weiterhin wachsender Beliebtheit erfreuen, gibt es schon seit geraumer Zeit ein Spiele-Genre, das die Schnittstelle zwischen Spielern und Kritikern von digitalen Spielen bilden will: Serious Games. Darunter versteht man alle Spiele, die nicht ausschließlich der Unterhaltung dienen wollen. Die Angebote reichen von Flugsimulatoren über soziale oder politische Rollenspiele bis hin zu Games, die kranke oder alte Menschen zur Bewegung ermuntern. Der Einsatz der Spielkonsole Wii von Nintendo samt der vielen Sportspiele gehört in Kliniken und Altenheimen zwar noch nicht zum Standard, hat aber be-

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Das Jahr 2010 hat viele neue Serious Games hervorgebracht. Manche lassen sich im Internet spielen, andere müssen auf dem PC installiert werden, weitere laufen nur in der Spielkonsole oder als App auf Smartphones. So unterschiedlich die Spielvoraussetzungen, so unterschiedlich sind die Spiele selbst. Nur eines haben die meisten von ihnen gemeinsam: Von Pädagogen und Politikern häufig hochgelobt und nicht selten auch ausgezeichnet, stoßen sie bei vielen Spielern auf Desinteresse – zu didaktisch, zu konstruiert, zu langweilig, heißt es in Spielerforen. Genau an dieser Stelle setzt »Frontiers« an, ein neues Serious Game, das seit Juni in einer Test- und seit November in einer vollständigen Version zur Verfügung steht. Der vollständige Name des Spiels macht deutlich, worum es geht: »Frontiers – You’ve Reached Fortress Europe«. Im Zentrum stehen die Grenzen der Festung Europa, die so mancher Flüchtling aus Afrika oder Asien gern überwinden möchte, woran ihn die technische und polizeiliche Macht Europas zu hindern versucht. Der Spieler ist Teil eines Teams und kann die Perspektive der Migranten wählen und mittels unterschiedlicher Taktiken wie

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ohne Grenzen Screenshots: gold extra

Verstecken oder Bestechung versuchen, in die Festung zu gelangen. Dabei erhält er Punkte. Der Spieler kann aber auch die Perspektive des Grenzpolizisten einnehmen und alles unternehmen, um Flüchtlinge fernzuhalten. Keine der beiden Rollen ist einfach zu spielen. Schnell wird deutlich, dass es um das (Über-) Leben von Menschen geht. Greift der Grenzbeamte im Spiel zur Waffe, so hat er die Wahl zwischen Warnschüssen und Schüssen auf sein Gegenüber. Trifft er den Flüchtling, so wird das Ansehen seines Landes beschädigt und es gibt Punktabzug.

»Half-Life« laden, um »Frontiers« zu spielen Die Produzenten von »Frontiers«, die Salzburger Künstlergruppe »Gold Extra«, haben sich dabei auch an eine Zielgruppe gewandt, die »sich sonst eher weniger mit der Thematik Flucht befasst«, wie Tobias Hammerle, einer der Produzenten, erklärt: Spieler von Ego-Shootern. Genauer, die Spieler des seit 1998 in diversen Modifikationen spielbaren Ego-Shooters »Half-Life«. Eine dieser Modifikationen ist das umstrittene Spiel »CounterStrike«, das in keiner Debatte um eventuelle negative Auswirkungen von digitalen Spielen als Beispiel fehlt. Interessant an »Frontiers« ist die Grafik, die realen Orten und Situationen nachgebildet ist, sowie der Ansatz, HardcoreSpieler auf ein gesellschaftskritisches Game neugierig zu machen. Auch umgekehrt kann der Weg führen: Denn ohne »HalfLife 2« gibt es kein »Frontiers«. Wer das Flüchtlingsspiel spielen will, braucht dazu die Software des klassischen Ego-Shooters, den er online kaufen und installieren muss. Zum Spiel von »Half-Life 2« gezwungen ist niemand, doch die Gelegenheit wäre da. Gleichzeitig werden die »Half-Life«-Spieler ermutigt, »in unsere Community reinzugehen und unser Spiel auszuprobieren«, sagt Hammerle. Der Rückgriff auf die Software des Shooters erfolgte aus Kostengründen, alles selbst zu programmieren, wäre

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zu teuer und aufwendig gewesen. Die bei dieser Verflechtung auftretenden Spieler-Irritationen dürfte »Gold Extra« bewusst kalkuliert haben.

Lob und Kritik »Überraschend positiv« seien die Reaktionen auf das Spiel gewesen, betont Hammerle. Zahlreiche NGOs und Schulen ließen sich das Game vorführen, auch die Amnesty-Gruppe Lüneburg holte sich von »Gold Extra« die Erlaubnis für eine Präsentation. Auf der Gamer-Webseite MODDB.com findet sich ebenfalls viel Zuspruch für die Grafik und die spielerische Realisierung eines sensiblen Themas. Es habe allerdings auch Kritik gegeben, meint Hammerle. Manchmal sei bei der umfangreichen Recherche in Nordafrika von Flüchtlingen die Frage gestellt worden, ob es nicht grundsätzlich zynisch sei, den Kampf ums Überleben in einem Spiel darzustellen. Weitere Einwände gab es zur nicht unumstrittenen Entscheidung von »Gold Extra«, in »Frontiers« auch Waffen zuzulassen. Hammerle verteidigt diesen Entschluss: »Es ist eine moralische Entscheidung, Waffen zu benutzen oder nicht zu benutzen. Aber diese Entscheidung macht nur dann Sinn, wenn Waffen im Spiel überhaupt vorhanden sind.« Die Salzburger Künstlergruppe hat aus der Produktion von Frontiers viel gelernt, Flucht und Grenzen will man sich weiterhin zuwenden. Ein neues Spiel sei in Planung, Arbeitstitel: »From Darkness«, Thema: medial vergessene Konfliktzonen heutiger Flüchtlingsländer. Das Spiel soll 2014 erscheinen. http://www.frontiers-game.com/ Global Conflicts http://www.globalconflicts.eu/ Darfur is dying: http://www.darfurisdying.com/ Der Autor ist Onlinejournalist in Berlin.

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Foto: Christoph Bangert / laif

Zwischen Morgen- und Abendland Nach dem Attentat. Straßenszene in Bagdad.

Thomas Lehrs jüngster Roman »September. Fata Morgana« formuliert auf sehr poetische Weise die Trauer zweier Väter, die ihre Töchter bei einem Attentat in Bagdad und dem Anschlag auf das World Trade Center in New York verlieren. Von Ines Kappert

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ie »nackten Menschenpyramiden / von Abu Ghraib / werden sich ins Mark der sogenannten freien Welt graben wie das Emblem der brennenden Türme«, denkt Tarik. »Wer wagt es die Frage zu beantworten / ob der Sturz des Präsidenten zehn- oder hunderttausend Menschenleben wert war.« Tarik ist Arzt und lebt in Bagdad. Er ist ein entschiedener Kritiker Saddam Husseins und kehrte doch aus Paris zurück, um in seiner Heimat zu praktizieren. Er wird seine Tochter und seine Frau bei einem Terroranschlag nach dem Einmarsch der Amerikaner verlieren. Sein westliches Pendant im Roman heißt Martin. Auch er ist Akademiker, lebt und arbeitet in einer Welt, die sich bis 2001 noch für unverwundbar hielt. Martin ist Germanistikprofessor an der University of Massachusetts. Auch seine Tochter wird sterben – gemeinsam mit seiner Ex-Frau am 11. September im World Trade Center. Die beiden Männer, die um die fünfzig Jahre alt sind, werden sich nur einmal zufällig in Paris als Touristen begegnen – und doch sind ihre Lebensgeschichten miteinander verwoben. In »September. Fata Morgana«, dem jüngsten Roman von Thomas Lehr, geht es aber nicht allein um Verlust, sondern genau so sehr um Liebe und Verliebtsein, zumal die Liebe zwi-

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schen Vätern und Töchtern. Die Unsicherheit der Männer, deren Töchter an Alter und Eigenwilligkeit gewinnen, beschreibt Lehr mit großer Vorsicht und Zärtlichkeit. Und so mischen sich knallharte Politik und grausame Ereignisse mit fragilen Einsichten und Begegnungen von Menschen, deren Verhältnis ambivalent bleibt. Sie haben, ebenso wie Okzident und Orient, viele Verbindungen, doch die Mehrzahl datiert von früher. Inzwischen entfernen sich die Lebenswege der Väter und Töchter zunehmend. Innere Monologe lösen einander ab, Satzzeichen gibt es nicht, die Assoziationen sollen unbehelligt von jeder Interpunktion strömen – Lehr mischt Lyrik und Prosa und unternimmt damit den Versuch, die im Orient einerseits und im Westen andererseits dominierenden Textgenres miteinander in Dialog zu bringen. Das Ergebnis ist eine Art Prosagedicht. Lehr schreibt sich damit in eine Tradition ein, die berühmte arabische Schriftsteller der Gegenwart wie Rashid al-Daif und Mahmud Darwisch in den achtziger Jahren begonnen haben. Auch das ist eine Grenzüberschreitung. Die Botschaft des Schriftstellers könnte dabei lauten: Mithilfe von (Sprach)Kunst ist es möglich, Kulturgrenzen zu überschreiten, in anderen Worten dialogfähig zu werden, ohne dabei Differenzen zu leugnen. Die internationale Politik indessen unterwirft die Menschen einem nationalistischen, profitorientierten Denken und / oder religiösem Fanatismus. Dieser basiert auf Grenzziehungen und dem Verbot der Synthese. Und so steht am Ende dieses Romans folgender Wappenspruch: »Es gibt keinen Sieger außer Gott.« Diese Lakonie ist kaum zu übertreffen. Thomas Lehr: September. Fata Morgana. Hanser Verlag, München 2010, 480 Seiten, 24,90 Euro

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Sehnsuchtsort Serbien

Unverwüstliche Gotteskrieger

»Tauben fliegen auf« erzählt die Geschichte einer Familie, die aus dem Norden Serbiens nach Zürich geflohen ist und es geschafft hat. Ihre Existenz ist gesichert, die Schweizer Pässe kann ihnen niemand mehr nehmen. Jeden Sommer geht es zurück in die alte Heimat, an den Sehnsuchtsort, der sich nicht verändern darf. Dort erkunden die beiden Töchter der Schweizer Exilanten das Schweigen ihrer Verwandten. Das meiste vom Kriegsgeschehen erfahren sie nur in Nebensätzen. Die Sprache der Autorin Melinda Nadj Abonji hingegen ist klar und direkt. Sie hält sich nicht mit Allegorien und Metaphern auf, kein Regen und kein verlassenes Tier illustrieren die Tristesse der Protagonisten. Stattdessen ist Krieg Krieg, und der überfordert alle Beteiligten aufs Grausamste: »Es kann sein, dass einer von Draganas Cousins desertiert, weil er sich als Bosnier fühlt, als bosnischer Serbe nicht in der jugoslawischen Volksarmee kämpfen will, es kann sein, dass dann mein Cousin Draganas Cousin erschießt, weil mein Cousin nicht desertiert ist, für die jugoslawische Volksarmee kämpft, um vielleicht sein eigenes Leben zu retten; aber möglicherweise werden beide erschossen, von einem Muslim, einem Kroaten, einem Blindgänger, von einer Mine zerfetzt, irgendwo, an einem unbekannten Ort, im Niemandsland, während wir hier zusammen Brötchen streichen, in unserer Küche.« Für Sätze wie diesen erhielt Melinda Nadj Abonji den Deutschen Buchpreis 2010.

Der britisch-pakistanische Korrespondent und Buchautor Ahmed Rashid zählt zu den wichtigsten Analysten der Kriege in Zentralasien und im Nahen Osten. In seinem neuen Buch versucht er zu erklären, warum die Taliban nicht schwächer, sondern immer stärker werden. Immerhin führt die NATO seit neun Jahren Krieg gegen sie. Ein zentraler Faktor für die Unverwüstlichkeit der Gotteskrieger sind neben ihrer inoffiziellen Unterstützung durch Teile des pakistanischen Staates die gravierenden Fehler des westlichen Militärbündnisses. »Die Liste der Vorbehalte, was die einzelnen NATO-Staaten in Afghanistan tun durften und was nicht, nahm den Umfang eines Telefonbuchs an. Die Deutschen hatten die bizarrste Vorbehaltsliste. Ihre Verbände durften nicht nach Sonnenuntergang operieren; afghanische Soldaten durften nicht in deutschen Hubschraubern mitfliegen ...« Mit dem nötigen Sarkasmus geschrieben, zeigt der erfahrene Journalist vor allem eines: Die Wiedererstarkung der Taliban ist das Ergebnis des zum Scheitern verurteilten Kampfes der NATO gegen den Terror. Wenn der Westen nicht endlich begreife, dass die Taliban ein junges Phänomen sind, und wenn er außerdem nicht den pakistanischen Geheimdienst in den Griff bekomme – am besten durch gezielte Kooperationen, wie Rashid meint, – dann werde die NATO ihre Interessen am Hindukusch auch weiterhin nicht verteidigen können. Ahmed Rashid: Sturz ins Chaos. Afghanistan, Pakistan und

Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf. Jung und Jung, Salzburg 2010, 314 Seiten, 22 Euro

die Rückkehr der Taliban. Aus dem Englischen von Alexandra Steffes und Henning Hoff. Leske Verlag, Berlin 2010, 340 Seiten, 19,90 Euro

Menschlicher Mehrwert Der Berliner Journalist Jörn Klare hat mit »Was bin ich wert? Eine Preisermittlung« ein höchst spannendes Buch über die Willkür geschrieben, mit der von Politikern, Ärzten, Gesundheitsökonomen, Volkswirten, Sozialwissenschaftlern, Kriminologen und Militärstrategen der Wert eines Menschen berechnet wird. Statt den Leser mit Zahlen zu erschlagen, lädt Klare ihn auf seine Besuche bei verschiedenen »Menschenwertberechnern« ein. So kann der Leser Klare folgen, wie ein Apotheker zu dem Ergebnis kommt, ein Menschenleben sei »chemisch betrachtet« 1.022,43 Euro wert. Oder wie der Volkswirt Hannes Spengler zu dubiosen Aussagen über den »statistischen Wert eines Menschen« kommt. In den USA bemüht man da gleich den »Produktivitätsansatz«: Jeder ist so viel wert, wie er verdient. Das gilt auch für die Entschädigungszahlungen infolge des 11. September in den USA: Unglaublicherweise wurde auch hier die Höhe der Entschädigungszahlungen an die Familien der Opfer an die Höhe des Einkommens des Verstorbenen gekoppelt. Lesenswert ist auch der Exkurs über Sklaverei oder das Kapitel: »Werte im Krieg oder: Welchen Preis hat ein Soldat?« Klare hat aber nicht nur Profis über den Wert eines Menschenlebens aus Sicht ihrer Branche befragt, sondern auch Bürger auf der Straße und sogar seine Tochter. So ist ein soziologisches Buch aus ganz verschiedenen Blickwinkeln über den Wert eines Menschenlebens in unserer Zeit entstanden.

Der Krieg und das Mädchen Libanon, Anfang der achtziger Jahre: In der Nähe von Beirut lebt die achtjährige Ruba mit ihren Eltern, ihrem älteren Bruder und der Großmutter in einem Dorf in den Bergen. Während der Bürgerkrieg mehr und mehr in das Leben der Dorfbewohner eingreift, sorgt sich Ruba um ihren Vater, der in eine verbitterte Starre gefallen ist. Er öffnet das Geschäft nicht mehr und sitzt den ganzen Tag im Sessel, ohne sich zu rühren. Ruba glaubt, eine alte Frau habe ihn verflucht, die von den Dorfbewohnern für eine Hexe gehalten wird. Als das Mädchen im Wald ein Glasauge findet, macht es sich auf, um den Fluch zu brechen – und lüftet dabei wohlgehütete Geheimnisse. Aus der Perspektive einer kindlichen Ich-Erzählerin schildert die junge libanesische Schriftstellerin Nathalie Abi-Ezzi das Alltagsleben während des libanesischen Bürgerkrieges. Die Zerrissenheit des Landes spiegelt sich dabei in Rubas Familienleben wider. Vor allem berührt die Sprache, in der AbiEzzi die Eskalation des Krieges, die Auseinandersetzung mit den Flüchtlingen aus Beirut sowie die Religionskonflikte darstellt. Rubas wachsame und kindliche Fragen an ihre Umwelt führen den Leser in eine Welt, die von außen betrachtet als ein unentwirrbares Knäuel aus Verblendung, Hass und vertanen Chancen erscheint. Nathalie Abi-Ezzi: Rubas Geheimnis. Aus dem Englischen

Jörn Klare: Was bin ich wert? Eine Preisermittlung.

von Annette Meyer-Prien. Rowohlt Berlin, Berlin 2010,

Suhrkamp nova, Berlin 2010, 266 Seiten, 14,90 Euro

288 Seiten, 19,95 Euro, ab 14 Jahren

Bücher: Ines Kappert, Tanja Dückers, Sarah Wildeisen kultur

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Bittere Ernte

Hits aus Eritrea

»Da bring’ ich mich doch lieber gleich um« – Natha meint das bitter ernst: Der indische Bauer ist Vater dreier renitenter Kinder, Mann einer streitsüchtigen Ehefrau und Sohn einer ewig zeternden pflegebedürftigen Mutter. Der Hof ist verschuldet, die Lebensgrundlage der Familie in Gefahr – und sein eigenes Leben erst recht: Denn der Staat zahlt verhältnismäßig hohe Summen an die Hinterbliebenen von Selbstmördern. »Jetzt kannst du mal zeigen, was du für die Familie wert bist«, sagt sein Bruder. Die Medien bekommen von der Sache Wind, und die Lokalprominenz produziert sich vor der Kamera: Selbstmord, ist das nicht illegal …? Der Spielfilm »Live aus Peepli – Irgendwo in Indien« hat einen realen Hintergrund. Nach Angaben von Selbsthilfegruppen gibt es unter den Landwirten Indiens rund 17.000 Suizide im Jahr. Der Film macht deutlich, wie schwierig ihre Lage ist: Sie leiden unter klimatisch bedingten Ernteausfällen und der Konkurrenz auf dem Weltmarkt. Das genveränderte Saatgut ruiniert nicht nur die Böden, sondern ist auch teuer und treibt die Bauern in die Verschuldung. Oft bleibt nur der Weg zum örtlichen Kredithai. Eine Situation, in der viele keinen anderen Ausweg mehr sehen als Selbstmord. »Live aus Peepli – Irgendwo in Indien« ist eine Tragikomödie mit nur wenig Bollywood-Appeal. Anusha Rizvi zeichnet ein drastisches Bild der armen Landbevölkerung Indiens.

Nach 30 Jahren Krieg war Eritrea 1993 zwar unabhängig vom Nachbarland Äthiopien, lag aber am Boden und war isoliert. Nun gibt es dort so etwas wie ein kulturelles Comeback. In Eritreas Hauptstadt Asmara, von der Kolonialmacht Italien einst mit schmucken Art-Deco-Bauten ausgestattet, scharte der französische Dub-Produzent Bruno Blum (»Doc Reggae«) die musikalische Crème de la Crème um sich: keine einfache Aufgabe in einem Land, in dem eine Einheitspartei das öffentliche Leben kontrolliert und Musiker vom Staat bezahlt werden. Unter seiner Ägide entstand nach dem »Buena Vista Social Club«-Prinzip ein Album der Asmara All-Stars, das lokale Ikonen aus den Zeiten des Unabhängigkeitskriegs, wie die Sängerin Faytinga, und den jungen Rapper Temasgen zusammenbringt. Sie präsentieren eritreische Hits aus Vergangenheit und Gegenwart in neuem Glanz: Psychedelische Gitarrengrooves und elektrisch verstärkte Krar-Laute treffen auf jazzige Percussion und schwere Reggae-Rhythmen, pentatonische Saxofon-Melodien und eine mehrköpfige Bläsersektion werden durch fiepsende Hammond-Orgeln und geisterhafte Hall-Effekte verstärkt. Seit einigen Jahren wird der BigBand-Jazz aus dem Äthiopien der siebziger Jahre unter RareGroove-Hipstern hoch gehandelt. Weniger bekannt ist, dass die Szene in Addis Abeba damals auch stark von eritreischen Musikern geprägt war. Auf »Eritrea’s got Soul« kann man hören, wie diese Tradition wieder auflebt.

»Live aus Peepli«. IND 2009. Regie: Anusha Rizvi. Darsteller: Omkar Das Mankipuri, Rghubier Yadav. Derzeit in den Kinos

Asmara All Stars: Eritrea’s got Soul (Outhere)

Glaubenskonflikt

Revolutionäre Partyhymnen

Wer hat 1996 sieben Trappistenmönche im algerischen Tibhirine ermordet? Mitglieder islamistischer Gruppen, lautet die offizielle Version. Die algerische Armee habe die entscheidende Rolle gespielt, so die inoffizielle Variante, und auch der französische Staat soll verstrickt gewesen sein. Bis heute ist die Bluttat nicht aufgeklärt. Damit die Geschehnisse von damals nicht vergessen werden, hat Xavier Beauvois einen bemerkenswerten Spielfilm gedreht: Zwei Stunden lässt er das Klosterleben der Mönche nachspielen, gibt ihnen Raum für Riten, Gebete und ihren Austausch mit der Bevölkerung – ein Idyll des Zusammenlebens zwischen Moslems und Christen, das zwischen die Fronten der Politik gerät. Dabei hat der Regisseur den algerischen Bürgerkrieg nur sparsam bebildert: Die Opfer, nicht die Täter bilden das Zentrum dieses Films. Mönche wie Bevölkerung halten zunächst an ihrer freundschaftlichen Beziehung fest. Als jedoch kroatische Gastarbeiter von Rebellen getötet werden, wird klar, dass der Konflikt zwischen den algerischen Regierungstruppen und den Rebellen direkt vor der Klosterpforte tobt. Bislang gibt es nur wenige Filme über den algerischen Bürgerkrieg. »Das Land leidet weiterhin darunter, dass der gewaltsame Konflikt der 1990er Jahre nicht aufgearbeitet wurde und kritische Stimmen in der Gesellschaft unterdrückt werden«, schrieb Amnesty in seinem Algerien-Report 2009.

Yuriy Gurzhy hat eine Theorie. Der DJ und Musiker, der mit dem Schriftsteller Wladimir Kaminer die »Russendisko« bestreitet, ist überzeugt, dass nur Leid und Unterdrückung richtig gute Musik hervorbringe. Glück und Lebensfreude hingegen würden sich negativ auf die musikalische Kreativität auswirken. Das ist gewohnt sarkastisch gedacht. Aber die Auswahl an revolutionären Partyhymnen, die er auf »Revolution Disco« versammelt hat, unterstützt seine These: Sie reicht von polnischem Raggamuffin und sozialistischem Agit-Pop bis zu Combat Punk und Latin Ska, für den Polit-Bands wie The Clash und Mano Negra Pate standen. Mal begleiten Polizeisirenen und Trillerpfeifen den musikalischen Aufstand, mal wird die widerständige Folklore Osteuropas oder Lateinamerikas zitiert. Die Songs tragen Titel wie »Di Intzenationale« oder gleich »Kapital«, die Interpreten stammen meist aus dem Süden oder Osten Europas. Die türkische Gruppe Bandista hat ihren Schlachtruf »Haydi Barikata« (»Auf die Barrikade«) mit ekstatischem Klezmer-Gefiedel unterlegt, während Banda Bassotti aus Italien mit ihrem »Arbeitsloser Marsch« an die jüdischen Wurzeln der Arbeiterbewegung erinnern. Rebellionsklassiker wie »Bella Ciao« dürfen nicht fehlen. Und natürlich hat es sich Yuriy Gurzhy nicht nehmen lassen, sich mit seiner Berliner Emigranten-Band »Rotfront« am revolutionären Reigen zu beteiligen. Alles in allem ein unterhaltsamer Überblick über das aufmüpfige Musikschaffen der Gegenwart.

»Von Menschen und Göttern«. F 2010. Regie: Xavier Beauvois, Darsteller: Lambert Wilson, Michael Lonsdale, Olivier Rabourdin. Kino-Start: 16. Dezember 2010

Compilation: Revolution Disco (Trikont)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 74

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Foto: Antoine Tempé / Wrasse Records

»Senerapper« mit Botschaft. Daara J Family.

Schule des Lebens Ein soziales Gewissen und politische Haltung sind das Markenzeichen der senegalesischen HipHop-Band Daara J Family. Nun haben sie ihr zweites internationales Album veröffentlicht. Von Daniel Bax

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aara J zählen zu den Veteranen des »Senerap«, wie die westafrikanische Spielart des HipHop genannt wird. Dank vieler junger Nachwuchs-MCs, die sich in Dakar tummeln sollen, gilt die Hauptstadt des Senegal als HipHop-Hochburg des afrikanischen Kontinents. Neben anderen Rap-Combos wie Positive Black Soul und Pee Frois avancierten Daara J schon in den neunziger Jahren zur Spitze der Szene. Daara J bedeutet auf Wolof, der meistgesprochenen Sprache des Senegal, soviel wie »Schule des Lebens«. Ihrem zweiten Album, das auch außerhalb des Senegal erscheint, haben N’Dango D und Faada Freddy, die beiden Köpfe hinter Daara J, nun genau diesen Titel gegeben: »School of Life«. Schon im Opener »Bayi Youn«, einem glamourösen Afro-R’n’B-Schmachtfetzen, formulieren sie ihren Stolz auf Afrika als Wiege der Zivilisationen. Im Titelsong »School of Life« dagegen gießen sie ihre Wut über 400 Jahre Sklaverei in selbstbewusste Rap-Lyrics, während sie in dem im Roots-Reggae gehaltenen Song »Children« über das Los vieler Kinder auf dem afrikanischen Kontinent klagen, die unter Kriegen und Armut leiden. Das soziale Gewissen und eine politische Haltung sind das Markenzeichen von Daara J. Für ihre klare Positionierung im politischen Alltag werden sie im Senegal auch schon mal kritisiert.

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film & musik

So stieß ihre Entscheidung, bei den Wahlen im Jahr 2000 den damaligen Oppositionskandidaten Abdoulaye Wade und seine Anti-Korruptions-Plattform zu unterstützen, nicht überall auf Gegenliebe. Nicht jeder ist der Meinung, dass sich die Dinge im Senegal seitdem grundlegend verbessert haben. Auf »School of Life« haben Daara J gleich mehrere potentielle Dancefloor-Füller aneinander gereiht. Ihre treibenden Grooves paaren sie auch mal mit reinen Party-Appellen (»Celebrate«) oder der Aufforderung, die Dinge durch die rosarote Brille zu betrachten (»Positif«). Das schafft einen Ausgleich zu den ernsten Themen und politischen Botschaften, mit denen sie sonst aufwarten. 16 Jahre ist es nun her, dass Daara J ihre erste Kassette veröffentlichten. Seitdem haben sie auch im Ausland Karriere gemacht. Vor sechs Jahren gewannen sie den renommierten World Music Award der BBC, traten im Vorprogramm von Wyclef Jean und Mos Def und als Headliner beim WOMAD-Festival auf. Spurlos ist dieser Rummel nicht an ihnen vorbei gegangen. Einerseits sind Daara J seitdem vom Trio zum Duo geschrumpft, ihr langjähriger Mitstreiter Aladji Man geht nun eigene Wege. Andererseits nennen sie sich nun »Daara J Family«, um auf ihr breites Umfeld aus Unterstützern und Begleitmusikern zu verweisen. Abgehoben von den Realitäten im eigenen Land sind Faada Freddy und N’Dango D nicht. Und wenn, wie kürzlich, ihr Antrag auf ein Einreisevisum für Großbritannien abgelehnt wird, obwohl sie dafür eigens zur britischen Botschaft nach Ghana gefahren sind und dort drei Tage lang gewartet haben, dann geht es ihnen nicht anders als vielen anderen Afrikanern. Daara J Family: School of Life (Wrasse)

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. amnesty international veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine Kopie an amnesty international. *Der Briefmarathon ist eine jährlich stattfindende weltweite Amnesty-Aktion. Siehe auch www.amnesty.de/briefmarathon

amnesty international Postfach, 53108 Bonn Tel.: 0228 - 98 37 30, Fax: 0228 - 63 00 36 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank Köln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50

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Foto: privat

briefe GeGen das verGessen / briefmarathon*

russische föderation zelimkhan murdalov Zelimkhan Murdalov wurde seit dem 2. Januar 2001 nicht mehr gesehen. An diesem Tag nahmen Polizisten den damals 21-jährigen Studenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny fest und beschuldigten ihn des Drogenbesitzes. Die Familie wollte ihn auf der Polizeiwache besuchen, wurde aber nicht zu ihm gelassen. Die Polizei behauptete, sie habe ihn drei Tage später freigelassen. Im Oktober 2003 wurde der Polizist Sergej Lapin wegen Amtsmissbrauchs und schwerer Körperverletzung von Murdalov vor Gericht gestellt. In dem Prozess wurde bestätigt, dass der Student im Polizeigewahrsam gefoltert worden war. Berichten zufolge wurde er am nächsten Tag von Polizisten weggebracht. Im März 2005 verurteilte ein Gericht Sergej Lapin zu einer Haftstrafe von elf Jahren, die später im Berufungsverfahren um sechs Monate reduziert wurde. Im November 2005 wurden zwei weitere Personen identifiziert, die an der Folter und dem Verschwindenlassen von Zelimkhan Murdalov beteiligt waren: ein leitender Beamter und ein Polizist. Beide sind zur Fahndung ausgeschrieben, aber noch immer auf freiem Fuß. Zelimkhan Murdalovs Eltern versuchen unermüdlich herauszufinden, was mit ihrem Sohn geschehen ist und sind deswegen schikaniert und eingeschüchtert worden. Vor allem wegen ihrer Bemühungen konnte Sergej Lapin 2003 vor Gericht gestellt werden. Daraufhin mussten die Mutter und seine Schwester zu ihrer eigenen Sicherheit das Land verlassen. Für das Verschwindenlassen von Zelimkhan Murdalov ist bis heute niemand zur Verantwortung gezogen worden. Die letzten Menschen, die ihn lebend gesehen haben, waren Polizisten. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Staatspräsidenten der Russischen Förderation, in denen Sie fordern, das Ermittlungsverfahren bezüglich des Verschwindenlassens von Zelimkhan Murdalov wiederzueröffnen, sowie dafür zu sorgen, dass der leitende Beamte und der Polizist, die mit der Folter und dem Verschwindenlassen von Zelimkhan Murdalov in Verbindung stehen, festgenommen und in Übereinstimmung mit internationalen Standards für ein faires Verfahren vor Gericht gestellt werden. Schreiben Sie in gutem Russisch, Englisch oder auf Deutsch an: Staatspräsident der Russischen Föderation Dmitry Anatolevich Medvedev ul. Ilyinka, 23 103132 Moscow RUSSISCHE FÖDERATION Fax 007 - 49 - 59 10 21 34 (korrekte Anrede: Dear President Medvedev) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,70) Bitte senden Sie eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Russischen Föderation S.E. Herrn Vladimir Grinin Unter den Linden 63–65, 10117 Berlin Fax: 030 - 229 93 97 E-Mail: info@Russische-Botschaft.de (korrekte Anrede: Exzellenz)

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Foto: Amnesty

Foto: R. R. Arriola / Amnesty

mexiko Pater alejandro solalinde Guerra

seneGal khady bassène

Pater Solalinde koordiniert die katholische Anlaufstelle für Migranten »Pastoral de Movilidad Humana Pacifico Sur del Episcopado Mexicano«. Zudem leitet er eine Unterkunft für Migranten in der Gemeinde Ixtepec im Bundesstaat Oaxaca, die eingerichtet wurde, um Migranten auf der Durchreise einen sicheren Schlafplatz zu bieten. Tausende Menschen aus Mittel- und Südamerika durchqueren jedes Jahr Mexiko, um in die USA zu gelangen. Viele von ihnen werden unterwegs von Banden entführt, geschlagen, vergewaltigt oder ermordet. In zahlreichen Fällen sind auch örtliche Behörden in diese Verbrechen verwickelt. Pater Solalinde möchte die Reise der Migranten sicherer machen und wird dafür aus fremdenfeindlichen Motiven von lokalen Banden und Angehörigen der Gemeindeverwaltung von Ixtepec immer wieder bedroht und schikaniert. Am 24. Juni 2008 brach eine Gruppe von 50 Ortsbewohnern, darunter der Bürgermeister und 14 Polizisten, in die von Pater Solalinde geführte Unterkunft ein und drohte damit, das Gebäude niederzubrennen, wenn es nicht innerhalb von 48 Stunden geschlossen würde. Lokale Medien veröffentlichen regelmäßig Berichte, in denen sie behaupten, in der Einrichtung von Pater Solalinde würden kriminelle Migranten untergebracht. Der Pater hat bereits mehrfach Morddrohungen erhalten, aber die lokalen Behörden haben wenig unternommen, um diese aufzuklären und ihn zu schützen.

Die 62-jährige Khady Bassène aus dem Senegal geriet in schwere finanzielle Not, nachdem ihr Mann Jean Diany im August 1999 von Sicherheitskräften festgenommen wurde und anschließend spurlos verschwand. Am 31. August 1999 legte erstattete sie Anzeige wegen der unrechtmäßigen Festnahme und Inhaftierung ihres Mannes. Zwar nahmen die senegalesischen Behörden zunächst Ermittlungen auf, am 7. August 2000 wurde der Fall jedoch vom Gericht abgewiesen. Da man Khady Bassène nicht darüber informierte, konnte sie keine Rechtsmittel einlegen. Als sie versuchte, die Rente ihres Mannes zu beziehen, wurde ihr dies verweigert, da sie keinen offiziellen Totenschein für ihn vorlegen konnte. Im Jahr 2005 wurde ihr der Totenschein ihres Mannes ausgestellt, allerdings mit einem Todestag fünf Monate vor seiner Verhaftung. Informationen über die näheren Umstände seines Todes enthielt der Schein nicht. Khady Bassène bezieht derzeit die niedrige Rente ihres Mannes und wohnt mietfrei im Haus eines entfernten Verwandten, der jedoch vor kurzem angekündigt hat, in das Haus zurückziehen zu wollen. Nun droht ihr die Obdachlosigkeit. Sie versucht weiterhin, die Wahrheit über das Schicksal ihres Mannes herauszufinden und eine finanzielle Wiedergutmachung von der Regierung zu erhalten, die ihr ermöglichen würde, in Würde und ohne Angst vor Vertreibung zu leben.

Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den mexikanischen Innenminister, in denen Sie fordern, dass wirksame Maßnahmen ergriffen werden, um die Sicherheit von Pater Solalinde und seinem Team zu gewährleisten, damit sie ihre Arbeit für die Rechte von Migranten in der Region ungehindert und ohne Angst vor Repressalien fortsetzen können. Fordern Sie außerdem die Entwicklung und Umsetzung eines umfassenden Schutzprogramms für Menschenrechtsverteidiger in Mexiko.

Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den senegalesischen Justizminister, in denen Sie fordern, dass die Ermittlungen zum Tod von Jean Diandy wieder aufgenommen und die mutmaßlichen Täter in Übereinstimmung mit internationalen Standards für ein faires Verfahren vor Gericht gestellt werden. Fordern sie außerdem, dass Khady Bassène eine finanzielle Entschädigung für das Verschwindenlassen ihres Mannes erhält und die Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen im Senegal beendet wird.

Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Innenminister Lic. José Francisco Blake Secretaría de Gobernación Bucareli 99, 1er. piso, Col. Juárez, Delegación Cuauhtémoc México D.F., C.P.06600 MEXIKO (korrekte Anrede: Dear President) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 1,70) Bitte senden Sie eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Mexikanischen Staaten S.E. Herrn Francisco Nicolas González Diaz Klingelhöferstraße 3, 10785 Berlin E-Mail: mail@mexale.de (korrekte Anrede: Exzellenz)

briefe GeGen das verGessen

Schreiben Sie in gutem Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: Monsieur Cheikh Tidjane Sy Ministère de la Justice Building administratif BP 4030 Dakar SENEGAL (korrekte Anrede: Son Excellence) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 1,70) Bitte senden Sie eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Senegal S.E. Herrn Henri Antoine Turpin Dessauer Straße 28/29, 10963 Berlin Fax: 030 - 85 62 19 21 (korrekte Anrede: Exzellenz)

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Die Herausforderungen haben sich gewandelt. Aktion »Gold für Menschenrechte« anlässlich der Olympischen Spiele 2008 in Peking.

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ohne furcht und not

Foto: Miguel Villagran / AP

Amnesty International wird 50 Jahre alt. Eine Bilanz von Stefan Keßler Im Mai 2011 werden es fünfzig Jahre sein, seit der englische Rechtsanwalt Peter Benenson seinen berühmten »Appeal for Amnesty« in der Wochenzeitung »The Observer« veröffentlichte. Der Artikel gilt als »Gründungsdokument« der Menschenrechtsorganisation. In den fünf Jahrzehnten, die seither vergangen sind, hat sich vieles auf der Welt gewandelt – auch Amnesty International. Einst eine »Gefangenenhilfsorganisation« hat es sich die Organisation inzwischen zur Aufgabe gemacht, im Rahmen ihrer Arbeit für die Verwirklichung aller Menschenrechte einzutreten und schwerwiegende Verletzungen der Rechte auf körperliche und geistige Unversehrtheit, auf Meinungsfreiheit sowie des Rechts auf Freiheit von Diskriminierung zu bekämpfen. Auch die Herausforderungen, denen Amnesty gegenübersteht, haben sich gewandelt: Die Methoden, echte oder vermeintliche Oppositionelle zu unterdrücken, sind perfider geworden. Zur Langzeitinhaftierung von Regimegegnern hat sich das Aushungern »oppositioneller« Dörfer gesellt, wie zum Beispiel in Darfur. Der »Krieg gegen den Terror« dient seit dem 11. September 2001 vermehrt als Feigenblatt für schwerste Menschenrechtsverletzungen. In Europa, auch in Deutschland, werden als »anders« empfundene Menschen zunehmend ausgegrenzt, so zum Beispiel Roma oder Muslime. Wer für bestimmte Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist, kann bei Auslandseinsätzen von Militär und Polizei oder bei Grenzschutzmaßnahmen noch immer schlecht festgestellt werden. In vielen Fällen sind inzwischen nicht Staaten, sondern lokale »Warlords« oder Konzerne direkt oder indirekt für schwerste Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Das gilt besonders in jenen Ländern, in denen keine zentrale Staatsgewalt existiert. 50 Jahre Menschenrechtsarbeit sind keine reine Erfolgsgeschichte. Doch gibt es durchaus Erfolge: Ohne den Druck von Amnesty International und anderen Organisationen wäre der Internationale Strafgerichtshof zur Verfolgung schwerster Menschenrechtsverletzungen noch immer nicht eingerichtet worden. Auch das System völkerrechtlicher Normen zum Schutz der Grundrechte ist mittlerweile viel ausgefeilter als in den sechziger Jahren. Regierungen und Machthaber müssen sich heute wesentlich stärker als früher kritische Fragen gefallen lassen, ob sie ihren Pflichten nachgekommen sind, nämlich die Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu fördern. Auch bei Auslandseinsätzen von Militär und Polizei oder bei Grenzschutzoperationen stellt die kritische Öffentlichkeit inzwischen die Frage nach dem Menschenrechtsschutz. Nicht zuletzt der Friedensnobelpreis für den chinesischen Bürgerrechtler Liu Xiaobo 2010 und die beleidigte Reaktion der chinesischen Staatsführung darauf zeigt, welche Brisanz die Verteidigung der Men-

50 jahre amnesty

schenrechte noch immer hat. Daneben gibt es die vielen kleinen Fortschritte, die beweisen, dass sich das beharrliche Bemühen lohnt: Der Brief eines Inhaftierten, der zeigt, dass der Mensch, für den man sich einsetzt, noch lebt. Die Meldung von einer Freilassung. Die erfolgreiche Veranstaltung, mit der man die Menschenrechtsidee wieder etwas bekannter machen konnte. Manches hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch nicht geändert. So stehen für Amnesty International nach wie vor vier Prinzipien im Vordergrund: Menschenrechte werden nicht »gewährt« – jeder Mensch genießt sie, weil er Mensch ist, ohne weitere Bedingungen. Menschenrechte sind unteilbar: Politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte können nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sind eng miteinander verflochten und bedingen einander. Menschenrechte sind die gemeinsame Antwort auf die universelle Erfahrung von Unrecht. Es gibt keine »christlichen« oder »islamischen« Menschenrechte, keine für Bürger der Industriestaaten oder solche für Bürger von »Schwellen«- oder »Entwicklungsländern«. Jeder Mensch hat überall auf der Welt Anspruch auf Achtung, Schutz und Gewährleistung aller Menschenrechte. Und schließlich: Menschenrechte sind unverfügbar. Kein Mensch kann, durch welche Handlung auch immer, seine Menschenrechte verlieren. Sie mögen durch die Menschenrechte anderer beschränkt sein, dürfen im Kerngehalt jedoch nicht angetastet werden. Der Schutz der Menschenrechte ist abhängig vom welt-bürgerschaftlichen Engagement. Nur wenn sich viele Menschen sowohl für die eigenen wie für die Rechte anderer einsetzen, kann Menschenrechtsschutz gewährleistet werden. Dabei sind Menschenrechte nicht nur ein Thema für die Außenpolitik, sondern auch und gerade für die Politik im eigenen Land. Sie sind keine Angelegenheit, die man den Spezialisten überlassen darf, sondern das Sich-Einmischen ist ureigenstes Recht, aber auch ureigenste Aufgabe eines jeden von uns. Die Vielfalt der Menschen, die bereit sind, sich bei Amnesty International für die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte anderer einzusetzen, ist erstaunlich. Die junge Schülerin, die bei Amnesty ihre ersten politischen Erfahrungen macht, steht auf Mahnwachen neben dem in zahllosen Debatten ergrauten Hochschullehrer. Rentner engagieren sich ebenso wie im Berufsleben stehende EDV-Fachleute. Da gibt es die Völkerrechtsspezialistin und den Journalisten, aber auch die Wasserbauingenieurin und den Historiker. Sie mögen sich durchaus darüber streiten, welcher Weg zur Verwirklichung der Menschenrechte führt. Aber sie alle eint das Ziel, das in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beschrieben wird: Eine Welt ohne Furcht und Not. Der Autor ist Sprecher des Vorstands der deutschen Sektion von Amnesty International.

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Foto: Johannes Heuckeroth

AKTIV FÜR AMNESTY

»Mehr Verantwortung bei der Polizei«. Kampagnen-Transparent im Stadion der Spielvereinigung Fürth.

fussballfans unterstÜtzen amnesty-kamPaGne Die Amnesty-Kampagne »Mehr Verantwortung bei der Polizei«, die sich gegen rechtswidrige Polizeigewalt in Deutschland richtet, hat in den vergangenen Monaten tausende Unterstützer gefunden. Besonders aktiv sind dabei die Fans der Fußballvereine. In vielen Stadien warben sie mit Transparenten und Sprechchören für die Amnesty-Kampagne, darunter die Fans des FC Bayern München, des 1. FC Köln, von Hertha BSC Berlin, Schalke 04, Greuther Fürth und dem VFL Osnabrück. Am 9. Oktober demonstrierten in Berlin mehrere Tausend Fußballanhänger von Vereinen aus ganz Deutschland »Für den Erhalt der Fankultur«. Dabei machten einige Gruppen auch auf die Amnesty-Kampagne aufmerksam und forderten unter anderem eine individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizisten. Ende September hatte die Amnesty-Themengruppe »Polizei und Menschenrechte« zusammen mit dem Ultra-Fanclub des 1. FC Köln »Coloniacs« einen Infoabend zum Thema »Das Spannungsfeld zwischen Fußballfans und Polizei« veranstaltet. Auf der Coloniacs-Homepage zogen die Fans ein positives Fazit:

»Den Abend mit Amnesty International werten wir als Erfolg – gerade auch dadurch, einen neuen Blickwinkel auf das schwierige Verhältnis von Fußballfans und Polizei erhalten zu haben. Gerade auch der vertiefende Einblick in die Polizei konnte dazu beitragen, die Gegenseite etwas mehr zu verstehen, auch wenn dies Fehlverhalten von Polizeibeamten im Umgang mit Fußballfans sicher nicht entschuldigt. (…) Auf der anderen Seite gilt es aber auch, sich klar zu machen, dass dem Fehlverhalten der Polizei nicht nur durch stupides All-Cops-are-Bastards-Gebrülle und Gegengewalt zu begegnen ist.« Auch im Fan-Forum des Hamburger SV wird zur Unterstützung der Amnesty-Kampagne aufgerufen: »Bei dieser Aktion geht es um Transparenz. Es geht nicht darum, gewaltbereite Täter gegen berechtigte Maßnahmen der Polizei zu schützen! Durch diese Aktion soll [die Einhaltung der] Menschenrechte verbessert werden – alleine durch Transparenz.« Weitere Informationen und Aktionsvorschläge auf www.amnesty.de/polizei Fotos: Daniel Marr, Amnesty, Johannes Heuckeroth

deutschland

Fans unterstützen Amnesty. Transparente im Stadion in Nürnberg, München und auf der Fandemo in Berlin.

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»nein« zur todesstrafe Gefordert

monika lÜke Über

berlin Die USA sind eine der wenigen Industrienationen,

Zeichnung: Oliver Grajewski

friedensnobelPreise

die weiterhin an der Todesstrafe festhalten. Mehr als 1.200 Menschen wurden dort seit 1977 hingerichtet. Dabei hat sich das »Nein« zur Todesstrafe längst zu einem weltweiten Trend entwickelt: Eine große Mehrheit von 139 Staaten wendet sie nicht mehr an. Am 10. Oktober, dem internationalen Tag gegen die Todesstrafe, forderten Mitglieder des Amnesty-Bezirks Berlin-Brandenburg vor der US-Botschaft in Berlin die Abschaffung der Todesstrafe. Mit einer Mahnwache erinnerten sie daran, dass das Land zusammen mit China, Iran, Irak und Saudi-Arabien die meisten Menschen hinrichtet. Derzeit sitzen in den USA mehr als 3.000 Gefangene in Todeszellen und müssen auf ihre Hinrichtung warten. Seit der Wiederzulassung der Todesstrafe im Jahr 1977 mussten 138 zum Tode verurteilte Menschen wegen erwiesener Unschuld oder erheblicher Zweifel an ihrer Schuld freigelassen werden.

Foto: Christian Jungeblodt / Amnesty

Es war bereits mein viertes Treffen mit dem Internationalen Generalsekretär Salil Shetty. Im Oktober saßen wir in seinem Büro in der Londoner Zentrale und redeten darüber, wie Amnesty weiter wachsen kann, zum Beispiel in Indien und Brasilien. Es war ein gutes Gespräch, denn Salil nimmt sich immer viel Zeit und hört genau zu.

Weltweiter Trend gegen die Todesstrafe. Aktion in Berlin.

aktiv fÜr amnesty

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf www.amnesty.de/aktiv-vor-ort und www.amnesty.de/kalender

Noch besser gelaunt war ich, als ich anschließend die neuen Nachrichten auf meinem Blackberry las, meiner »Info-Höllenmaschine«, die mich immer auf dem Laufenden hält: Der Friedensnobelpreis geht an den chinesischen Schriftsteller Liu Xiaobo! Er war schon zuvor mein heimlicher Favorit gewesen. Es hatte mich sehr bewegt und wütend gemacht, als Liu zu elf Jahren Haft verurteilt wurde. Die Vergabe an den Dissidenten und die Solidaritätsbekundungen zeigen, wie ein solcher Preis auch politisch wirken kann. Amnesty hat derzeit keine offizielle Erlaubnis, eine Recherchemission nach China zu schicken, wir haben aber seit 1982 eine Sektion in Hongkong. Auch ich selbst hatte in China schon mit staatlichen Kontrollen zu kämpfen. Als ich mich für den Posten der Generalsekretärin im Herbst 2008 bewarb, war ich zu Besuch in Peking. Meine Bewerbung wollte ich über meinen privaten E-Mail-Account absenden. Fehlanzeige, es kam immer wieder eine Fehlermeldung. In der BetreffZeile stand »Amnesty«. Ein Bekannter verschlüsselte die Mail und schickte sie über einen besser geschützten Account. In China gibt es eine aus 30.000 Mitarbeitern bestehende Zensurbehörde, die es anscheinend schafft, E-Mails zu blockieren. Sie schafft es aber nicht, Menschenrechtsaktivisten wie Liu Xiabo mundtot zu machen. Monika Lüke ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.

imPressum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn, Tel.: 0228 - 98 37 30, E-Mail: Info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Daniel Kreuz, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Larissa Probst, Ralf Rebmann Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Imke Dierßen, Martin Dlugosch, Tanja Dückers, Robin Hammond, Ines Kappert, Stefan Keßler, Jürgen Kiontke, Heike Kleffner, Peter Litschke, Monika Lüke, Katrin Bettina Müller, Barbara Oertel, Tobias Rapp, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Carsten Stormer, Martin Weiss, Sarah Wildeisen, Inga Winkler Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de

aktiv fÜr amnesty

Druck: Johler Norddruck GmbH, Gadelander Str. 77, 24539 Neumünster Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln, BLZ 370 205 00 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 1433-4356 | Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Recyclingpapier.

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JEDER DRITTE FALL ALLER AMNESTY-BRIEFAKTIONEN ZEIGT WIRKUNG UND KONKRETE ERFOLGE. BEISPIELE:

DEIN BRIEF KANN LEBEN RETTEN!

„Ich danke euch für euren unermüdlichen Einsatz, der zur Freilassung meines Vaters beigetragen hat. Er ist sicher zu Hause angekommen. Sagt bitte allen Menschen, die uns unterstützt haben, dass ich alle Briefe und Karten erhalten habe und sie an meinen Vater weitergeben werde.“ (Sohn von U Win Htein/Myanmar)


www.amnesty.de

WERDEN SIE JETZT AKTIV UND VERSENDEN SIE DIE BEILIEGENDEN POSTKARTEN!

IGOR KOKTISCH, Musiker und UnterstĂźtzer der belarussischen Opposition, hatte sein Land 2003 nach einem Freispruch in Folge einer offenbar konstruierten Mordanklage verlassen. Im Juni 2007 wurde er auf Antrag der belarussischen BehĂśrden von der ukrainischen Polizei verhaftet. Doch am 10. Dezember 2009 entschied der Europäische Gerichtshof fĂźr Menschenrechte, dass Igor Koktisch nicht nach Belarus ausgeliefert YGTFGP FĂ˜THG FC KJO FQTV (QNVGT WPF FKG 6QFGUUVTCHG FTQJGP 0CEJ UGKPGT (TGKNCUUWPI KO Februar 2010 dankte er Amnesty International fĂźr die UnterstĂźtzung.

Der syrische Kurde ‘ABD AL-KARIM HUSSEIN, der sich gegen staatliche UnterdrĂźckung der MWTFKUEJGP /KPFGTJGKV KP UGKPGO .CPF GKPUGV\V ĆƒQJ PCEJ 0QTYGIGP WPF DG CP tragte Asyl. Sein Antrag wurde abgelehnt, er wurde nach Damaskus abgeschoben. Wie befĂźrchtet, nahmen ihn die SicherheitsbehĂśrden dort direkt nach seiner Ankunft fest und hielten ihn in Einzelhaft – ohne Kontakt zu seiner Familie oder einem Anwalt. Amnesty International setzte sich mit weltweiten Appellen weiter fĂźr ihn ein. Am 2. September 2010 wurde er ohne Anklageerhebung aus der Haft entlassen.

U WIN HTEIN wurde am 15. Juli 2010 aus dem Gefängnis in Katha, Myanmar entlassen. Der ehemalige Privatsekretär von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi war 1996 zu insgesamt 14 Jahren Haft verurteilt worden, weil er ausländische Journalisten bei ihrer Recherche Ăźber die katastrophalen Haftbedingungen politischer Gefangener unterstĂźtzt hatte. Im Rahmen einer Amnestie lieĂ&#x; ihn die Regierung am 23. September 2008 vorzeitig frei. Doch nur wenige Stunden später wurde er erneut verhaftet und blieb weitere zwei Jahre hinter Gittern.


Abs.: Amnesty International, Postfach, 53108 Bonn Postvertriebsstück · 1201 · Entgelt bezahlt

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