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das maGazIn fÜr dIe mensCHenreCHte
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amnesty journal
endstatIon bosporus der verhängnisvolle weg nach europa
brandzeICHen die ungarische justiz und die Übergriffe auf die roma
Hans-CHrIstIan sCHmId der regisseur über das Kino der menschenrechte
02/03
2011 februar märz
Illustration: André Gottschalk
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edItorIal
eIn KrItIsCHes wort… Foto: Amnesty
Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals
… und schon sitzt man im Knast. In vielen Ländern ist diese Erfahrung buchstäblich alltäglich – vor allem für jene, die sich beruflich mit Worten beschäftigen. Schriftsteller und Autoren gehören zu den ersten, die unter despotischen Regimen zu leiden haben. Die Liste der Staaten, in denen die Freiheit des Wortes nicht viel zählt, ist in den vergangenen Jahren nicht kürzer geworden – davon zeugen die verfolgten und exilierten Autoren, die wir in dieser Ausgabe porträtieren. Wie elementar das Recht ist, die eigene Meinung frei zu äußern, belegen die Beiträge unserer Gastautoren Marica Bodrožić, Liu Xiaobo, Herta Müller, Imre Török, Maike Wetzel, Tanja Dückers, Irina Liebmann, Norbert Zähringer, Maria Cecilia Barbetta und Wladimir Kaminer. Wir freuen uns sehr, dass wir sie für diese Ausgabe gewinnen konnten. Einer von ihnen, Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, ist derzeit inhaftiert. Er gehörte zu den Ersten, die sich in China für demokratische Verhältnisse einsetzten. Warum diese Ziele für die heutige Generation eher ungewöhnlich sind, beschreibt er in einem der letzten Interviews vor seiner Verhaftung (S. 30). »Eine Diktatur erzieht zum Hass und zum Intrigantentum, sie ermuntert zum Lügen und bringt Feigheit und Skrupellosigkeit hervor«, heißt es in einem Essay von Liu Xiaobo, den wir in deutscher Erstveröffentlichung publizieren. Mit dieser Schriftsteller-Ausgabe des Journals ist Amnesty auch beim Internationalen Literaturfest »lit.COLOGNE« präsent, das vom 16. bis 26. März in Köln stattfindet. Auf einer Veranstaltung lesen zahlreiche prominente Künstler, darunter Nina Hoss und Benno Fürmann, Texte verfolgter Autoren (S. 84). Anlass des Großereignisses in der Kölner Lanxess-Arena ist das 50-jährige Bestehen von Amnesty International. Die Lesung ist ein Vorgeschmack auf die zahlreichen Veranstaltungen, die aus diesem Anlass in den kommenden Wochen und Monaten weltweit stattfinden werden. Ein Höhepunkt ist der Festakt am 27. Mai im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, bei dem auch der Menschenrechtspreis verliehen wird. Dort und bei vielen weiteren Jubiläumsveranstaltungen können Sie erfahren, was der Einsatz für die Menschenrechte in den vergangenen fünf Jahrzehnten alles bewegt hat – und wie viel wir künftig noch verändern können. Sie sind herzlich eingeladen!
edItorIal
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InHalt
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Die Illustration des Titelbildes besorgte André Gottschalk für uns. Der Berliner Grafiker gestaltete auch den größten Teil der Titelgeschichte ab Seite 16.
tHema 18 Papier verzeiht nichts
Die Verfolgung kritischer Schriftsteller, Journalisten und Publizisten ist ein weltweites Phänomen. Ein Überblick. Von Uta von Schrenk
25 Die Freiheit nutzen
Meinungsfreiheit ist grundlegend für eine demokratische Gesellschaft. Von Anna Catherin Loll
26 Wortgewalt
rubrIKen 06 Reaktionen 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: Surya Shankar Dash 15 Kolumne: Christian Rickerts 76 Briefe gegen das Vergessen 78 50 Jahre Amnesty 80 Aktiv für Amnesty 81 Monika Lüke über Geburtstage 82 Aktion
Sprache kann befreien, wie Nelson Mandela in Südafrika zeigte, sie kann aber auch zerstören. Von Marica Bodrožić
29 Der schmale Grat
Thomas Aue Sobol über seine Begegnung mit dem Autor und Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo.
30 »Der Druck muss vom Volk ausgehen«
Ein Gespräch von Thomas Aue Sobol mit Liu Xiaobo.
33 Freiheit und Redlichkeit Ein Essay von Liu Xiaobo
36 Cristina und ihre Attrappe
oder Was (nicht) in den Securitate Akten steht. Die Schriftstellerin Herta Müller beschreibt, wie der rumänische Geheimdienst Securitate versuchte, sie zu diskreditieren.
41 Verschwundene Meere
Menschenrechtler vermuten einen politischen Hintergrund bei dem Prozess gegen den deutschen Schriftsteller Doğan Akhanlı. Von Imre Török
Illustrationen und Fotos oben: Susann Stefanizen | André Gottschalk | Gesa Becher
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amnesty journal | 02-03/2011
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berICHte 44 Ein unsichtbares Heer
Sie putzen, pflegen und bauen für uns. Weil wir billige Dienstleistungen bevorzugen, leben sie in der Illegalität. Von Maike Wetzel
48 »Narbenland«
Berlin, 1982. Die jugendliche Ich-Erzählerin Julika Zürn begegnet dem geheimnisvollen Herrn Adán, einem chilenischen Exilanten, der in einer Apotheke arbeitet. Von Tanja Dückers
50 Ein Klassentreffen
Wie es ist, sich Jahrzehnte und einen Staat später wiederzusehen und die Geschichten zu erfahren, die man sich im alten Leben verschwiegen hat. Von Irina Liebmann
53 2016
Ein sportlicher Wettkampf im Ausland. Die Nationalmannschaft aus dem Land des Wunderbaren Führers auf Besuch im Zoo. Unter ihnen ein junger Mann, der vor einer Entscheidung steht. Eine Erzählung von Norbert Zähringer
56 Weißt du noch?
Eine Kindheit in Zeiten der Diktatur: Bilder und Bausteine persönlicher Erinnerung. Von María Cecilia Barbetta
58 Wortsalat
62 Endstation Bosporus
Einer der wichtigsten Fluchtwege nach Europa führt durch die Türkei. Der Flüchtlingsschutz dort ist jedoch mangelhaft, kritisiert Amnesty International. Von Michaela Ludwig
67 Schweigen und verdrängen
Das kroatische Justizsystem erweist sich als unfähig, die schweren Kriegsverbrechen der neunziger Jahre aufzuarbeiten, wie ein neuer Amnesty-Bericht belegt. Von Denis Beil
68 Verheerende Zeichen
In Ungarn sind die Behörden unfähig und unwillig, rassistische Verbrechen angemessen zu ahnden, wie Amnesty International in einem aktuellen Bericht dokumentiert. Vor allem Roma sind davon betroffen. Von Sara Fremberg
71 Das Schweigen brechen
In Nicaragua sind minderjährige Mädchen in besonders hohem Maße von sexueller Gewalt betroffen. Doch bitten die Opfer um Hilfe, stoßen sie auf Ignoranz und Ablehnung. Von Murielle Mervielle
72 »Vereinfachungen sind nicht einfach«
2009 gewann Hans-Christian Schmid mit dem Spielfilm »Sturm« den Amnesty-Filmpreis. Ein Gespräch über das Kino der Menschenrechte.
In der Sowjetunion schrieben und lasen die Menschen auf der Suche nach dem wahren Wort die Nächte durch. Und wissen wir heute, welche Druckfehler und Rezepte unsere Zukunft bestimmen werden? Von Wladimir Kaminer
InHalt
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maroKKo
russland
CHIna
Mindestens neun Tote und elf Verletzte. Das ist das Resultat einer gewaltsamen Räumung des »Gadaym Izik« – eines Protestcamps in der Nähe der Stadt Laayoune in der Westsahara. Tausende Mitglieder der sahrauischen Bevölkerung wurden bei der Aktion von marokkanischen Sicherheitskräften vertrieben. Sie protestierten für einen gleichberechtigten Zugang zu Arbeitsplätzen und Wohnungen. Amnesty hat die Behörden aufgefordert, die Vorfälle zu untersuchen.
Der Schuldspruch war abzusehen, nicht aber das hohe Strafmaß. Der Geschäftsmann Michail Chodorkowski und sein Partner Platon Lebedew wurden im vergangenen Dezember von einem Moskauer Gericht zu insgesamt 14 Jahren Haft verurteilt. Damit muss Chodorkowski, dem Unterschlagung und Geldwäsche vorgeworfen werden, noch bis 2017 im Gefängnis bleiben. Amnesty kritisierte das Verfahren als politisch motiviert und forderte das Gericht auf, das Urteil fallenzulassen.
Chinesische Behörden verstehen keine Satire. Das musste Cheng Jianping erfahren, als sie im Oktober vergangenen Jahres eine Nachricht über den Online-Dienst Twitter verbreitete. Laut den chinesischen Behörden habe Cheng dazu aufgerufen, den japanischen Pavillon bei der Expo 2010 in Shanghai zu attackieren. Dafür wurde sie zu einem Jahr Haft verurteilt. Sie muss die Strafe in einem Arbeitslager ableisten. Amnesty fordert die sofortige Freilassung der Online-Aktivistin.
Ausgewählte Ereignisse vom 11. November bis 10. Januar 2011.
Kuba Sein Stuhl blieb leer. Guillermo Fariñas, Journalist und Preisträger des »SacharowPreises für geistige Freiheit« 2010, wurde von den kubanischen Behörden daran gehindert, an der Preisverleihung in Straßburg teilzunehmen. »Fariñas hat sich mit friedlichen Mitteln für die Pressefreiheit eingesetzt«, sagte Kerrie Howard, stellvertretende Direktorin des Americas-Programms von Amnesty. »Das Ausreiseverbot zeigt, dass Menschenrechte in Kuba immer noch eine untergeordnete Rolle spielen.«
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sImbabwe Im Dezember vergangenen Jahres hat ein Gericht in Harare die Anklage gegen Ellen Chademana fallengelassen. Ihr wurde der Besitz pornographischen Materials vorgeworfen. Chademana ist für die Organisation »Gays and Lesbians of Zimbabwe« tätig und setzt sich für die Rechte homosexueller Menschen ein. Amnesty fordert die simbabwischen Behörden auf, Menschenrechtsverteidiger nicht länger zu schikanieren, sondern deren Arbeit zu unterstützen.
IndonesIen Um an einer Berufsschule in der indonesischen Stadt Magetan studieren zu können, mussten Bewerberinnen einen Schwangerschaftstest durchführen lassen. »Solche Eignungstests sind erniedrigend und diskriminierend – vor allem, wenn sie nur von Frauen verlangt werden«, sagte Isabelle Arradon, Indonesien-Expertin von Amnesty International. Ähnliche Versuche gab es vor kurzem auf der Insel Sumatra: Dort sollten Studentinnen auf ihre Jungfräulichkeit getestet werden.
amnesty journal | 02-03/2011
Foto: Thomas Grabka / laif
erfolGe
Die Beamten »1211« und »1211« im Einsatz. Zukünftig soll jeder Berliner Polizist eine individuelle Nummer zur Identifizierung tragen.
berlIn KennzeICHnet polIzeIbeamte Die Polizeiarbeit in der Hauptstadt wird transparenter: Berliner Polizisten sind ab diesem Jahr verpflichtet, Schilder mit Namen oder Nummer zur Identifizierung zu tragen. Das hat die Einigungsstelle des öffentlichen Dienstes in Berlin entschieden. Die Kennzeichnungspflicht soll im Laufe des ersten Halbjahres umgesetzt werden und gilt für Streifen- und Bereitschaftspolizisten gleichermaßen. »Wir begrüßen, dass Berlin als erstes Bundesland nun die individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte einführt. Damit wird die Transparenz in der Polizei gestärkt«, sagte Monika Lüke, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. Amnesty hat sich im Rahmen der Kampagne »Mehr Verant-
deutsCHland
urteIl GeGen HomopHobIe
Ugandische Menschenrechtsgruppen bezeichnen es als »Meilenstein« im Kampf gegen Homophobie. Vincent MusokeKibuuk, Richter des Obersten Gerichtshofs, hat der ugandischen Wochenzeitung »Rolling Stone« untersagt, die Identität von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (LGBT) der Öffentlichkeit preiszugeben. Die Wochenzeitung hatte im vergangenen Oktober eine Liste mit Fotos und Namen von homosexuellen Menschen veröffentlicht. Ein Artikel trug die Überschrift »Hängt sie«. Mindestens vier Menschen, die in der Liste auftauchten, wurden nach der Veröffentlichung angegriffen. Eine Frau musste ihr Haus verlassen, nachdem es von Nachbarn mit Steinen beworfen wurde.
uGanda
erfolGe
wortung bei der Polizei« für die Kennzeichnungspflicht eingesetzt: Im vergangenen Jahr nahmen rund 11.500 Menschen an einer Online-Demonstration teil, fast 2.000 E-Mail-Petitionen wurden an Bundesinnenminister Thomas de Maizière geschickt. Monika Lüke hat die Innenminister der anderen Bundesländer aufgerufen, ebenfalls die Kennzeichnungspflicht einzuführen und »schnell dem Vorbild von Berlin zu folgen«. Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg, betonte in einem Brief an de Maizière im vergangenen Dezember, dass die Bevölkerung der Polizei nur vertrauen kann, wenn »Polizeikräfte Transparenz auf ganzer Linie zeigen«. In anderen Bundesländern gibt es bisher nur eine Kennzeichnung auf freiwilliger Basis.
Bereits im April 2009 veröffentlichte die Zeitung »Red Pepper« einen Artikel mit dem Titel: »Top Homos in Uganda named«. Darin aufgeführt waren die Namen von Homosexuellen, mit Informationen über Beruf und Aussehen. Im selben Jahr wurde im ugandischen Parlament ein Gesetzesentwurf eingebracht, der die Berichterstattung über Homosexualität unter Strafe stellt. Bisher wurde er noch nicht angenommen. »Der Beschluss ist eine gute Nachricht für Uganda. Die Regierung hat lange genug über die Diskriminierung und Gewalt gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender geschwiegen«, sagte Kasha Jacqueline. Sie und zwei weitere Personen hatten sich entschieden, den »Rolling Stone« anzuklagen.
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Foto: Petterik Wiggers / Panos Pictures
Anklage wegen »Rowdytum«. Adnan Hajizade in seiner Wohnung in Baku, November 2010.
bloGGer auf bewäHrunG freI aserbaIdsCHan Nach 17 Monaten Haft sind die Online-Aktivisten Adnan Hajizade und Emin Milli im November 2010 auf Bewährung frei gelassen worden. Amnesty International und viele weitere Unterstützer haben sich für sie eingesetzt.
Sichtlich erleichtert blicken die beiden Männer in die Kamera. Sie stehen vor einer schlichten weißen Wand, ihre Haare sind kurz geschnitten, im Hintergrund läuft Musik. Dann die gute Nachricht: »Wir sind wieder da! Die Kampagne für unsere Freilassung war etwas ganz Außergewöhnliches, wir können es immer noch nicht glauben, vielen Dank für jeden einzelnen, der uns unterstützt hat.« So meldeten sich Adnan Hajizade und Emin Milli in einem YouTube-Video am 12. Dezember 2010 nach ihrer Inhaftierung zurück. Ein YouTube-Video war es auch, das sie im Juni 2009 in den Fokus der aserbaidschanischen Regierung rücken ließ. Darauf war zu sehen, wie Adnan Hajizade eine Pressekonferenz vor einer Gruppe Journalisten gibt – als Esel verkleidet. Die beiden Blogger sind für ihr zivilgesellschaftliches Engagement bekannt: Emin Milli gehört zu den Gründungsmitgliedern der Jugendorganisation »Alumni Network«, Adnan Hajizade koordiniert die Jugendbewegung »OL!«, die für Gewaltlosigkeit und Toleranz eintritt. Das Video war als direkte Kritik an der Regierung zu verstehen: Lokale Medien hatten über exorbitante Ausgaben im Staatshaushalt berichtet, angeblich um Esel zu importieren. Die Behörden reagierten kurz nach der Veröffentlichung des Videos. Am 8. Juli 2009 wurden Hajizade und Milli in einem Restaurant in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku von Unbekannten angegriffen. Als sie bei der Polizei Anzeige erstatten wollten, wurden sie fünf Stunden lang auf dem Revier ver-
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hört und schließlich festgenommen. Am Ende saßen die Männer selbst auf der Anklagebank – wegen »Rowdytums«. In einem unfairen Prozess im November 2009 wurde Hajizade zu zwei Jahren, Milli zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Es folgten weltweite Proteste von Amnesty International und anderen Organisationen, Politikern und privaten Unterstützern. Der UNO-Menschenrechtsausschuss kritisierte im August 2009, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung in Aserbaidschan zunehmend eingeschränkt werde. Auf der Rangliste der Pressefreiheit, die Reporter ohne Grenzen vor kurzem veröffentlichte, liegt Aserbaidschan auf Platz 152 – von insgesamt 178. Regierungskritische Journalisten müssen Angriffe und staatliche Willkür befürchten. Das zeigt auch der Fall des Journalisten Eynulla Fatullayev. Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Anklage gegen ihn wegen Störung der öffentlichen Ordnung im April 2010 aufgehoben hat, sitzt er weiterhin im Gefängnis. Amnesty betrachtet ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen. Ein weiteres Beispiel ist der Jugendaktivist Bakhtiyar Hajiyev. Er wurde am 18. November 2010 von den Sicherheitskräften ohne Begründung eine Nacht lang festgehalten und eingeschüchtert. Er hatte sich zuvor über Manipulationen bei der Parlamentswahl in Aserbaidschan beschwert, aus der die Regierungspartei von Präsident Ilham Älijey siegreich hervorging. Die Opposition sprach nach der Wahl von Betrug und forderte eine Wiederholung. Ob die gegen Adnan Hajizade und Emin Milli verhängten Bewährungsstrafen aufrechterhalten werden, ist noch offen. Die Anwälte der beiden haben sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gewandt. Sie hoffen, dass dieser die Urteile aufhebt.
amnesty journal | 02-03/2011
eInsatz mIt erfolG nach Bagdad gebracht werden. Die Behörden reagierten damit auf eine Anordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Oktober 2010. Dieser hatte gefordert, die Abschiebungen von Irakern einzustellen, bis der Gerichtshof ein diesbezügliches Urteil gefällt hat. Die Entscheidung wird für 2011 erwartet. Amnesty International forderte die europäischen Staaten auf, keine Flüchtlinge in den Irak abzuschieben, vor allem nicht in besonders gefährliche Regionen. Dazu gehören die Provinzen Ninewa (Mosul), Kirkuk, Diyala, Salah al-Din und Bagdad sowie Teile der Provinz Al-Anbar. Im Irak geraten noch immer jeden Monat Hunderte von Zivilpersonen zwischen die Fronten von bewaffneten Gruppen, Sicherheitskräften und Stammesangehörigen – oft mit tödlichen Folgen.
todesurteIl weGen HexereI abGeleHnt
Foto: privat
KeIne zwanGsräumunG In Harare
Knapp 20.000 Menschen einer Siedlung in der simbabwischen Hauptstadt Harare dürfen auf ihrem Gebiet wohnen bleiben. Das sicherte der Minister für staatliche Wohnungspolitik, Giles Mutsekwa, in einem Brief an den simbabwischen Botschafter in Deutschland zu: »Niemand wird aus seinem rechtmäßigen Siedlungsgebiet vertrieben. Es gibt und gab nie Pläne einer Zwangsräumung des sImbabwe
saudI-arabIen Als Moderator einer libanesischen Fernsehshow wagte Ali Hussain Sibat Zukunftsprognosen und gab Ratschläge in Lebensfragen. Dafür wurde der Libanese im November 2009 von einem Gericht in Saudi-Arabien wegen »Hexerei« zum Tode verurteilt. Der Oberste Gerichtshof in Riad hat das Urteil nun als unrechtmäßig abgelehnt und zur Überarbeitung an das Ursprungsgericht zurückgegeben. Die Begründung: Es gebe keine Beweise dafür, dass Ali Hussain Sibat andere Personen geschädigt habe. »Die Entscheidung ist ein Schritt in die richtige Richtung und führt hoffentlich dazu, dass sein Todesurteil aufgehoben wird«, sagte Malcolm Smart, Direktor des Amnesty-Programms Naher Osten und Nordafrika. »Wir fordern dennoch seine unverzügliche Freilassung. Sein einziges Vergehen war, dass er seine Meinung frei geäußert hat.«
IraKIsCHe flÜCHtlInGe dÜrfen bleIben
Die niederländischen Behörden haben eine geplante Abschiebung von irakischen Flüchtlingen vorerst ausgesetzt. Ursprünglich sollten die Flüchtlinge Anfang November per Flugzeug
nIederlande
erfolGe
Foto: Amnesty
Ali Hussain Sibat
Wohnungen in Hatcliffe Extension in Harare.
Stadtteils Hatcliffe Extension.« Im vergangenen Juni hatte das Ministerium für Stadt- und Landentwicklung die Mieter von Hatcliffe Extension aufgefordert, eine Gebühr von bis zu hundert Euro für eine Verlängerung der Mietverträge zu bezahlen. Viele Bewohner des Stadtteils können solche Beträge nicht bezahlen und mussten deshalb eine Zwangsräumung
befürchten. Amnesty International hatte sich daraufhin mit einer Briefaktion für die Bewohner von Hatcliffe Extension eingesetzt.
IraKIsCHer polIzIst In freIHeIt
IraK Er stand unter Verdacht, mit be-
waffneten Milizen in Kontakt zu stehen. Ende 2010 durfte Qusay ’Abdel-Razaq Zabib das Gefängnis verlassen. »Seine Freilassung war längst überfällig«, sagte Malcolm Smart, Direktor des AmnestyProgramms Naher Osten und Nordafrika. Qusay befand sich mehr als zwei Jahre ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Haft – zunächst unter Aufsicht der USStreitkräfte, dann wurde er irakischen Sicherheitskräften übergeben. Das Ende seiner Haftzeit verbrachte er in einem Gefängnis in der Nähe von Tikrit. Gegenüber Amnesty bestätigte er, dass er in dieser Zeit nicht gefoltert oder misshandelt wurde. Amnesty hatte im vergangenen Dezember eine Eilaktion für ihn gestartet. Qusay bedankte sich bei allen Unterstützern für ihren Einsatz. In Zukunft will er wieder als Polizeibeamter arbeiten.
HInrICHtunG ausGesetzt
usa Der Oberste Gerichtshof des USBundesstaats Tennessee hat die für Ende November 2010 geplante Hinrichtung von Stephen West aufgeschoben. West war schuldig gesprochen worden, im Jahr 1986 Wanda Romines und deren 15-jährige Tochter Sheila ermordet zu haben. Der Verurteilte sollte durch die Stephen West Injektion eines tödlichen Giftes sterben. Eine Bezirksrichterin äußerte jedoch Zweifel, ob diese Hinrichtungsmethode verfassungsgemäß sei. Zur Begründung hieß es, die notwendige Dosis des Gifts sei nicht ermittelt worden. Dieses Versäumnis könne dazu führen, dass der Gefangene »bei vollem Bewusstsein den Erstickungstod stirbt«. Der Aufschub gilt auch für drei weitere Gefangene in Tennessee, deren Hinrichtungen in den kommenden zwei Monaten hätten stattfinden sollen.
Foto: AP
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.
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panorama
Foto: Amr Abdallah Dalsh / Reuters
weIssrussland: polIzeIGewalt und repressIon naCH präsIdentsCHaftswaHl , Es war zu erwarten, dass der amtierende weißrussische Präsident Alexander Lukaschenka die Wahl im Dezember erneut gewinnen würde. Nicht zu erwarten war die Brutalität, mit der die Polizei in Minsk gegen friedliche Demonstranten, Journalisten und Oppositionspolitiker vorging. Hunderte wurden inhaftiert oder durch Schlagstöcke verletzt. Der Präsidentschaftskandidat Andrei Sannikov wurde festgenommen, als er auf dem Weg ins Krankenhaus war. Seine Frau Irina Chalip, eine bekannte Reporterin, berichtete in einem Radiosender über die Vorfälle, als Polizisten sie abführten. »Mich schlägt die Polizei«, schrie sie noch ins Mikrofon, bevor die Verbindung abbrach. »Der Polizeieinsatz ist ein weiterer Versuch, die Opposition einzuschüchtern«, sagte Heather McGill, Amnesty-Expertin für Weißrussland. »Die Regierung zeigt damit, welchen geringen Stellenwert Menschenrechte in Weißrussland haben.« Ende des Jahres wurde außerdem das Büro der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) von den Behörden geschlossen. Die Organisation hatte den Ablauf der Wahl kritisiert.
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amnesty journal | 02-03/2011
% äGypten: meHr sCHutz fÜr relIGIöse mInderHeIten Ein tödlicher Anschlag auf eine koptische Kirche in Alexandria in den frühen Morgenstunden des 1. Januar forderte 23 Menschenleben und Dutzende Verletzte. Amnesty International hat den Bombenanschlag scharf verurteilt und eine umfassende Aufklärung über Täter und Umstände gefordert. Dazu zählt auch die Frage, ob die Behörden im Vorfeld von Feierlichkeiten ausreichende und effektive Schutzmaßnahmen für christliche Einrichtungen veranlasst haben. Die ägyptischen Behörden haben in den vergangenen Jahren nicht angemessen auf wiederholte Übergriffe gegen religiöse Minderheiten wie Kopten und Baha’is reagiert. Täter wurden entweder gar nicht ermittelt oder nur milde bestraft. Das Versagen der ägyptischen Regierung hat somit zu steigenden Spannungen zwischen muslimischer Mehrheitsbevölkerung und Kopten beigetragen. Versprechen von offizieller Seite, diskriminierendes Verhalten der Behörden, beispielsweise bei der Genehmigung von Kirchenbauten zu beenden, wurden nicht eingelöst.
Foto: Sergei Grits / AP
panorama
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Foto: Holly Pickett / The New York Times / laif
naCHrICHten
Flucht nach Aufstand. Fähnchen mit dem Bild von Ex-Präsident Ben Ali liegen auf dem Flur eines Regierungsgebäudes. Tunis, 16. Januar 2011.
mensCHenreCHte Im ausnaHmezustand Nach dem Sturz des tunesischen Präsidenten Ben Ali hat Amnesty International die Behörden des Landes dazu aufgefordert, die Rechte und die Sicherheit der Bevölkerung zu garantieren. »Jede Aktion des Staates, auch unter dem Ausnahmezustand, muss in vollem Maße mit den internationalen Menschenrechtsstandards übereinstimmen«, forderte Hassiba Hadj Sahraoui, stellvertreten-
tunesIen
de Direktorin des Nordafrika-Programms von Amnesty. Nach über zwei Jahrzehnten rücksichtloser Repression im Namen der Sicherheit erwarte die tunesische Bevölkerung, dass die Behörden endlich die Menschenrechte gewährleisten. In der Vergangenheit gab es in Tunesien zahlreiche Fälle von willkürlichen Verhaftungen sowie Folter und Misshandlungen in Isolationshaft. Auslöser der jüngs-
lebenslanGe Haft fÜr ex-dIKtator VIdela Ein Gericht in Córdoba hat Jorge Rafael Videla, einen der führenden Köpfe der Militärdiktatur, Ende vergangenen Jahres zu lebenslanger Haft verurteilt. Im März muss sich der 85-Jährige zwei weiteren Prozessen stellen: wegen der Entführung von Babys sowie wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im nordargentinischen Tucumán. »Die Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsvergehen ist ein wichtiger Schritt für ein Ende der Straflosigkeit in Argentinien«, sagte Guadalupe Marengo, stellvertretende Direktorin des AmericasProgramms von Amnesty International.
arGentInIen
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»Diejenigen, die für die Vergehen während der Militärdiktatur verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden.« Als »schmutziger Krieg« werden die ersten Jahre der Militärdiktatur bezeichnet, die von 1976 bis 1983 in Argentinien herrschte. Schmutzig war er, weil die damalige Militärjunta systematisch und auf grausame Weise gegen politische Gegner vorging, sie entführte, folterte und umbrachte. Kinder wurden ihren Eltern weggenommen und an regimetreue Paare übergeben. Über 30.000 Menschen wurden Opfer des Staatsterrors.
ten Proteste war der öffentliche Selbstmord eines Jugendlichen im Dezember. Er hatte gegen die schwierigen Lebensbedingungen und die hohe Arbeitslosigkeit demonstriert. Seine Verzweiflungstat löste eine Protestwelle im ganzen Land aus, die zur Flucht von Präsident Ben Ali führten. Mehrere Dutzend Demonstranten kamen bei den Auseinandersetzungen in den vergangenen Wochen ums Leben.
An dessen Spitze stand bis 1981 Jorge Rafael Videla. Bereits 1985 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, jedoch später durch ein Amnestiegesetz begnadigt. In dem aktuellen Urteil wurden Videla sowie Ex-Armeechef Luciano Benjamín Menéndez wegen Folter und Ermordung in 31 Fällen für schuldig befunden. In diesem Jahr sollen noch weitere fünf Prozesse gegen Verantwortliche der Militärdiktatur geführt werden. Nach offiziellen Angaben sind bisher 196 Personen für ihre Vergehen während der Militärdiktatur verurteilt worden – 98 allein im vergangenen Jahr.
amnesty journal | 02-03/2011
Protest via Web 2.0. Der Dokumentarfilmer Surya Shankar Dash unterstützt indigene Gruppen im Kampf gegen Bergbauunternehmen im indischen Bundesstaat Orissa – und macht sich dabei das Internet zunutze.
InterVIew
surya sHanKar dasH
Der indische Dokumentarfilmer Surya Shankar Dash setzt sich im indischen Bundesstaat Orissa mit ungewöhnlichen Mitteln für die Rechte der indigenen Bevölkerung ein. So verteilt er Kameras unter den Betroffenen, damit sie Menschenrechtsverletzungen direkt vor Ort dokumentieren können. Außerdem unterstützt er die Bevölkerungsgruppe der Dongria Kondh Adivasi in ihrem friedlichen Protest gegen die Pläne von Vedanta Resources. Das britische Bergbauunternehmen will am heiligen Berg der Dongria Kondh Aluminiumerz abbauen.
IndIen
Kürzlich hat die indische Regierung das von Vedanta beantragte Minenprojekt und die Expansion der bestehenden Aluminiumraffinerie abgelehnt. Welche Bedeutung hat dieser Erfolg für die Dongria Kondh? Das bedeutet, dass ihr Land, ihre Wälder, ihre Flüsse und ihre Dörfer erst einmal gerettet sind. Die jüngsten Erfolge stellen jedoch noch keinen endgültigen Sieg dar: Die Dongria fordern die Schließung der Raffinerie, da Vedanta gegen alle bestehenden Umweltgesetze verstoßen hat. Bis dies nicht erreicht ist, werden sie ihre Proteste fortführen.
Foto: Amnesty
»dIe reGIerunG Hört auf amnesty« Für meine Arbeit sind sie extrem wichtig. Ich habe nicht die Möglichkeit, meine Dokumentationen in den großen Medien zu platzieren. Mit diesen Internet-Portalen kann man viele Menschen in Indien und weltweit erreichen. Außerdem kann man schnell kommunizieren. Zum Beispiel dokumentierten wir vor einiger Zeit gewaltsame Übergriffe der Polizei in Kalinganagar. Abends stellten wir die Videos bei YouTube ein, am nächsten Tag wusste die Welt über den Fall Bescheid. Welche Projekte im Bundesstaat Orissa unterstützen Sie noch? In Orissa gibt es viele Bergbauprojekte, aber ich werde nur dort tätig, wo es lokale Proteste gibt. In der Stadt Kalinganagar wehrt sich die Bevölkerung seit Jahrzehnten gegen Tata Steel, immer wieder werden Aktivisten durch die Polizei getötet. In Jagatsinghpur protestieren die Menschen gegen Bosco Steel, das ein Stahlwerk und Minen plant. Dadurch würden jedoch fruchtbares Farmland und Fischgründe zerstört, mehrere Gemeinden sind betroffen.
Wie unterstützen Sie die indigene Bevölkerung? Ich mache Filme und dokumentiere so den Kampf der indigenen Bevölkerung Orissas. Außerdem organisiere ich Proteste. Aber meine Hauptaufgabe sehe ich darin, das zu überbrücken, was ich »Kommunikationslücke« nenne: Die indischen Medien interessieren sich nicht für die Probleme in Orissa. Sie haben erst angefangen, über Vedanta zu berichten, nachdem Amnesty International und andere Organisationen den Fall aufgegriffen haben. Dem wollte ich etwas entgegen setzen, ich wollte Indiens Bevölkerung über Vedanta aufklären. Dazu haben wir auch neue Medien wie Facebook und YouTube genutzt.
Wie können Organisationen wie Amnesty International die Protestbewegung unterstützen? Sie können diese »Graswurzelbewegungen« aus ihrer Isolation holen und Druck auf die Regierung ausüben. Wir haben oft beobachtet, dass die Repressionen nach einer Stellungnahme von Amnesty International nachlassen. Auf ihre eigene Bevölkerung hört die Regierung nicht, aber auf eine Organisation wie Amnesty schon. Die indischen Medien leisten keinen Beitrag, um die Zivilgesellschaft zu mobilisieren. Ländliche Gemeinden werden typischerweise als primitiv angesehen, ihre Stimmen werden nicht wahrgenommen. Dabei hätten sie einen wichtigen Beitrag zu der Frage zu leisten, welche Art von Entwicklung wir für unser Land wollen.
Welche Rolle spielen diese Plattformen für ihre Arbeit?
Fragen: Maja Liebing
naCHrICHten
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InterVIew
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KeIn sCHutz fÜr frauen
Die Lebensbedingungen auf Haiti sind ein Jahr nach dem katastrophalen Erdbeben nach wie vor miserabel. Hinzu kommt, dass Frauen und Mädchen zunehmend sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Das zeigt der neue Bericht von Amnesty International. Suzie* hat nach dem Erdbeben fast alles verloren: ihr Zuhause, ihre Eltern, ihren Bruder und ihren Mann. Zwei Söhne haben überlebt. Diese mussten mit ansehen, wie vier Männer eines Nachts in die Notunterkunft kamen, ihrer Mutter und einem Bekannten die Augen verbanden und beide vergewaltigten. »Nachdem sie fort waren, konnte ich mich nicht rühren«, sagte Suzie gegenüber Amnesty. »Ich wäre in ein Krankenhaus gegangen, aber ich wusste nicht wohin.«
In den ersten fünf Monaten nach dem Erdbeben wurden über 250 Vergewaltigungen von lokalen Hilfsorganisationen dokumentiert. Die Täter sind meistens in Gruppen unterwegs, oft bewaffnet. »Viele Frauen und Mädchen kämpfen ohnehin schon mit dem Verlust ihrer Angehörigen und ihres Zuhauses. Nun müssen sie sich zusätzlich vor sexuellen Übergriffen fürchten«, sagte Gerardo Ducos, HaitiExperte von Amnesty International. Derzeit leben über eine Million Menschen in knapp 1.200 improvisierten Zeltstädten in der Hauptstadt Port-auPrince und im Süden Haitis. Ihre Unterkünfte bestehen aus Planen und Decken und liegen oft in der Nähe von Müllhalden, Hauptstraßen oder Abwasserkanälen. Wenn es regnet, werden die Camps
unter Wasser gesetzt. Die katastrophalen hygienischen Zustände haben zur Ausbreitung der Cholera geführt: Im vergangenen Jahr sind knapp 3.500 Menschen daran gestorben. »Das ohnehin fragile Rechts- und Ordnungssystem ist durch das Erdbeben komplett zusammengebrochen«, so Gerardo Ducos. Polizeikräfte, die für Sicherheit in den Camps sorgen könnten, seien kaum vorhanden. Opfer von Vergewaltigungen hätten keinen Zugang zu rechtlicher Betreuung. »Die Regierung in Haiti muss dafür sorgen, dass die Sicherheit für Frauen und Mädchen gewährleistet ist. Dies muss ein zentraler Aspekt bei zukünftigen Hilfsmaßnahmen sein.« *Name geändert
Foto: Nadav Neuhaus / Stern / laif
HaItI
Kein Schutz. Frauen und Mädchen in den Flüchtlingscamps von Port-au-Prince sind vor sexuellen Übergriffen nicht sicher.
GeGenwInd fÜr unGarns zensurVorHaben unGarn »In Ungarn wurde die Pressefreiheit aufgehoben.« Dieser Satz war am 3. Januar 2011 auf der Titelseite der ungarischen Zeitung »Népszabadság« zu lesen. Unterhalb des Titels war er in die 22 Amtssprachen der Europäischen Union übersetzt. Zwei Tage zuvor trat in Ungarn ein Mediengesetz in Kraft, das der neuen Behörde NMHH die gesamte Kontrolle der Medieninhalte überträgt. Heftige Kritik kam von Politikern und Journalisten, aber auch aus der Zivilgesellschaft: Mitte Januar demonstrierten
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rund 15.000 Menschen in Budapest für eine Abschaffung des Gesetzes. Sie waren unter anderem dem Aufruf der Facebook-Seite »Eine Million für die ungarische Pressefreiheit« gefolgt. Die Seite hat mittlerweile über 72.000 Anhänger. Auch Amnesty hat sich wiederholt gegen die Inhalte des Gesetzes und die Zusammensetzung der Behörde ausgesprochen. »Das Fehlen von klaren Richtlinien für Journalisten und die Macht der neuen Medienbehörde sind eine massive Bedrohung für die Pressefreiheit in Ungarn«,
sagte John Dalhuisen, stellvertretender Direktor des EU-Programms von Amnesty International. Bei Beanstandungen drohen Rundfunk-, Print- und Webmedien empfindliche Geldstrafen. Die Richtlinien sind jedoch nur vage formuliert, auch »unausgewogene« Berichterstattung kann bestraft werden. Die EU-Kommission will prüfen, ob das neue Gesetz mit europäischem Recht vereinbar ist. Sollte sie Teile davon beanstanden, hat Ministerpräsident Victor Orbán Änderungen in Aussicht gestellt.
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Zeichnung: Oliver Grajewski
Kolumne CHrIstIan rICKerts
unGarn: anGrIff auf dIe presse freIHeIt
Ungarn hat stolz die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft zelebriert. Das staatliche Fernsehen übertrug in der Silvesternacht live die offiziellen Feierlichkeiten, die von der Regierung mit »Wir sind Europa« überschrieben wurden. Diese Selbstinszenierung wäre keine Zeile wert, wenn das ungarische Parlament nicht kurz zuvor ein neues Mediengesetz beschlossen hätte, das mit dem Jahreswechsel in Kraft getreten ist. Ein Gesetz, mit dem sich Ungarn sechs Jahre nach dem Beitritt zur EU von europäischen Freiheitsrechten und demokratischen Grundprinzipien abwendet. Dieser Angriff auf ein Menschenrecht lässt »Wir sind Europa« fast als Drohung klingen. Ungarn hat eine staatliche Behörde geschaffen, die Fernseh- und Rundfunksender sowie Zeitungen und Internetportale einschüchtern und disziplinieren kann. Die von der Regierungspartei Fidesz ernannten Aufseher können auf Grundlage vager Bestimmungen existenzbedrohende Strafen gegen Medien verhängen. Mit der Ernennung der Präsidentin Annamária Szalai auf neun Jahre macht Ministerpräsident Orbán auch gleich seinen Planungshorizont deutlich. Die Medienwächter nahmen kurz nach Inkrafttreten des Gesetzes ihre Arbeit auf. So musste der Jugendschutz herhalten, um die Ausstrahlung zweier Lieder des US-amerikanischen Rappers Ice-T im Radio zu monieren. Die Beanstandung erfolgte gleich rückwirkend. Ein deutlicher Hinweis auf den Machtanspruch der neuen Behörde. Das Gesetz beherbergt zudem nicht nur Gefahren einer formalen Zensur. Es wird vermutlich auch die Selbstzensur bei Journalisten befördern. Die unabhängige Kontrolle von Politik und Wirtschaft könnte dadurch schweren Schaden nehmen. Und wer als Reporter öffentlich gegen das Gesetz protestiert, dem kann es wie den Hörfunkjournalisten ergehen, die mit einer Schweigeminute ihrem Unmut Ausdruck verleihen wollten: Sie wurden vorübergehend suspendiert. Und Europa? Der europäische Protest kam spät. Kommissionspräsident José Barroso beschäftigte sich zum ersten Mal intensiver nach dem Jahreswechsel mit dem ungarischen Gesetz. Die Kommission untersucht derzeit, ob europäisches Recht verletzt wird. Eine Prüfung, die der EU teilweise schon vor Monaten abgenommen wurde: Die Medienbeauftragte der OSZE, Dunja Mijatović, hat bereits im September 2010 eine Analyse der Gesetzesvorlage präsentiert und festgestellt, dass Ungarn demokratische Prinzipien massiv gefährden könnte. Der Respekt der Pressefreiheit ist nicht nur für die europäischen Medien und Bürger eine zentrale Garantie – die EU muss hier Vorbild sein, wenn sie weiterhin glaubwürdig bei Staaten wie China oder Iran die Einhaltung von Menschenrechten einfordern will. Ungarn ist natürlich nicht das erste und einzige Land in der EU, das diese Glaubwürdigkeit erschüttert. Silvio Berlusconis Kontrolle der italienischen Medien und Nicolas Sarkozys Attacken gegen französische Journalisten sind nur zwei Beispiele für Angriffe auf die Pressefreiheit in Europa. Es ist gerade deswegen wichtig, dass die EU Ungarn mit allen Mitteln zur Umkehr bewegt. Die Kommission, das Europäische Parlament und die Staats- und Regierungschefs müssen hier ein deutliches Signal an alle Mitgliedsstaaten senden, die das Menschenrecht auf Pressefreiheit nicht mehr ausreichend respektieren. Der Autor ist Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen.
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Papier verzeiht nichts Die Verfolgung kritischer Schriftsteller, Journalisten und Publizisten ist ein weltweites Phänomen und macht auch vor Europa nicht halt. Ein Überblick. Von Uta von Schrenk (Text) mit Zeichnungen von Susann Stefanizen
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ei seiner Ankunft erwarteten ihn zwanzig Polizisten, schwer bewaffnet – also nahm Bei Ling das nächste Flugzeug zurück nach Frankfurt am Main, das er gerade erst mittels Air China verlassen hatte. Eigentlich wollte der im Exil lebende Dichter, Essayist und Verleger am 4. November nach Taipeh, um dort sein Stipendium als Stadtschreiber anzutreten. Doch auf dem Pekinger Flughafen wurde der 51-Jährige von eben jenen zwanzig Polizisten erwartet, die ihn zur Rückkehr zwangen. Seinen Koffer mit Manuskripten und literarischen Notizen beschlagnahmten die Beamten, darin befanden sich unter anderem Teile eines Buches, das in diesem Jahr in deutscher Übersetzung im Suhrkamp Verlag erscheinen soll. Einen Kameramann hatte die Polizei zu ihrer Aktion gleich mitgebracht – in Zeiten, in denen das norwegische Nobelpreiskomitee den Menschenrechtsaktivisten Liu Xiaobo ehrt, scheint der chinesischen Führung die gewaltsame Abschiebung eines unbotmäßigen Literaten als mediale Abschreckung ausgesprochen geeignet zu sein. Bei Ling ist ein Freund Liu Xiaobos. Dazu hätte er sich aus Sicht der Behörden besser nicht öffentlich bekennen sollen. In China wird wieder einmal hart durchgegriffen. Autoren wie Xie Chaoping werden inhaftiert – er hatte in einem Buch die gnadenlose Umsiedlung für einen Staudamm während der Kulturrevolution beschrieben. Künstlern wie Ai Weiwei wird Hausarrest erteilt. Drohgebärden der chinesischen Führung gegenüber einer intellektuellen Gesellschaftsschicht, die in ihren Büchern, Kunstwerken und Blogs dringend demokratische Prinzipien für ihr Heimatland einfordert. Auch die E-Mails westlicher Korrespondenten werden kontrolliert, ihre Mobiltelefone abgenommen – sie könnten ja unbequeme Nachrichten aus dem straff geführten Land an ihre Redaktionen weitergeben.
glaublich«, berichtet Dirk Sager, P.E.N.-Beauftragter für das »Writers-in-Prison«-Programm. »Sie scheren sich schlicht nicht um weltweit akzeptierte Menschenrechtskonventionen.« Papier ist geduldig, aber verzeiht nichts. Gerade Schriftsteller und Journalisten geraten schnell in das Visier der Staats-
* Doch nicht nur in China werden kritische Autoren drangsaliert: Die Verfolgung von Schriftstellern, Publizisten und Journalisten ist ein weltweites Phänomen. Jahr für Jahr zählt das Internationale P.E.N.-Zentrum rund eintausend Fälle verfolgter und ermordeter Autoren auf. »Die Arroganz der Mächtigen in Problemländern wie China, Iran oder auch Aserbaidschan ist un-
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Bei Ling
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Gerade Schriftsteller und Journalisten geraten schnell in das Visier der Staatsmacht, wenn sie sich nicht an die Spielregeln der jeweiligen Machthaber halten.
macht, wenn sie sich bei ihrer Arbeit nicht an die Spielregeln der jeweiligen Machthaber halten. Wer seine Gesellschafts- oder gar Regimekritik schwarz auf weiß serviert, bekommt umgehend die Quittung. Nichts fürchten die Mächtigen mehr als Berichte über Missstände und die Verbreitung von Kritik. Zu groß ist ihre Angst vor einem Gesichts- und Machtverlust. »Gerade Autoren sind schnell als vermeintliche Staatsfeinde identifiziert – sie diskutieren nicht zu Hause am Küchentisch, ihre Kritik kann jeder nachlesen«, erklärt Dirk Sager. Die Bilanz des P.E.N. für das erste Halbjahr 2010 listet fast 600 Fälle von verfolgten Literaten auf. Mehr als 200 Schriftsteller und Journalisten sitzen seit Jahren im Gefängnis. 25 wurden ermordet, zehn sind spurlos verschwunden. »Journalisten, die ihr Menschenrecht auf Meinungsfreiheit ausüben, drohen in vielen Ländern Repressalien, Publikationsverbot, unfaire Prozesse, Haft und Mord«, sagt auch Isabel Scholes, die Sprecherin der Themengruppe Meinungsfreiheit bei Amnesty. Im Jahr 2010 wurden laut Reporter ohne Grenzen 57 Medienvertreter getötet und 535 festgenommen. Auch Blogger leben gefährlich – die Zahl der inhaftierten Online-Dissidenten wird auf 113 geschätzt. »Aber nicht nur in totalitären und autoritären Staaten, son-
tunesIen: sIHem bensedrIne * 28. Oktober 1950, Publikationen über Korruption und Folter Sihem Bensedrine musste mehrmals am eigenen Leib erfahren, was sie erbittert bekämpft: politische Haft und Folter. In den vergangenen zehn Jahren wurde die regierungskritische Menschenrechtsverteidigerin und Chefredakteurin der in Tunesien verbotenen Onlinezeitung »Kalima« wegen ihrer regierungskritischen Publikationen wiederholt von den Behörden schikaniert. Amnesty setzte sich mit Eilaktionen für ihre Freilassung ein. 2002 erhielt sie auf Vorschlag von Amnesty den Johann-PalmPreis für Meinungs- und Pressefreiheit.
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dern auch in rechtsstaatlichen Demokratien hat die Zahl der zensierten oder verbotenen Medien einen traurigen Rekord erreicht«, berichtet Scholes und nennt als Beispiel Mexiko: »Es ist derzeit das gefährlichste Land für Medienleute in Südamerika.« Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen wurden in den vergangenen zehn Jahren 62 Journalisten in Mexiko ermordet, zehn weitere sind seit 2003 verschollen. »Die Hälfte aller Ermordeten und Verschwundenen wurde dafür bestraft, dass sie über den Drogenhandel berichtete«, erklärt Scholes die hohe Todesrate. Als zweites Beispiel nennt sie Russland. Dort wurden laut Reporter ohne Grenzen 2009 fünf Journalisten ermordet, in den vergangenen zehn Jahren waren es insgesamt 22. »In keinem der beiden Länder sind ernsthafte Versuche unternommen worden, die Täter ausfindig zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen«, beklagt die Amnesty-Aktivistin. Es ist zu vermuten, dass die weltweiten Zahlen sogar noch höher liegen. Denn es ist nicht davon auszugehen, dass jeder Übergriff Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Reporter ohne Grenzen oder dem P.E.N. bekannt wird. Die Methoden, eine unbequeme Stimme loszuwerden, sind vielfältig: Sie reichen von Einschüchterungsmaßnahmen wie der Androhung von Gewalt und Mord sowie das Bedrohen von Familie
äGypten: musaad abu faGr * 10. März 1966, Blogger und Menschenrechtsaktivist Fast drei Jahre lang saß der Schriftsteller und Blogger Musaad Abu Fagr ohne fairen Prozess im Gefängnis. Der Mitbegründer der Bewegung »Wir wollen leben« war im Dezember 2007 festgenommen worden, weil er sich für die Beduinen der Sinai-Halbinsel eingesetzt und gegen die Zerstörung Tausender ihrer Häuser protestiert hatte. Nachdem sich Amnesty insbesondere im Rahmen des Briefmarathons 2009 für seine Freilassung eingesetzt hatte, wurde Musaad Abu Fagr im Juli 2010 aus dem Gefängnis entlassen.
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CHIle: arIel dorfman
banGladesCH: taslIma nasrIn
* 6. Mai 1942, Dramatiker, Essayist und Menschenrechtsaktivist Ariel Dorfman arbeitete als kultureller Berater für die Regierung Allende, als Augusto Pinochet 1973 in einem blutigen Militärputsch die Macht an sich riss. Dorfman musste in die USA fliehen, die Themen Tyrannei und Exil bestimmten daraufhin maßgeblich sein Werk. Sein weltweit bekanntes Stück »Der Tod und das Mädchen« erzählt von der Begegnung eines Folteropfers mit seinem mutmaßlichen Peiniger. Als Pinochet 1998 in London der Prozess gemacht wurde, berichtete Dorfman darüber umfassend in Artikeln und schrieb später ein Buch über den Mann, der ihn gezwungen hatte, seine Heimat zu verlassen.
* August 1962, Feministische Schriftstellerin Seit mehr als 20 Jahren setzt sich die feministische Autorin Taslima Nasrin in ihren Artikeln, Romanen und Gedichten für Gleichberechtigung und gegen die Entrechtung der Frau durch die islamische Männergesellschaft ein. Dafür wird sie von Islamisten massiv bedroht, in mehreren Fatwas wurde ihr Tod gefordert. In Bangladesch sind ihre Werke mittlerweile verboten. Amnesty griff ihren Fall Mitte der neunziger Jahre mehrmals in den Amnesty-Jahresberichten auf. Seit 2009 hat die Trägerin des Sacharow-Preises für geistige Freiheit des Europäischen Parlaments in Paris Zuflucht gefunden.
und Freunden über Folter, Misshandlung und jahrelange Gefängnisstrafen bis hin zu Exekutionen. Zu den subtileren Maßnahmen zählt das »Exilieren«, also die Ausweisung eines Autors, bzw. das Verbot einer Rückkehr in sein Heimatland. Diese Maßnahme wird vor allem gegen prominente Autoren eingesetzt, deren Arbeit im Ausland aufmerksam verfolgt wird, die internationale Kontakte pflegen und daher einen gewissen Schutz vor Repression genießen. Doch was auf den ersten Blick nach einem Gerade-nochmal-Davongekommen aussieht, ist bei genauerem Hinsehen – einmal ganz abgesehen von dem persönlichen Verlust von Familie, Freunden und Heimat – ein perfider Versuch, Kritiker mundtot zu machen: Eine Zeitlang mag das Recherchematerial aus der Heimat noch ausreichen, um weiterarbeiten und Kritik üben zu können. Doch mit der Zeit schwindet der Nährboden, aus dem die Geschichten erwachsen.
einsetzte. Seither ist Carlos Aguilera für Kuba eine Persona non grata und darf nicht wieder einreisen, was ihn aber nicht davon abhält, weiterhin Kritik an seinem Heimatland zu üben. »Von dort kommen nur schlechte Nachrichten«, sagt Aguilera. Im Februar starb der kubanische Dissident Orlando Zapata in der Haft nach 85 Tagen Hungerstreik. Der Internetblogger Guillermo Fariñas überlebte 135 Tage. Mit ihrem Hungerstreik
* Diese Form der Zensur musste Carlos Aguilera aus Kuba erfahren: Zunächst mit hohen staatlichen Auszeichnungen für seine Gedichtbände ausgezeichnet, gründete der Autor 1997 gemeinsam mit Freunden die Zeitschrift »Diáspora(s)«, in der Literaten veröffentlichen konnten, die sich nicht der staatlich kontrollierten Schriftstellervereinigung UNEAC unterordnen wollten. Man leistete sich Polemik gegen die kubanische Regierung und ihren Umgang mit Intellektuellen. Doch schon bald wurde Aguilera vom Geheimdienst bedroht, die Zeitschrift 2002 eingestellt, fortan konnte er nicht mehr publizieren. »Man hat mir vorgeworfen, dass ich in unserer Zeitschrift die Integrität des kubanischen Staates angreife«, sagt Carlos Aguilera. Für den 40-jährigen Schriftsteller bot sich eine Perspektive im Ausland: Der P.E.N. holte ihn noch im selben Jahr mit einem Stipendium nach Deutschland, es folgten weitere in Graz, Dresden, Frankfurt am Main und Hannover. Die Rückkehr nach Kuba ist dem Autor unmöglich, weil er sich nach dem so genannten »Schwarzen Frühling«, der Verhaftungswelle von 75 Regimekritikern im Frühjahr 2003, für die Betroffenen
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Carlos Aguilera
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Folter beginnt, bevor jemand Hand an dich legt. Das hat Chenjerai Hove, einst Vorsitzender des simbabwischen Schriftstellerverbandes, erfahren.
zwangen die beiden die kubanische Regierung zu Verhandlungen über die Freilassung der politischen Häftlinge des »Schwarzen Frühlings«. 25 Regimekritiker kamen inzwischen frei, 52 weitere sollen folgen. Für dieses Engagement erhielt Fariñas im vergangenen Jahr den Sacharow-Menschenrechtspreis des EU-Parlaments. Menschenrechtsorganisationen gehen von weiteren 150 Opfern der politischen Justiz in Kuba aus, die von den angekündigten Freilassungen nicht betroffen sind, darunter sieben Journalisten, die auf der Caselist des P.E.N. stehen. Zwar kann der kubanische Staat mit dem aufgezwungenen Exil den direkten Kontakt Aguileras mit seinem Land unterbinden, sein literarisches Thema kann das Regime ihm nicht nehmen: Seine bislang im Exil veröffentlichten Bücher »Die Chinamaschine« und »Theorie der chinesischen Seele« handeln beide von totalitären Staaten. Und wie sich das Leben in einem solchen anfühlt, weiß Aguilera. »Meine Texte haben alle nicht direkt mit Kuba zu tun, aber irgendwie doch.« * Folter beginnt, bevor jemand Hand an dich legt. Das hat Chenjerai Hove, einst Vorsitzender des simbabwischen Schriftstellerverbandes und Autor des preisgekrönten Romans »Knochen«, erfahren. Nachdem der Autor von Romanen, Essays und Gedichten den allmächtigen Präsidenten Robert Mugabe scharf für dessen Menschenrechtsverletzungen kritisiert hatte, konnte er sich seines Lebens nicht mehr sicher sein. Es begann
Chenjerai Hove
nIGerIa: oGaGa Ifowodo * 1966, Lyriker und Menschenrechtsaktivist Die Haftbedingungen waren katastrophal, doch die Poesie half dem nigerianischen Lyriker und Anwalt Ogaga Ifowodo durchzuhalten: er schrieb Gedichte auf die Verpackung von Toilettenpapier. Er war 1997 für sechs Monate inhaftiert worden, weil er im Ausland die dramatische Menschenrechtslage in Nigeria geschildert hatte. Amnesty forderte erfolgreich mit Appellschreiben seine Freilassung. Ifowodo ist Ehrenmitglied des P.E.N. in USA, Kanada und Deutschland. »Schriftsteller haben überall und zu jeder Zeit zu denjenigen gehört, die sich in vorderster Front für die Würde des Menschen eingesetzt haben«, sagte er dem Amnesty Journal nach seiner Freilassung: »Sie sind das Gewissen der Gesellschaft.«
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uGanda: CHIna KeItetsI * 1976, Ehemalige Kindersoldatin und Buchautorin China Keitetsi hat ein Buch geschrieben, um die Vergangenheit zu verarbeiten und für eine bessere Zukunft. Im Alter von acht Jahren wurde sie von Soldaten der »National Resistance Army« zwangsrekrutiert. Zehn Jahre lang kämpfte sie als Kindersoldatin, bis ihr als 19-Jährige über Südafrika die Flucht nach Dänemark gelang. 2002 erschien ihr Buch »Sie nahmen mir die Mutter und gaben mir ein Gewehr«. Im Herbst 2003 ging sie in Deutschland mit Amnesty International auf Lesetour. Ein Jahr später gründete sie hier den Förderverein »Hilfe für ehemalige Kindersoldaten und afrikanische Kriegsopfer«, um denjenigen zu helfen, die dasselbe erleiden mussten wie sie.
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Der Fantasie, so scheint es, sind keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, einen anderen Menschen gefügig zu machen.
mit Korruptionsversuchen – ein Verwandter, der bei der Regierung arbeitete, brachte Chenjerai Hove einen Koffer mit rund 200.000 Dollar und bot ihm eine Farm, wenn er sich kooperativ zeige. Als der 54-Jährige nicht auf das Angebot einging, zog das Regime andere Saiten auf: Der Autor erhielt unzählige Morddrohungen und überlebte mindestens fünf Mordversuche. Sie reichten von dem Versuch vermeintlicher Ärzte, ihm während eines Krankenhausaufenthaltes eine (tödliche) »Medizin« zu verabreichen bis hin zu absichtlich herbeigeführten Autounfällen. Chenjerai Hove gewöhnte sich an, nachts zu arbeiten, um wenigstens angekleidet zu sein, falls Mugabe-Truppen ihn verschleppen würden – was sie üblicherweise in der Dunkelheit taten. Medienberichten zufolge stand Chenjerai Hove auf Platz 17 einer Liste von Staatsfeinden der simbabwischen Regierung. 2001 floh er zunächst nach Frankreich, dann nach Norwegen, derzeit lebt er in den USA. Seine Frau und seine jüngste Tochter musste er zurücklassen, er konnte nicht zur Beerdigung seiner Mutter gehen. Hove spricht von den »Blüten der Traurigkeit des Exils, die man pflücken muss«. In seinen Vorträgen und Schriften geißelt Chenjerai Hove weiterhin die Diktatur Mugabes. * Der Fantasie, so scheint es, sind keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, einen anderen Menschen gefügig zu machen. Das hat der iranische Publizist Faradsch Sarkuhi in verschiedenen Folterstätten Teherans erfahren. Man hatte ihm gesagt, es bliebe nichts anderes übrig, als ihn zu töten. Also musste er jedes Mal, wenn die Tür aufging, denken, er würde zu seiner Hin-
alGerIen: HamId sKIf * 21. März 1951, Journalist, Dichter und Romancier Der Journalist und mehrfach ausgezeichnete Schriftsteller Hamid Skif musste seine Heimat verlassen, um sein Leben zu retten. Seit den siebziger Jahren engagiert er sich für Meinungsfreiheit und Pluralismus. Mit seiner investigativen Berichterstattung und seinen gesellschaftskritischen Werken machte er sich nicht nur die Regierung, sondern auch die Islamisten zum Feind. Er wurde verhaftet und überlebte mehrere Anschläge. Als Fundamentalisten Bombenanschläge auf sein Haus und seine Redaktion verübten, floh er 1997 mit seiner Familie ins Exil nach Deutschland.
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richtung geführt. Einmal taten sie es tatsächlich, aber sie nahmen ihm die Schlinge, die sie um seinen Hals gelegt hatten, wieder ab. Sie drohten ihm, seine Familie zu töten. Sie traten ihn, sie schlugen ihn mit Fäusten, Peitschen und mit Kabeln. Sie schlugen ihm mehrere Zähne aus, brachen ihm Unterkiefer und Rippen, verletzten innere Organe und hielten ihn in Isolationshaft. Als Student wurde Faradsch Sarkuhi wegen Schah-kritischer Artikel 1970 zu 15 Jahren Haft verurteilt. Nach acht Jahren Gefängnis kam er durch die Islamische Revolution frei. Sarkuhi gründete das kritische Kulturmagazin »Adineh«, wurde dessen Chefredakteur für elf Jahre, und initiierte eine Schriftsteller-Initiative gegen die Zensur des Mullah-Regimes, die im Iran unter dem Stichwort »Text der 134« bekannt wurde. 1996 wurde er wegen »Propaganda gegen die Islamische Republik« zum Tode verurteilt. Es folgten 48 Tage in einem geheimen Gefängnis, neun Monate im Tohid- und drei bis vier Monate im Evin-Gefängnis. 1998 kam Sarkuhi auf internationalen Druck hin frei, unter anderem hatte sich Amnesty International intensiv für ihn eingesetzt. Seither lebt Sarkuhi in Deutschland. Die erlebte Folter lässt den 63-Jährigen nicht los: Seine jüngeren Werke beschäftigen sich fast alle mit der Entwürdigung und dem Realitätsverlust durch erlittene Haft. Seine Figuren besitzen keine Namen, sondern sind nur Nummern. Seine Personen spalten sich in mehrere Identitäten auf – der Schmerz, den sie erfahren, ist für einen einzelnen Menschen nicht zu ertragen. Der Titel des Romans, an dem Sarkuhi seit Jahren arbeitet, lautet: »Wir erleichtern Ihnen den Tod«. *
usa: mumIa abu-jamal * 24. April 1954, Texte aus der Todeszelle Er ist wohl der bekannteste Todesstrafenkandidat der Welt: Seit 19 Jahren sitzt der Politaktivist Mumia Abu-Jamal in der Todeszelle. Und genauso lange schon setzt der Journalist seine politische Arbeit mit Büchern, Essays, Artikeln und Radiobeiträgen aus der Todeszelle fort. Er war 1982 in einem umstrittenen Prozess des Mordes an einem Polizisten für schuldig befunden worden. Mumia Abu-Jamal hat die Tat stets bestritten. Aufgrund des unfairen Verfahrens forderte Amnesty International wiederholt ein neues Verfahren für Mumia Abu-Jamal, zuletzt im Mai 2009.
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syrIen: raGHdaH sa’Id Hassan
usbeKIstan: jodGor obId
* 1971, Schriftstellerin Die 39-jährige Schriftstellerin befindet sich seit Februar 2010 in Haft. Ihr werden »Schwächung des Nationalgefühls« und »Verbreitung falscher oder übertriebener Informationen mit möglicherweise nachteiligen Folgen für die Moral des Landes« zur Last gelegt. Sie hatte unter anderem für ihren ersten Roman Recherchen zu den Menschenrechten in Syrien sowie zu Korruption und Demokratie durchgeführt. Sollte Raghdah Sa’id Hassan schuldig gesprochen werden, droht ihr eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren. Sie leidet unter schlechten Haftbedingungen und wurde laut eigenen Angaben von einem ranghohen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes heftig geschlagen und bedroht.
Faradsch Sarkuhi
* 1940, Dichter und Bürgerrechtler Jodgor Obid ist einer der bedeutendsten Dichter Usbekistans. Doch in seiner Heimat ist er nicht willkommen, denn seine Werke sind zu kritisch. Schon zu Zeiten der Sowjetunion fielen sie der Zensur zum Opfer. 1989 wurde er Mitglied der usbekischen Bürgerrechtsbewegung Birlik, die 1993 von Diktator Islam Karimov verboten wurde. Über Moskau floh er nach Österreich, wo er heute lebt. Insgesamt zwölfmal hatte ihn Karimovs Regime festgenommen, neunmal saß er im Gefängnis und wurde gefoltert. Doch er bereut nichts: »Ich bin kein Politiker, ich bin Dichter. Ich habe geschrieben, was ich sah und fühlte.«
Dass selbst Haft und Folter keineswegs zuverlässige Mittel sind, um einen Kritiker mundtot zu machen, zeigt der Fall Tagyal. Ein halbes Jahr Haft hat der bekannte tibetische Autor, der unter dem Pseudonym »Shogdung«, veröffentlicht, gerade hinter sich. Der 47-Jährige wurde am 23. April 2010 in seiner Wohnung in Xining, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Qinghai, festgenommen und vermutlich in das Haftzentrum Nr. 1 von Xining verschleppt. Amnesty hatte damals eine Urgent Action eingeleitet, weil befürchtet wurde, dass er misshandelt oder gar gefoltert werden könnte. Tatsächlich wurden Tagyal, der unter chronischen Magenproblemen und Nierensteinen leidet, in der Haft die notwendigen Medikamente verweigert. »Daher sind wir sehr besorgt um seinen Gesundheitszustand«, sagt Kai Müller, Geschäftsführer der International Campaign for Tibet Deutschland. Zum Staatsfeind wurde Tagyal mit seinem jüngsten Buch »Zwischen Himmel und Erde unterscheiden: Über die friedliche Revolution im Jahr der Erd-Ratte«. Darin hatte er es gewagt, die Protestbewegung von 2008 als Ausdruck eines neuen tibetischen Bewusstseins zu werten. Doch damit nicht genug: Sein Heimatland sei ein »Ort des Schreckens«, schreibt Tagyal und kritisiert damit scharf die repressive Politik Chinas gegenüber Tibet seit den Aufständen im März 2008. Zu zunächst friedlichen Protesten in Lhasa kam es damals, als mehrere hundert tibetische Mönche an den Jahrestag des tibetischen Aufstands gegen die chinesische Vorherrschaft von 1959 erinnerten. Nachdem jedoch die chinesischen Sicherheitskräfte massiv gegen die Mönche vorgingen, eskalierte die Situation in den folgenden Tagen. Nach chinesischer Lesart gab es 21 Tote, nach Angaben der tibetischen Exilregierung 200 Tote und rund eintausend
Dass selbst Haft und Folter keineswegs zuverlässige Mittel sind, um einen Kritiker mundtot zu machen, zeigt der Fall Tagyal. THEMA
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Iran: monIreH baradaran * 15. März 1955, Erzählungen, Bücher und Rezensionen Für ihren Kampf gegen die Diktatur und für die Demokratie hat Monireh Baradaran einen hohen Preis bezahlt. Das erste Mal wurde sie 1978 unter der Diktatur des Schahs verhaftet, dann erneut 1981, dieses Mal durch Anhänger der neugegründeten islamischen Republik. Die folgenden neun Jahre verbrachte sie in verschiedenen Gefängnissen in Teheran. Seit 1991 lebt die Autorin im Exil in Deutschland. Sie schreibt Artikel, Erzählungen und Buchkritiken für verschiedene iranische Zeitschriften, die im Exil publiziert werden. Eines ihrer bekanntesten Bücher ist »Erwachen aus dem Alptraum«, in dem sie über ihre Erlebnisse in den Gefängnissen berichtet.
sInGapur: alan sHadraKe * 1934, Journalist, Autor und Anti-Todesstrafenaktivist Am 16. November 2010 verurteilten die singapurischen Behörden den 76-jährigen britischen Autor Alan Shadrake wegen »Diffamierung des Rechtssystems Singapurs« zu sechs Wochen Haft und einer Geldstrafe von umgerechnet 11.416 Euro. In seinem Buch »Once a Jolly Hangman – Singapore Justice in the Dock« kritisiert er die Todesstrafe. Er weist dabei unter anderem darauf hin, dass Singapur im Verhältnis zur Anzahl der Einwohner die weltweit höchste Hinrichtungsrate hat. Alan Shadrake befindet sich zurzeit gesundheitlich in einem schlechten Zustand.
Verletzte. Seither, berichtet die tibetische Exilregierung, herrsche im Land eine Atmosphäre der Einschüchterung wie zu Zeiten der Kulturrevolution: massive Präsenz von Sicherheitskräften, selbst in abgelegenen Dörfern, Verhaftungen sowie ein systematisches Vorgehen gegen Intellektuelle, Künstler oder Publizisten. Mit dieser repressiven Politik hatten die chinesischen Behörden Tagyal offenbar gegen sich aufgebracht. Zuvor galt er als »offizieller Intellektueller« und wurde dem Regierungslager zugerechnet – arbeitete er doch im Verlag Nationalities Publishing House in Xining. Am 14. Oktober 2010 wurde Tagyal nach Zahlung einer Kaution auf Bewährung aus der Haft entlassen, berichtet sein Anwalt Li Fangping. Allerdings steht der Autor nun unter strenger Beobachtung: Die Behörden können bestimmen, wen er treffen und mit wem er kommunizieren kann. Daneben kann seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Bei einem Verstoß gegen die Auflagen droht ihm erneute Haft. An ein freies Arbeiten ist unter solchen Bedingungen nicht zu denken. Zwar haben die chinesischen Behörden den Autor in ihrer Gewalt. Und sein Prozess, in dem ihm die »Spaltung des Landes« vorgeworfen wird, wird weitergeführt. Das bedeutet jedoch nicht, dass damit seine Stimme verstummt: Nach Informationen der International Campaign for Tibet wird Tagyals inzwischen verbotenes Buch in Tibet nun unter der Hand gelesen und weitergegeben. Papier ist nun einmal geduldig. Die Autorin ist Journalistin und lebt in Berlin. Die Zeichnerin arbeitet als freischaffende Grafikerin in Berlin.
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Die Freiheit nutzen Meinungsfreiheit ist grundlegend für eine freiheitlichdemokratische Gesellschaft, sie wird jedoch in vielen Ländern der Welt nicht garantiert. Oft bleibt nur der Druck der Öffentlichkeit, um gegen Verstöße vorzugehen. Von Anna Catherin Loll
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ass Wissen Macht ist, wusste der englische Philosoph Francis Bacon bereits Ende des 16. Jahrhunderts. Im Zeitalter des Internets herrscht nun bisweilen ein regelrechter Krieg um Informationen. Egal ob es um die Internet-Plattform WikiLeaks geht, die um ihre Webpräsenz kämpfen muss oder um Dissidenten wie den diesjährigen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, dem sein Einsatz für die Menschenrechte zum Verhängnis wurde. Im Dezember 2008 unterstützte der chinesische Schriftsteller das im Internet veröffentlichte Bürgerrechtsmanifest Charta 08. Er wurde daraufhin wegen »Untergrabung der Staatsgewalt« festgenommen und zu elf Jahren Haft verurteilt. Ähnliche Repressalien hatte das Engagement für Demokratie und Menschenrechte von Aung San Suu Kyi zur Folge, wenn auch mit einem vorerst glücklichen Ende. Am 13. November 2010 entließ die burmesische Militärjunta die 65-jährige Politikerin schließlich nach insgesamt 15 Jahren aus dem Hausarrest. In den Gefängnissen Myanmars sind allerdings weiterhin mindestens 2.100 Menschen inhaftiert, weil sie regimekritische Meinungen vertreten. Meinungsfreiheit ist ein grundlegendes Menschenrecht für eine demokratische Gesellschaft und gilt als Indikator für die Achtung von Menschenrechten in einem Land. Wo sie nicht garantiert wird, werden meist auch andere Menschenrechte verletzt. Denn überall, wo konkurrierende Ideen nicht ausgetauscht werden können und gesellschaftlicher Pluralismus unterbunden wird, fehlt die Voraussetzung für ein freiheitliches Gemeinwesen. Öffentliche Kontrolle ist nur möglich, wenn über Machtmissbrauch und Korruption diskutiert werden kann. In Deutschland ist die Meinungsfreiheit durch Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt; in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 durch Artikel 19. Danach hat jeder das Recht, sich eine eigene Meinung zu bilden, diese frei zu äußern und zu verbreiten. Niemand darf unter Druck gesetzt, mit Zwang bedroht oder daran gehindert werden. Genau dies passiert aber, wenn Journalisten oder Oppositionelle geschlagen oder gar ermordet werden, weil sie kritisch berichten. Bekannte Brennpunkte für die Meinungsfreiheit sind Länder wie China, Iran, Mexiko, Nordkorea und Russland. Weniger berichtet wird über die massiven Verstöße in Eritrea, Turkmenistan, Sri Lanka, Ägypten oder Syrien. Dort werden Menschen verfolgt, misshandelt oder sogar hingerichtet, wenn sie für Mächtige unliebsame Informationen verbreiten. Im Falle Russlands wurde vor allem der Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja im Oktober 2006 in Moskau bekannt. Seit einiger Zeit werden mit grausamer Regelmäßigkeit auch in
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Honduras und Mexiko Journalisten geschlagen oder umgebracht. Vor einem Jahr wurde ein türkischer Journalist auf offener Straße erschossen, weil er über einen Korruptionsskandal berichtet hatte. Der ägyptische Blogger Karim Amer musste vier Jahre ins Gefängnis, weil er angeblich den Islam beleidigte und Regierungschef Muhammad Husni Mubarak verleumdete. Ende November 2010 wurde der 26-jährige Student aus Alexandria aus dem Gefängnis entlassen. Sein Anwalt berichtete, dass Amer kurz vor seiner Freilassung nachts von Polizisten verprügelt worden sei. Der Blogger ist kein Einzelfall. Bei den Parlamentswahlen im Dezember 2010 wurden hunderte Oppositionelle verhaftet, es gab mehrere Tote bei Demonstrationen. Verstöße gegen die Menschenrechte berechtigen zur Anrufung internationaler Gerichte, falls die nationale Gerichtsbarkeit nicht eingreift. Das geschieht jedoch selten. Die Unterdrückung der Meinungsfreiheit hat meist keine rechtlichen Konsequenzen. Insbesondere Großmächte wie China verbitten sich Kritik an Zensur oder am Umgang mit Dissidenten und betrachten dies als Einmischung in innere Angelegenheiten. Der UNOMenschenrechtsausschuss kann lediglich allgemein feststellen, dass eine Verletzung vorliegt. Erst wenn Menschenrechtsverletzungen Ausmaße annehmen, die den Frieden bedrohen, können die Vereinten Nationen nach Artikel 2 der UNO-Charta kollektive Zwangsmaßnahmen ergreifen. In den meisten Fällen, in denen die Meinungsfreiheit verletzt wird, bleibt also nur die Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit für Menschenrechte, um Druck auf Staaten oder Behörden auszuüben. Genau dies tut Amnesty International schon seit 50 Jahren, ganz im Sinne von Aung San Suu Kyi. »Bitte nutzt Eure Freiheit, um unsere voranzutreiben«, appellierte sie 1997 in einem Zeitungsartikel an die westliche Welt. Wem die Meinungsfreiheit verwehrt wird, der kann sich nicht für sie einsetzen. Daher ist das Engagement aller wichtig, die sich frei äußern können, um gegen die Verletzung von Menschenrechten zu protestieren. Internationaler Druck kann viel bewirken. So ist mit der Vergabe des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo die Unterdrückung der Bürgerrechte durch die chinesische Führung in den weltweiten Fokus gerückt. Das internationale Eintreten für Freiheit sei nicht ohne Folgen für sein Land, sagte der Autor Yu Jie, ein Freund des Nobelpreisträgers. »Mehr Menschen werden sich ermutigt fühlen, für Menschenrechte und Demokratie einzutreten«. Die Autorin ist Journalistin und Mitglied der Anmesty-Gruppe Meinungsfreiheit. Mehr Informationen auf www.amnesty-meinungsfreiheit.de
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Wortgewalt Sprache kann befreien, wie Nelson Mandela in Südafrika zeigte, sie kann den Machthabern unbequem werden, wovon die Schriften Liu Xiaobos zeugen. Sprache kann aber auch zerstören, der Propaganda folgten die Granaten – dafür steht der Krieg auf dem Balkan. Von Marica Bodrožic´
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enschen, die in einer Diktatur gelebt haben, berichten oft, dass ihnen noch Jahre danach das alte Leben im Kopf spukt, dass das Regime einfach da ist, unvorhersehbar, flink wie ein Gespenst, das sie nicht loswerden können und das sie manchmal an unerwarteten Lebensstellen, manchmal mitten im Glück, überrascht. Dieses Gespenst ist vornehmlich bildlich und sprachlich – Bilder, Sätze, Verbote, Reglements im Denken, und einzelne Wörter von früher erhalten sich unbemerkt in unserer Erinnerung; sie sind recht besehen immer da – aller Freiheit zum Trotz. Umgekehrt haben Menschen in einer Diktatur manchmal ganz eigene innere Sätze im Kopf, kleine Lichter, Worte und Ideen, die ihnen helfen, die Zeit der Unterdrückung, der Schrecken und des Grauens zu überbrücken. Die eigene innere Welt kann manchmal in Extremsituationen nur mit Sprache gestützt werden. Einige dieser Freiheit suchenden Menschen schreiben oder sprechen diese Sätze laut aus und helfen damit anderen, die sich in der gleichen Situation befinden, ihre Gedanken auf die Möglichkeiten der Freiheit auszurichten. Sie schenken ihnen damit unter Einsatz ihres eigenen Lebens Hoffnung. Ein Beispiel dafür ist der chinesische Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, den die chinesische Regierung am 10. Dezember vergangenen Jahres nicht zur Verleihung des ihm zugesprochenen Preises reisen ließ. Seiner Ehefrau Liu Xia wurde diese Reise ebenso verboten. Auch ihre Worte und die Kraft, die von ihnen ausgeht, bedrohen die Herrschenden. Aber warum eigentlich? Die Regierenden sind, strukturell betrachtet, viel machtvoller als ein einzelner Mensch. Der Schriftsteller Robert Musil hat einmal geschrieben, dass der Ausdruck, den wir den Dingen geben, erst den Sinn entwickelt, sie richtig aufzunehmen. Das heißt, dass die Sprache uns auch in unserem Denken leitet, uns hinleitet zur ausformulierten Kraft der Freiheit. Das muss Machthaber wie jene in China naturgemäß zutiefst bedrohen. Hat einmal jeder Einzelne einen inneren Widerstand entwickelt, lässt sich dieser nicht mehr manipulieren – wenigstens nicht im Denken, im konkreten politischen Alltag schon. Es wäre naiv zu glauben, dass die Kraft des Wortes alle Gegebenheiten auf der Stelle ändern könnte. Die Kraft der Worte ist aber eine, die sich graduell entwickelt, eine, die sich durch ihre Beständigkeit mehr und mehr in Handlung übersetzt. Das ist für einen jenseits der Diktatur lebenden Menschen vielleicht schwer zu verstehen, aber es ist keineswegs nur theoretisch oder philosophisch gemeint. Solcherart sprachliche Formulierungen sind konkrete Aktion, zunächst nur in einem einzelnen Kopf, aber dieser Kopf kann manchmal in einer ganz
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bestimmten historischen Situation eine große Möglichkeit erhalten, für viele Menschen wirksam zu handeln – und damit aus der einzelnen Aktion im singulären Denken herauszutreten, um für die Gemeinschaft tätig zu werden. In Birma können wir derzeit diesen Prozess an der aus ihrem privaten Gefängnis entlassenen Aung San Suu Kyi beobachten. Sie ist ein Symbol für den friedlichen Widerstand. »Mut bedeutet«, sagte sie nach ihrer Freilassung, »dass wir uns beharrlich für das einsetzen, woran wir glauben.« Um herauszufinden, was das genau ist, muss jeder für sich seine eigene Freiheit sprachlich zu fassen versuchen. Es gibt aber Situationen in der Geschichte der Menschheit, in denen sich »plötzlich« Tausende darüber einig sind, worin die Freiheit genau in diesem Augenblick für ihre Gesellschaft oder ihr Volk besteht. Nelson Mandelas Freilassung aus dem Gefängnis hat Südafrika für immer verändert. Noch am gleichen Tag hielt er eine Rede vor 120.000 Menschen und rief öffentlich zur Politik der Versöhnung auf. Er rief außerdem alle Menschen, die die Apartheid aufgegeben hatten, zur Mitarbeit auf und lud sie ein, an einem nichtrassistischen, geeinten und demokratischen Südafrika mit freien Wahlen und einem Stimmrecht für alle mitzuarbeiten. Im Wort »Stimmrecht« ist das Wort Stimme zu finden; eine Stimme ohne Sprache ist nicht denkbar. Die eigene Freiheit und demokratische Wahlen sind der politische Ausdruck dieser Bedeutung. Leider fehlt gerade dieses Bewusstsein sehr oft in demokratischen Ländern, weil die Menschen den Zusammenhang zwischen ihrer Stimme und der herrschenden Politik nicht mehr erkennen. Die Wirkkraft der Sprache haben im ehemaligen Jugoslawien Menschen wie der wegen Kriegsverbrechen angeklagte Radovan Karadžić in voller Tragweite erkannt, und sie haben sie für ihre im höchsten Maße destruktiven Zwecke missbraucht. Erst in den Sätzen, die einer ganz konkreten Syntax unterliegen (und diese wiederum spiegelt ein ganz bestimmtes Denken, wie wir es etwa bei Mandela sehen können), wurde der Krieg in einem Land vorbereitet, das bis zu diesem Zeitpunkt das freieste (und wenn man so will – das demokratischste) aller einst kommunistischen Länder war. Das Ergebnis der kriegerischen Sprache der jugoslawischen Machthaber war unter anderem die jahrelange Belagerung einer mitten in Europa liegenden Stadt namens Sarajevo. Aber die Granaten, die auf sie fielen, waren zuallererst Sprachgranaten, erst danach sind daraus konkrete Mordinstrumente geworden. Noch Jahrzehnte später wird das Anfang der neunziger Jahre entstandene Leid die Biografien der dort lebenden und von dort
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die auf dem Berg sitzenden Militärs in perfider Weise, um dieses Miteinander in größter menschlicher Not symbolisch und vor allem konkret auszulöschen: irgendwann lernten die Menschen von Sarajevo, dass nach der ersten Granate immer eine zweite, noch heftigere kommen und alle töten würde, die gerade im Begriff wären, den Verletzten zu helfen. Also mussten sie dem sinnlosen Sterben ihrer Freunde, Geschwister, Eltern, Kinder, Frauen und Männer zusehen, wenn sie nicht selbst sterben wollten. Heute, da der Krieg vorbei ist, können die Menschen von Sarajevo über das an ihnen Vollzogene nachdenken. Vielen fällt das noch schwer. Der Schmerz hat sich hinter der Sprache versteckt. Doch je mehr Menschen sich trauen, ihrem Leid auch sprachlich zu begegnen, desto mehr werden ihnen folgen und erkennen, wie sehr man sie für die perverse Idiotie Machthungriger missbraucht hat. Anders wird sich im Frieden nichts daraus lernen lassen. Eine Diktatur ist nur ein geheuchelter Frieden, eine Inszenierung, die leider auch handfeste Wirklichkeit ist, wie zum Beispiel in Weißrussland. Man muss nur einmal durch die Straßen von Minsk gehen, dann wird man sofort an jeder Ecke diese Inszenierung benennen können. Die Bedrohung, die von den Worten des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo für die chinesische Regierung ausgeht, dürfte evident werden, wenn wir in einem seiner Essays Folgendes lesen: »In der ideologischen Sphäre hat das Erwachen eines individuellen Bewusstseins und eines Bewusstseins für die eigenen Rechte zum Zusammenbruch der einheitlichen, offiziellen Ideologien geführt. Und die Diversifizierung im Wertesystem zwingt die Regierung dazu, ihre ideologischen Ausreden anzupassen.« Allein in diesen zwei Sätzen ist so viel Dynamit enthalten, dass es das Denken einer ganzen Gesellschaft verändern kann. Das heißt nicht, dass das sofortige Ergebnis eine totale Freiheit ist. Es heißt aber durchaus, dass die Freiheit etwas ist, das sich im einzelnen Bewusstsein gestalten lässt. Diese Gestaltung kann sowohl in einer Diktatur als auch in einer Demokratie im Grunde genommen nur in Köpfen von Individuen beginnen.
Foto: J. Oellermann / Luchterhand
weggegangenen Menschen prägen. Unter den Zungen wird der Schmerz von damals wohnen; das kann man sehr gut an den Büchern sehen, die von Autoren dieser Sprache geschrieben werden; und ebenso an jenen, die aus Ex-Jugoslawien stammen und nun in anderen Sprachen schreiben, wie etwa der Bosnier Aleksandar Hemon, in dessen Büchern Sarajevo nie fehlt, obwohl er seit Jahrzehnten in Chicago lebt und seine Bücher auf Englisch schreibt. Im Dokumentarfilm »Images from the corner« der bosnischen Regisseurin Jasmila Žbanić kann man eine junge Frau sehen, die wochenlang im Krankenhaus lag, während der Belagerung von Sarajevo operiert wurde, überlebt hat und nun von der Regisseurin nach jenem Tag gefragt wird, an dem sie fast ums Leben gekommen wäre. Die junge Frau ist zum Zeitpunkt der Aufnahmen gerade mal 29 Jahre alt, sieht aber aus wie eine von Trauer gezeichnete Sechzigjährige. Sie beginnt mit einer sicheren Stimme über jenen Unglückstag zu erzählen, an dem auf Anordnung von Karadžićs Militärs die Granatenexplosion beinahe ihr Leben ausgelöscht hätte. Dann wird ihre Stimme immer brüchiger, irgendwann stößt sie unter Tränen aus, dass sie einfach nicht begreifen könne, warum all das sinnlose Leiden sein musste und dass es in jedem Fall absurd und überflüssig und nur sinnlos sein könne, ohne ein Bein durch die Gegend zu laufen, wie es ein Bekannter von ihr tun müsse, einfach, weil er nie wieder sein gesundes Bein zurückbekommen werde; der Zufall wollte, dass er just an einem ganz bestimmten Tag, zu einer ganz bestimmten Uhrzeit an einer ganz bestimmten Stelle stand – und es erwischte dann eben ihn. Sinnlos sei das alles, sagt sie immer wieder, eben weil das Bein für immer weg ist. Seine Abwesenheit ist im Frieden besonders absurd, schmerzhaft als Anblick, Symbol und konkrete Lebenssituation ohnehin. Der Krieg lebt nicht nur in den entstellten Körpern der Menschen weiter. Er lebt immer auch in ihrer Erinnerung. Und das Gedächtnis ist sprachlich. Ohne Sprache gibt es kein Bewusstsein und keine Gestaltung der Freiheit. Intuitiv müssen dies Diktatoren wie Ceauşescu erkannt haben. Autoren wie Richard Wagner und Herta Müller schreiben in ihren Büchern bis heute darüber – beide waren in Rumänien schon schreibende Menschen, gemeinsam kamen sie 1987 nach Berlin. In ihren Werken und in ihrem Leben ist die Diktatur noch immer präsent. Diese Autoren übersetzen ihr ganz persönliches Wissen in Sprache (und in Literatur). Besonders eindringlich geschieht dies bei Richard Wagner in seinen Gedichten, die Wissen und Bewusstsein spiegeln. Die Machthaber in China haben aus der Geschichte vieles gelernt. Sie machen sich ihr Wissen strategisch zunutze. Und sie gestatten keine Zufälle mehr. Schon gar keine sprachlichen, denn Texte wie jene, die Liu Xiaobo verfasst hat, sind für die Machthaber eine immense Bedrohung. Genauso wie es die Hilfsbereitschaft der Bürger Sarajevos für die vom Berg Schießenden war – denn immer, wenn Granaten geworfen wurden, eilten die Menschen einander zu Hilfe. Diesen Moment nutzten
marICa bodrožIć, geboren 1973 in Dalmatien (heutiges Kroatien), studierte Kulturanthropologie, Psychologie und Slawistik in Frankfurt am Main. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Förderpreis für Literatur der Akademie der Künste in Berlin und den Kulturpreis Deutsche Sprache. Marica Bodrožić lebt als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Berlin. Zuletzt ist ihr Roman »Das Gedächtnis der Libellen« im Luchterhand Verlag erschienen.
»Der Krieg lebt nicht nur in den entstellten Körpern der Menschen weiter. Er lebt immer auch in ihrer Erinnerung.« 28
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Der schmale Grat Der Druck muss vom Volk ausgehen, wenn in China eine wirkliche Veränderung stattfinden soll, sagt Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. Doch die jungen Leute in China interessieren sich mehr für ihr berufliches Fortkommen und wollen Geld verdienen, so die Einschätzung des Schriftstellers und Dissidenten in einem Interview wenige Monate vor seiner Festnahme. Von Thomas Aue Sobol
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it sicherer Hand zeichnete Liu Xiaobo in einem Restaurant drei chinesische Schriftzeichen auf eine Serviette. Das war im Sommer 2008, kurz vor den Olympischen Spielen in Peking. Liu schrieb einen Begriff aus dem Sport auf: Ca bian qiu – Ball auf der Linie. Im übertragenen Sinne: »Sich auf einem schmalen Grat bewegen«. Er wollte damit den Balanceakt verdeutlichen, den chinesische Dissidenten leisten müssen: das Regime so weit herausfordern, dass ein Wandel zustande kommt und gleichzeitig vermeiden, dass man als so radikal eingestuft wird, dass man in Haft kommt, also vom Spielfeld genommen wird. Wenige Monate nach meinem Treffen mit Liu balancierte er nicht mehr auf dieser Linie. Er übertrat sie. Der Menschenrechtsaktivist verfasste zusammen mit anderen die Charta 08 – in dem Manifest werden das Recht auf freie Meinungsäußerung und ein Ende des Einparteiensystems in der kommunistischen Diktatur gefordert. Inzwischen haben Tausende die Charta 08 unterzeichnet. Unmittelbar vor ihrer Veröffentlichung wurde Liu Xiaobo, der Universitätsprofessor mit dem sanften Auftreten, festgenommen. Das Urteil erging kurze Zeit später: elf Jahre Gefängnis wegen Anstiftung zur Untergrabung der Staatsmacht. »Die Behörden können jederzeit auf den Plan treten. Wenn sie der Meinung sind, dass du eine Grenze überschritten hast, ist es ein Leichtes für sie, dich festzunehmen«, beschrieb Liu Xiaobo die Situation an jenem Nachmittag 2008 in einem Restaurant im Universitätsviertel von Peking. »Doch es ist wichtig, dass wir den Mut aufbringen, unablässig zu versuchen, die Grenzen des Möglichen zu erweitern.« Ich hielt mich damals in China auf, um die führenden Beteiligten am Aufstand auf dem Tiananmenplatz, dem Platz des Himmlischen Friedens, im Jahr 1989 ausfindig zu machen. Liu war einer von ihnen. Als er und seine Frau im Oktober 2010 benachrichtigt wurden, dass er der diesjährige Friedensnobelpreisträger sei, widmete er den Preis »den Verlorenen« des Aufstands, bei dem das Regime Hunderte, vielleicht Tausende Studierende und andere Demonstrierende tötete. Das Massaker von 1989 hat Liu Xiaobos Dissens in den vergangenen Jahrzehnten geprägt. Der Literaturwissenschaftler hatte die jungen Demonstrierenden in den achtziger Jahren an der Universität unterrichtet und eilte von einem USA-Besuch nach China zurück, als die Proteste begannen.
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Liu wollte die Klassenstruktur und die Feigheit der Intellektuellen kritisieren. Gemeinsam mit drei weiteren Aktivisten begann er einen Hungerstreik, der den Protesten neue Energie gab. Als er einmal sah, dass ein Student mit einem Gewehr bewaffnet war, zerschlug er die Waffe am Denkmal für die Helden des Volkes. Anfangs glaubten Liu und die Studierenden nicht, dass die Soldaten das Feuer eröffnen würden. Doch bald sahen sie, wie sich das Blut ihrer Freunde auf dem Boden ausbreitete. »Wessen Armee seid ihr?«, schrien sie der Volkbefreiungsarmee entgegen. Nach der blutigen Niederschlagung der Proteste verbrachte Liu Xiaobo als politischer Gefangener anderthalb Jahre in dem berüchtigten Qingheng-Gefängnis. 1995 kam er erneut in Haft – dieses Mal, weil er eine Entschädigung für die 1989 vom Regime begangenen Verbrechen gefordert hatte. Und als Liu im Jahr darauf forderte, dass man Jian Zemin, den derzeitigen Präsidenten, des Amtes entheben sollte, steckte man ihn zur Umerziehung für drei Jahre in ein Arbeitslager.
tHomas aue sobol ist freier Journalist in Kopenhagen, seine Berichterstattung konzentriert sich auf Menschenrechte und gesellschaftliche Themen. 2010 erhielt er den Timbuktu-Stiftungspreis für kritischen Journalismus über Entwicklungsländer. 2008 wurde er in Dänemark zum Nachwuchsjournalisten des Jahres gewählt.
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»Der Druck muss vom Volk ausgehen« Ein Gespräch von Thomas Aue Sobol mit dem Autor und Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo.
Nach der Vergabe der Olympischen Spiele an China wurde weltweit auch über die Lage der Menschenrechte im Land berichtet. Hat sich dieses Interesse positiv auf die Meinungsfreiheit ausgewirkt? Als Peking 2001 den Zuschlag für die Olympischen Spiele erhielt, versprach China die Menschenrechtslage zu verbessern. Doch Autoren, Kritiker und Journalisten werden weiter festgenommen und ins Gefängnis gesteckt – es ist sogar schlimmer geworden. Alle Augen sind auf China gerichtet, doch das hat keine positive Wirkung gehabt. Es gibt eine Menge Tabuthemen der letzten 60 Jahre, über die nicht kritisch gesprochen oder geschrieben werden darf. Dazu zählen insbesondere die AntiRechts-Kampagne von 1957, die Kulturrevolution und natürlich die Proteste auf dem Tiananmenplatz 1989 und nun auch die Olympischen Spiele. Wer schreibt, darf weder die Namen hochrangiger Kader noch Mitglieder der Kommunistischen Partei nennen. Direkte Kritik an der Kommunistischen Partei wird nicht hingenommen, und es ist rechtswidrig, die Legitimität des Regimes in Frage zu stellen. Gelingt es dem Regime, kritische Berichte zu unterdrücken? Das ist schwer zu sagen. Kritik wird unterdrückt und viele Kritiker hat man ins Gefängnis gesteckt. Doch gleichzeitig gibt es eine positive Entwicklung. Mehrere chinesische Journalisten testen seit 2001 die Grenzen des Möglichen aus. Besonders Zeitungen im Süden Chinas und einige Zeitschriften hier in Peking wagen einiges. So ist es zum Beispiel immer ein Tabu gewesen, über Zhao Ziyang (Chinas reformfreundlicher ehemaliger Generalsekretär, der sich während des Aufstands des Tiananmenplatzes 1989 bei den Studierenden entschuldigte, weil er nicht mehr tun konnte. Anm. d. Red.) zu schreiben. Doch inzwischen sind fünf große Artikel über seine Politik und seine Ansichten erschienen. Das ist ein sehr positiver Schritt.
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Einige kritische Stimmen, die versuchen, die Grenzen zu erweitern, sind Blogger, die unter völlig neuen Bedingungen das Regime angehen. Früher waren es nur Journalisten, doch heute kann sich jeder Chinese zu Wort melden. Natürlich gibt es Grenzen, aber das Regime kann nicht das gesamte Internet abschalten. Das ist unmöglich. Hat sich die Einstellung der Bevölkerung gegenüber der Partei nach dem Massaker auf dem Tiananmenplatz verändert? Das Ansehen und die Macht der Kommunistischen Partei erhielten einen heftigen Schlag, nachdem sie mit Gewalt gegen ihr eigenes Volk vorgegangen war. Heute vertrauen weniger Menschen der Partei blindlings. Sie hat das Gesicht verloren. Zudem erregt es heute mehr Aufmerksamkeit – auch in China – wenn jemand bestraft wird, weil er oder sie für das Recht auf freie Meinungsäußerung eingetreten ist. Vor 1989 konnte es unbemerkt geschehen, dass jemand zu 16 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, doch das hat sich geändert. Deshalb treten heute viel mehr Chinesen für Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten ein. 1989 waren die Studierenden von den demokratischen Idealen des Westens fasziniert. Heute wirken viele dem Westen gegenüber kritischer. Was unterscheidet die heutige Generation von der früheren? Die Studierenden in den späten achtziger Jahren waren alle noch unter Mao Zedong geboren. Das Leben war damals wirklich hart, es gab nicht einmal genug zu essen. 1989 hatte sich schon viel verändert und die Studierenden sprachen über Freiheit und interessierten sich dafür, was im Westen geschah. Die Tatsache, dass sie Armut am eigenen Leib erlebt hatten, gab ihnen einen Sinn für soziale Verantwortung. Sie wollten für ihr Land und ihre Landsleute etwas Gutes tun. Die heutigen Studierenden sind in den achtziger Jahren geboren worden und haben diese schwierigen Lebensbedingungen nicht erlebt. Sie denken überwiegend an sich selbst, was für einen Job sie bekommen und wieviel Geld sie verdienen können. Fast jeder, der an der Universität studiert, ist ein Einzelkind und trägt große Verantwortung für die finanzielle Unterstützung der Mutter, des Vaters und der Großeltern. Sie können es sich nicht leisten, an etwas anderes als ihre Familie und sich selbst zu denken. Nach dem Massaker auf dem Tiananmenplatz schloss der damalige politische Führer Deng Xiaoping einen Pakt mit dem Volk: Es erhielt wirtschaftliche statt politischer Freiheit. Kann die Kommunistische Partei unbesorgt regieren, so lange sie dafür sorgen kann, dass der Wohlstand weiter wächst? Ja, wenn das möglich ist. Doch wenn die Wirtschaft nach 30 Jahren Höhenflug einen Sättigungsgrad erreicht, wird die Unzufriedenheit wachsen und die Menschen werden sich gegen den
Mangel an politischen Freiheiten auflehnen. Ich sage nicht, dass dies bald geschehen wird, doch auf lange Sicht wird die Kommunistische Partei nicht an der Macht bleiben, wenn sie keine politischen Reformen vornimmt. Welche politischen Reformen meinen Sie? Es gibt so viele, mit denen man beginnen könnte. Eine ist, dass die Kommunistische Partei nicht länger die Gerichte kontrolliert, so dass ein Bürger wirklich die Möglichkeit hätte, den Staat zu verklagen. Eine andere ist, den Medien die Freiheit zu geben, kritische Artikel zu veröffentlichen. Drittens könnte man im Volkskongress Raum für die vom Volk gewählten Vertreter aus den Provinzen schaffen. Eine direkte demokratische Wahl wäre der letzte Schritt. Sehen Sie irgendwelche Anzeichen dafür, dass die derzeitige Führung eine dieser Reformen durchführen wird? Es gibt Fortschritte. Auf dem Volkskongress wurden neue Mitglieder gewählt, die tatsächlich Bauern und einfache Arbeiter waren. Wir wissen nicht, wie groß ihre Anzahl in Zukunft sein wird, aber die Gesetzgebung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen hat sich allgemein verbessert, so zum Beispiel die Gesundheitsversorgung. Es ist ein kleiner, aber positiver Schritt. Glauben Sie, dass die Führung der Kommunistischen Partei über politische Reformen nachdenkt? Es gibt in der Partei einige, die so denken, aber definitiv nicht alle. 2006 veröffentlichte die sehr konservative Zeitung Beijing Daily einen Artikel mit der Überschrift »Demokratie ist gut«. Das hochrangige Parteimitglied Yu Keping schrieb über die positiven Aspekte der Demokratie, aber auch über die Probleme. Das hat mich überrascht – vor allem in dieser Zeitung. Es war sicher zuvor abgesegnet worden, aber es zeigt auch, dass manche Themen diskutiert werden können. Es wäre natürlich anders gelaufen, wenn ich darüber geschrieben hätte. Welcher Flügel in der Partei ist stärker – der, der einen demokratischen Wandel diskutieren möchte, oder der, der sich 1989 durchgesetzt hat? Es ist schwer 1989 mit der Gegenwart zu vergleichen. Damals fand alles auf höchster Ebene statt. Die Menschen, die heute Reformen und demokratische Modelle diskutieren, sind nicht so hochrangig. Die entscheidenden Parteivertreter bleiben neutral, aber sie sind selbstverständlich aufmerksam. Rückblickend können wir jedoch erkennen, dass die Kommunistische Partei ihre Position verändert hat, wenn die Massen unzufrieden waren. So wurde zum Beispiel die Agrarsteuer nach Bauernprotesten abgeschafft. Dasselbe gilt für die verstärkten Anstrengungen gegen die Korruption. Es ist Sache des Volkes, auf Veränderungen zu drängen. Unsere Führungselite ändert sich nicht aus eigenem Antrieb.
»Es ist Sache des Volkes, auf Veränderungen zu drängen. Unsere Führungselite ändert sich nicht aus eigenem Antrieb.« 32
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Freiheit und Redlichkeit Ein Essay von Liu Xiaobo
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er erfolgreiche chinesische Politiker Cheng Kejie hat seine Macht zum eigenen Vorteil missbraucht; der erfolgreiche chinesische Geschäftsmann Bruno Wu schmückte sich mit falschen akademischen Titeln; der erfolgreiche chinesische Wissenschaftler Wang Mingming hat bei Kollegen abgeschrieben. Im Zuge einer Hinwendung zu einer deformierten Marktwirtschaft und beseelt von einer kruden Philosophie mit der Maxime, den eigenen Vorteil über alles zu stellen, haben die Menschen in der Volksrepublik China gerade ein kleines bisschen Freiheit erlangt, und auf einmal bemächtigt sich ihrer ein seelenloser Geist, der sie vollends korrumpiert. Es scheint, als seien über Nacht alle erdenklichen Untugenden der menschlichen Natur über sie gekommen, die sich durch keine Macht der Welt (selbst nicht unter dem Einsatz des Lebens) zurückdrängen lassen. Daher ist ein lauter Ruf nach Redlichkeit nicht nur aus dem Volk zu vernehmen, sondern selbst in programmatischen Entwürfen der Partei und des Nationalen Volkskongresses sowie im Regierungsbericht des Ministerpräsidenten zu lesen. In einer Zeit, in der Rechtschaffenheit nichts mehr gilt, sind Rufe nach mehr Redlichkeit nur allzu verständlich. Bedenklich stimmt aber, dass viele Menschen die Freiheit für den Mangel an Ehrlichkeit verantwortlich machen. Sie vertreten die Meinung, der Markt habe die Menschen verdorben, die Freiheit habe einen ungezügelten Materialismus entfacht und der einzige Ausweg, auf den Pfad der Tugend zurückzukehren, sei die Rückbesinnung auf die Mao-Ära. Es scheint, als könne der Mensch nur wie ein Bettelmönch durch Askese und Egalitarismus die Reinheit seines Herzens bewahren. Besonders zu erwähnen sind dabei die scheußlichen Facetten des Patriotismus, die im virtuellen Raum des Internets mit aller Vehemenz die Freiheit auf das Übelste beschimpfen und geißeln. Aber der Fanatismus all dieser Worte vermag nicht zu verbergen, dass
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hinter den niederträchtigsten und schamlosesten sprachlichen Entgleisungen im Netz nichts als Feigheit und Kleinmut stecken. In Wahrheit waren einst alle diese sittenlosen Auswüchse der jetzigen – von den Füßen auf den Kopf gestellten – Gesellschaft in der totalitären Ära von Mao Zedong von den höchsten Staatsführern und dem System zum Maß aller Dinge erhoben worden. Jede politische Bewegung war durch einen Ausbruch von äußerster Brutalität, Niedertracht, Verlogenheit, Verrat, Egoismus und Hass geprägt, die sich aus den Tiefen der menschlichen Natur ihren Weg bahnten. Völlig vereinnahmt von der roten Revolution nahmen die Menschen dies damals jedoch gar nicht als das Böse im Menschen wahr, und selbst heute noch sind die Anhänger der kleineren oder größeren Fraktionen aus der Zeit der Großen Proletarischen Kulturrevolution nicht bereit, über ihr damaliges Tun und Handeln selbstkritisch nachzudenken. Ebenso wenig haben die Schlägertrupps der Roten Garden sich bis heute bei ihren Opfern entschuldigt. Diese hemmungslose Brutalität und das Fehlen jeglichen Anstands unter dem Druck des Terror-Regimes und der Illusion eines bevorstehenden Utopias dienten damals dazu, das totalitäre System am Laufen zu halten, und der Diktator Mao lieferte dazu die passenden Herrschaftsmechanismen, um das Böse im Menschen anzapfen zu können. Eine politische Bewegung löste die andere ab, mit dem Ziel, einen neuen kommunistischen Menschen zu erschaffen, und führte stattdessen zu einer Spirale der moralischen Verkommenheit. Diese immer wiederkehrenden Kampagnen standen mit der körperlichen Unrast und der geistigen Verwirrung des Diktators sowie mit den regelmäßig auftretenden spastischen Krämpfen des totalitären Regimes in engem Zusammenhang. Man kann soweit gehen, zu sagen, dass in jener Zeit ein brutaler, egoistischer Herrscher ohne jede moralische Skrupel, der in die-
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sem völlig ungezügelten System die absolute Macht in Händen hielt und daher ohne rot zu werden, von sich sagen konnte, »keinen Beschränkungen dieser Welt zu unterliegen«, mit mal gelockerten und dann wieder verschärften Repressionsmaßnahmen rücksichtslos eine Milliarde verängstigter, verrohter und dumm gehaltener Menschen zu seinem politischen Instrument machte, nur um seine Launen ausleben und seinen finsteren Machenschaften nachgehen zu können. Jede neue politische Kampagne brachte ein weiteres Stück moralischer Verkommenheit mit sich. Die unzähligen großen und kleinen Kampagnen führten schließlich dazu, dass das unmoralische Verhalten zum gängigen Handeln im Alltag wurde und jederzeit zu einer Eruption führen konnte. Als plötzlich die Mao-Ära zu Ende war, in der man die materiellen Begierden der Menschen unterdrückt und der Zerstörungs- und Angriffslust ihrer deformierten Seelen freien Lauf gelassen hatte, trat eine neue Ordnung an ihre Stelle, in der bescheidener Wohlstand zum Ziel erklärte wurde, und sogleich wurden die materiellen Begehrlichkeiten des Menschen geweckt. Die im Namen der Revolution und Rebellion von Mao eingeführte Moral der Niedertracht wurde indes keinerlei Neubewertung unterzogen. Vielmehr konnte sie sich im neuen Streben nach dem Geld nun nach Lust und Laune ausleben und wei-
ter entfalten. So haben also die gegenwärtig in der Gesellschaft der Volksrepublik China zu beobachtenden moralischen Verwerfungen aufgrund fehlenden Anstands und das hemmungslos aggressive und zerstörerische Rebellentum von einst im Kern den gleichen spirituellen Ursprung. Wir haben es uns angewöhnt, unsere Mitmenschen anzulügen, zu verraten, zu hassen und zu tyrannisieren. Wir haben uns an eine Daseinsform gewöhnt, in der unsere Führer aus Partei und Staat alle Entscheidungen für uns treffen, wobei Aufrichtigkeit, Liebe, Mitgefühl und persönliches Verantwortungsgefühl Fremdwörter für sie sind. Mit anderen Worten, eine Diktatur erzieht zum Hass und zum Intrigantentum, sie ermuntert zum Lügen und zu einem schamlosen Verhalten, sie bringt Feigheit und Skrupellosigkeit hervor, sie lässt Niedertracht und Zügellosigkeit freie Hand, und sie ist Nährboden für Egoismus und Verantwortungslosigkeit. Als ein moralisch unbeflecktes Proletariat zur Erschaffung einer perfekten Zukunft für die ganze Menschheit erkoren wurde, hat Lenin nach und nach diese Verantwortung in die Hände einer auf die Gewaltherrschaft der Revolution gestützte proletarische Avantgarde übertragen. Als dann die kommunistische Utopie wie eine Seifenblase zerplatzte und die Avantgarde leninistischer Prägung zu einer auf das eigene Wohl bedachten, privilegierten Kaste entartete, entstand zwangsläufig ein riesiges
»Eine Diktatur erzieht zum Hass und zum Intrigantentum, sie ermuntert zum Lügen und bringt Feigheit und Skrupellosigkeit hervor.« 34
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muss der uneingeschränkten moralischen Maxime der Nächstenliebe untergeordnet werden. Der Mensch ist kein vollkommenes Wesen. Wir stoßen an unsere Grenzen und laden folglich auch Schuld auf uns. Aber wir wurden mit einem vollkommenen Wertmaßstab ausgestattet. Indem dieser Wertmaßstab unserem Willen eine Selbstbeschränkung auferlegt und wir in unserer Unvollkommenheit beständig nach Vollkommenheit streben, überwindet der menschliche Geist die irdischen Begierden und steigt von der Welt der Schranken in eine schrankenlose Welt auf. Freiheit bedeutet nicht, dass alle Menschen sich zu einem moralischem Vorbild wie Mahatma Gandhi entwickeln, sie bringt aber beständig außerordentliche Menschen hervor, die uns vergegenwärtigen, dass wir, was unseren Geist und unser Wesen angeht, imstande sind, uns über unser irdisches Dasein hinaus zu erheben. Deutsche Erstübersetzung: Martin Dlugosch
lIu xIaobo war Dozent an der PädagogiFoto: David Høgsholt
moralisches Vakuum. In der heutigen Welt gibt es nur eine geeignete geistige Ressource, die dieses von der Diktatur hinterlassene riesige moralische Vakuum füllen kann, und zwar eine der Freiheit verpflichtete Moral. Der Freiheitsgedanke ist moralisch, nicht nur weil er auf den angeborenen Menschenrechten, sondern auch auf der angeborenen Verantwortung fußt. Die Freiheit verleiht uns auf der einen Seite das Selbstbestimmungsrecht und die moralische Legitimität, zum eigenen Vorteil zu handeln, aber auf der anderen Seite auch die eigene Verantwortung und die moralische Selbstdisziplin. Freiheit ist deshalb so kostbar, eben weil sie nicht zu einem verantwortungslosen Handeln nach eigenem Gutdünken aufruft, sondern weil sie jeden Menschen als selbstverantwortliches und vernunftbegabtes Wesen gleich behandelt. Eine freie Gesellschaft ist eine auf einer rechtsstaatlichen Ordnung fußende Gesellschaft und, was noch wichtiger ist, eine auf Moral bedachte Gesellschaft. Eine Marktwirtschaft ist eine auf einer rechtsstaatlichen Ordnung fußende Wirtschaft, und was noch wichtiger ist, eine auf Redlichkeit bedachte Wirtschaft. Deshalb hat der Erfinder der freien Marktwirtschaft, Adam Smith, gleichzeitig zwei Werke verfasst, den »Wohlstand der Nationen« und die »Theorie der ethischen Gefühle«. Moralisch gesehen muss auf die auf Freiheit gegründete Gesellschaftsordnung nicht besonders hingewiesen werden, denn sie kommt der menschlichen Natur entgegen und entspringt den weltlichen Begierden des Menschen, wohingegen auf die der Freiheit innewohnende Selbstbeschränkung besonders hingewiesen werden muss, denn sie erhebt sich über den weltzerstörerischen materiellen Eigennutz. Freiheit bedeutet eine Vereinigung der Moral des Liberalismus von Adam Smith mit der Moral des Formalismus von Immanuel Kant. So geht die Erhabenheit des dem Gemeinwohl dienenden Privateigentums in dem Freiheitsversprechen auf. Das eigene materielle Glück
schen Hochschule in Peking und seit 2003 Präsident des chinesischen P.E.N.Clubs unabhängiger Schriftsteller. Im Dezember 2008 unterstützte er zusammen mit anderen Intellektuellen das Bürgerrechtsmanifest Charta 08. Liu Xiaobo wurde kurz darauf festgenommen und im Dezember 2009 zu elf Jahren Haft verurteilt. Am 10. Dezember 2010 wurde er für seinen »langen und gewaltlosen Kampf für fundamentale Menschenrechte in China« mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
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Cristina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Securitate Akten steht Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller beschreibt, mit welchen Maßnahmen der Geheimdienst Securitate versuchte, sie zu diskreditieren.
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m Jahr 2004 war ich in Bukarest und wurde dort vorstellig, um meinem wiederholten Gesuch nach Akteneinsicht Nachdruck zu verleihen. Ich wunderte mich, am Eingang standen drei junge Damen in Neonglanzstrümpfen, Minikleidern mit tiefem Dekolleté, als käme man in ein Erotic-Center. Und zwischen den Damen stand ein Soldat mit dem Maschinengewehr auf der Schulter, als käme man in eine höchstgeheime Militärkaserne. Der Behördenchef ließ sich verleugnen, obwohl ich mit ihm verabredet war. Meine Akte sei unauffindbar, hieß es. Doch in diesem Frühjahr stieß eine Forschergruppe nach und nach auf die Akten der rumäniendeutschen Autoren der »Aktionsgruppe Banat«. Die Securitate hatte für jede Minderheit eine spezialisierte Abteilung. Für die Deutschen hieß sie »Deutsche Nationalisten und Faschisten«, die ungarische Sektion hieß »Ungarische Irredentisten«, die jüdische »Jüdische Nationalisten«. Allein rumänische Schriftsteller hatten die Ehre von der Abteilung »Kunst und Kultur« beobachtet zu werden. Plötzlich fand sich auch meine Akte unter dem Namen CRISTINA. Drei Bände, 914 Seiten. Am 8. März 1983 soll sie angelegt worden sein – sie enthält jedoch Dokumente auch aus Jahren davor. Grund für die Eröffnung der Akte: »Tendenziöse Verzerrungen der Realitäten im Land, insbesondere im dörflichen Milieu« in meinem Buch »Niederungen«. »Textanalysen« von Spitzeln untermauern das. Und ich gehöre zu einem »Zirkel deutschsprachiger Dichter, der bekannt ist für seine feindseligen Arbeiten«. Die Akte ist ein Machwerk der alten Securitate im Namen des SRI (Nachfolgeorganisation des Geheimdienstes Securitate, Anm. d. Red.). Zehn Jahre hatte dieser alle Zeit, um daran zu »arbeiten«. Frisieren kann man es nicht nennen, die Akte ist regelrecht entkernt. Die zentralen Dinge sind getilgt und alles, wodurch die hauptamtlichen Securisten sich selbst belasten würden. Diese Säuberung ist kein Einzelfall. Andrei Plesu, der bei der Gründung der CNSAS (Behörde zur Aufarbeitung der SecuritateAkten, Anm. d. Red.) Mitglied im Kuratorium der Behörde war, hat dieses Gremium aus Verbitterung und Protest längst verlassen. Er hatte seine Aktenbände einmal im Archiv gesehen, wußte daß sie etwa 2.000 Seiten dick waren. Als man sie ihm dann endlich aushändigte, bestanden sie nur noch aus 70 Seiten. Per Gesetz wurde die CNSAS außer der Akteinsicht auch verpflichtet, die Klarnamen der Spitzel zu eruieren. Von allen, die bisher Einsicht in ihre Akte bekamen, hört man jedoch dasselbe: Aus der langen Liste der Spitzel hat die Behörde sich einen einzigen herausgesucht, seinen Klarnamen mitgeteilt. Und dieser einzige ist in der Akte entweder marginal, oder er ist schon tot.
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Den entscheidenden Spitzeln, dem permanenten, dicken Verrat scheint die Behörde nicht auf die Spur kommen zu wollen. Ein Boykott? Arbeitet die Behörde etwa gegen sich selbst? Aber in wessen Auftrag? Nach dem Studium arbeitete ich 3 Jahre in der Traktorenfabrik TEHNOMETAL, in der ich Übersetzerin war. Die 3 Jahre kommen mit keinem Wort in meiner Akte vor. Für die Montage und Wartung der aus der DDR, Österreich, der Schweiz importierten Maschinen übersetzte ich dazugehörende Beschreibungen. 2 Jahre saß ich mit 4 Buchhaltern im Büro. Sie berechneten die Gehälter der Arbeiter, ich wälzte meine dicken technischen Wörterbücher. Da ich Philologie studiert hatte, verstand ich nichts von hydraulischen oder nichthydraulischen Pressen, Hebeln oder Gewinden. Wenn im Wörterbuch 3, 4 oder gar 7 Begriffe zur Wahl standen, ging ich in die Halle und fragte die Arbeiter. Sie sagten mir das richtige rumänische Wort ohne Deutschkenntnisse – sie kannten die Maschinen. Im dritten Jahr wurde ein »Protokollbüro« eingerichtet. Der Direktor versetzte mich dorthin zu 2 neu eingestellten Übersetzerinnen, eine für Französisch, eine für Englisch. Die Französisch-Dame war die Frau eines Universitätsprofessors, von dem es schon zu meiner Studienzeit hieß, er sei ein Geheimdienstmann. Die EnglischDame war die Schwiegertochter des zweithöchsten Geheimdienstlers der Stadt. Den Schlüssel zur Mitteltür des Aktenschranks hatten nur die beiden. Wenn ausländische Fachleute kamen, mußte ich das Büro verlassen. Dann sollte ich offenbar für dieses Büro tauglich gemacht werden durch zwei Anwerbeversuche des Geheimdienstlers Stana. Nach der zweiten Verweigerung schleuderte er die Blumenvase mit den Tulpen an die Wand. Durch die Wasserlache und Glasscherben ging er zur Tür. Der Abschiedsgruß: »Es wird dir noch leidtun, wir ersäufen dich
Durch die Glasscherben ging er zur Tür. Der Abschiedsgruß: »Es wird dir noch leidtun, wir ersäufen dich im Fluß.« amnesty journal | 02-03/2011
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im Fluß.« Ich bat den Fabrikdirektor, mich umziehen zu lassen, zurück in mein altes Büro. Ich solle bleiben, wo ich bin, sagte er, mir keine Sorgen, sondern weiter meine Übersetzungen machen, dafür sei ich da. Eines Morgens kam ich zur Arbeit, meine Wörterbücher lagen neben der Bürotür auf dem Boden im Gang. Mein Schreibtisch gehörte einem Ingenieur, ich durfte das Büro nicht mehr betreten. Nach Hause gehen konnte ich nicht, sonst hätte man mich wegen unerlaubter Abwesenheit fristlos entlassen können. Nun hatte ich keinen Tisch, keinen Stuhl. Zwei Tage saß ich trotzig die acht Stunden mit den Wörterbüchern auf einer Betontreppe zwischen dem Parterre und der ersten Etage, versuchte zu übersetzten, damit niemand sagen kann, ich arbeite nicht. Ständig gingen Büroleute an mir vorbei, stumm. Meine Freundin Jenny, eine Ingenieurin, wußte, wie es soweit gekommen war. Jeden Tag auf dem Heimweg hatte ich ihr alle Vorkommnisse erzählt. Sie kam in der Mittagspause zu mir, setzte sich auf die Treppe. Wir aßen zusammen wie früher in meinem Büro. Im Hoflautsprecher sangen wie immer die Arbeiterchöre vom Glück und Fortschritt des Volkes. Sie aß und weinte um mich, ich nicht. Ich mußte ja durchhalten. Am dritten Tag installierte ich mich an Jennys Schreibtisch, sie machte mir eine Ecke frei. Auch am vierten. Es war ein großes Büro für technische Zeichner, Reißbretter und an die 20 Schreibtische. Am fünften Morgen wartete sie vor der Tür auf mich: »Ich darf dich nicht mehr ins Büro lassen. Stell dir vor, meine Kollegen sagen, du bist ein Spitzel.« »Wie ist das möglich«, fragte ich. »Du weißt doch, wo wir leben«, meinte sie. Ich nahm meine Wörterbücher und setzte mich wieder auf die Treppe. Diesmal weinte auch ich. Als ich in die Halle kam, um nach einem Wort zu fragen, pfiffen
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Arbeiter hinter mir her und riefen: »Securistin.« Es war ein Hexenkessel. Wie viele Spitzel es wohl in Jennys Büro und in der Halle gegeben haben mag. Sie agierten, die Attacken waren per Anweisung nach unten gereicht worden, die Verleumdungen sollten mich zwingen, zu kündigen. Am Anfang dieser turbulenten Zeit starb mein Vater. Ich hatte mich nicht mehr im Griff, mußte mich meines Vorhandenseins auf der Welt vergewissern. Ich fing an mein bisheriges Leben aufzuschreiben – woher ich komme, dieses dreihundertjährige starre Dorf, diese Bauern mit ihrem Schweigen, dieser Vater mit seinem LKW auf den holprigen Straßen, sein Suff und seine Nazi-Lieder mit den »Kameraden«. Diese Mutter, hart und verstört, wie vom Leben beleidigt, immer in den randlosen Maisfeldern. Und ich in dieser Fabrik, Maschinen groß wie ein Zimmer, Öllachen überall, wie ein Spiegel, der einen senkrecht in die Erde rutschen läßt. Dieser Stücklohn am Fließband, die mechanischen Griffe der Hände, die fahlen Augen, Blicke wie altes Zinkblech. Daraus entstanden die Kurzgeschichten der »Niederungen«. Über die Anwerbung stehen in meiner Akte zwei Wörter, handschriftlich als Randnotiz auf einem Abhörprotokoll. Ich erzähle Jahre später zu Hause von dem Anwerbungsversuch in der Fabrik. An den Rand notiert der Oberstleutnant Padurariu: »Das stimmt.« Daß ich nun als Spitzel galt, weil ich mich geweigert hatte, ein Spitzel zu werden, war schlimmer als die Anwerbung und Todesdrohung. Daß ich eigens von denen verleumdet wurde, die ich schonte, indem ich mich weigerte, sie zu bespitzeln. Jenny und eine Handvoll Kollegen wußten, welches Spiel mit mir getrieben wird. Alle anderen, die mich nur vom Sehen kannten, aber nicht. Wie hätte ich ihnen allen erklären sollen,
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was ablief, wie das Gegenteil beweisen. Das war menschenunmöglich, und die Securitate wußte das, und genau darum hat sie es eingefädelt. Und sie wußte auch, daß mich diese Perfidie mehr kaputtmacht als ihre Erpressung. Selbst an Todesdrohungen gewöhnt man sich. Sie gehören zu dieser einen Lebensweise, die man hat, weil man keine andere mehr haben kann. Man trotzt der Angst bis tief in die Seele. Aber durch die Verleumdung wird einem die Seele geraubt. Man ist nur noch monströs umzingelt. An dieser Ohnmacht erstickt man fast. Wielange diese Treppe mein Arbeitsplatz war, weiß ich nicht mehr. Es schien mir endlos. Wahrscheinlich waren es nur Wochen. Schließlich wurde ich entlassen. Vom selben Geheimdienst, der meine Entlassung bewerkstelligt hatte, wurde ich jetzt bei den Verhören als »parasitäres Element« bezeichnet. Man wies mich darauf hin, daß es für Parasitentum Gefängnis gäbe, oder Zwangsarbeit auf Baustellen.
Durch die Verleumdung wird einem die Seele geraubt. An dieser Ohnmacht erstickt man fast. THEMA
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Man drohte mit dem »Kanal«, Ceauşescu ließ damals einen Kanal bauen, der das Schwarze Meer mit Bukarest verbindet. Ein abstruses Bauen, viele Soldaten und Häftlinge verloren dort ihr Leben. Als der Kanal fertig war, stellte sich heraus, daß er für den Schiffsverkehr nicht taugte, er war nicht tief genug. Ich hatte überhaupt kein Geld. Jenny vermittelte mir Privatstunden. Ich unterrichtete Kinder in Deutsch oder half bei den Schulaufgaben. Aber in jedes Haus ging ich höchstens zwei drei Mal. Dann tauchte der Geheimdienst bei den Eltern auf und drohte ihnen. Manche sagten mir, weshalb ich nicht mehr kommen soll: »Sie schaden unserer Familie. Wissen Sie, wir machen keine Politik.« Andere servierten mir eine Lüge, daß sie nach einer Gehaltskürzung für Privatstunden kein Geld mehr hätten. Bald erfuhr ich bei den Verhören auch, daß ich angeblich von Schwarzhandel und Prostitution lebe, und daß ich wohl wisse, daß es wie für Parasitentum auch dafür Gefängnis gibt. Man nannte Namen von Kunden und Freiern, von denen ich nie im Leben gehört hatte. Und dann kam auch noch Spionage für den BND ins Spiel, weil ich mit einer Bibliothekarin des GoetheInstituts und einer Dolmetscherin der Deutschen Botschaft in Bukarest befreundet war. Stundenlang erfundene Vorwürfe. Aber nicht nur das. Man brauchte keine Vorladung, fischte mich einfach von der Straße ab. Ich war auf dem Weg zur Friseuse und wurde von einem Polizisten durch eine schmale Blechtür ins Souterrain eines Studentenwohnheims gebracht. Drei Männer in Zivil saßen an einem Tisch. Ein kleiner knochiger war der Chef. Er verlangte meinen Ausweis, sagte: »Na, du Hure, sehen wir uns schon wieder.« Ich hatte ihn noch nie gesehen. Mit 8 arabischen Studen-
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rempelten sie mich dreimal an, stießen mich zu Boden. Jedesmal stand ich dreckig und verwirrt schnell wieder auf, daß ich wieder auf den Beinen stehe, als wäre nichts. Die Wartenden schauten zu, als wäre nichts. Als die Schlafwagentür endlich aufging, drängte ich mich mitten in die Schlange. Die beiden Männer stiegen auch ein. Ich ging ins Abteil, zog mich halb aus, streifte den Pyjama über, damit es auffällt, wenn man mich herauszerrt. Als der Zug anfuhr, ging ich zur Toilette und versteckte einen Brief für Amnesty International hinter einem Rohr. Die zwei Männer standen auf dem Gang und sprachen mit dem Schlafwagenschaffner. Ich hatte das untere Bett im Abteil. Vielleicht, weil ich dort besser greifbar bin, dachte ich. Als der Schaffner an mein Abteil kam, gab er mir die Fahrkarte und den Ausweis. Woher er das habe und was die zwei Männer von ihm wollten, fragte ich. »Welche Männer«, sagte er, »hier sind Dutzende.« Ich machte die ganze Nacht kein Auge zu. Es war Leichtsinn einzusteigen, dachte ich, die werfen mich während der Nachtfahrt irgendwo auf dem leeren Schneefeld unter den Zug. Als es draußen grau wurde, legte sich die Angst. Für einen inszenierten Suizid hätten sie bestimmt die Dunkelheit genutzt, dachte ich. Bevor die ersten Passagiere wach wurden, ging ich zur Toilette und holte den versteckten Brief. Dann zog ich mich an, setzte mich auf den Bettrand und wartete, bis der Zug in Bukarest einfuhr. Ich stieg aus, als wäre nichts gewesen. Auch davon steht nichts in der Akte. Die Beschattungen hatten Folgen auch für andere. Ein Freund fiel dem Geheimdienst zum ersten Mal bei meiner Lesung aus den »Niederungen« im Bukarester Goethe-Institut auf. Danach wurden seine Personalien festgestellt, eine Akte über ihn angelegt und er fortan beobachtet. Das steht in seiner Akte, in meiner findet sich kein Wort. Auszug aus dem Band »Herta Müller, Cristina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Securitate Akten steht«. Erscheint im Frühjahr 2011 in: Herta Müller, Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel, © 2011 Carl Hanser Verlag München.
Herta mÜller wurde 1953 im deutsch-
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ten sollte ich Sex haben und mich mit Strumpfhosen und Kosmetika bezahlen lassen. Ich kannte keinen einzigen arabischen Studenten. Aber er meinte, als ich das sagte: »Wenn wir wollen, finden wir auch 20 Araber als Zeugen. Wirst sehen, es wird ein exzellenter Prozess.« Ständig warf er meinen Ausweis zu Boden, ich mußte mich bücken und ihn aufheben. An die 30–40 mal, wenn ich langsamer wurde, trat er mir ins Kreuz. Und hinter der Tür am Tischende schrie eine Frauenstimme. Folter oder Vergewaltigung, hoffentlich nur ein Tonband, dachte ich. Dann mußte ich 8 hartgekochte Eier und grüne Zwiebeln mit grobem Salz essen. Ich würgte das Zeug hinunter. Danach öffnete der Knochige die Blechtür, warf meinen Ausweis hinaus und trat mir in den Hintern. Ich fiel mit dem Gesicht ins Gras neben ein Gestrüpp. Ich kotzte, ohne den Kopf zu heben. Ohne mich zu beeilen, nahm ich den Ausweis und ging wieder nach Hause. Das Abfischen von der Straße weg machte mehr Angst als eine Vorladung. Niemand wußte, wo man ist. Man hätte verschwinden, nie wieder auftauchen, oder wie damals angedroht, als Wasserleiche aus dem Fluß gezogen werden können. Es hätte geheißen: Suizid. Kein Verhör steht in den Akten, keine Vorladung und kein Abfischen. Was in der Akte steht am 30.11.1986: »Jede Reise die CRISTINA nach Bukarest und in andere Orte des Landes unternimmt, ist der Direktion I/A (d.h. Inlandsopposition) und III/A (d.h. Spionageabwehr) rechtzeitig mitzuteilen«, so daß die »permanente Kontrolle gewährleistet ist.« Daß ich also nirgends im Lande ohne Beschattung unterwegs sein darf, um »die nötigen Kontrollmaßnahmen in ihren Beziehungen mit westdeutschen Diplomaten und westdeutschen Bürgern durchzuführen.« Die Beschattung war, je nach Absicht unterschiedlich. Mal hat man sie nicht gemerkt, mal fiel sie auf wurde rabiat und schlug um in Aggression. Als die »Niederungen« im Westberliner Rotbuch-Verlag erscheinen sollten, hatten die Lektorin und ich, um nicht aufzufallen, uns in Poiana Brasov verabredet, in den Karpaten. Wir fuhren separat hin, als Wintersportler. Mein Mann Richard Wagner war mit dem Manuskript nach Bukarest gefahren. Ich sollte am nächsten Tag ohne Manuskript mit dem Nachtzug nachkommen. In der Bahnhofshalle von Temeswar empfingen mich zwei Männer, wollten meine Reisetasche kontrollieren. Ich weigerte mich. Sie wollten mich mitnehmen. Ich sagte stur: »Ohne Haftbefehl gehe ich nicht mit.« Vielleicht war es ihnen zu riskant, in der vollen Bahnhofshalle Aufsehen zu erregen, denn sie nahmen mich nicht mit. Sie konfiszierten nur meine Fahrkarte und meinen Ausweis und befahlen mir, bevor sie verschwanden, mich nicht von der Stelle zu rühren, bis sie wiederkämen. Und ich rührte mich nicht von der Stelle. Aber dann fuhr der Zug ein und sie kamen nicht wieder. Ich ging zum Bahnsteig. Es war die Zeit des großen Stromsparens, der Schlafwagen stand im Dunkel am Ende des Bahnsteigs. Einsteigen durfte man erst ganz kurz vor der Abfahrt, die Tür war noch zu. Die zwei Männer waren wieder da, gingen auf und ab, ein paar Mal knapp an mir vorbei, dann aber
sprachigen Nitzkydorf in Rumänien geboren. Sie studierte deutsche und rumänische Philologie und arbeitete anschließend als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik. Nach ihrer Weigerung, für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu arbeiten, lag ihr erstes Buch »Niederungen« vier Jahre beim Verlag und wurde 1982 nur zensiert veröffentlicht. Herta Müller konnte danach in Rumänien nicht mehr publizieren. 1987 übersiedelte sie nach Deutschland. 2009 erhielt sie den Literaturnobelpreis. Zuletzt ist ihr Roman »Atemschaukel« im Hanser-Verlag erschienen.
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Verschwundene Meere Der deutsche Schriftsteller Dog˘an Akhanlı kehrte lange Zeit von einer Reise in die Türkei nicht zurück. Monatelang saß er in Untersuchungshaft – er soll an einem Überfall auf eine Geldwechselstube beteiligt gewesen sein. Menschenrechtler vermuten einen politischen Hintergrund. Von Imre Török Gustav Mahlers 2. Sinfonie.
Militärgefängnis Istanbul 1985.
Die hört der Inhaftierte wohl gerade nicht, an dunklen Spätherbsttagen des Jahres 2010. Im Gefängnis. Was vernimmt er stattdessen? Schreie? Wehklagen hat er gewiss gehört, und Folterschreie, in seiner Jugend im Militärgefängnis. Doğan Akhanlı, türkischer Schriftsteller, deutscher Staatsbürger, geboren 1957 in Şavşat am Schwarzen Meer. Mit 23 Jahren, nach dem Militärputsch in der Türkei, wurde er im Untergrund politisch aktiv, bis zu seiner Inhaftierung. Eingekerkert als politischer Häftling im Militärgefängnis von Istanbul. Vier Jahre später floh er aus der Türkei nach Deutschland. Nach knapp zwei Jahrzehnten reiste er zum ersten Mal wieder in seine Heimat. Er wollte seinen nicht mehr reisefähigen alten Vater besuchen. Bei seiner Einreise in die Türkei am 10. August 2010 wurde der Schriftsteller und Menschenrechtler Doğan Akhanlı verhaftet. Das Flugzeug fliegt bereits tief, fliegt über das matt glitzernde Meer, bevor es landet auf dem Flughafen Sabiha Gökçen, im asiatischen Teil von Istanbul. Touristen aus Deutschland kommen hier im August an und türkische Familien, alle wollen weiter, zu Urlaubsorten oder zu Verwandten. Lange, geschwätzige Schlangen vor der Passkontrolle, getrennt nach einheimischen und ausländischen Staatsbürgern. Doğan Akhanlı reiht sich mit seinem deutschen Pass ein. Die Beamten sind freundlich, die Kontrolle erfolgt zügig. Nur als Doğan Akhanlı an der Reihe ist, gibt es eine Unterbrechung. Gegen ihn liegt bereits ein Haftbefehl vor.
Bei einer Razzia an der Universität in Izmir wurde der politische Aktivist erneut festgenommen. Einzelzelle. Regelmäßige Vernehmungen. Unvorstellbare Folter durch den Staatsapparat der Militärdiktatur. »Du wirst auch noch singen. Wenn du wüsstest, wen wir hier schon zum Sprechen gebracht haben!« Der Gefolterte sagt kein Wort über seine Organisation, über die politische Arbeit. Sagt nur, dass die Folterer tun sollen, was sie nicht lassen können, aber die Revolutionäre würden sie nicht besiegen können. Eine Entschlossenheit, die den Polizisten mal Respekt einflößt, sie mal zur Raserei bringt. Nach manchen dieser »Vernehmungen« wird er ohnmächtig in seine Zelle zurückgeschleppt. Die Folterer verfallen auf eine perfide Idee. Sie führen seinen Sohn Can in den Vernehmungsraum. Der Name Can bedeutet Leben. Die Folterer bringen das Kind vor den Augen des Vaters zum Weinen. »Alles kann ich ertragen, aber wenn ich meinen Sohn höre, dann leide ich unbeschreibliche Qualen«, erzählt Doğan Akhanlı einem Mithäftling. Sie kommunizieren über die Zellenwand hinweg. Nach den Vernehmungen, nach den Folterqualen bittet er seinen Zellennachbarn. »Landsmann, sagst du mir das Gedicht ›Richte dich nicht so zugrunde‹ von Ahmet Arif auf?« Nach seiner Entlassung zwei Jahre später, nach seiner Flucht aus der Türkei, lebt Doğan Akhanlı als politischer Flüchtling in Köln, die Asylanerkennung erfolgt 1993. Er engagiert sich für Menschenrechte, arbeitet beim »Kölner Appell gegen Rassismus«, organisiert Kulturprojekte, so zum Thema Völkermord an den Armeniern, leitet das Projekt »Erinnerung und Geschichte«. Und er arbeitet als Schriftsteller. Ende der neunziger Jahre erscheint seine Trilogie »Die verschwundenen Meere« in türkischer Sprache. Die Wellen des Schwarzen Meeres, an dem er aufwuchs, nahe der Grenze zu Georgien. Als Fischer, als Instrumentenbauer wollte er ein einfaches Leben führen. Das Glitzern des Marmarameeres, beim Anflug auf den Flughafen Sabiha Gökçen, nun 53-jährig. In der Trilogie »Die verschwundenen Meere« erzählt der Schriftsteller von seiner Jugend in der Türkei, als Zeitzeuge, als politisch Verfolgter. Zugleich beschreibt er kritisch die politische Entwicklung in seiner Heimat in jener Zeit. Im dritten Band aber, in einer Zeitreise, die zurück in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts führt, legt der Autor den Finger auf einen wunden Punkt in der türkischen Geschichte,
Gefängnis in Tekirdağ, Westtürkei, 2010. Noch Monate nach der Verhaftung ohne Prozess. Woran mag der Inhaftierte denken, endlose Tage, endlose Nächte lang? Gerade einer wie er weiß, wie viele Menschen in aller Welt unschuldig, aus politischen Gründen, in Gefängnissen festgehalten werden. Er, ein Kämpfer für Menschenrechte und Völkerverständigung, weiß, dass Organisationen wie Amnesty International sich für ihn einsetzen werden. Trotzdem, wie schwer zu hoffen. Endlose Tage, endlose Nächte lang. Wenn er an seinen fast neunzigjährigen Vater denkt. Wenn er Stationen seines eigenen Lebens Revue passieren lässt. Wie bleischwer kann Hoffen dann werden.
Fünf Monate Haft 1975. Das erste Mal sperren sie ihn mit 18 Jahren ein, weil er an einem Kiosk eine linke Zeitung gekauft hatte.
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Doğan Akhanlı weiß das. Er weiß auch, dass es neuerdings in der Türkei Bestrebungen gibt, die Armenienfrage liberaler zu handhaben. Er weiß, dass sein Buch »Der letzte Traum der Madonna« von türkischen Schriftstellern und Kritikern zu den zehn besten Romanen des Jahres 2005 gerechnet wurde. Der Autor beschreibt darin das tragische Schicksal von über 700 jüdischen Flüchtlingen: Mit dem bulgarischen Schiff Struma wollen sie Ende 1941 nach Palästina gelangen. Nach einer Irrfahrt mit Maschinenschaden treibt das Schiff vor der türkischen Küste, Hilfe wird wochenlang verwehrt. Fast alle Passagiere kommen um, als die Struma von einem sowjetischen U-Boot mit einem Torpedoschuss versenkt wird, nordöstlich des Bosporus. Es ist, als wolle der rechte Tragflügel, wenn der Flieger mit gedrosseltem Antrieb in den Landeanflug auf Sabiha Gökçen geht, im Abendlicht durchs Meer pflügen. Warum sollte der Insasse nicht als freier Mensch in seine Heimat einreisen? Die türkische Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, er habe im Oktober 1989 an einem Überfall auf eine Geldwechselstube in Istanbul teilgenommen, bei dem der Besitzer zu Tode kam. Zudem sei Akhanlı »Kopf« einer auf den Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung abzielenden bewaffneten Organisation. Ein Umstand, der nach dem türkischen Strafgesetzbuch mit einer lebenslangen Gefängnisstrafe geahndet wird. Sein Anwalt spricht von einem »Justizskandal« voller Ungereimtheiten. Der Schriftsteller Günter Wallraff betont den Zusammenhang zwischen dem Vorgehen der türkischen Justizbehörden und dem Engagement von Doğan Akhanlı in der Frage des Genozids an den Armeniern im Ersten Weltkrieg. Und sogar der Zeuge, auf dessen Aussage sich die Anklage im Wesentlichen stützt, entlastet den Angeklagten. Seine Aussage, er habe Doğan Akhanlı als Beteiligten an besagtem Überfall identifizieren können, habe er unter schwerer Folter gemacht. Ausdrücklich hat dieser Zeuge seine Aussage widerrufen und erklärt, dass er Akhanlı 1992 nur deshalb beschuldigt habe, um weiteren Folterqualen zu entgehen. Auch der Inhaftierte bestreitet natürlich die Vorwürfe. Er bekräftigt, dass er nie Mitglied jener inkriminierten Organisation gewesen sei, und bewaffnete Überfälle hätten zudem außerhalb seiner politischen Überzeugung gelegen. An besagtem Überfall habe er sich in keiner Weise beteiligt. Er habe sich schon Ende der achtziger Jahre gegen Tendenzen in linken türkischen Organisationen gewandt, mit bewaffneter Gewalt die Verhältnisse im Lande verändern zu wollen. Eine unverzügliche Freilassung des Beschuldigten ist dringend geboten, betont »Recherche International« in Köln, ein Verein, der inzwischen mit einer umfangreichen Faktensammlung die Forderung nach Gerechtigkeit belegt. Die Vermutung liegt nahe, dass die Inhaftierung einer Gesinnungsjustiz geschuldet ist, die ahnden will, dass der Beschul-
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digte sich kritisch mit den Gewalttraditionen der türkischen Republik und dem Völkermord im Osmanischen Reich auseinandersetzt. Für die sofortige Freilassung von Doğan Akhanlı haben sich daher unter anderem Günter Grass, Edgar Hilsenrath, Günter Wallraff, Yasar Kemal, Zülfü Livaneli, Orhan Pamuk, Pinar Selek, Claudia Roth und Mikis Theodorakis ausgesprochen, auch das P.E.N.-Zentrum Deutschland und der Verband deutscher Schriftsteller (VS) sowie zahlreiche andere Organisationen. Die Freilassung steht einer juristischen Klärung der Vorwürfe nicht im Wege. Doğan Akhanlı selbst erklärte: »Mord, ganz gleich, ob er aus politischen oder anderen Motiven begangen wurde, ist ein Verbrechen, das aufgeklärt und geahndet werden muss. Dies ist nicht nur eine Pflicht gegenüber den Getöteten, sondern auch eine menschliche und gesellschaftliche Verantwortung gegenüber den Angehörigen der Opfer. Auch wenn die mir vorgeworfenen Straftaten verjährt sein sollten, will ich nicht, dass mit dieser Begründung das Verfahren gegen mich eingestellt wird. In diesem Land, in dem unaufgeklärte Morde nicht die Ausnahme, sondern den Normalfall darstellen, möchte ich gegen die Vorwürfe keinen Anspruch auf ›Verjährung‹ ins Feld führen. Ich will, dass die Vorwürfe gegen mich aufgeklärt werden. Dann wird das Gericht mich schließlich freisprechen müssen.«
Über vier Monate Untersuchungshaft. Warten. Endlose Tage, endlose Nächte. Warten auf Hafterleichterung, auf den ersten Prozesstag, auf Gerechtigkeit, auf … Ende November 2010. Der Vater stirbt in seinem Dorf am Schwarzen Meer. Ende Dezember wird Akhanlı aus der Untersuchungshaft entlassen. Und daraufhin mit einem Einreiseverbot belegt. Sein Prozess wird im März in Istanbul fortgesetzt. In Doğan Akhanlıs Roman über den Völkermord führt ein weiser Märchen- und Geschichtenerzähler seine jungen Zuhörer durch Raum und Zeit in die Vergangenheit. Zeitsprünge, Identitätswechsel, visionäre Zukunftsbilder weisen den jungen Mann in die Geschichte der Türkei, er findet Antworten auf seine Fragen nach den Ursachen der staatlichen Gewalt, zu deren Opfern er und seine Generation geworden sind. Der Roman heißt »Die Richter des jüngsten Gerichts«.
Gustav Mahlers 2. Sinfonie, genannt Auferstehungssinfonie: O glaube, mein Herz! O glaube: Es geht dir nichts verloren! Dein ist, ja Dein, was du gesehnt, Dein, was du geliebt, was du gestritten!
Imre töröK, 61, geboren in Ungarn, kam
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auf die Massaker an den christlichen Armeniern im Osmanischen Reich (vorwiegend in den Jahren 1915 bis 1917). Den Gräueltaten fielen nach türkischen Angaben 300.000, nach armenischen Angaben 1,5 Millionen Armenier zum Opfer. Nach offizieller türkischer Lesart handelte es sich bei den Ereignissen nicht um Völkermord. Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wurde 2005, als er die Ereignisse als Genozid bewertete, wegen »öffentlicher Verunglimpfung des Türkentums« angeklagt.
als jugendlicher Flüchtling nach Deutschland. Studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Bundesvorsitzender des Verbands deutscher Schriftsteller (VS), Mitglied im P.E.N.-Zentrum Deutschland. Zahlreiche Auszeichnungen. Zuletzt erschien von ihm der Roman »Insel der Elefanten« im Pop-Verlag.
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Ein unsichtbares Heer Sie putzen, pflegen und bauen für uns. Weil wir billige Dienstleistungen bevorzugen, leben sie in der Illegalität – ohne Schulen, ohne Ärzte, ohne Rechte. Von Maike Wetzel
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ir sind überall. Wir bringen dir Essen, wir putzen für dich, wir machen dir Liebe, wir pflegen dich, wir bauen dein Haus. Wir sind überall, doch es gibt uns nicht. Wir sind ein blinder Fleck im Auge des Staats, im Auge seiner Bürger. Wir haben keine Papiere. Wir sind gekommen, weil wir glaubten, in diesem Land könnten wir unsere Familien ernähren und müssten keine Angst haben. Niemand hungert in diesem Land, niemand friert, niemand wird wegen seiner Ansichten, seines Geschlechts, seiner Religion oder anderer willkürlicher Gründe verfolgt oder gar getötet. Niemand muss in den Krieg. Es gibt Ärzte, Kindergärten, Schulen, Universitäten für jeden. Das glaubten wir. Bleiben wollen nur wenige von uns. Wir haben unsere Familien zurückgelassen. Für sie wollen wir Geld verdienen, zu ihnen wollen wir zurück. Manche von uns sind aber so jung oder so verzweifelt, dass sie gar nichts haben, zu dem sie zurückkehren könnten. Für sie gibt es nur die Flucht nach vorn. Aber auch für viele andere ist dieses Land zu einer Falle geworden. Wir kamen, um Geld zu verdienen. Wir dachten, wir seien tüchtig, wir seien uns für nichts zu fein, doch wir wussten nicht, wie schwer es ist, hier Fuß zu fassen. Es ist schwer, die Sprache zu lernen, wenn du dich verstecken musst. Es ist schwer, Arbeit zu finden. Es ist noch schwerer, sie zu behalten und fast unmöglich, einen angemessenen Lohn zu erhalten. Es ist schwer, eine Bleibe zu finden. Noch schwerer, sie zu bezahlen. Wenn wir Arbeit finden, bleibt den meisten von uns in den ersten beiden Jahren gar nichts. Wir zahlen nur unsere Reisekosten ab. Es dauert mindestens fünf Jahre, bis du Geld zurücklegen kannst, sagen die, die schon lange hier sind. Wenn die Polizei uns vorher schnappt, kehren wir mit Schulden in unsere Heimat zurück. Manche von uns schaffen es, bis zu zehn Jahre hier zu bleiben. Doch die ganze Zeit sehen sie ihre Familie nicht. Sie vermissen sie, sie werden ihr fremd. Diejenigen von uns, die ihre Familie mitgenommen haben, sind nicht unbedingt besser dran. Unsere Kinder dürfen meist
Wir sind nicht wenige, wir sind viele. Wer durch die Straßen bummelt, begegnet uns. 44
nicht die Schule besuchen. Sie haben kein Recht auf Unterricht. Die Lehrer müssten sie den Behörden melden. Deshalb hocken unsere Kinder zu Hause vor dem Fernseher. Sie dürfen erst raus auf den Spielplatz, wenn die anderen Kinder aus der Schule kommen. Wir schuften für eine bessere Zukunft unserer Kinder, aber wir wissen nicht, wann diese stattfinden soll. Manchmal drückt jemand im Schulamt ein Auge zu und unsere Kinder dürfen in die Schule. Auf Auslandsreisen können sie ihre Klassenkameraden trotzdem nicht begleiten. Wenn sie sich beim Sport oder auf dem Schulhof verletzen, schweigen sie und humpeln davon, um nicht ins Krankenhaus zu kommen. Dort flöge ihr Status auf. Sie lernen von klein auf, dass sie sich verstecken müssen. Sie können niemandem vertrauen. Wir bringen unseren Kindern das Schweigen bei, sobald sie reden können. Auch wir gehen nicht zum Arzt, wenn wir schwanger sind oder krank. In manchen Städten gibt es für den Notfall Hilfsdienste. Wenn wir Glück haben, erfahren wir rechtzeitig davon und schaffen es, dorthin zu kommen. Manche von uns krepieren allein. Polizisten gehen wir aus dem Weg. Wir fahren niemals schwarz. Wir gehen nicht bei Rot über die Ampel. Wir fahren kein Rad. Denn Menschen mit dunkler Hautfarbe werden zu oft angehalten, um die Rahmennummer zu kontrollieren. Am Telefon lügen wir unsere Familien an, wenn wir schon wieder unseren Job verloren haben. Wenn wir uns ständig wieder neu als Putzfrau vorstellen, uns Hausbesitzer die komplette Grundreinigung machen lassen und dann befinden, es sei nicht sauber genug und uns ohne Lohn wegschicken. Wir erzählen nicht, dass uns jemand bestohlen, vergewaltigt oder betrogen hat. Wir können uns nicht wehren. Wir können niemanden anzeigen, da uns selbst dann die Ausweisung droht. Unsere Familien am Telefon sollen sich keine Sorgen machen, sie brauchen uns. Wir erzählen nicht, dass uns jetzt ein Finger fehlt, weil wir auf der Baustelle zu müde waren, um die Flex richtig zu halten. Wir sagen nicht, dass wir uns ein kleines Zimmer und sogar das Bett mit einem anderen Menschen teilen müssen, weil uns ohne Papiere niemand eine Wohnung gibt. Wir erzählen unseren Familien am Telefon nicht von unseren Tränen und auch sie schweigen über ihre. Wir spülen ab in Gourmetrestaurants. Wir servieren Champagner, aber wir trinken nie davon. Wir schütteln die weichen Daunenbetten auf im Hotel, doch wir liegen nicht darin. Dass wir zu Hause Architekten, Ärztinnen oder Hotelmanager waren, interessiert hier niemanden. Wir holen die heißen Brötchen aus dem Ofen, wir heben die schweren Kisten vom Wagen. Wir können jetzt nicht aufgeben. Wir können nicht zurück. Wir sehnen uns nach Zuhause. Wir wollen dort einen Laden eröffnen, ein Restaurant. Wir wollen uns dort eine Existenz aufbauen. Doch
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Mann oder ihre Frau verlangt absoluten Gehorsam von ihnen. Schließlich können sie sich ein Scheitern der Ehe vor Ablauf der Frist nicht erlauben. Wieder flögen sie raus. Wir sind nicht wenige, wir sind viele. Wer durch die Straßen bummelt, begegnet uns. Das Brötchen in deiner Hand wurde von uns geschmiert. Die Toilettenschüssel unter deinem Hintern von uns geschrubbt. Wir werden nicht verschwinden. Im Gegenteil: Unsere Zahl wird wachsen. So lange die Kluft zwischen Arm und Reich wachsen wird, so lange es Hungersnöte, Kriege, Katastrophen gibt. Ihr glaubt, ihr seid vor uns sicher, weil wir keine Papiere haben. Weil es uns offiziell nicht gibt. Weil wir unsere Köpfe ducken müssen. Weil ihr uns keine Medizin, keinen Unterricht, keinen Schutz gebt. Aber ihr irrt euch: Wir sind ein unsichtbares Heer. Betet dafür, dass ihr niemals zu uns gehört.
maIKe wetzel, 36, lebt als freie Foto: formvorrat
das gesparte Geld reicht dafür noch nicht. Wir verlören das Gesicht. Wir arbeiten für den geringsten Lohn. Am Ende des Tages, am Ende der Woche, am Ende des Monats wird uns manchmal auch der verwehrt. Wir können niemand anzeigen. Täten wir es, wiesen uns die Behörden aus. Wir glaubten, dieses Land bringe uns weiter. Wir glaubten, es sei die Lösung für unsere Probleme. Wir sparten für die Reise, wir sagten allen Lebewohl oder gingen leise, heimlich. Wir setzten uns in übervolle Schiffe, erstickten fast in Frachträumen von Lastwagen, von Containern, von Zügen. Manche von uns kamen als Urlauber, doch sobald sie ihre Reisegruppe verließen, begann der Spießrutenlauf. Ich spreche mit einer Stimme, doch in Wirklichkeit sind wir isoliert. Wir trauen niemandem. Jeder, der von unserem Status weiß, hat uns in der Hand. Auch unsere Landsleute nutzen uns aus. Wir hausen in Baracken, wir wohnen in verschimmelten, engen Wohnungen. Wir zahlen doppelt und fünffach für sie. Gegen Gebühren deponieren wir unser Geld bei Menschen aus demselben Land. Manchmal haben wir Pech: Sie kassieren unsere ganzen Ersparnisse. Wir zeigen sie nicht an. Gegen Gebühren leihen wir uns fremde Papiere, fremde Krankenkassenkarten, manchmal sogar Ehepartner aus. Diese Scheinehen können teuer sein. Bis zu 15.000 Euro lassen sich manche der legalen Ehepartner zahlen. Manche von uns werden aber auch ohne Geld geheiratet. Das böse Erwachen kommt dann oft schnell. Ihr
Schriftstellerin und Drehbuchautorin in Berlin. Für ihre Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bayerischen Staatsförderpreis.
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ch suchte mit meinen Fingern den Lichtschalter. Endlich hatte ich ihn ertastet. Schneller als ich denken konnte, lag Herrn Adáns weiche Hand auf meiner. »Ich lasse das Licht aus«, sagte er. »Warum?« »Damit du dich nicht zu sehr erschrickst.« Wie konnte ich nur so blöd sein und diese Situation nicht vorausahnen – was sollte ich jetzt bloß machen? Ich starrte auf den Tisch, auf dem eine lange Schere und ein Stück Mullbinde lag. Aber Herr Adán machte keine Anstalten, mich zu berühren, geschweige denn mich auszuziehen. Er entfernte sich etwas, sortierte sogar kurz mehrere Akten, murmelte etwas in sich hinein. »Guck mal, das ist meine Frau«, er deutete auf ein Foto, das zwischen einem Heilkräuterkalender und einem Erste-HilfePoster ein wenig schief an der Wand hing. Offenbar wollte er mich vernaschen, aber vorher klarstellen, dass es nur für einmal sein würde. Herr Adán stand auf und zog sich vor mir sein Hemd über den Kopf. »Komm näher, ich muss sie dir zeigen.« Wen oder was meint er mit ›sie‹? Ich sah im Dunklen die Furchen auf seinem Rücken. Da gab es Täler, Kuhlen, Striche und Linien wie die Spur von einem Tausendfüßler. Sein ganzer Rücken war mit Narben, Verkrustungen, Zigarettenbrandstellen übersät. Ich war auf einmal sehr froh, dass es so dunkel war. »Hattest du als Kind Angst vor Monstern? Hat man dir gesagt, dass es so etwas nicht gibt? Es gibt sie … Deine Phantasie reicht nicht aus, um dir vorzustellen, was man mit mir gemacht hat … Sie haben mit Steinen auf meinen Körper geschlagen, bis meine Knochen brachen, sie haben mit Heftzwecken Schach auf meinem Rücken gespielt, einmal haben sie mich an einem heißen Tag, an dem alle Gefangenen und Wärter nur herumdösten, aus lauter Langeweile auf die Eisenpfähle eines Zauns gedrückt,
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ich wäre fast verblutet. Aber weil sie entdeckten, dass ich am gleichen Tag wie der Herr und Meister Geburtstag habe, bin ich amnestiert worden. Man hat mich dann besser behandelt und zu einem Arzt gebracht, nur deshalb habe ich überlebt. Seitdem interessiere ich mich übrigens für Medizin.« Ich starrte Herrn Adán an. Er trat noch näher an mich heran. Sein Hemd hatte er lässig über die Schulter gelegt. Er war ganz ruhig. Auch auf seiner Brust waren Narben. »Bitte«, flüsterte er. Er sah mich wieder so lange an. Langsam konnte ich in der Dunkelheit besser sehen. Als könnte er meine Gedanken erraten, sagte er: »Ja, die Augen müssen sich erst einmal auf die veränderten Lichtverhältnisse einstellen.« Dann legte Herr Adán meine Hand auf seine Brust und begann, mit ihr langsam über seine Haut zu fahren. Dabei achtete er darauf, dass sie jede Narbe wirklich berührte. Ich stellte fest, dass es ganz unterschiedliche Narben gab. Manche mussten auf tiefe Verletzungen zurückzuführen sein, meine Finger glitten dann über harte Knoten – sie fühlten sich an wie das Rückgrat meines Bruders, wenn er sich bückte. Andere Narben waren eigentümlich weich, die Haut war an ihrer Stelle dünn wie Pergamentpapier. Und es gab Narben, die taten mir unter den Fingerkuppen weh – lang und dünn wie Nägel waren sie. Manche waren schnurgerade wie Pfeile, andere gewunden wie die Spur des Sanddornsafts, wenn meine Mutter ihn in einer Quarkschale verrührte. Braunrote, krustige Narben waren das. Herr Adán ließ meine Hand los, und ich hörte ein Geräusch von raschelndem Stoff, etwas fiel auf den Boden. Dann ergriff er meine Hand wieder und führte sie über eine tiefe Narbe, die bis zum Rand seiner Unterhose reichte. Er ließ eine lange sichelförmig geschwungene Narbe in seinen Leisten nicht aus, machte
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entrissen, um dem nächtlichen Berlin gezeigt zu werden. Herr Adáns geschundener Körper war einem Blitzlichtgewitter ausgesetzt. Was hier stattfand, war eine stumme Parade von Wunden – und ich streckte meine Hände nach ihnen aus … Es dauerte lange, bis Herr Adán mich über all seine Narben geführt hatte. Schließlich ließ Herr Adán meine schweißnasse Hand los. Dann streichelte er mir flüchtig über die Wange. Flink zog er sich an und geleitete mich hinaus. Auf dem Weg zur Tür riss er noch zwei Packungen Hustenbonbons und Fruchtgummis von einem Drehständer und drückte sie mir in die Hand. »Für dich.« Wieder sah ich zu all den Töpfen und Tiegeln hinauf. Herr Adán hätte sich bestimmt umbringen können mit einem dieser Mittelchen, aber er hatte es nicht getan. Auszug aus dem Kapitel »Narbenland – Hände« aus dem Roman »Hausers Zimmer« von Tanja Dückers, Schöffling Verlag, der im Februar 2011 erscheint.
tanja dÜCKers, 42, arbeitete mehrere
Foto: privat
aber keinerlei Anstalten, meine Hand in seine Unterhose zu führen. Meine Zahnärztin, Frau Dr. Minkeritz, hatte einmal gesagt, die Zungenspitze und die Fingerkuppen würden von ihrer Wahrnehmungsweise her genau wie Lupen funktionieren – sie gäben einem immer das Gefühl, dass alles viel größer sei als in Wirklichkeit. Deshalb habe man bei einem Loch im Zahn immer gleich das Gefühl, der halbe Kiefer würde einem fehlen. Während meine Hand über eine scheinbar endlos lange Narbe an Herrn Adáns Oberschenkel strich, fiel helles Licht von den Scheinwerfern eines vorbeifahrenden Autos in den Raum. Das fahle Licht erhellte die Apotheke immer wieder für Momente. Jedes Mal erschrak ich, wenn in der Dunkelheit eine rote breite Narbe vor mir aufleuchtete – oder eine dieser weißen Hautstellen irgendwo, deren Farbe nicht zu der von Herrn Adán zu passen schien. Manchmal wurden die Tiegel und Bottiche auf den hohen Regalen sichtbar. Bei drei dicht hintereinander folgenden Autos las ich »Si« – »li« – »cea«. Einmal leuchtete ein Feuerlöschgerät hellrot auf, danach, flammenfarben, eine Narbe unterhalb von Herrn Adáns Nacken. Dann fiel das Licht auf den Gummischlauch eines Blutdruckmessgeräts, der wie eine tote Schlange auf der Anrichte lag, und auf einen lilaroten Narbenwurm auf Herrn Adáns Unterarm. Alles, was einen Moment lang im Licht stand, wurde im nächsten in eine Dunkelheit getaucht, die tiefer zu sein schien, als die, die ihr vorausging. In diesem unablässigen Flackern wirkten Herrn Adáns Körperteile wie voneinander losgelöst; es war, als wäre der Hinterraum der Apotheke von unendlich vielen verstümmelten Körpern angefüllt. Für Sekunden wurden sie auf einem leuchtenden Thron emporgehoben, der Dunkelheit und dem Vergessen
Jahre als Nachrichten- und Wetterberichttexterin bei der Deutschen Welle. Sie wurde 2006 vom Deutschen Historischen Museum zu den zehn wichtigsten Schriftstellern unter 40 und den hundert kreativsten Köpfen Deutschlands gewählt. Zuletzt erschien »Der längste Tag des Jahres« beim Aufbau-Verlag.
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s war ein Klassentreffen unserer Abiturklasse. Carmen hatte es organisiert, das Mädchen mit der besonders leisen Stimme, das mir nur durch seinen Namen in Erinnerung war, weil er so gar nicht zu ihrem Äußeren passte. Carmen hatte über ein Jahr lang versucht herauszufinden, wo wir alle inzwischen wohnten und was der geschickteste Termin für eine Begegnung sein könnte, sie hatte das Restaurant ausgesucht und die Preise verhandelt, alles hatte sie übernommen, und nun saßen wir in einem der vielen Vereinszimmer eines mittelalterlichen Gasthofs um einen riesigen Tisch herum und staunten. Es hatte sich niemand verändert! Dabei waren wir alle nun ältere Frauen geworden, Frauen Anfang sechzig, und doch unverändert! Etwas Wesentliches war geblieben, das Wesen eben, stärker als Falten und blasse Haut. Lauter alte Frauen, und doch dieselben, unsere Klasse, zum Lachen war das, und es lachten auch alle. Ein Kellner ging hinter den vielen Stuhlrücken um den Tisch herum und nahm Bestellungen auf, während Carmen, von der mir nun plötzlich ihr Handstand auf dem Barren vor Augen stand – ein Atem verschlagender, die glatte Eins verdienender Handstand – die Zusammenkunft eröffnete, für die Teilnahme dankte, die lange Reise. Während sie sprach, wisperten Gerüchte um den Tisch herum. Gestorben, gestorben, ja, auch gestorben, und wir würden nie wieder vollzählig sein. Dieses Wort schon mal, es kam zuerst angeflattert aus der Vergangenheit: Vollzählig. – Seid ihr vollzählig? – Nein. Und nun schlug Carmen vor, dass doch jeder erzählen könnte, wie es ihm ergangen sei in der verflossenen Zeit. »Einmal die Runde rum«, hieß es, und so lief es auch, einfach im Kreis. Wer an der Reihe war, setzte sich etwas gerader hin und begann.
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Zuerst das Erreichte – wo er heute lebt, was er geworden ist, der Beruf also, vielleicht noch die Kinder, die Ehe, wofür jedes Mal ein einziger, längerer Satz genügte, was dann folgte, war die Geschichte dazu, beginnend mit dem Abitur, dem Zeitpunkt, als wir uns trennten. – Wie Ihr wisst, habe ich ja Chemie studiert, … Natürlich wussten wir nicht, aber so fing sie an, die Erzählung, kam dann schnell ins Stocken, denn vor oder nach diesem Studium hatte jeder dann doch etwas anderes gemacht und dann noch etwas anderes und wieder und wieder. Ja, genauso war es bei mir gewesen, aber wie staunte ich nun – bei den anderen auch! Bei niemandem war es glatt gegangen mit der ersten Berufswahl, außer bei denen, die Ärztin oder Apothekerin geworden waren. Wir anderen alle hatten manchmal Jahre damit verbracht herauszufinden, was wir eigentlich wollten und dann noch einmal Jahre, bis wir das auch wagten oder durften. Beim Zuhören schien es fast, diese lange Suche sei das Zentrum der Lebenserzählung. Manchem fiel es beim Reden auf, dass er sich viel zu lange schon in einer Anfangszeit aufhält, und um dafür nun eine Erklärung zu finden, für diese Holperigkeiten und Stockungen einer Biographie, ging er dann jedes Mal noch etwas weiter zurück in der Zeit. »Ihr wisst ja,…« war wieder die Eingangsformel, aber die wurde sofort korrigiert: »Ihr wisst vielleicht nicht.« Ja, wir wussten nicht. Gleich zu Beginn, die gut frisierte Frau in der grauen Kostümjacke – Birgit. Sie war die erste, die es sagte: Ihr wisst vielleicht nicht. – Ihr wisst vielleicht nicht, dass meine Mutter damals im Gefängnis saß. Sie meinte die Oberschulzeit.
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Wir waren eine Klasse ohne Cliquen und Feindseligkeiten gewesen, so war es mir in Erinnerung, eine ruhige, beinahe gutmütige Klasse. Jede hatte ihren Kreis von Freundinnen gehabt, und gerade mit Birgit hatte ich nie wirklich zu tun. Sie suchte sich meistens Sitzplätze ganz hinten an der Wand, trug häufig die FDJ-Bluse, blau, und wenn sie aufstand, um etwas zu sagen, sprach sie leise. Und nun? Birgit! Da hatten wir also vier Jahre zusammen gesessen, geturnt und getanzt und auf den Feldern die Rüben verzogen, und währenddessen saß Birgits Mutter in unserer Stadt in einem Gefängnis?! – Ja, die ganze Zeit, sagte Birgit, und es sei aus politischen Gründen gewesen. Das war nun zum ersten Mal, dass sie vor der Klasse darüber sprach, zum ersten Mal in ihrem Leben, in unserem Leben, hier, in der Gemütlichkeit eines alten Gasthofs mit niedriger Zimmerdecke, und es war laut und deutlich gesprochen. – Habt ihr das alle gewusst, das von Birgit? Nein, niemand, nur ihre Freundin natürlich, die Gisela, die damals bei ihrer Großmutter gewohnt hatte. Ich erinnerte mich. Die beiden liefen meist eng untergehakt und entfernt von den übrigen über den Schulhof. Enge Freundinnen eben. Aber nun kam heraus, dass Giselas Mutter sie als Kind schon ihrer eigenen Mutter überlassen hatte, sie war in den Westen gegangen, für immer. Warum hatte ich damals gedacht, Giselas Mutter wäre gestorben? Sie hatte mir immer so leidgetan! – Ich habe ihr verziehen, sagte Gisela. Ich habe sie zu mir genommen. Und es sei ja ein Glück gewesen, dass die Mutter noch vor
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dem Aufstand des 17. Juni gegangen war, so war diese Flucht nicht als »politisch« angesehen, aber als »Flucht« war das natürlich immer bezeichnet worden. Ein Makel. Und überhaupt – die Eltern! Das sei doch damals so wichtig gewesen, die Eltern, was machen die Eltern? Wegen der Mutter hätte sie es von vorneherein unterlassen, sich um ein Studium zu bewerben, dabei hätte sie auch gern studiert. Nur deswegen war Gisela medizinisch-technische Assistentin geworden? – Ja. Und so ging es weiter die Runde herum. Die Flüchtlingskinder erzählten nun plötzlich von Besitztümern ihrer Familien, von denen sie niemals geredet hatten, von Handwerksbetrieben und kleinen Fabriken, und wie tief religiös manche gewesen waren, und es nicht so zeigen konnten wie sie gewollt hätten, und von Dir, riefen einige, von Dir, da wussten wir ja auch nichts! Es stimmte. Von meiner russischen Mutter hatten alle gewusst, sie unterrichtete auch in der Stadt, und schon mal im Sprachunterricht fiel es auf, in dem ich den Lehrer gerne verbesserte, aber von dem Jüdischen an meinem deutschen Vater hatte ich geschwiegen und die vielen Toten in seiner Familie – in unserer eigentlich doch – die hatte ich nicht adoptiert und niemals von ihnen erzählt. Warum? Es war nicht verboten. Mir wäre auch gar nichts geschehen, aber niemand tat es. Und niemand hätte gesagt: Ich auch. Vielleicht war niemand da. Vielleicht aber doch. Das schönste Mädchen in unserer Klasse hatte schwarze Locken und einen dunklen Teint, es hieß, sie sieht »rassig« aus. Ein Kompliment, zu dem sie jedes Mal rätselhaft lächelte und schwieg. Wir waren nur gute zehn Jahre entfernt von der großen
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durch eine unbekannte Landschaft trottelt. Und dann fiel mir ein, dass ich dieses Gefühl auf unseren vielen Klassenfahrten damals tatsächlich hatte. Ein Gefühl der Verlassenheit und Bedrohung durch etwas Unbekanntes. Genau das war der Grund für mich geworden zu schreiben. Dieser quälende Gedanke, dass ich nicht weiß, wo ich bin und wer ich bin, und was ist eigentlich los? Hätten alle gesprochen, hätte jeder das sein können, was er gewesen war – was wäre ich dann geworden? Und die anderen? Und hatte sich etwas verändert? Ja. Wir hatten uns verändert. Wir wollten reden. Ganz zuletzt war eine Frau an der Reihe zu erzählen, die nach vielen Anstellungen schließlich bei der Armee gearbeitet hatte. Ich war bei der Volksarmee. Es muss sie Überwindung gekostet haben, an diesem Tag davon zu erzählen, aber sie hat es getan, und sie hat nicht hinzugefügt: Sagt es nicht weiter.
IrIna lIebmann, 67, arbeitet als freie Foto: Leipziger Messe
Niederlage des faschistischen Deutschen Reiches, der Wortschatz änderte sich erst langsam, und die Menschen? Rassismus war ihnen verboten, auch das verboten, auch diese Freiheit der Meinung verboten, sich höhnisch oder beleidigend über Polen und Juden zu äußern. Einen Lehrer hatten wir, der es uns manchmal spüren ließ, dass da mit einigen in der Klasse etwas nicht in Ordnung wäre, aber es blieben winzige Andeutungen, schnell abgebrochen mit dem Grummeln: Man darf ja nichts sagen. Ich war froh darüber, dass er da schweigen musste. Und schwieg auch. Besser nichts erzählen. So wie Birgit und so wie Gisela. Besser nicht. Und schon gar nicht, dass mein Vater aus der herrschenden Partei ausgeschlossen war und als Parteifeind in diese Gegend verbannt, nein, wen sollte das interessieren? Meine beste Freundin, die wusste das. Sie wiederum hatte mir von ihren Eltern erzählt, dass die immer noch glaubten ans Ariertum, aber das musste unser Geheimnis bleiben. Meinungsfreiheit bedeutet, straflos eine abweichende Meinung öffentlich äußern zu dürfen. Wenn diese Freiheit fehlt oder eingeschränkt ist, hören die Menschen nicht auf, Meinungen zu haben, Ansichten, Gedanken, aber unmerklich verändern sie sich selber dabei doch, und die Welt, in der sie leben, verändert sich auch, sie verklebt und vergammelt, wird schief und krumm, und manches gemütliche Häuschen ist nur auf Papier gemalt, mit Fenstern, die sich nicht öffnen lassen und Türen, die immer geschlossen bleiben. Und die Zeit? Was wird aus der Zeit? Nach unserem Klassentreffen kam ich mir getäuscht vor, regelrecht genarrt. Fast jeder hatte jetzt Dinge erzählt, die sein Bild anders erscheinen ließen als damals, ich auch. Unsere gutmütige, konfliktfreie Klasse kam mir im Rückblick nun vor wie ein Zug versehrter Kinder, der still in Zweier-Reihen
Schriftstellerin zunächst in Ostberlin, ab 1988 in Westberlin. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise, unter anderem den Aspekte-Literaturpreis und den Berliner Literaturpreis. Für die Biografie ihres Vaters, des Journalisten und Widerstandskämpfers Rudolf Herrnstadt, Mitbegründer des »Neuen Deutschlands«, wurde sie 2008 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt. Zuletzt ist ihr Lyrikband »Die schönste Wohnung hab ich schon – Was soll denn jetzt noch werden?« im Transit-Verlag erschienen.
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s war alles genau so wie im Jahr zuvor. Als sie das Gehege des Kragenbärs erreicht hatte, blieb die ganze Mannschaft andächtig am Geländer vor dem Wassergraben stehen und betrachtete das Tier, das, an einen rindenlosen Baumstumpf gelehnt, auf seinem Hintern saß und misstrauisch zu ihnen herüber glotzte. Der Kragenbär, übersetzte die Dolmetscherin die Erklärung der Tierpflegerin, einer großen, dunkelhäutigen Frau, sei eine auch im Land der Gäste vorkommende Art. Die beiden Langnasen – die Tierpflegerin und ein kleiner, verschwitzt wirkender Mann vom Organisationskomitee – lächelten. Die Athleten lächelten auch und verbeugten sich dann Richtung Bär. Eine merkwürdige Pause entstand, in der alle schwiegen. Schließlich räusperte sich der Nationaltrainer und erklärte lächelnd, dass sie das natürlich wüssten. Der Kragenbär sei ja ein Geschenk des Wunderbaren Führers an die Gastgeber anlässlich der Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr gewesen. Ganz allein habe der Wunderbare Führer den Bären in den dichten Wäldern mehrere Tage lang verfolgt, aufgespürt und in eine von ihm ersonnene Falle gelockt. Han stand etwas abseits. Bereits im Jahr zuvor hatte er heimlich gelesen, was auf der Metalltafel stand, die die Besucher des Zoos über Art, Name und Herkunft des Tiers jenseits des Grabens informierte. Er konnte ganz gut Englisch. Soweit er verstanden hatte, stammte der Kragenbär tatsächlich aus seinem Heimatland. Man hatte ihn dort 15 Jahre lang in einem winzigen Käfig gehalten. Ein Katheder, hieß es auf der Tafel, war dem Tier gelegt worden, der den Gallensaft abzapfte, ein traditionelles Heilmittel. Angeblich habe man mit der Bärengalle den Vater des Wunderbaren Führers behandelt. Doch als auch der Saft des Bären den Geliebten Führer nicht von der endgültigen Begegnung mit dem Ewigen Führer habe abhalten können, sei der Bär in Ungnade gefallen. Eine Tierschutzorganisation habe ihn freigekauft – für eine Viertelmillion Dollar.
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Er hatte das damals nicht geglaubt, es für ein Märchen der Langnasen gehalten, die anscheinend immer noch nicht wahrhaben wollten, dass die »Ära der wunderbaren Verständigung« begonnen hatte. Außerdem – wer würde schon so viel Geld für einen alten Bären zahlen? »Tiere können sie freikaufen«, hatte ihm Su-Yun gesagt, »Menschen nicht.« »Die Zeit der Missverständnisse ist vorbei«, entgegnete Han und fühlte sich für einen Augenblick seltsam, denn dies waren genau die Worte des Wunderbaren Führers gewesen. »Es gibt keine Gefangenen mehr, die man freikaufen könnte«, hatte er seiner Verlobten Su-Yun weiter erklärt, »weil es keine Gefangenenlager mehr gibt.« Im »Jahr der Großen Erkenntnis« waren alle Lager aufgelöst worden. Ein Überläufer hatte einer westlichen Internetplattform ihre Standorte übermittelt. Sofort nach der Veröffentlichung war der übliche Sturm der Entrüstung bei den Langnasen losgebrochen. Der Staatschef hatte besonnen reagiert – er leugnete die Existenz der Lager nicht. Im Gegenteil – er rief das »Ende aller Geheimnisse« aus und ließ sofort die Lager öffnen. Er lud Journalisten ein. Die befreiten Gefangenen priesen vor den Augen der Welt und mit Tränen in ihren eigenen den Befreier für seine Weisheit und seinen ungetrübten Blick auf die Wahrheit. Die Zeit der Missverständnisse war vorbei! Denn ebenso, wie sich bestimmte, egoistische, mittlerweile abgeschaltete Elemente innerhalb der Regierung über die Treue der Gefangenen zum Führer getäuscht hatten, so hatten diese Gefangenen sich wiederum geirrt, was die Liebe des Führers zu ihnen anging. »Woher willst du wissen, dass es keine Lager mehr gibt?«, flüsterte Su-Yun, nachdem sie das Radio, das gerade eine Synthesizer-Komposition des Wunderbaren Führers spielte, lauter gestellt hatte. »Woher willst du wissen, dass der Überläufer wirklich ein Überläufer war?«
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»Das ist das paranoide Geschwätz der Europäer«, versetzte Han. »Es gibt keine Geheimnisse mehr. Wozu auch? Wozu sollte es nur ein einziges Gefangenenlager geben, jetzt wo es allen besser geht?« Noch gut konnte er sich an die Zeit erinnern, als er jeden Morgen hungrig aufgewacht und jeden Abend hungrig ins Bett gegangen war. Jetzt hungerte er nur noch vor großen Wettkämpfen, um sein Gewicht optimal zu halten. Nach der Verschrottung einiger veralteter Mittelstreckenraketen hatte der Westen behutsam Wirtschaftskontakte geknüpft. Man hatte die Sanktionen aufgehoben. In einem der ehemaligen Lager produzierten die ehemaligen Gefangenen nun Medikamente für den Export: Schlaftabletten auf pflanzlicher Basis, Abführmittel, Ginsengpillen gegen das Altern – und zwar so günstig wie nirgendwo sonst! Daran musste Han jetzt wieder denken, als der Trainer seine weitschweifige Erzählung, was die Gefangennahme des Bären anging, beendete. Alle klatschten. Mittlerweile glaubte Han der Tafel. Er glaubte Su-Yun. Er glaubte dem Bären, der ihn ebenso traurig wie lauernd zu beobachten schien. Er fühlte eine seltsame Verwandtschaft mit dem Tier, die einen Moment lang so stark war, dass er den Drang spürte, es gleich hier zu tun. Aber der Bär war schwer einzuschätzen. Er wog vielleicht 120 Kilo. Han wog 55. Er war leicht wie eine Feder. Deswegen war er so unglaublich gut. Vor allem ließ ihn der Masseur nicht aus den Augen. Der Masseur lächelte nicht. Nie. »Du hast doch keine Geheimnisse?«, hatte er Han am Vorabend nach dem Training gefragt, während seine Hände zunächst Hans Schultermuskulatur durchkneteten, dann aber einen Moment an seinem Hals verharrt waren. Han hatte nur den Kopf geschüttelt. Aber er wusste, dass der Masseur, dessen Finger die kleinsten Stimmungsschwankungen der Athleten spüren konnten, wusste, dass er gelogen hatte. Han wusste, dass ihm wenig Zeit blieb. Selbst wenn er eine Goldmedaille gewänne, wäre er nicht sicher. Er wusste zuviel. Geordnet, beinahe wie eine militärische Einheit, gingen die Sportler weiter. Noch einmal sah Han dem Kragenbär nach, der apathisch am Baum lehnte. Sie kamen am Grizzlybär, den putzigen Nasenbären, zwei unter der Hitze leidenden Eisbären und schließlich an einem Pandabären vorbei, den der Trainer allerdings keines Blickes würdigte. Die Chinesen konnten Han und seinen Kameraden das Gold in der Mannschaftswertung noch abspenstig machen . Warum sie immer in den Zoo gingen, wusste er nicht. Man hätte ja auch ein Museum besuchen können. »Der Zoo ist unverfänglich«, hatte ihm Su-Yun erklärt, »die Tiere sind unpolitisch. Außerdem sind sie unsere Spiegelbilder.« »Wie meinst du das?«, flüsterte Han. »Sie sind nie allein. Sie werden den ganzen Tag begafft.
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Höchstens in der Nacht können sie sich für ein paar Stunden zurückziehen.« »Aber wir sind doch allein. Hier ist niemand.« »Ja, in dieser winzigen Küche hier sind wir allein, wo ich das Radio laut drehen und dieses Gedudel ertragen muss, damit sie uns nicht hören. Aber was ist, wenn wir ins Wohnzimmer gehen? Sind wir dann immer noch allein?« »Man darf keine Geheimnisse haben«, hatte Han halb ängstlich, halb trotzig geantwortet. Nach der Öffnung der Gefängnisse hatte der Wunderbare Führer eine weitere Reform durchgeführt. Jeder, der einen guten Hochschulabschluss vorweisen konnte oder für die Regierung arbeitete, der in der glorreichen Armee diente oder wie Han und Su-Yun als Sportler den Ruhm des Volkes mehrte, bekam einen Computer und einen Internetanschluss. Der Computer, ein den Anforderungen des Volkes angepasstes und dabei durch seine Einfachheit bestechendes Modell, war ein hellgrauer Kasten, in den ein Bildschirm, Lautsprecher, ein Mikrophon und eine Kamera eingelassen waren. An der Unterseite fanden sich die Anschlüsse für Tastatur, Maus und Netz. Üblicherweise wurde das Gerät im Wohnraum an die Wand gehängt und war sofort betriebsbereit. Man konnte im Internet surfen (wobei Han die Welt da draußen immer seltsam ereignislos vorkam), man konnte sich E-Mails schicken, man konnte sich Musik des Wunderbaren Führers herunterladen oder sich Filme über die Heldentaten der Armee und ihrer Soldaten anschauen. Vor allem aber konnte man damit Videogespräche führen. Gab man zum Beispiel die Adresse eines Freundes ein, zeigte der Schirm das Zimmer des Angerufenen, bei dem es gleichzeitig klingelte. »Deswegen sind wir in der Küche«, erklärte Su-Yun, »weil sie uns im Wohnzimmer sehen können.« »Ach was. Wenn es klingelt und nach dreißig Sekunden niemand ran geht, schaltet sich die Kamera wieder aus.« »Bist du dir da sicher?« »Wir haben nichts zu verbergen«, beharrte Han, »du bist einfach noch nicht an das Gerät gewöhnt.« Tatsächlich waren die Videogespräche etwas völlig Neues und hatten anfangs selbst bei altgedienten Offizieren und Parteikadern zu Irritationen geführt. Aber der Wunderbare Führer war mit gutem Beispiel vorangegangen. »Keine Geheimnisse mehr!« hatte er wiederholt. Von nun an konnte jeder, der eine Konsole besaß, ihn von zu Hause aus anrufen! Täglich wurden die wichtigsten Gespräche mit ihm im Fernsehen wiederholt. Und damit nicht genug: Das Staatsoberhaupt hatte auch in seinem Arbeitszimmer eine Kamera installiert, damit das Volk nicht etwa denken möge, er habe Geheimnisse. Auch wenn die Ausleuchtung nicht optimal war, auch wenn das Bild manchmal
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lich durch Gräben und Felswände von den Menschen getrennt. Die Affen waren der Höhepunkt des Zoobesuchs. Ein beißender, erdig-schwerer Geruch hüllte Han ein, als sie vor dem Gehege des Gorillas standen. Sie hatten Su-Yun nicht zur Olympiade mitgenommen. Angeblich wegen schlechter Leistungen. »Dann geh du allein«, hatte sie ihm gesagt, »versprich es mir.« Er hatte es ihr versprochen, aber sich gleichzeitig vor diesem Tag im Zoo gefürchtet. Bis gestern hatte er nicht gewusst, was er tun würde. Gestern Abend hatten sie sie abgeschaltet. Von seinem Zimmer im Olympischen Dorf versuchte er mehrmals, Su-Yun zu erreichen, aber der Bildschirm blieb schwarz. »Vielleicht ist ihr Gerät kaputt«, meinte der Masseur, der mit ihm das Zimmer teilte. »Ja«, sagte Han, »bestimmt.« Der alte Gorilla hatte ein silbergraues Fell und saß am Rand des Grabens, der ihn von den Besuchern trennte. Ein Baum ragte zu ihm hinüber, aber seine Äste waren zu hoch, als dass er sie hätte erreichen können. Der Alte war allein. Nur einmal trottete ein Weibchen herein, wie um nachzuschauen, ob es ihm gut ginge. Dann verschwand es wieder durch eine der Klappen, die vom Freigehege in den Innenbereich führten. Der Gorilla kaute auf irgendetwas und schaute ansonsten reglos die kleinen Menschen in ihren bunten Trainingsanzügen an, die alle auf dem Rücken die Nationalflagge und auf der linken Brustseite ein Porträt des Wunderbaren Führers trugen. Erst als sich sein Blick mit dem Hans traf, schien Leben in die schwarzen Augen zu kommen. Der Affe hob die Brauen und schniefte. Dann kaute er weiter. Aber für den Gorilla waren sie nicht hierher gekommen. Auf der anderen Seite des Pfades, der durch die künstliche Savanne führte, lebten die Paviane. Eine Sippe von vielleicht zwanzig Tieren, die fraßen, schissen und sich gegenseitig lausten. Der Trainer stellte sich an das Geländer und rief ihnen obszöne Schimpfwörter zu. Die Tierpflegerin und der Mann vom Komitee lächelten. Der Trainer führte einen Veitstanz auf, brüllte die Paviane an, streckte ihnen die Zunge raus. Der Führer der Sippe verharrte kurz. Betrachtete den brüllenden Mann. Dann brach die Hölle los. Die Affen rannten und sprangen kreischend durch das Gehege, fletschten die Zähne, zeigten dem Trainer, dem vor Lachen Tränen über die Wangen liefen, die purpurroten Hintern. Mannschaft und Masseur feuerten den Trainer an. Der Lärm übertönte alles. Han wusste, dass es keinen zweiten Moment wie diesen geben würde. Das wusste er im Grunde genommen immer. Bei jedem Wettkampf, wenn er vor dem Reck stand, sagte er sich, stell dir vor, dies ist das letzte Mal. Es war der Moment, in dem er ganz mit sich allein war. Han hörte das Schreien der Paviane kaum. Er nahm einen kurzen Anlauf, sprang vom Geländer ab und bekam sicher den Ast zu fassen. Die Beine geschlossen holte er Schwung, ließ los, schlug einen perfekten Salto und landete, ohne seinen Stand im Geringsten korrigieren zu müssen, lautlos neben dem Gorilla.
Foto: dpa
für zwei, drei Sekunden unterbrochen wurde, so konnte doch niemand daran zweifeln, dass der Wunderbare Führer unentwegt arbeitete und Lösungen für die Probleme der Welt fand. Zumindest hatte Han das geglaubt. Bis Su-Yun eines Tages von ihm verlangte, dass sie jeden Abend mindestens eine Stunde lang dem Wunderbaren Führer bei der Arbeit zuschauten. Han konnte sich Besseres vorstellen, aber er hatte eingewilligt. So sahen sie den Wunderbaren Führer abends an seinem Schreibtisch sitzen. Manchmal las er etwas oder komponierte ein neues Lied – das heißt, er spielte ein, zwei Akkorde auf seinem Keyboard. Häufig tippte er etwas in seinen Laptop, zuweilen nahm er Videogespräche an. Auf dem Tisch stand eine Wasserkaraffe und ein Glas, und ab und zu schenkte er sich etwas Wasser ein, trank und schien nachzudenken. Su-Yun hatte Han gesagt, sie würde seine Hand drücken, wenn es geschähe. Er solle keine Fragen stellen. Das Einzige, was geschah, war, dass der Wunderbare Führer einmal mit dem Ellenbogen an die Karaffe kam, doch diese, bevor sie wirklich hätte kippen können mit einer geschmeidigen Bewegung abfing. Es war ein ganz unscheinbarer Moment, völlig unauffällig. Su-Yun drückte Hans Hand. Am nächsten Tag sahen sie wieder dem Wunderbaren Führer zu. Und am übernächsten und am Tag danach auch. Am fünften Tag spürte er den Druck ihrer Finger – als der Wunderbare Führer wieder mit dem Ellenbogen an die Karaffe kam und sie wiederum blitzschnell abfing. Jeder andere hätte vielleicht gedacht, dass der Regierungschef eben etwas zerstreut sei. Aber Han und Su-Yun, die ihr Leben lang die immer gleichen Schrittfolgen und Sprünge einstudiert hatten, die auf Videos ihre eigenen Bewegungen zigmal hatten anschauen müssen, die trainiert waren, jede Abweichung, jeden Fehler zu registrieren und zu korrigieren, sahen es sofort: Der Wunderbare Führer hatte die Karaffe kein zweites Mal abgefangen. Die zweite Bewegung war eine Kopie der ersten, die mittels eines unscheinbaren Schnitts in das Video eingefügt war. »Was bedeutet das?« Sie saßen wieder in der Küche. Das Radio spielte das Lied »Offenheit gebiert Treue, Geheimnis nur Reue«. »Das bedeutet, dass der Wunderbare Führer nicht in seinem Arbeitszimmer ist«, erklärte Su-Yun. »He-Ran hat mich darauf gebracht. Ihr ist es zuerst aufgefallen. Ich kann es ihm noch nicht einmal verdenken. Ich wäre auch gerne mal allein. Immer ist jemand dabei. Beim Training, beim Studium, selbst wenn wir im Park spazieren gehen. Und zu Hause müssen wir uns in die Küche verkriechen. Selbst wenn wir schlafen, sind wir nicht allein. In der Dunkelheit können sie uns immer noch hören. Verstehst du, sie können uns dabei zuhören! Haben wir kein Recht auf Einsamkeit?« Mehrere Wochen lang geschah nichts. Han ergab sich wieder der Monotonie des Trainings. Dann wurde He-Ran, die Königin am Pferd und eine Freundin Su-Yuns, abgeschaltet. Rief man sie an, blieb der Monitor schwarz. »Vielleicht ist das Gerät kaputt«, vermutete Han. Su-Yun ging zu He-Rans Wohnung und kam verstört zurück. »Ihr Name steht nicht mehr an der Tür.« Sie fragte den Trainer, erhielt jedoch keine Antwort, sie schickte E-Mails, die mit dem Vermerk »Empfänger unbekannt« zurückkamen. »Es ist, als ob es sie nie gegeben hat«, sagte Su-Yun. Sie waren am Affenhaus angekommen, der neuen Attraktion des Zoos. An keinem Gehege gab es hohe Zäune, die Tiere wurden in scheinbar natürlicher Umgebung gehalten, waren ledig-
norbert zäHrInGer, 43 Jahre, Schriftsteller, lebt in Berlin. Zahlreiche Auszeichnungen. Zuletzt erschien von ihm bei Rowohlt der Roman »Einer von vielen«.
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Luft Nomen est omen, würde man denken. Der Name meiner Heimatstadt bedeutet Gute Lüfte. Die Argentinier und alle, die Buenos Aires kennen, schmunzeln darüber, denn sie wissen, in den Genuss des durch die Kraft des Wortes Heraufbeschworenen kommt man nicht, zumindest solange man sich in der argentinischen Hauptstadt aufhält. Wer hinter den guten Lüften her ist, muss auf Reisen gehen, innerhalb Argentiniens vielleicht in die Pampa oder nach Patagonien. Das erste Mal, als ich in ein Flugzeug stieg und mich kurz darauf in der Luft befand, stand das Goethe-Institut dahinter. Es war im Jahre 1995, sechs Monate, nachdem ich mein Studium absolviert hatte. Eine solide Lufthansa-Maschine brachte eine damals 23-jährige argentinische Deutschlehrerin, die ihr Zuhause bis dahin nie verlassen hatte, nach Europa, damit sie in München ihr Stipendium antrat. Die Erfahrung des Fliegens, die ich ein halbes Jahr später in umgekehrter Richtung würde wiederholen können, fand ich zu jener Zeit mindestens genauso aufregend wie all das, was die fremde Kultur mir während meines gesamten Aufenthaltes anbieten würde. Seitdem ich meinen Wohnort nach Deutschland verlagert habe und in der Regel alle zwei Jahre die lange Reise über den Ozean antrete, um meine Familie in Argentinien zu besuchen, schaue ich mir Buenos Aires zuallererst aus der Luft an. Jedes Mal verspüre ich Herzklopfen, kurz aufeinanderfolgende Zeichen einer seltsamen Aufregung. Aus der Distanz und der gewonnenen Entfernung komme ich nicht umhin, mich zu fragen, ob ich in jener, meiner über alles geliebten Stadt der Guten Lüfte jemals frei habe atmen können.
Glas Am Himmel stehen meist keine Wolken. Die Sonne blendet mich. Durch das bruchsichere Doppelglas des Flugzeugfensters sehe ich auf meine Geburtsstadt hinab, welche sich sachte, beinahe lasziv an den Río de la Plata zu schmiegen scheint. Zur gleichen Zeit wird mir aus der Vogelperspektive bewusst, dass mei-
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ne Stadt im Inneren zu Quadraten geordnet ist. Der Ort, wo ich hingehöre, erstreckt sich vor meinen glasigen Augen schachbrettförmig bis zum Horizont. Bald bin ich da, denke ich mir, und wie immer wird meine Mutter mich vor allen anderen in die Arme schließen. In den nächsten Tagen wird sie häufig in Erinnerungen schwelgen: Weißt du noch dies und weißt du noch das? Ich bin oft erschrocken darüber, wie wenig ich nur noch weiß. Es fühlt sich an, als hätte jemand meine Kindheit und meine Jugend zum größten Teil aus meiner Erinnerung verbannt. »Wie war das noch mal«, sagte ich vor ein paar Wochen in den Raum hinein. Ich sprach zu meinem aufgeklappten weißen iBook, skypte mit meiner Mutter, wühlte in dem Anekdotenrepertoire aus meiner Kindheit, welches sie gerne parat hält. Zu jener Zeit wohnten wir in einem kleinen, eingeschossigen Wohnhaus. Da meine Mutter im Patio zu tun hatte, bemerkte sie nicht, dass ich, etwa zweijährig, den Schlüssel im Schlüsselloch umdrehte und mich versehentlich in der Wohnküche einsperrte. Die Glastür – bis dahin Verbindungsglied zwischen Patio und Wohnküche, Außen- und Innenwelt – trennte uns nun voneinander. Unerreichbar auf der anderen Seite blieben die wärmende Sonne, die Wäsche auf der Leine, die Terrakottatöpfe mit den hellblauen Vergissmeinnicht, meine Mutter in ihrem geblümten Kleid ... Alles nahm das Kind, das ich damals war, neugierig in Augenschein – zum ersten Mal aber durch die unzähligen kleinen Quadrate hindurch, die das Muster unserer siebziger Jahre-Glastür bildeten. Wahrscheinlich auch davon beeindruckt, versuchte es meine Mutter mit klaren Worten. Sie war sicher, das Kind in der Wohnküche in die Kunst des Aufschließens einweihen zu können, doch recht bald – im Angesicht des ausbleibenden Erfolgs – änderte sie ihre Strategie. Es hieß dann, wir würden ein viel lustigeres Spiel ausprobieren. Ich wurde aufgefordert, ganz zurückzutreten, während sie bereits mit einem Schrubber in der Hand etwas Anlauf genommen hatte und jetzt mit dem Holzgriff auf eine der Scheiben in unmittelbarer Nähe des Schlosses zielte.
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nen der Alarmanlage das Gebäude schleunigst zu verlassen. Dabei dürfen wir nichts – nicht einmal den Schulranzen – mitnehmen. Eines Tages rettet sich die ganze Schule in den nahegelegenen Park. Man munkelt, jemand habe eine Bombe gelegt. Zwischen April und Juni 1982 ist Falklandkrieg. In der Schule singen wir morgens den Malwinen-Marsch, einen echten Ohrwurm. 1983 ist Demokratie. Raúl Alfonsín wird in freien Wahlen zum Staatspräsidenten gewählt. Ich bin elf und in der fünften Klasse. Meine Schulfreundin erzählt mir, dass ihr Vater auf der Plaza de Mayo gewesen sei. Und ich sage, meiner ebenfalls. Später erzähle ich ihr, dass mein Vater vor Freude hat weinen müssen. Ich will wissen, ob auch ihr Vater vor Freude geweint hat und ob sie schon mal andere Väter gesehen habe, die weinen, und ob sie genauso wenig wie ich im Bilde darüber ist, wie das überhaupt gehen soll: vor Freude weinen.
Wasser
… Splitter Manchmal träume ich heute noch von einer heilen Welt in einem intakten Land. In meinen Augen ist Argentinien die Chiffre für das geworden, was niemals war, aber hätte sein können. Ich fliege über den Ozean. Auf meiner Haut sind Verletzungen wie Wasserzeichen. Ich bin Krebs, geboren am 8. Juli 1972. Lanusse, letzter Regierungschef einer Diktatur, die sich »Argentinische Revolution« nennt, ist an der Macht. Im August ereignet sich das Massaker von Trelew. 1973 kehrt General Perón aus dem Exil zurück, am Flughafen kommt es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung, dem Massaker von Ezeiza. Perón wird Präsident, nach seinem Tod im Jahre 1974 übernimmt seine Frau Isabel Martínez die Führung des Landes – mit verheerenden Folgen. Dem wirtschaftlichen Niedergang kann kein Einhalt mehr geboten werden; die paramilitärische »Triple A« ermordet Oppositionelle und Aktivisten der Linken. Im März 1976 bringt ein Militärputsch Jorge Rafael Videla an die Führungsspitze. Im August kommt mein Bruder zur Welt. Er ist mager und sieht hässlich aus. Videla und seine Nachfolger sind die Träger des sogenannten »Prozesses der Nationalen Reorganisation«, der dunkelsten Zeit Argentiniens. Aus Angst verbrennt mein Vater einige unserer Bücher. Im Jahr 1977 komme ich in den deutsch-argentinischen Kindergarten. Man bringt uns deutsche Lieder bei, ich verstehe kein Wort, singe aber mit. Argentinien wird Fußballweltmeister. Ich habe ein neues Wasserglas mit einem lustigen Motiv, einem Gaucho im Nationaltrikot, die Aufschrift lautet »Argentina – Mundial ’78«. 1979 komme ich in die deutsch-argentinische Grundschule. Ein Jahr später ziehen wir um. Von nun an wohnen wir in einem großen Haus mit Garten. Mein kleiner Bruder ist begeistert. Ich bin untröstlich. Ich will in unserem alten Zuhause bleiben. In der Schule üben wir, beim Ertö-
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maría CeCIlIa barbetta wurde
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Ich, die ich am anderen Ende unserer Wohnküche angelangt war, schaute dem Unternehmen gespannt zu. Das Glasfensterchen, das sie sich ausgesucht hatte, zersprang daraufhin mit einem dumpfen Knall in tausend …
Beim Schreiben suche ich ununterbrochen nach Bildern. Ich suche ununterbrochen nach Bildern, um darüber zu berichten, dass es in meiner Familie keine Sprache gibt, um sich über die traumatische Zeit von 1976 bis 1983 auszutauschen. Ich suche nach Bildern, in die sich die Angst übersetzen lässt, die in der Luft liegt und die man als Kind unmittelbar einatmet. Sieben Jahre argentinischer Militärdiktatur in den Zahlen der ersten Erhebung von 1984 bedeuten: 1.300 aktiv an den Verbrechen der Junta Beteiligte, 340 auf das ganze Land verteilte geheime Gefängnis- und Folterzentren, cirka 9.000 Verschwundene. Heute spricht man dagegen von 30.000 ›desaparecidos‹, die Zahl der Haftzentren ist auf 550 gestiegen, inhaftierten Müttern wurden etwa 500 Neugeborene gewaltsam entrissen und zur Adoption freigegeben. Die Öffentlichkeit erfuhr darüber hinaus von sogenannten Todesflügen, bei denen betäubte Opfer des Staatsterrors aus Flugzeugen lebend in den Río de la Plata geworfen wurden. Mit großer Not schreibe ich darüber, und während ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, die Bilder würden mir entgleiten, fallen mir unsere Familienurlaube Ende der siebziger Jahre am Meer wieder ein, meine Sehnsucht nach den Wellen und die damit verbundene Angst vor dem Wasser, schließlich auch die Erkenntnis, dass das Wasser – auch wenn man nicht schwimmen kann – einen trägt. Sicherlich möchte ich mir aus diesem Grund die Erinnerung als ein Meer vorstellen, in dem wir alle treiben, eins, das sich in der Bewegung der Wellen in ein Meer aus unzähligen Erinnerungen verwandelt. – »Kannst du dich noch entsinnen«, frage ich meine Mutter über Skype, »unserer Nachmittage am Strand?«
1972 in Buenos Aires, Argentinien, geboren, wo sie Deutsch als Fremdsprache studierte. Mit einem DAADStipendium kam sie 1996 nach Berlin und blieb. 2008 erschien ihr DebütRoman »Änderungsschneiderei Los Milagros« (S. Fischer), für den sie verschiedene Auszeichnungen erhielt, unter anderem das Arbeitsstipendium des Berliner Senats, das Alfred-Döblin-Stipendium, den aspekte-Literaturpreis sowie den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. María Cecilia Barbetta schreibt auf Deutsch.
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n meiner Heimat hatte das geschriebene Wort eine hohe gesellschaftliche Bedeutung. Die Schriftsteller und Dichter wurden als Träger einer höheren Wahrheit behandelt, die regierungstreuen unter ihnen wurden mit Orden, Medaillen und Gartenhäuschen ausgezeichnet, die regierungsuntreuen dagegen isoliert, in den Knast gesteckt, außer Landes verwiesen, gar umgebracht. Der Staat hatte Angst vor den Dichtern, allein schon daran war ihre Wichtigkeit zu erkennen. Alte und junge – alle schrieben. Die Alten ihre Biografien, die Jungen, kaum hatten sie alle Buchstaben drauf, begannen, einen Abenteuerroman zu schreiben. Wenn ihnen nichts einfiel, schrieben sie einfach etwas ab oder um. Mein Schulfreund hat ein Jahr gebraucht, um die »Drei Musketiere« Seite für Seite in seine Hausaufgabenhefte zu übertragen. Es begeisterte ihn unglaublich, den von ihm heiß geliebten Text in der eigenen krakeligen Handschrift geschrieben zu sehen. Wir schrieben und wir lasen die Nächte durch, auf der Suche nach dem wahren Wort. Wir sind in dem Glauben aufgewachsen, das nur Geschriebenes wahr ist. An Beweisen dafür mangelte es nicht. Unser ganzer Staat war im Grunde aus einem Buch entstanden, aus einer Lehre, einer Theorie, die gerne ein Axiom sein wollte. Und sogar diejenigen, die dieser Lehre nicht trauten, waren überzeugt, dass uns nur eine andere Lehre, ein anderes Buch vor dem falschen Weg bewahren und auf den richtigen Weg bringen könnte. Es ging nur um Wörter, das richtige Buch gegen das falsche, wir waren bloß Statisten in diesem Krieg der Bücher. Seitdem hat sich vieles verändert, doch die Suche nach dem richtigen Buch hat nie aufgehört, die Hoffnung ist noch nicht gestorben, dass es eines Tages jemand schreibt. Ein Buch, das
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der Weisheit letzter Schluss ist. In diesem Buch hätten wir alle Antworten auf unsere Fragen gefunden, die Lösungen für alle Probleme. Uns bliebe nichts anderes übrig, als dem Geschriebenen zu folgen, die Theorie konsequent in die Realität umzusetzen, dann könnte uns nichts mehr passieren. Ein schönes Leben. Ich habe selbst lange Zeit daran geglaubt, so lange bis ich selbst Schriftsteller wurde. Spätestens ab da wusste ich, es gibt keine Weisheit für immer, sogar die besten Bücher werden von Spinnern und Hohlköpfen wie du und ich gemacht, sie sind voller Verallgemeinerungen und Druckfehler. Man darf das Geschriebene nicht zu ernst nehmen, die Taten zählen, nicht die Wörter. Ich erschrak, als ich bei meinen Kindern plötzlich diesen naiven Glauben, einen uneingeschränkten Respekt dem geschriebenen Wort gegenüber, entdeckte. Zum Glück hat es nicht lange gedauert, bis sie verstanden, man darf die Papierwahrheiten nicht zu wörtlich nehmen. Die erste Erkenntnis kam mit dem Kochbuch »Frische Salate. Gesund und knackig«. Die Kinder haben dieses schöne Buch mit großer Aufmerksamkeit studiert. Die ganze Vielfalt, die Schönheit der Welt konnte man darin finden, nur etwas monoton dargestellt, in Form von Salaten eben. Der Salatfotograf muss beim Knipsen aufgeregt, hungrig oder besoffen gewesen sein. Ihm hat jedenfalls eindeutig die Hand gezittert, viele Salate waren unscharf oder aus zu geringer Entfernung geknipst. Meine Kinder merkten sich die Seiten mit Salaten, die sie gerne zubereiten würden und fingen an, nach den Rezepten jeden Abend einen Salat zuzubereiten. Einmal, ich war für die
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Erdbeeren in die Rotkohlsuppe gehören. Sie warf die Erdbeeren in die Suppe, es schmeckte sehr frisch, die Gäste waren begeistert und feierten das Gericht als großen Fortschritt. Der Mensch ist schwach, egal, wie wir uns wehren, wir geraten immer wieder in die Buchabhängigkeit. Wir wissen nicht, welche Druckfehler und Rezepte unsere Zukunft bestimmen werden, am Anfang war eben das Wort, wir haben dem Autor geglaubt, jetzt haben wir den Salat.
Foto: Bettina Flitner / laif
wladImIr KamIner, 43, geboren in Moskau, studierter Dramaturg, wurde mit seinen Erzählbänden »Russendisko« und »Militärmusik« international bekannt. Ausgezeichnet mit dem Ben-WitterPreis. Zuletzt erschien von ihm »Meine kaukasische Schwiegermutter« im Manhattan-Verlag.
andré GottsCHalK, 33, hat die Illustra-
Foto: privat
Getränke zuständig und habe nicht richtig aufgepasst, meinte meine Tochter Nicole plötzlich, für die Zubereitung des so genannten knackigen Chefsalats brauche sie eine größere Schüssel, am besten einen Topf, denn in eine herkömmliche Salatschüssel würde der knackige Chefsalat nicht passen. Die großen Töpfe stehen unterm Herd, sagte ich, mit der Öffnung von Rotwein beschäftigt, anstatt darüber nachzudenken, warum der Chefsalat eigentlich nicht in die Schüssel passte, in die bisher alle anderen Salate locker hineingepasst hatten. »Schau Papa«, sagte meine Tochter nachdenklich, als sie mit der Umsetzung des Rezeptes fertig war. »Woran erinnert dich dieser Salat?« Ich schaute in den Topf, der Salat erinnerte an ein Schwimmbecken, in dem gerade mehrere Grundschulen ihre Seepferdchen-Prüfung gemacht hatten. Nicole zeigte mir das Rezept aus dem Buch: Dort stand schwarz auf weiß 375 ml Olivenöl. Meine Tochter wunderte sich zwar, aber sie wusste, das Geschriebene ist wahr und leerte die Olivenölflasche in den Topf. Ich habe für alle Fälle die anderen Rezepte kontrolliert, außer dem Chefsalat schien alles in Ordnung zu sein. Für die Kinder war es eine wichtige Lehre, dass es keine fertigen Rezepte im Leben gibt, man muss stets improvisieren. Während ich die Rezepte kontrollierte, dachte ich an meine Mutter, die vor kurzem das alte Kochbuch ihrer Mutter rausgeholt hatte, um uns mit dem Rezept für eine längst vergessene Rotkohlsuppe zu überraschen. Im Großmutterkochbuch waren zwei Seiten zusammengeklebt, so dass die Beschreibung der Suppe, nachdem man die Seite umblätterte, nahtlos in eine Dessert-Beschreibung überging. Der Glaube meiner Mutter an das Buch blieb selbst dann noch unerschüttert, als sie las, dass auch
tionen und Typografien dieser Themenseiten gezeichnet. Er ist freischaffender Grafiker und Illustrator aus Berlin. Nach dem Studium am Bauhaus Dessau zählen zu seinen Kunden vorrangig Magazine, Tageszeitungen und Verlage.
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Berichte
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Aus dem Zwischenstopp wird ein halbes Leben. Busfahrt durch Istanbul. Foto: Gesa Becher
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Eines der kompliziertesten Asylverfahren der Welt. Staatliches »Gästehaus« in Istanbul.
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ion Bosporus
Foto: Gesa Becher
Einer der wichtigsten Fluchtwege nach Europa führt durch die Türkei. Der Flüchtlingsschutz dort ist jedoch mangelhaft, kritisiert Amnesty International. Von Michaela Ludwig
berICHte
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tÜrKeI
Vor dem vierstöckigen Gebäude knattern rote Flaggen mit weißem Halbmond im Wind. An den Fenstergittern hängen T-Shirts und Hosen zum Trocknen. Aus dem Dunkel der dahinterliegenden Räume tauchen Gesichter auf, schemenhaft. Sie blicken hinunter auf die schmale Gasse. Manchmal zischen sie oder pfeifen, in der Hoffnung, dass eine Passantin sie bemerkt. »Hey Schwester, bleib stehen!« Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlürfen ältere Männer bittersüßen Cay, während sie Tippzettel für Pferdewetten ausfüllen. Touristen schlendern vorbei auf der Suche nach den Fischrestaurants von Kumkapi. »Misafirhane«, Gästehaus, nennen die türkischen Behörden das stattliche Bauwerk im Herzen Istanbuls, nur einen Katzensprung von der Blauen Moschee und der Hagia Sophia entfernt. Doch der einladende Name trügt, denn keiner der Insassen ist freiwillig hier: In dem Gefängnis sitzen Ausländer ein, die am Flughafen oder bei Razzien ohne gültige türkische Aufenthaltsdokumente aufgegriffen wurden. Einer von ihnen war Saru*, ein schmächtiger, junger Mann in einem rot-weißen Ringel-Shirt, Jeans und Flip-Flops. Ein weicher Flaum kaschiert die eingefallenen Wangen. Die Augen blicken abwesend aus dunklen Höhlen. Auf den Schultern des 23jährigen Tamilen lasten die Träume und Erwartungen eines großen Familienclans. Diese wiegen exakt 13.000 Dollar, die sie zusammengekratzt haben, um dem ältesten Sohn ein Leben fernab von Armut und Bürgerkrieg zu ermöglichen und die Familie aus der Ferne zu unterstützen »Mein Vater ist Bauer. Er hat sein ganzes Land und alle Maschinen verkauft, um die Schlepper zu bezahlen«, sagt Saru. Seine Stimme ist leise, verzweifelt. Über 15 Monate teilte sich Saru mit zwei Dutzend Männern eine Zelle. »Sie gaben uns nur ein halbes Brot mit Schafkäse, Oliven und Tomaten am Tag. Wir hatten nie genug zu trinken.« Wenn ihn der Durst quälte, trank er Wasser aus der Toilettenspülung. Immer wieder fragten die Aufseher, was er in der Türkei verloren habe. Vergeblich bat er, einen Asylantrag stellen zu dürfen. Er schrie seine Forderung sogar durch das vergitterte Fenster. Doch die Männer auf der Straße füllten weiter ihre Wettscheine aus. Sarus Geschichte beginnt in einem kleinen Dorf auf der Halbinsel Jaffna in Sri Lanka. Über 25 Jahre tobte dort der Bürgerkrieg zwischen den Rebellen der Tamil Tigers und der Zentralregierung. Die tamilische Bevölkerung wurde zwischen den Fronten aufgerieben. »Immer wieder wurde in unserer Gegend gekämpft und wir mussten weglaufen. Dann wurde es zu gefährlich und wir blieben im Flüchtlingslager«, berichtet Saru. »Unsere Eltern hatten Angst, dass die Rebellen uns Jungen zum
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Foto: Mark Henley / Panos
Übergang ins Nirgendwo. Straßenmarkt in Istanbul.
KeIn sCHutz Von flÜCHtlInGen In der tÜrKeI Wegen ihrer geografischen Lage ist die Türkei ein Transitland für Migranten aus asiatischen und zunehmend auch aus afrikanischen Ländern auf dem Weg nach Europa. Schätzungen zufolgen halten sich dort bis zu 1,5 Millionen Flüchtlinge auf. Die meisten stammen aus dem Irak, dem Iran, Afghanistan und Somalia. Einige bleiben für wenige Tage, andere verbringen dort ihr halbes Leben in der Illegalität. Amnesty International kritisiert, dass die Türkei Flüchtlingen und Asylbewerbern nur mangelhaften Schutz bietet. In jüngster Vergangenheit versuchten immer mehr Flüchtlinge, über die Türkei weiter nach Griechenland und damit in die Europäische Union zu reisen. Dieser Weg ist mittlerweile fast die einzige »undichte Stelle«, um noch in die EU zu gelangen. Nachdem die südlichen EU-Länder wie Italien Abkommen mit Staaten wie Libyen abgeschlossen haben, hat sich der Reiseweg vieler Flüchtlinge hin zur Türkei verschoben. Die griechische Regierung plant nun einen Grenzzaun zur Türkei, der Flüchtlinge und Migranten davon abhalten soll, die Grenze illegal zu überqueren. Dies verstößt nach Ansicht von Amnesty gegen die Menschenrechte. Die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Europäische Grundrechtecharta verpflichten auch Griechenland dazu, Menschen, denen in ihrem Herkunftsland schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, vor einer Abschiebung dorthin zu schützen.
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Kämpfen zwingen würden. Und die Regierung warf uns vor, die Rebellen zu unterstützen.« Er musste die Highschool abbrechen. Eines Tages beschlossen seine Eltern, ihn zu Verwandten nach Deutschland zu schicken. Dort solle er die Schule beenden, am besten studieren und so der Familie helfen. Seit bald vier Jahren ist Saru schon auf der Flucht. Ein Schlepper brachte den jungen Mann zunächst nach Malaysia. Hier stand seine Reise zum ersten Mal kurz vor dem Aus. »Der Schlepper nahm mein ganzes Geld«, berichtet Saru. Zwei endlose Jahre wartete er in der Hauptstadt Kuala Lumpur, bis der Vater das Geld für die Weiterreise noch einmal zusammenkratzen konnte. Mit gefälschten Pässen flogen Saru und drei weitere junge Männer in die iranische Hauptstadt Teheran, dort nahmen sie den Zug nach Van in die Osttürkei. Die letzte Etappe nach Istanbul fuhren sie mit dem Bus. In der Bosporus-Metropole brachte der Schlepper die kleine Gruppe in einer schäbigen Pension im Stadtteil Aksaray unter. Das heruntergekommene Viertel mit seinen billigen Absteigen, kleinen Reisebüros, CargoUnternehmen und Kopierwerkstätten ist die Drehscheibe für das Geschäft mit der Migration. Doch der Zwischenstopp in Istanbul sollte zur vorläufigen Endstation werden. Zehn Tage später stand Saru mit gefälschtem Pass und Visum am Flughafen. Er wollte nach Österreich fliegen, von dort weiter nach Süddeutschland, wo die Verwandten lebten. Als die Grenzbeamten seinen Pass kontrollierten, nahmen sie ihn fest. »Neun Tage hielten sie mich in einer Zelle am Flughafen gefangen. Erst nach drei Tagen gaben sie mir et-
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Foto: Javad M.
Foto: Gesa Becher
»Ich bin ein Gegner der Regierung«, sagt Javad M. »Alle sollten wissen, was bei uns passiert.«
Vom Traum zum Alptraum. Javad M. mit Coverbild des »Time Magazine«.
Weit weg von den Metropolen. Blick auf Nevsehir in Zentralanatolien.
was zu essen«, erinnert sich Saru. Dann kam er nach Kumkapi in das sogenannte Gästehaus.
Javad M. musste den Iran wegen seiner Reportertätigkeit verlassen. Er arbeitete für eine staatsnahe Fotoagentur. Gegen das ausdrückliche Verbot seines Arbeitgebers lichtete er auf den Demonstrationen die Gesichter hunderttausender Unzufriedener ab und schickte die Fotos hinaus in die Welt. »Ich bin ein Gegner der Regierung«, sagt er mit fester Stimme. »Alle sollten wissen, was bei uns passiert.« Die wachen Augen ruhen auf seinem Gegenüber. Auf seinem Laptop zeigt Javad M. das Foto einer jungen Frau mit Kopftuch, die ihre Finger zum Siegeszeichen in die Höhe reckt. Das Motiv war Titelbild des renommierten »Time Magazine«. Auch Blätter wie »Figaro« oder »Newsweek« rissen sich um seine Fotos. »Ich war so glücklich, aber ich konnte es niemandem erzählen«, sagt er mit ruhigem Stolz. Doch der Traum eines jeden Fotografen wurde für ihn zum Alptraum: Der Arbeitgeber drohte, ihn zu denunzieren. Der junge Mann wusste, dass Folter und Haft drohten. »Noch am selben Tag besorgte ich mir ein Flugticket nach Ankara«, erzählt Javad M. Erst vom Flughafen aus rief er seine Mutter an. »Ich sagte ihr, dass ich kurzfristig verreisen muss.« Als iranischer Staatsbürger konnte Javad M. ohne Visum offiziell in die Türkei einreisen. Am folgenden Tag ließ er sich im Büro des UNHCR registrieren. Fünf Monate musste er auf ein Gespräch warten, nur zwei Monate später erhielt er die ersehnte Antwort: Er wurde als Flüchtling anerkannt. Javad M. wundert sich, dass er so viel kürzer warten muss als die anderen Asylbewerber, selbst die iranischen, die vor den Wahlen geflohen sind.
Flugticket nach Ankara An einem sonnigen Vormittag sitzt Javad M. in einem Teegarten in Ankara und rührt mit dem Löffel entspannt in seinem Cay. Das Café am Güven Park ist ein beliebter Treffpunkt für jüngere Leute. Der 25-jährige Fotograf mit modischem Kurzhaarschnitt, dunkler Jeans und lässigem Polo-Shirt fällt zwischen den fröhlich plaudernden Menschen nicht auf. Er ist einer von über 2.000 Journalisten und Regimekritikern, die nach den iranischen Präsidentschaftswahlen im Juni 2009 in das Nachbarland Türkei fliehen mussten. Ihre Aussichten, hier zügig als Flüchtlinge anerkannt zu werden und ein Exilland zu finden, sind im Gegensatz zu den anderen Migranten sehr gut. Nur wenige Flüchtlinge stellen in der Türkei selbst einen Asylantrag. Im Jahr 2009 waren es genau 7.834 Menschen. Das Verfahren ist komplizierter als in fast jedem anderen Land der Welt. Denn die Türkei hat zwar die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet, jedoch mit einer Einschränkung: Das Asylrecht ist auf Flüchtlinge aus Europa begrenzt. Die Türkei weigert sich, Asylbewerbern und Schutzsuchenden außereuropäischer Staaten Schutz zu gewähren. Aus diesem Grund nehmen Büros des UNHCR die Asylanträge entgegen und entscheiden über die Anerkennung als Flüchtling nach den Kriterien der Flüchtlingskonvention. Ist der Flüchtling anerkannt, bemüht sich der UNHCR um eine Wiederansiedlung in einem Drittland.
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»Ich warte darauf, dass ich als Flüchtling anerkannt werde. Hier habe ich Freunde und kann überleben.«
Ohne Pass, ohne Geld Auch Saru hat mittlerweile einen Asylantrag gestellt. Es war pures Glück, dass der Menschenrechtskommissar des Europarats das Gefängnis in Kumpkapi inspizierte und auf den Fall des jungen Tamilen aufmerksam wurde. Dennoch sollten weitere sechs Monate vergehen, bis er sich eines Morgens in der schmalen Straße vor dem Gefängnis wiederfand. Ohne Pass, ohne Geld, – er besaß nur noch das, was er auf dem Leib trug. Saru wurde von den türkischen Behörden nach Gaziantep nahe der syrischen Grenze geschickt. Doch den Bus dorthin hat er nicht bestiegen. »Ich hatte nicht einmal das Geld für die Fahrt, wovon sollte ich dann erst die Wohnung und das Essen dort bezahlen?«, fragt er und hebt die Schultern. Sein Gesicht wirkt müde, noch immer leidet er unter Schlafproblemen. Ein Landsmann hatte ihm die Adresse einer Gruppe in Istanbul gegeben, die ihm weiterhelfen würde. Dort fand er ein Bett und lebt heute von Spenden. Ein paar türkische Lira verdient er durch Gelegenheitsjobs wie Putzen. »Ich warte hier auf meinen Bescheid, dass ich als Flüchtling anerkannt werde. Hier habe ich Freunde und kann überleben.« Doch damit ist Saru wieder illegal. Der junge Tamile hofft, dass er anerkannt und vom UNHCR umgesiedelt wird. Doch es kann Jahre dauern, bis sich ein Aufnahmeland findet. Zudem beteiligen sich nur wenige Länder an dem »Resettlement-Programm« des UNHCR zur Neuansiedelung. Seine Verwandten in Deutschland wird Saru so schnell nicht sehen. Denn die Bundesrepublik nimmt keine Flüchtlinge aus dem »Resettlement-Programm« der Vereinten Nationen auf. Wird Saru nicht als Flüchtling anerkannt, hängt er weiter in Istanbul fest. Aber daran mag er jetzt noch nicht denken. * Name geändert Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Hamburg.
Foto: Gesa Becher
»Sie behandeln uns bevorzugt, weil wir Journalisten sind«, glaubt er und klappt den Laptop zu. Für Javad M. hat die Warterei bald ein Ende. Norwegen hat angekündigt, 140 iranische Regimekritiker aufzunehmen. Wahrscheinlich ist er dabei. »Wie ist es in Norwegen?«, fragt er neugierig, die dunklen Augen strahlen. Über das Land weiß er nicht viel, er hofft nur, wieder als Fotograf arbeiten zu können. »Ich bin einfach glücklich, dass ich rausgekommen bin.« In Ankara durfte Javad M. während seines Asylverfahrens nicht wohnen. Wie viele andere Iraner wurde er nach Nevsehir geschickt. Die türkischen Behörden weisen Asylbewerber in Städte, die weit weg von den Zentren Ankara und Istanbul liegen, meist nach Anatolien, wo es kaum Infrastruktur gibt. Zu den Terminen beim UNHCR reist er auf eigene Kosten die 300 Kilometer nach Ankara. In Nevsehir muss sich Javad M. zweimal wöchentlich bei der Polizeistation melden und dort alle sechs Monate eine »Aufenthaltsgebühr« von umgerechnet 220 Euro bezahlen. Gemeinsam mit einem Landsmann hat er eine kleine Wohnung gemietet. Als Fotograf darf er in der Türkei nicht arbeiten, und einen anderen Job findet er nicht. Eine Unterstützung durch den türkischen Staat erhalten Asylbewer-
ber nicht. »Es ist nicht einfach, aber ich lebe von meinem Ersparten«, sagt er. »Außerdem hilft mir eine Gruppe Iraner in Deutschland.«
Warten, dass die Zeit vergeht. Die meisten Flüchtlinge sind zur Untätigkeit verdammt.
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Foto: Amnesty
Stolperstein für die EU-Mitgliedschaft. Ein im Krieg zerstörtes Dorf im nördlichen Kroatien, März 2010.
Schweigen und verdrängen Das kroatische Justizsystem erweist sich bislang als unfähig, die schweren Kriegsverbrechen der neunziger Jahre aufzuarbeiten, wie ein neuer Amnesty-Bericht belegt. Von Denis Beil Kroatien ist mit seinen langen Stränden ein beliebtes Urlaubsziel der Deutschen und auf dem besten Weg, EU-Mitglied zu werden. Doch noch vor wenigen Jahren tobte dort ein blutiger Krieg zwischen Kroatien und der Armee der Republik serbische Krajina (RSK). Während sich die Öffentlichkeit 1991 vor allem für den Golfkrieg, die steigenden Ölpreise und die damit verbundenen Wirtschaftseinbußen interessierte, begann in Kroatien der erste Krieg auf europäischem Boden nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst seit Dezember 1995 herrscht Frieden in dem Land, dessen Hauptstadt Zagreb nur etwa 550 Kilometer von München entfernt ist. Der im Dezember 2010 veröffentlichte AmnestyBericht »Behind a wall of silence« zeigt, dass die strafrechtliche Ahndung von Kriegsverbrechen, die während der Kampfhandlungen von 1991 bis 1995 begangen wurden, in den vergangenen Jahren nur schleppend vorankam. Zu den Kriegsverbrechen zählen unter anderen Mord, Folter, Vertreibung, Vergewaltigung und »Verschwindenlassen«. Der Amnesty-Bericht basiert auf Interviews, die zwischen 2007 und 2010 geführt wurden. Mitglieder von Amnesty sprachen in Kroatien unter anderem mit Justizbehörden, Opfern und deren Familien, Anwälten, Politikern, Journalisten und Polizisten. Aus diesen Gesprächen geht hervor, dass die Kapazität des kroatischen Justizsystems nicht ausreicht, um die begangenen Kriegsverbrechen umfassend, unverzüglich, unabhängig und nach internationalen Standards aufzuklären. Nach einer Statistik der kroatischen Regierung wurden von 2005 bis 2010 insgesamt 88 Fälle abgeschlossen – bei etwa 700 dokumentierten und noch zu verhandelnden Fällen kann die strafrechtliche Verfolgung noch Jahrzehnte dauern.
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KroatIen
Ein weiteres Beispiel für die Ineffektivität des Rechtssystems: Vor acht Jahren wurden an vier Bezirksgerichten in Zagreb, Osijek, Rijeka und Split spezielle Kammern für Kriegsverbrechen eingerichtet – 2009 fand dort ein einziger Prozess statt, der sich mit Kriegsverbrechen beschäftigte. Amnesty International kritisiert weiterhin die einseitige Tendenz bei der Auswahl der verhandelten Fälle. Kriegsverbrechen wurden von kroatischer und serbischer Seite verübt. Dennoch wurden in den abgeschlossenen Fällen vorwiegend Mitglieder der jugoslawischen Armee oder kroatische Serben angeklagt: Kriegsverbrechen, die von Angehörigen der kroatischen Armee und der Polizei gegen kroatische Serben und andere Minderheiten begangen wurden, machten nur 17 Prozent der verhandelten Fälle aus. Zudem wurden Maßnahmen zur Bekämpfung der Straflosigkeit von den Behörden nicht umgesetzt. Ebenso ist der Schutz von Zeugen nicht gewährleistet. So gibt es an den Strafgerichten keinen separaten Eingang für Zeugen, Angeklagte und Zuschauer. Amnesty-Mitglieder beobachteten, dass Zeugen in den Gerichten massiv eingeschüchtert wurden. Mitarbeiter anderer NGOs, die zur Prozessbeobachtung an den Gerichten waren, erhielten sogar Morddrohungen. »Viele Unzulänglichkeiten des kroatischen Justizsystems dürften mit einem Mangel an politischem Willen zu tun haben, sich mit dem Erbe des Krieges zu beschäftigen«, erklärt Nicola Duckworth, Amnesty-Direktorin für Europa und Zentralasien, in dem Bericht. Kroatien müsse sich jedoch mit seiner Vergangenheit befassen, um voranzukommen. »Straflosigkeit für Kriegsverbrechen ist ein Stolperstein für die EU-Mitgliedschaft. Räumt die Regierung diesen Stolperstein aus dem Weg, dann beweist sie damit unmissverständlich ihren Willen, vorhandene Lücken auf dem Weg zu Gerechtigkeit zu schließen. Die Opfer erwarten und verdienen das.« Die Autorin ist Journalistin und lebt in München.
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Foto: Sara Fremberg
Verheerende Zeichen
Kein Einzelfall. Das zerstörte Haus der Familie Csorba in Tatárszentgyörgy.
In Ungarn sind die Behörden unfähig und unwillig, rassistische Verbrechen angemessen zu ahnden, wie Amnesty International in einem aktuellen Bericht dokumentiert. Vor allem Roma sind davon betroffen. Von Sara Fremberg »Kis Robi« – »Kleiner Robi« steht an der Außenwand der verkohlten Ruine in der ungarischen Kleinstadt Tatárszentgyörgy, rund 60 Kilometer südlich von Budapest. Einige Meter vor dem Eingang liegen einige weiße Ziegelsteine. Erinnerungen an jene Nacht, in der der fünfjährige Robi aus seinem brennenden Elternhaus nach draußen floh und mit einem gezielten Kopfschuss regelrecht hingerichtet wurde. Er gehörte zu den insgesamt sechs Todesopfern einer Serie brutaler Anschläge auf ungarische Roma zwischen 2008 und 2009. Bis heute sind die ungarischen Behörden unfähig und unwillig, die Verbrechen angemessen zu verfolgen, zu ahnden und dabei insbesondere ihrem rassistischen Charakter Rechnung zu tragen, wie Amnesty International in einem aktuellen Bericht dokumentiert. Opfer und Überlebende warten noch immer auf eine umfassende Aufklärung der Verbrechen und die Verurteilung der Täter. Rückblick: Es ist die Nacht des 23. Februar 2009. Das Ehepaar Csorba erwacht vom Schreien ihrer Schwiegertochter Renáta, die mit ihrem Mann Robert und drei Kindern im Nachbarhaus wohnt. Schlaftrunken laufen sie nach draußen und sehen, dass das kleine gelbe Haus in Flammen steht. Minuten später finden die beiden ihren Sohn Robert sterbend im Schnee, ihr Enkel Robi liegt tot neben der Eingangstreppe. Eine Kugel hat sein Gesicht entstellt.
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Robis Schwester, die sechsjährige Bianca, hat Glück. Auch sie flieht vor den Flammen nach draußen und wird von mehreren Kugeln getroffen. Doch es gelingt ihr, sich zu verstecken. Während die Mörder fluchend nach ihr suchen, schleicht sich das verletzte Mädchen durch das Gestrüpp an ihnen vorbei und schleppt sich in den Wald. Ihre Mutter Renáta entkommt den Mördern mit ihrem jüngsten Sohn Marty durch das Fenster. Eine Nachbarin hört die Schüsse. Sie alarmiert Feuerwehr, Polizei und Krankenwagen. Als diese nach einer Stunde am Tatort eintreffen, können sie Robert nicht mehr retten. Er ist verblutet. Vor dem Haus und im Körper der kleine Bianca finden die Roma bei Tagesanbruch die verwendeten Schrotkugeln. Die Polizeibeamten weigern sich, die Kugeln als Beweismittel anzuerkennen und zu sichern. Sie machen einen Elektrizitätsbrand und die folgende Explosion für die Ereignisse verantwortlich. Roberts Wunden seien wahrscheinlich von einem herabstürzenden Balken oder Nägeln verursacht worden. »Sie haben auf die Fuß- und Handabdrücke der Täter im Schnee uriniert, um sie zu verwischen. Sie haben uns einfach nicht geholfen«, erzählt Csadas Csorba, Roberts Vater. Noch in derselben Nacht bittet Familie Csorba die EU-Abgeordnete Viktória Mohácsi um Hilfe. Diese fordert die Nationale Ermittlungsbehörde an, um den Fall zu übernehmen. Als die Beamten kurze Zeit später am Tatort eintreffen, finden sie sowohl die Flaschen, die für die Molotowcocktails verwendet wurden, als auch eine Kugel und mehrere Patronen. Noch am selben Tag bestätigt die Autopsie der beiden Leichen die Schüsse als Todesursache. Der Polizeibericht muss geändert werden.
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»Wir wollen wissen, was passiert ist. Wer hat die Mörder bezahlt? Wer hat sie angestiftet?« zu verteidigen. Gábor Vona, Parteichef von Jobbik und Vorsitzender der Ungarischen Garde, schlug bereits zur »Lösung der Zigeunerfrage« vor, die Roma in Ghettos zu sperren, sogenannte »Siedlungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung«. Bei den Parlamentswahlen im April 2010 erhielt Jobbik fast zwölf Prozent der Stimmen. Als drittstärkste Kraft im ungarischen Parlament unterstützt die Partei die autoritäre, nationalistische Politik der rechtskonservativen Fidesz-Regierung. Diese schweigt dazu und macht sich ihrerseits viele der Jobbik-Standpunkte zu eigen. Hauptverlierer dieser politischen Entwicklung sind dabei die Roma. Dies wurde unter anderem deutlich, als die öffentlich-rechtlichen Sender im Oktober 2010 per Gesetz gezwungen wurden, einen Wahlwerbespot der Jobbik-Partei zu senden, der die Roma als »Parasiten der Gesellschaft« bezeichnete. Die Sender hatten die Ausstrahlung zuvor aus ethischen Gründen verweigert. Nach dem Attentat gründen die Einwohner von Tatárszentgyörgy eine Bürgerwehr, die nachts bis in die frühen Morgen-
Foto: Karoly Arvai / Reuters
Der Vorfall von Tatárszentgyörgy ist kein Einzelfall. Das European Roma Rights Center (ERRC), Amnesty International und andere Nichtregierungsorganisationen sprechen von knapp 50 Angriffen auf Roma in Ungarn in den vergangenen zwei Jahren. Gleichzeitig gehen sie von einer hohen Dunkelziffer von Taten aus, die gar nicht erst zur Anzeige gebracht werden. Die wachsende Zahl rassistisch motivierter Gewaltverbrechen geht einher mit dem Aufstieg der rechtsextremistischen Partei Jobbik und einem allgemeinen Rechtsruck der ungarischen Politik. Zu Jobbiks Parteiprogramm gehört neben der Wiederherstellung eines »Großungarn« und dem Kampf gegen das »jüdische Kapital« auch ein offen progagierter Antiziganismus. Jobbiks paramilitärische Schutztruppe, die Ungarische Garde, marschiert nach dem Vorbild der nationalsozialistischen Pfeilkreuzler durch Städte und Gemeinden, in denen viele Roma wohnen – besonders häufig in Tatárszentgyörgy. Dort ruft sie die »ethnischen Ungarn« dazu auf, sich gegen die Roma
»Sie haben uns einfach nicht geholfen.« Beerdigung von Robi Csorba und seinem Vater, 3. März 2009.
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Foto: Karoly Arvai / Reuters Foto: Bela Szandelszky / AP
Paramilitärische Truppe. Aufmarsch der »Ungarischen Garde«.
Foto: Ferenc Isza / AFP / Getty Images
Nichts als Ruinen. Großmutter der Familie Csorba mit Enkelkind.
Viele Fragen offen. Pressekonferenz mit Angehörigen in Budapest.
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stunden insbesondere durch die Roma-Viertel patrouilliert. Unter den Männern der Schutztruppe befinden sich sowohl Roma als auch Nicht-Roma. »Die Nazis versuchen Roma und Ungarn zu spalten und sprechen von einem Krieg. Deshalb haben wir uns bewusst gegen eine eigene Roma-Patrouille entschieden«, sagt György Jakáb, Robis Großvater. Am 21. August 2009 verhafteten Beamte der Nationalen Ermittlungsbehörde vier Männer in Debrecen. Die Morde von Tatárszentgyörgy sind jedoch nur ein Teil der Verbrechen, die man ihnen zur Last legt. Die 90-seitige Anklageschrift, die die Staatsanwaltschaft Pécs im vergangenen September vorlegte, macht sie für eine Serie von neun Angriffen auf Roma-Siedlungen verantwortlich. In ganz Ungarn suchten sie sich bevorzugt Häuser aus, die in der Nähe von Autobahnen lagen – wie die Wohnung der Familie Csorba. Die Täter warfen Molotowcocktails in die Häuser ihrer Opfer und eröffneten das Feuer auf diejenigen, die fliehen wollen. Robis Großeltern, die in jener Nacht ihn und seinen sterbenden Vater fanden, haben bis heute weder psychologische Betreuung erhalten, noch wurden sie angemessen zu möglichen Entschädigungszahlungen beraten. Amnesty International beklagt, dass dies auf die Mehrzahl der von den Übergriffen der vergangenen Jahre betroffenen Roma zutrifft. Mängel während der Ermittlungs- und Strafverfahren führten dazu, dass es bisher in nur einem einzigen Fall eine Verurteilung gab. Staatsanwälte und Richter ließen zudem in vielen Fällen den rassistischen Charakter der Angriffe bewusst außer Acht. Amnesty sieht darin die Hauptursache des Problems. Verbrechen gegen eine bestimmte gesellschaftliche Gruppierung weisen besondere Charakteristika auf, die bei Ermittlungen und Strafverfolgung berücksichtigt werden müssen. Amnesty fordert den ungarischen Staat daher auf, Polizisten, Staatsanwaltschaften und Gerichte entsprechend zu schulen, um sie in die Lage zu versetzen, die Verbrechen angemessen untersuchen und bewerten zu können. Journalisten, Opfer und Hinterbliebene beklagen, dass seit der Anklageerhebung gegen Robis Mörder kaum neue Informationen an die Öffentlichkeit gelangten. Das lässt viele Fragen offen und Raum für Spekulationen. Die Professionalität der Durchführung legt nahe, dass die Morde von langer Hand geplant wurden und die Täter nicht allein agierten. Umgekehrt verhindert die mangelhafte Aufklärung eine angemessene Strafverfolgung. Doch solange solche Taten kaum verfolgt werden, ist das Interesse der lokalen Behörden an einer umfassenden Aufklärung oft gering. Die Unerfahrenheit und Gleichgültigkeit von Polizei und Justiz gegenüber der mörderischen Diskriminierung, das offizielle Schweigen und die mangelhaften Informationen zum Stand der Anklage senden verheerende Zeichen an die ungarische Gesellschaft. Wie viel ist das Leben eines Rom wert, wenn solche Gewaltverbrechen nicht umfassend und zügig verfolgt und geahndet werden? Den Hinterbliebenen geht es um Antworten. »Wir wollen wissen, was passiert ist. Wer hat die Mörder bezahlt? Wer hat sie angestiftet?«, sagt Ildiko Jakáb, Robis Großmutter. Familie Csorba fühlt sich im Stich gelassen. Solange die Täter nicht offiziell verurteilt und bestraft und ihre Taten restlos aufgeklärt sind, solange finden sie keine Ruhe und leben in Angst vor den nächsten Übergriffen. Die Autorin arbeitet in der Pressestelle der deutschen Amnesty-Sektion.
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Das Schweigen brechen vention und Bekämpfung von häuslicher und sexueller Gewalt entwickelt. Stattdessen schaffte die Regierung 2007 die »Nationale Kommission für umfassende Betreuung und Schutz für Kinder« (CONAPINA) ersatzlos ab. Außerdem wurde 2006 ein Gesetz verabschiedet, das Abtreibung unter allen Umständen verbietet und unter schwere Strafe stellt – selbst wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist oder das Leben der Mutter gefährdet. Das Gesetz zwingt Frauen und Mädchen dazu, Abtreibungen heimlich vornehmen zu lassen, was mit einem hohen gesundheitlichen Risiko verbunden ist. »Oft ist die Schwangerschaft gefährlich für junge Mädchen, weil ihr Körper nicht ausreichend entwickelt ist«, erklärt ein auf Vergewaltigungsopfer spezialisierter Psychologe aus Nicaragua. »Auch werden viele von ihrer Familie verstoßen, weil sie für das, was ihnen widerfahren ist, verantwortlich gemacht werden. Häufig sehen die Mädchen in dieser Situation keinen anderen Ausweg mehr als Selbstmord.« Bereits fünf verschiedene UNO-Ausschüsse haben die nicaraguanischen Behörden aufgefordert, Maßnahmen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Frauen zu ergreifen und das restriktive Abtreibungsgesetz zurückzuziehen. Bislang jedoch ohne Erfolg. Connie fand bei einer NGO in Managua Unterstützung. »Ich habe jetzt Termine mit einer Psychologin und habe viele andere Mädchen getroffen. Wir hörten einander zu, es war schön«, erzählt sie. »Hier habe ich Frieden und neue Freunde gefunden. Und ich habe es geschafft, ein wenig aus der Dunkelheit, die mich umgab, herauszukommen.«
Seit ihrem neunten Lebensjahr wurde Connie * von ihrem Vater sexuell missbraucht. Als sie mit 14 von ihm schwanger wurde und sich daraufhin an die nicaraguanischen Behörden wandte, beging ihr Vater Selbstmord. Doch der Leidensweg des Mädchens war damit noch nicht zu Ende. »Meine Familie sagte, ich wäre schamlos, dass ich meinen Vater verführt hätte, um ihn meiner Mutter wegzunehmen. Sie jagten mich aus dem Haus und sprachen nie wieder mit mir«, berichtet die heute 17-Jährige. Weil Gewalt in der Familie und sexueller Missbrauch von Frauen und Mädchen in Nicaragua Tabuthemen sind, werden die Opfer häufig zu Tätern gemacht. Wenn sie von ihren Qualen erzählen, müssen sie damit rechnen, von ihren Familien verstoßen und von der Gesellschaft stigmatisiert zu werden. Das führt dazu, dass es bei diesen Straftaten eine hohe Dunkelziffer gibt. »Jeden Tag leiden Mädchen in Nicaragua lieber still unter sexueller Gewalt, als die Ablehnung zu riskieren«, sagt dazu Esther Major, Nicaragua-Expertin bei Amnesty International. Das belegt auch ein Amnesty-Bericht über sexuelle Gewalt in Nicaragua, der im November 2010 veröffentlicht wurde. Polizeistatistiken zufolge gab es zwischen 1998 und 2008 mehr als 14.000 Fälle von sexueller Gewalt gegen Frauen – mehr als zwei Drittel der Opfer waren jünger als 17 Jahre und 90 Prozent der Täter waren Familienangehörige. Die Reaktionen von Polizei und Justiz auf Fälle sexueller Ge* Name geändert walt spiegeln die Einstellung der Gesellschaft wider. So stellt der Amnesty-Bericht fest, dass die Polizei nach einer gemeldeten Die Autorin ist Medienwissenschaftlerin und lebt in Hamburg. Vergewaltigung oft Tage oder Wochen verstreichen lässt, bevor sie aktiv wird. Bevor ein Fall vor Gericht gehen kann, müssen die Opfer von der Gerichtsmedizin untersucht werden. Doch die Kosten für die Fahrt dorthin können Mädchen aus armen Familien und ländlichen Gegenden nur schwer aufbringen. Knapp die Hälfte der insgesamt fünf Millionen Einwohner Nicaraguas lebt unter der Armutsgrenze. Auch existieren im ganzen Land nur elf Einrichtungen, in denen die Opfer Zuflucht finden und ihre Erlebnisse aufarbeiten können. Diese Anlaufstellen werden ausschließlich von NGOs getragen. Amnesty hat die Regierung von Nicaragua aufgefordert, sicherzustellen, dass die erlebte Gewalt nicht das gesamte restliche Leben der Opfer bestimmt. »Die Regierung muss ein klares Zeichen setzen, dass sexuelle Gewalt niemals die Schuld des Opfers ist, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden und dass den Opfern die Hilfe zukommt, die sie benötigen«, erklärt Esther Major. Die nicaraguanischen Behörden haben seit 2001 keine neuen Maßnahmen zur PräTrost gibt es nur selten. Schutzeinrichtung für die Opfer sexueller Gewalt in Managua.
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Foto: Grace Gonzalez / Amnesty
In Nicaragua sind minderjährige Mädchen in besonders hohem Maße von sexueller Gewalt betroffen. Doch bitten die Opfer um Hilfe, stoßen sie auf Ignoranz und Ablehnung. Von Murielle Mervielle
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Foto: 23/5, Zentropa, IDTV
»Vereinfachungen sind nicht einfach«
Experte für schwierige Stoffe. Hans-Christian Schmid.
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2009 gewann Hans-Christian Schmid mit dem Spielfilm »Sturm« den Amnesty-Filmpreis. Ein Gespräch über das Kino der Menschenrechte. Sie sind Experte für schwierige Stoffe – Ihr Menschenrechtsfilm »Sturm« ist dafür der beste Beweis. Nun ist Filmemachen auch eine Frage des Geldes, aber wohl nicht nur. Wann und wie fällt bei Ihnen der Entschluss, dieses oder jenes Thema zu einem Film zu machen? Eine finanzielle Überlegung ist sicherlich: Mit welchem Budget kann ich den Film machen? Und: Inwieweit ist er im Ausland einsetzbar? Ich versuche aber, mich völlig frei zu machen vom Gedanken an Geld! Denn ich habe oft erlebt, dass die Stoffe, von denen man glaubt, sie sind erfolgreich, nicht funktionieren. Wenn ich mir jetzt überlegen soll, was in zwei Jahren im Kino geht, komme ich nicht weit. Klar ist: Wenn man einen Film wie »Sturm« macht, kann man nicht unbedingt davon ausgehen, dass man ein großes Publikum findet. Wie hat man sich das vorzustellen – der Regisseur setzt sich hin, schaut in die Zeitung und denkt: Aha, jetzt mache ich einen Film zum Balkankrieg… Ich versuche, genau das zu vermeiden. Themen auf diese Weise herunterzubrechen, das würde schnell didaktisch und vorhersehbar. Ich setze mich an den Schreibtisch mit nichts, außer dem, was in meinem Kopf herum spukt, und versuche, meine Ideen zu entwickeln. Ich kann auch an einen einzelnen Schauspieler denken, den ich toll finde. Bei »Sturm« haben der Autor Bernd Lange und ich uns zusammen hingesetzt und festgestellt, dass uns Thriller aus dem New Hollywood-Kino gut gefallen. Wir haben überlegt, ob es einen Film dieser Machart nicht auch in Deutschland oder Europa geben könnte. Dann stießen wir zufällig auf einen Zeitungsbericht über den Gerichtshof in Den Haag. Bei dem Film »Lichter« war der Ausgangspunkt mein Umzug nach Berlin und eine Reise nach Frankfurt/Oder. Aber auch Geschichten aus der Zeitung über Menschenschlepper aus der Ukraine, über Flüchtlinge, denen man in Frankfurt erzählt, sie seien schon in London. Es muss einiges zusammenkommen – aber manchmal legt man den Stoff auch erst einmal wieder in die Schublade, wenn einen die Idee nicht sofort überzeugt. In »Sturm« geht es um den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Erzählt wird das Schicksal einer jungen Frau, die von bosnischserbischen Soldaten vergewaltigt wurde. Gleichzeitig geht es um den EU-Beitritt Bosniens. Kriegsgräuel gab es auch auf der anderen Seite, der Krieg in Jugoslawien kennt viele Parteien. Das Kino kann ja auch eine große Vereinfachungsmaschine sein. Wie radikal einfach muss ein Menschenrechtsfilm sein? Was ist erzählbar?
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Hans-CHrIstIan sCHmId
Es besteht immer die Gefahr bei dermaßen komplexen Themen, dass die Figuren irgendwann Sprechblasen abliefern, wie man sie zu Genüge kennt. Wir als Autoren spüren diese Schwierigkeiten. Angesichts des Nato-Angriffs auf Serbien haben wir lange überlegt, dass hier zwei Dinge gegeneinander stehen: Einerseits kann man die klare Haltung haben, dass Gewalt durch nichts zu rechtfertigen ist. Andererseits ist zu fragen: Kann der Einsatz von Gewalt Gewalt verhindern? Was ist mit den Gräueltaten von Srebrenica – was hätte man da unternehmen sollen? Ich kann mir da kein Urteil anmaßen. Vereinfachungen dürfen nicht zu einfach sein. Menschenrechtsprobleme im Krieg auf dem Balkan – das Thema ist eigentlich gar nicht verfilmbar. Welche Antwort darauf haben Sie gefunden? Wir bauen auf einen dramatischen Konflikt: Hier ist die Anklägerin Hannah Maynard, die eine besondere Beziehung zu einer Zeugin aufbaut. Dahinter sind die Bedürfnisse eines Gerichtshofes, und dahinter sind diejenigen der EU-Politik. In diesem Spannungsfeld ist es für die Figur Hannah schwer, die richtige Entscheidung zu fällen. Das ist nach wie vor aktuell: Für viele junge Menschen in Serbien oder im serbischen Teil Bosniens ist der EU-Beitritt wichtig. Und ich finde es richtig, den demokratischen Kräften dort eine verstärkte Hoffnung zu geben. Gleichzeitig heißt es bei bosnischen Muslimen: Wie könnt ihr den Aggressoren des Krieges den Weg in die EU früher ebnen als uns? Wie übersetzt man Menschenrechte in Film, ohne dass es langweilig wird? Man versucht, Dinge visuell interessant zu erzählen. Am Anfang gibt es in »Sturm« eine Einführung, in der es darum geht, dem Zuschauer den Fall darzustellen. Wir illustrieren das mit Videoausschnitten im Büro von Hannahs Chef. Man versucht, Dinge erfahrbar zu machen: Wenn eine Delegation von Den Haag nach Sarajevo reist – was ist das für ein Gefühl? Um diese Darstellbar-
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Foto: 23/5, Zentropa, IDTV
Wie funktioniert Bewusstseinsbildung? Szene aus »Sturm«.
keit teils trockener Vorgänge muss man richtig kämpfen, das passiert nach und nach, meist nicht schon in der ersten Drehbuchfassung. Wie viele Zuschauer hatte »Sturm«? In Deutschland: 50.000. Wie können Filme zum Schutz der Menschenrechte beitragen? Vielleicht, indem wir Regisseure uns mit diesen Thematiken als Geschichtenerzähler auseinandersetzen. Filme können ein gewisses Bewusstsein schaffen, wenn auch nicht auf die Schnelle und wohl auch nicht nur ein einziger Film. Wie funktioniert Bewusstseinsbildung? Sie resultiert aus allem, was Kultur ausmacht. Amnesty ist mit dem Kino immer eine besondere Verbindung eingegangen. Bestimmte Filme werden mit Kampagnen begleitet, die Arbeit von Amnesty selbst ist immer wieder Filmthema. Was glauben Sie, macht diese Liaison möglich? Das Erzählen im Kino – mit Bildern, mit Ton, mit Musik – allem, was zur Verfügung steht, ist wahrscheinlich die Erzählform, die das Publikum am nachhaltigsten beeindrucken kann. Wenn ich aus einem Film komme wie »Last King of Scotland«, der von der Herrschaft Idi Amins in Uganda erzählt, habe ich einen lebhaften Eindruck aus diesem Land aus dieser Zeit. Das ist schon sehr kraftvoll. Immer mehr Länder produzieren Kinofilme. Gibt es nicht viel zu viel Angebot für viel zu wenig Publikum, zu viele Festivals? Verliert oder gewinnt das Kino dadurch an Bedeutungsmacht? Also ich kenne jede Menge Filmstudenten, die froh sind, dass es viele Festivals gibt. Ich habe das Gefühl, Angebot und Nachfrage regeln sich da schon. Welchen Stellenwert hat ein Festival wie die Berlinale für Filme des Menschenrechtskinos? Auch wenn die Mauer in Berlin nicht mehr steht: Die Berlinale
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ist immer noch ein Festival zwischen Ost und West, eine Drehscheibe zwischen den Welten. Vieles, wofür Amnesty steht, ist hier wichtig. Es ist eine sinnvolle Verknüpfung, hier den Amnesty-Filmpreis zu vergeben. Fragen: Jürgen Kiontke
InterVIew Hans-CHrIstIan sCHmId Hans-Christian Schmid wurde 1965 in Altötting geboren und lebt in Berlin. Nach Kurz- und Dokumentarfilmen folgte Schmids Kino-Debüt »Nach Fünf im Urwald«; richtig bekannt wurde er mit dem Hacker-Film »23« und der Literaturverfilmung »Crazy«. Wie schon sein Episodenfilm »Lichter« 2003 lief auch »Requiem« (2005), die Geschichte eines Exorzismus, im Wettbewerb der Berliner Filmfestspiele. Hauptdarstellerin Sandra Hüller bekam für ihre Arbeit den Silbernen Bären. Auch sein jüngster Spielfilm »Sturm« lief dort 2009. Menschenrechte stehen oft im Fokus von Schmids Filmen, allerdings nie so dezidiert wie in »Sturm«: Hier zeigt er die Arbeit einer Anklägerin am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, die versucht, Kriegsverbrechen auf dem Balkan aufzuklären. Für die Visualisierung der äußerst komplexen politischen und juristischen Zusammenhänge erhielt er den Amnesty-Filmpreis. Die damit verbundenen 2.500 Euro stiftete Schmid zum Teil dem European Center for Constitutional and Human Rights – einer gemeinnützigen Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Berlin. Zusammen mit der Schauspielerin Juliane Köhler und Amnesty-Generalsekretärin Monika Lüke ist Schmid Mitglied der Jury für den Amnesty-Menschenrechtsfilmpreis auf der Berlinale 2011.
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FREIHEIT IST DER WERT, DER BLEIBT
Foto: Kimimasa Mayama / Reuters
IHR TESTAMENT FÜR DIE MENSCHENRECHTE
GESTALTEN SIE DIE ZUKUNFT Gründe, warum Amnesty International bei Erbschaften bedacht wird, gibt es viele: Manchmal sind es die eigenen Erfahrungen, die man mit Unrechtsregimen gemacht hat. Oder es sind Beobachtungen auf Reisen, die eigene Überzeugung, etwas zurückgeben zu wollen. Wichtig ist der Wunsch, über das eigene Leben hinaus die Zukunft gestalten zu wollen. Eine Idee zu unterstützen, die einem am Herzen liegt: die Einhaltung der Menschenrechte. Seit 1961 setzt sich Amnesty International weltweit für Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein. Und da Amnesty International aus Gründen der Unabhängigkeit jegliche staatlichen Mittel ablehnt, können besonders Erbschaften helfen, diese Arbeit auch in Zukunft sicher und langfristig planbar zu machen. Bedenken Sie Amnesty International in Ihrem Testament. Gestalten Sie eine Zukunft, in der jeder Mensch in Würde leben kann!
Bei weiteren Fragen steht Ihnen Dr. Manuela Schulz unter der Telefonnummer 030 - 42 02 48 354 gerne zur Verfügung. E-Mail: Manuela.Schulz@amnesty.de 첸 Bitte schicken Sie mir die Erbschaftsbroschüre »Freiheit ist der Wert, der bleibt« kostenlos zu. 첸 Bitte schicken Sie mir weitere Informationen über die Arbeit von Amnesty International kostenlos zu. Vorname, Name
Straße
PLZ, Ort
Telefon, E-Mail
Bitte senden Sie den Coupon an Amnesty International, 53108 Bonn oder faxen Sie: 0228 - 63 00 36 Weitere Informationen auf www.amnesty.de/spenden
Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. amnesty InternatIonal veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine Kopie an amnesty InternatIonal.
amnesty InternatIonal Postfach, 53108 Bonn Tel.: 0228 - 98 37 30, Fax: 0228 - 63 00 36 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank Köln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50
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Foto: privat
brIefe GeGen das VerGessen
alGerIen malIK medjnoun Malik Medjnoun befindet sich seit 1999 in Haft, ohne dass bislang ein Prozess stattgefunden hat. Er war am 28. September 1999 mit der Begründung festgenommen worden, den Sänger Lounes Matoub getötet zu haben. Seit Aufnahme des Verfahrens im Mai 2001 wurde Malik Medjnouns Prozess bis heute immer wieder verschoben. Nach seiner Festnahme wurde er über sieben Monate lang ohne Kontakt zur Außenwelt in einer Kaserne in Algier in Haft gehalten. Er gab an, dass er dort mit dem Griff einer Spitzhacke geschlagen, mit Elektroschocks gequält und gezwungen worden sei, schmutziges Wasser und andere Flüssigkeiten zu trinken. Er war schließlich so geschwächt, dass er nicht mehr aufstehen konnte, und wurde in das Militärkrankenhaus in Blida südlich von Algier gebracht. Im März 2000 wurde Malik Medjnoun zweimal vor Gericht angehört. An keinem dieser Termine hatte er einen Rechtsbeistand. Zwei Monate später teilte man ihm mit, er sei wegen »Zugehörigkeit zu einer bewaffneten terroristischen Gruppierung« und wegen Mordes an Lounes Matoub angeklagt. Dieser Anklage war die Aussage eines anderen Mannes vorausgegangen, der sein »Geständnis« später aber wieder zurückzog und angab, er hätte es unter Folter abgelegt. Malik Medjnoun befindet sich derzeit im Gefängnis von Tizi Ouzou. Die Umstände des Mordes an Lounes Matoub sind bislang ungeklärt, sein Tod wurde nie ordnungsgemäß untersucht. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den algerischen Präsidenten und fordern Sie die Freilassung von Malik Medjnoun, da die Behörden ihn über zehn Jahre lang nicht vor Gericht gestellt haben. Bitten Sie den Präsidenten, eine umfassende und unparteiische Untersuchung der Foltervorwürfe von Malik Medjnoun zu veranlassen und sicherzustellen, dass der Mord an Lounes Matoub aufgeklärt wird. Schreiben Sie in gutem Arabisch, Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: His Excellency Abdelaziz Bouteflika President of Algeria Présidence de la République El Mouradia 16000 Algiers ALGERIEN (korrekte Anrede: Your Excellency) E-Mail: President@el-mouradia.dz (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Demokratischen Volksrepublik Algerien S.E. Herr Madjid Bouguerra Görschstraße 45 –46, 13187 Berlin Telefax: 030-4809 8716 E-Mail: info@algerische-botschaft.de
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Die Bewohner der Dörfer Hadidiya und Humsa im Jordantal im Westjordanland sind dauerhaft von rechtswidriger Zwangsräumung durch die israelische Armee bedroht. Ihre Häuser könnten zerstört und ihre Existenzgrundlage vernichtet werden. Bereits jetzt ist ihr Zugang zu Wasser stark eingeschränkt, da die örtliche Wasserversorgung nur für die israelischen Siedlungen vorgesehen ist. Seit 2007 sind mehrfach Häuser und andere Einrichtungen in Hadidiya und Humsa zerstört worden. Im August 2007 wurden die Wohnungen von 40 Familien abgerissen. Im Juni 2009 zerstörte die Armee Häuser und andere Einrichtungen von 18 Familien. Außerdem wurden ihr Wassertank und ein Traktor samt Anhänger, der zum Wasserholen benutzt worden war, beschlagnahmt. Die Lebensbedingungen in Hadidiya und Humsa sind hart. Früher lebten die palästinensischen Gemeinschaften hauptsächlich von Ackerbau und Viehzucht. Heute sind sie bedroht, weil ihnen Wasser und Land fehlen, um ihre Herden grasen zu lassen. Nach Auffassung der israelischen Behörden haben die Bewohner von Hadidiya und Humsa kein Recht, in der Region zu leben, da es sich um«militärisches Sperrgebiet« handle. Die Dorfbewohner dürfen demnach weder Häuser bauen noch Zelte aufschlagen. Die israelische Armee betrachtet beides als »illegal«. Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für die Vorgänge in der Region hat in den vergangenen Jahren nachgelassen. Weitere und dauerhafte Aktionen sind entscheidend. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den israelischen Verteidigungsminister, in denen Sie ihn auffordern, ein Räumungs- und Abrissmoratorium für Hadidiya und Humsa zu erlassen, und sicherzustellen, dass beschlagnahmtes Eigentum zurückgegeben wird. Fordern Sie den Abbau diskriminierender Hindernisse beim Zugang zu Wasser, Strom und anderen grundlegenden Gütern. Schreiben Sie in gutem Hebräisch, Englisch oder auf Deutsch an: Ehud Barak Minister of Defence Ministry of Defence 37 Kaplan Street, Hakirya Tel Aviv 61909 ISRAEL (korrekte Anrede: Dear Minister) Fax: 009 72 - 3 - 691 69 40 oder 009 72 - 3 - 696 27 57 E-Mail: minister@mod.gov.il (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des Staates Israel S.E. Herrn Yoram Ben Zeev Auguste-Viktoria-Straße 74–76, 14193 Berlin Fax: 030 - 89 04 55 55 E-Mail: botschaft@israel.de
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Foto: privat
Foto: Amnesty
Israel und besetzte palästInensIsCHe GebIete droHende zwanGsräumunG In den dörfern HadIdIya und Humsa
nIGerIa emmanuel eGbo Am 25. September 2008 spielte der 15-jährige Emmanuel Egbo auf einer Straße in der nigerianischen Stadt Enugu, als er von der Polizei erschossen wurde. Die Polizei behauptete, er sei ein bewaffneter Räuber gewesen. Augenzeugen berichteten jedoch, dass er unbewaffnet gewesen sei und mit anderen Kindern gespielt habe. Emmanuels Familie konnte ihn nicht beerdigen, weil sein Leichnam aus der Leichenhalle des Krankenhauses verschwand. Zunächst wurden keine Ermittlungen eingeleitet. Emmanuels Angehörige suchten mehrmals die Polizeistation in Enugu auf und forderten eine Untersuchung seines Todes. Zwischen Oktober 2008 und Mai 2009 traf sich die Familie mehrfach mit der Polizei von Enugu. Nach einigen Gesprächen erfuhr sie, dass der für die Untersuchung zuständige Polizeibeamte versetzt worden war. »Der Polizist sagte uns, der Junge sei ein bewaffneter Räuber gewesen und der Fall sei abgeschlossen. Von diesen Entwicklungen zu erfahren, war ein Albtraum für uns«, erklärte ein Angehöriger von Emmanuel.Im September 2009 wurde Emmanuels Familie darüber informiert, dass der Polizist, der verdächtigt wurde, Emmanuel getötet zu haben, inhaftiert worden sei. Doch die Leiche von Emmanuel wurde noch immer nicht gefunden. Auch ist bisher niemand im Zusammenhang mit seinem Tod strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Polizeichef und fordern Sie eine umgehende, umfassende und unparteiische Untersuchung des Todes von Emmanuel Egbo am 25. September 2008. Bitten Sie ihn, den Fall neu aufzurollen, alle Augenzeugen zu befragen und die für den Tod des Jungen Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Fordern Sie, dass Emmanuels Leiche seiner Familie übergeben wird oder die Familie zumindest darüber informiert wird, wo er beerdigt ist. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Hafiz Ringim Inspector General of Police Nigeria Police Force Headquarters Louis Edet House Shehu Shagari Way Area 11 Garki, Abuja NIGERIA (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Bundesrepublik Nigeria S.E. Herrn Ayodeji Lawrence Ayodele Neue Jakobstraße 4, 10179 Berlin Fax: 030 - 21 23 02 12 E-Mail: info@nigeriaembassygermany.org
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Foto: Christian Jungeblodt
Kleine Etappensiege f端r die Menschenrechte. Mahnwache gegen die Todesstrafe in Berlin, 10. Oktober 2010.
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warum maCHst du das? Es ist nicht immer einfach, sich für die Menschenrechte einzusetzen. Aber der Einsatz lohnt sich. Eine Hommage an Amnesty zum 50. Geburtstag. Von Regina Spöttl Ich sitze im Café einer guten Freundin gegenüber und erzähle ihr mit leuchtenden Augen von meiner Arbeit für Amnesty International, »meiner« Organisation, die in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag feiert. Von politischen Gefangenen berichte ich, die verhaftet, gefoltert und misshandelt werden, nur weil sie von ihrem Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht hatten, von unfairen Gerichtsverfahren, von Folter und Todesurteilen. Ich spreche über Frauenrechte im Nahen Osten, Müttersterblichkeit und das Recht auf Wohnen in Afrika, über die vielerorts mit Füßen getretene Würde des Menschen, für die wir uns bei Amnesty seit Jahren beharrlich einsetzen. Meine Freundin hört gebannt zu und sagt schließlich: »Du erfährst also tagtäglich etwas über schreiende Ungerechtigkeit und eklatante Grausamkeiten, liest Berichte über das Leid der Menschen in so vielen Ländern der Welt. Bist du denn noch nicht verzweifelt? Warum tust du dir das an? Wie hältst du das aus? Warum machst du das?« Was für Fragen! Ich halte kurz inne. Dann denke ich zurück an einen eisigen Winterabend vor über dreißig Jahren. Mein Mann war auf Dienstreise, unsere Kinder noch nicht auf der Welt, und ich saß ganz alleine zu Hause vor dem Fernseher. »Amnesty International – Portrait einer Organisation« hieß der Dokumentarfilm, den ich mit wachsendem Interesse ansah. Ich bewunderte die vielen engagierten Menschen, die in dem Beitrag zu Wort kamen und über ihren Einsatz für die Menschenrechte sprachen. Und dann traf es mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Unvermittelt wurde eine Sequenz eingespielt, die mir seit damals unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt ist: In einem namenlosen afrikanischen Staat wurden vier an Händen und Füßen gefesselte junge Männer über einen Strand geschleift. Ein Blick in ihre verzweifelten Gesichter ließ keinen Zweifel zu: Das waren Todeskandidaten. Die Delinquenten wurden brutal an Holzpfähle gefesselt und anschließend von einem Exekutionskommando erschossen, einfach so, ohne Umschweife. Ich war zunächst schockiert, dann tieftraurig und schließlich wurde ich zornig und wild vor Wut. Was maßen sich die Mächtigen dieser Erde eigentlich an? Warum dürfen Menschen andere Menschen im Namen des Staates töten? Kann man denn als Einzelner dagegen vorgehen? Der Fernsehfilm gab mir den entscheidenden Hinweis: Ja, man kann. Als Mitglied von Amnesty, als Teil dieser rührigen, internationalen Bewegung könnte ich dazu beitragen, dass dieser Horror eines Tages ein Ende findet. Nach einer schlaflosen Nacht rief ich am nächsten Morgen bei Amnesty an und ließ mir die Kontaktadresse einer Gruppe in meiner Nähe geben. Zwei Wochen später war ich aktives Mitglied. Seither habe ich unzählige Briefe, Postkarten, Faxe und später auch E-Mails an die Machthaber dieser Welt verfasst und auf den Weg gebracht. Ich bin an vielen Info-Ständen in den Fußgängerzonen meiner Wohnorte gestanden, habe mit Passanten oft heiß diskutiert und Unterschriften für Petitionen gesammelt. Ich habe Schulen und Universitäten besucht und ver-
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sucht, junge Leute – und manchmal auch ihre Lehrkräfte – davon zu überzeugen, wie wichtig Menschenrechte sind. Als Länderkoordinatorin für die Golfstaaten bekomme ich immer noch fast täglich Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen, über Todesurteile und Hinrichtungen auf den Schreibtisch. Aber ich weiß jetzt, dass es da draußen ganz viele Menschen wie mich gibt, die bei einer Eilaktion sofort reagieren und mit ihrer Stimme schon manches Leben gerettet haben. Seit langem arbeite ich voller Überzeugung für die Beachtung aller Menschenrechte. Die weltweite Abschaffung der Todesstrafe ist und bleibt für mich jedoch eine Herzensangelegenheit. Mein trauriges Erlebnis an jenem kalten Winterabend vor langer Zeit klingt noch immer in mir nach. Wie ich das aushalte? Warum ich das mache? Immer noch, nach so langer Zeit? Ja, es stimmt. Manchmal kommen einem auch nach 30 Jahren noch die Tränen, wenn man von misshandelten, gefolterten und getöteten Männern, Frauen und Kindern lesen muss, wenn immer neue perfide Foltermethoden beschrieben werden, wenn die Hinrichtungen in China einfach nicht weniger werden. Aber es gibt auch viele schöne Momente bei der Arbeit für Amnesty. Da treffen Briefe ein, die Gefangene an »ihre« Gruppen schreiben und in denen sie berichten, dass es ihnen viel besser geht, seitdem sie wissen, dass da draußen jemand ist, der sich um sie kümmert. Darum mache ich das. Die Nachricht, dass ein Todeskandidat begnadigt worden ist, nachdem weltweit unzählige Menschen Briefe und E-Mails geschrieben haben, bringt uns immer wieder zum Jubeln. Jeder Staat der Erde, der die Todesstrafe per Gesetz abschafft, bedeutet einen Etappensieg für uns. Bedauerlicherweise gibt es die Todesstrafe noch immer, doch mittlerweile sind die Staaten, die keine Todesurteile mehr aussprechen oder vollstrecken, in der Mehrheit – und dieser Trend setzt sich seit Jahren fort. Es gibt Licht am Horizont. Darum mache ich das. Die schönste Belohnung für unsere Arbeit aber ist es, einen ehemaligen Gefangenen persönlich in Freiheit zu treffen, in seine Augen zu sehen, seine Hand zu schütteln und dabei so viel Wärme und Dankbarkeit zu erfahren, dass einem ganz schwindelig wird vor Glück. Wer dieses Privileg jemals erfahren durfte, wird mich verstehen. Darum mache ich das. Ja, ich halte es auch weiterhin aus bei Amnesty International, als ein kleines Rädchen in einer großartigen internationalen Bewegung, die in diesem Tagen 50 Jahre alt wird und die immer noch – und leider mehr denn je – gebraucht wird. Wir werden der Welt auch in Zukunft ins Gewissen reden, für diejenigen sprechen, die man in ihren Heimatländern mundtot macht, uns für die Entrechteten und Schwachen einsetzen, unser Möglichstes tun, um Leben zu retten und den Menschen überall auf der Erde ein wenig mehr Würde zu geben. Natürlich werden wir 2011 unser Jubiläum gebührend feiern. Unser größter Geburtstagswunsch ist allerdings, dass wir irgendwann einmal nicht mehr gebraucht werden, in einer Welt nämlich, in der alle Menschen in den Genuss der Menschenrechte kommen. Eine wunderschöne Vision, die uns immer wieder neue Kraft für unsere bisweilen schwierige Arbeit gibt. Bis dahin gibt es allerdings noch viel zu tun. Ich bin dabei. Happy Birthday Amnesty!
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Foto: Katja Tähjä
AKTIV FÜR AMNESTY
»Dein Brief kann leben retten.« Eine Aktivistin in Finnland schreibt für die chinesische Menschenrechtlerin Mao Hengfeng.
eInfaCH wIrKunGsVoll Beim Amnesty-Briefmarathon 2010 wurden weltweit über 350.000 Briefe, Postkarten und E-Mails verschickt. Ob in marokkanischen Schulen, südkoreanischen Bibliotheken, finnischen Universitäten oder Internetcafés in Burkina Faso – überall auf der Welt schreiben Menschen jedes Jahr zum Tag der Menschenrechte unzählige Appelle zugunsten von Menschen in Gefahr und schicken sie an die verantwortlichen Regierungen. Auch im vergangenen Jahr haben sich wieder Menschen in über 50 Ländern am Amnesty-Briefmarathon beteiligt und sich gemeinsam für Opfer von Menschenrechtsverletzungen eingesetzt. Als Anja aus Berlin von der Aktion erfuhr, hat sie nicht lange überlegt, sondern direkt zum Stift gegriffen und einen Brief für Norma Cruz geschrieben. Die Menschenrechtlerin aus Guatemala erhält immer wieder Morddrohungen, weil sie sich gegen Gewalt an Frauen einsetzt. »Ich finde den Briefmarathon sehr sinnvoll, denn jedes einzelne Appellschreiben stellt für die Betroffenen ein Zeichen der Solidarität dar und signalisiert ihnen, dass man sie nicht vergisst und ihrem Schicksal überlässt«, sagt die Studentin, nachdem sie ihren Brief an die guatemaltekische Regierung abgeschickt hat. Das Konzept ist so einfach wie wirkungsvoll: Durch den weltweit koordinierten Massenprotest sollen Menschenrechtsverletzungen ins Licht der Öffentlichkeit gerückt und die verantwortlichen Regierungen damit unter Druck gesetzt werden, ihre Haltung zu ändern. Dass solche Briefaktionen durchaus sehr effektiv sind, zeigt das Beispiel der Urgent Actions, die statistisch gesehen in jedem dritten Fall zu konkreten Verbesserungen für die Betroffenen führen. Die Idee für den Briefmarathon stammt ursprünglich aus Polen. Im Jahr 2001 schrieben Mitglieder einer Warschauer
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Amnesty-Gruppe am Tag der Menschenrechte gemeinsam innerhalb von 24 Stunden mehr als 1.000 Briefe zugunsten gewaltloser politischer Gefangener. Amnesty-Sektionen aus anderen Ländern wurden auf die Idee aufmerksam und übernahmen sie. Seitdem ist die Anzahl der weltweit verschickten Appelle rasant gestiegen. 2010 wurden innerhalb einer Woche weltweit mehr als 350.000 Briefe, Postkarten, E-Mails, Faxe und SMS geschrieben. Rund 19.000 davon wurden aus Deutschland verschickt. Unter dem Motto »Dein Brief kann Leben retten« beteiligten sich Amnesty-Gruppen aus der ganzen Bundesrepublik an der Aktion und konnten unzählige Menschen mobilisieren, sich mit ihrer Unterschrift für Norma Cruz und andere Opfer von Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Besonders erfolgreich waren dabei die Gruppen aus Bad Mergentheim und Magdeburg, die jeweils rund 1.000 Briefe verschicken konnten. Erstmals bestand die Möglichkeit, seine Appelle online zu verfassen. Dafür wurde für den Zeitraum der Aktion eigens eine interaktive Website eingerichtet, auf der die Unterstützer ihre Briefe schreiben, individuell gestalten und direkt per E-Mail an die verantwortliche Regierung verschicken konnten. Mehr als 3.000 Appelle wurden auf diese Weise verfasst und abgeschickt. Dass sich der Einsatz gelohnt hat, zeigt der Fall von Femi Peters. Der gambische Oppositionspolitiker war im April vergangenen Jahres zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt worden, weil er eine friedliche Demonstration organisiert hatte. Tausende Unterstützer hatten im Rahmen des Briefmarathons seine Freilassung gefordert. Und tatsächlich: Am 14. Dezember wurde bekannt, dass Peters vorzeitig aus der Haft entlassen wurde. Text: Christopher Schwarzkopf
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Im GedenKen an den preIsträGer
monIKa lÜKe Über
oslo Sein Stuhl blieb leer. Liu Xiaobo, Friedensnobel-
Zeichnung: Oliver Grajewski
GeburtstaGe
preisträger des Jahres 2010, wurde die Teilnahme an der Preisverleihung am 10. Dezember von den chinesischen Behörden verwehrt. Mehr als 1.200 Menschen gedachten seiner deshalb mit einem Fackelumzug durch die Osloer Innenstadt. Der Umzug startete vom Marktplatz »Youngstorget«, wo Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty eine Rede hielt, und führte bis vor das Grand Hotel. Dort wurde ein Porträt Lius auf die Fassade projiziert. In dem Hotel wird traditionell der Gewinner des Friedensnobelpreises untergebracht. »Er hat den Preis mehr als verdient und steht stellvertretend für all diejenigen, die sich in China für die Menschenrechte einsetzen«, sagte Dirk Pleiter, China-Experte von Amnesty International. Seit Sommer 2009 verbüßt Liu Xiaobo eine elfjährige Haftstrafe.
Geburtstage feiere ich immer gerne. Am wildesten war es, als ich 30 Jahre alt wurde. Damals lebte ich in Dresden in einer Fünfer-Wohngemeinschaft. Wir veranstalteten einen Wettbewerb – alle Freundinnen und Freunde sollten ihr Lieblingsessen mitbringen. Es war ein großer Erfolg, und in unserem turnhallengroßen Flur stapelten sich Köstlichkeiten. So gab es eingelegte Eier aus England, scharfes indisches Curry, Wackelpudding mit Wodka und klassischen rheinischen Kartoffelsalat mit Majo und Gürkchen.
Foto: Greg Rødland Buick
In guter Erinnerung ist mir auch noch mein 18. Geburtstag. Am Tag danach fanden Bundestagswahlen statt und ich war stolz, erstmals ein Kreuz auf dem Wahlzettel machen zu dürfen. An meinen 40. Geburtstag war ich in Kambodscha und eher besinnlich: Bei einem Stück Käsekuchen dachte ich über meine erste Lebenshälfte nach.
»Freiheit für den Gewinner.« Fackelumzug für Liu Xiaobo in Oslo.
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Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf www.amnesty.de/aktiv-vor-ort und www.amnesty.de/kalender
In diesem Jahr gibt es wieder einen Geburtstag, auf den ich mich sehr freue. Im Mai wird Amnesty International 50 Jahre alt. 1961 rief der Rechtsanwalt Peter Benenson in einem Zeitungsartikel dazu auf, sich für die Freilassung gewaltloser politischer Häftlinge einzusetzen. Zum 50. Jubiläum dieser großartigen Idee feiert Amnesty weltweit ein Fest der Menschenrechte. Wir laden jeden ein, sich an dieser Idee zu beteiligen. Jeder einzelne kann etwas tun: Briefe und E-Mails für Menschen in Gefahr schreiben, sich in einer AmnestyGruppe einbringen oder unsere Arbeit mit Spenden unterstützen. Dass es sich lohnt, haben die großen und kleinen Erfolge der vergangenen 50 Jahre gezeigt. Monika Lüke ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
Impressum Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn, Tel.: 0228 - 98 37 30, E-Mail: Info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Larissa Probst, Ralf Rebmann Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, María Cecilia Barbetta, Denis Beil, Marica Bodrožić, Martin Dlugosch, Tanja Dückers, Sara Fremberg, André Gottschalk, Wladimir Kaminer, Jürgen Kiontke, Maja Liebing, Irina Liebmann, Michaela Ludwig, Monika Lüke, Anna Catherin Loll, Murielle Mervielle, Herta Müller, Wera Reusch, Christian Rickerts, Uta von Schrenk, Christopher Schwarzkopf, Thomas Aue Sobol, Regina Spöttl, Susann Stefanizen, Imre Török, Maike Wetzel, Liu Xiaobo, Norbert Zähringer
Druck: Johler Norddruck GmbH, Gadelander Str. 77, 24539 Neumünster Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln, BLZ 370 205 00 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 1433-4356 | Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Recyclingpapier.
Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de
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GreIfen sIe eIn. mIt IHrer untersCHrIft. In vielen Teilen Afrikas gilt das Gesetz des Stärkeren. Gewalt wird willkürlich eingesetzt – von bewaffneten Gruppen wie von staatlichen Sicherheitskräften. Häufig wird niemand dafür zur Rechenschaft gezogen. Gegen solche Menschenrechtsverletzungen setzt sich Amnesty International ein. Mit gezielten Aktionen weltweit. Täter dürfen nicht straffrei ausgehen. Die Kette der Gewalt muss unterbrochen werden. Ihre Stimme hilft uns, öffentlichen Druck aufzubauen und Unrecht an den Pranger zu stellen. Unterstützen Sie uns. Mit Ihrer Unterschrift können Sie etwas verändern. www.amnesty.de/aktionen
Abs.: Amnesty International, Postfach, 53108 Bonn Postvertriebsstück · 1201 · Entgelt bezahlt
50 Jahre Amnesty International Götz Alsmann, Benno Fürmann, Herbert Grönemeyer, Nina Hoss, Michael Lentz, Ulrich Matthes, Katja Riemann, Charlotte Roche, Frank Schätzing, Maria Schrader, Cordula Stratmann, Roger Willemsen u.v.a. lesen Texte verfolgter Auroren. Musik: Max Herre, Klee u.a. 17.3.2011, 19.30 Uhr, LANXESS Arena, Köln
50 Jahre Amnesty International Götz Alsmann, Benno Fürmann, Herbert Grönemeyer, Nina Hoss, Michael Lentz, Ulrich Matthes, Katja Riemann, Charlotte Roche, Frank Schätzing, Maria Schrader, Cordula Stratmann, Roger Willemsen u.v.a. lesen Texte verfolgter Auroren. Musik: Max Herre, Klee u.a. 17.3.2011, 19.30 Uhr, LANXESS Arena, Köln
Illustration: André Gottschalk
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