Amnesty Journal August / September: "Krieg der Kinder"

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AMNESTY JOURNAL KRIEG DER KINDER KINDERSOLDATEN IN ZENTRALAFRIKA

HÄNDE HOCH! Für eine weltweite Kontrolle des Waffenhandels

WEM GEHÖRT DAS LAND? In Honduras kämpfen Bauern um ihre Rechte

THEATER IN ÄGYPTEN Revolution auf der Bühne

08/09

2012 AUGUST/ SEPTEMBER


Illustration: André Gottschalk

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Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals

Foto: Mark Bollhorst / Amnesty

EDITORIAL

MANCHE GELEGENHEITEN … … gibt es nur einmal im Leben. Der Waffenkontrollvertrag (Arms Trade Treaty), über den im Juli auf der UNO-Vollversammlung in New York verhandelt wurde, ist so eine historische Chance. Seit Jahren wirbt Amnesty für den Vertrag. Kurz bevor die Verhandlungen begannen, überreichte AmnestyGeneralsekretär Salil Shetty zusammen mit dem Bündnis »Control Arms« UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon eine Petition mit über einer halben Million Unterschriften. Über die Ergebnisse und die Folgen werden wir in der kommenden Ausgabe berichten. Einen Erfolg können wir dennoch schon jetzt feststellen: Ohne den Druck der internationalen Zivilgesellschaft wären diese Verhandlungen erst gar nicht zustande gekommen (siehe auch ab Seite 42 sowie Seite 64). Auch in einem anderen Fall fiel eine wichtige Entscheidung leider erst nach Redaktionsschluss: Seit Ende Februar sitzen drei Mitglieder der russischen Punkband »Pussy Riot« in Untersuchungshaft. Weil sie in der Erlöserkirche in Moskau ein »Punk-Gebet« gesungen hatten, wurden sie verhaftet und wegen Rowdytums angeklagt. Russland möge von dem seit mehr als zwölf Jahre regierenden Wladimir Putin erlöst werden, baten sie. Vertreter der orthodoxen Kirche fordern nun eine harte Strafe wegen Verletzung religiöser Gefühle. Künstler und Bürgerrechtler verurteilen das Verfahren als politisch motivierte »Hexenjagd«. Im Falle einer Verurteilung drohen den drei Frauen, die Amnesty International als gewaltlose politische Gefangene anerkannt hat, extrem harte Strafen: Sieben Jahre Haft, nur weil sie ein provokantes Lied gesungen haben. Ein Gericht hat jetzt zum wiederholten Male die Untersuchungshaft verlängert. Ende Juli wird sich vielleicht entscheiden, ob die Frauen weiterhin hinter Gittern bleiben müssen. Wir werden Sie informieren, wie es mit »Pussy Riot« weitergeht. Andere historische Ereignisse haben wir diesmal nur am Rande erwähnt: In Ägypten wurde ein neuer Präsident gewählt, in Libyen ein neues Parlament. Und in Syrien eskaliert der Bürgerkrieg, der mittlerweile auf den Libanon überzugreifen droht. Auch wenn die Entwicklung in den Ländern des Arabischen Frühlings alles andere als linear erfolgt, so zeugt sie doch von enormen gesellschaftlichen Veränderungen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Auch diesen Prozess werden wir selbstverständlich weiterhin genau verfolgen.

EDITORIAL

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INHALT

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Titelbild: Ein Kindersoldat der Rebellenarmee RUF an einem Checkpoint nahe der Stadt Lunsar in Sierra Leone, 1999. Foto: Sebastian Bolesch

THEMA 19 Wie werden Kinder zu Soldaten? Von Franziska Ulm

20 Totes Herz Mit etwa neun Jahren wurde Emmanuel Jal Kindersoldat im Süden Sudans. Heute ist er ein gefeierter Rap-Star und engagiert sich für Amnesty. Von Uta von Schrenk

22 Kleine Krieger

RUBRIKEN 06 Reaktionen 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: Rula Asad und Amer Mattar 15 Kolumne: Martin Krauß 61 Rezensionen: Bücher 62 Rezensionen: Film & Musik 64 Briefe gegen das Vergessen 66 Aktiv für Amnesty 67 Wolfgang Grenz über Urlaub

In Zentralafrika sind die gesellschaftlichen Strukturen durch Bürgerkriege und marodierende Milizen völlig zerrüttet. Kinder haben häufig keine andere Wahl, als sich bewaffneten Gruppen anzuschließen. Von Dominic Johnson

26 Waffen für alle Im Osten des Kongo tobt seit Jahrzehnten ein grausamer Krieg um wertvolle Bodenschätze, oft unter Einsatz von Kindersoldaten. Von Andrea Riethmüller

28 Gekommen, um zu bleiben Sie kommen aus dem Kongo, aus dem Sudan oder Ruanda und sind nach Uganda geflohen. Dort leben die Jugendlichen nun in gigantischen Lagern. Von Simone Schlindwein

34 »Jeden Tag können wir Kinder retten« Murhabazi Namegabe setzt sich im Kongo für ehemalige Kindersoldaten ein. Dank seines »Freiwilligenbüros für Kinder und Gesundheit« erhielten schon Tausende die Chance auf ein neues Leben.

Fotos oben: Kalpesh Lathigra | Anne Ackermann | Delmer Membreño | Gunnar Lüsch / MuTphoto

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BERICHTE

KULTUR

38 Kein Blut für Palmöl

52 Ein Freiraum von hundert Leuten

Für die Agrarunternehmer in der Region Bajo Aguán in Honduras geht es um große Geschäfte mit Palmöl und dem internationalen Emissionshandel. Den Preis dafür zahlen die Kleinbauern im Nordosten des Landes, wo der Konflikt um Land und Besitztitel eskaliert. Von Kathrin Zeiske

44 Es geht auch anders Der unkontrollierte Waffenhandel kostet in vielen afrikanischen Ländern nicht nur unzählige Opfer, sondern behindert auch eine nachhaltige Entwicklung. Von Wolfgang Grenz

46 »Gemeinsam sind wir stark« Ohne das ehrenamtliche Engagement von Mitgliedern, die zu einem bestimmten Land oder Thema arbeiten, würde Amnesty International nicht funktionieren. Einer von ihnen ist Mathias John aus Berlin. Von Daniel Kreuz

48 Mit gutem Gewissen Der ägyptische Aktivist Maikel Nabil Sanad kämpft gegen den Einfluss des Militärs und für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in seinem Land. Bei den nächsten Parlamentswahlen will er als Kandidat antreten. Von Ralf Rebmann

INHALT

Die alternative Theaterszene in Ägypten schwankt zwischen Euphorie und Resignation. Die Revolution steckt fest, freie Meinung auf der Bühne ist nur in kleinen Off-Theatern möglich. Von Georg Kasch

56 Hacken für den guten Zweck Vom handgeschriebenen Brief zur Smartphone-App: Amnesty International hat ein Pilotprojekt gestartet, um Aktivisten und Menschenrechtler mithilfe digitaler Technologien zu unterstützen. Von Ralf Rebmann

58 Kollektives Trauma Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial ermöglicht mit der Dokumentation »Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956« zum ersten Mal Einsicht in das komplexe Lagersystem des Stalinismus. Von Lena Schiefler

60 Quälen mit System Wo? Wer? Wie? Was dagegen tun? Mit »Folter« legt Manfred Nowak, der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter über Folter, einen hellsichtigen Überblick seiner sechsjährigen Arbeit vor. Von Maik Söhler

63 Ein freies Wort Die Sängerin Emel Mathlouthi wurde 2011 zur Stimme des tunesischen Aufstands. Nun ist mit »Kelmti Horra« ein Album ihrer Protestlieder erschienen. Von Daniel Bax

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GUATEMALA

ASERBAIDSCHAN

RUSSLAND

Ihr Einsatz gegen ein Minenprojekt hat Yolanda Oquelí fast das Leben gekostet. Die Aktivistin wurde im Juni von zwei Männern niedergeschossen und ernsthaft verletzt, nachdem die Vorsitzende der Organisation FRENAM zuvor an Protesten gegen eine Mine im Gebiet San José del Golfo teilgenommen hatte. Aktivisten und betroffene Gemeinden befürchten, dass es durch den Betrieb der Mine zur Verschmutzung des Grundwassers kommt. Amnesty International hat die Behörden dringend aufgefordert, eine unabhängige Untersuchung im Fall von Yolanda Oquelí durchzuführen und sie und ihre Familie ausreichend zu schützen.

Neun Demonstrierende, die im vergangenen Jahr friedliche regierungskritische Proteste organisiert hatten und dafür in Haft kamen, wurden Ende Juni entlassen. Amnesty International begrüßte die Entscheidung, kritisierte jedoch die anhaltende Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Aserbaidschan. »Die Demonstrierenden hätten nie inhaftiert werden dürfen«, sagte John Dahlhuisen, Leiter der Abteilung für Europa und Zentralasien von Amnesty International. Amnesty fordert, dass weitere, offensichtlich politisch motivierte Anklagen gegen Journalisten, Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger fallen gelassen werden.

Amnesty International protestiert scharf gegen einen neuen Gesetzentwurf in Russland, der im Juli in erster Lesung in der Duma behandelt wurde. Nichtregierungsorganisationen, die als »politisch arbeitend« eingestuft werden und finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, müssten sich in Zukunft als »ausländische Agenten« registrieren lassen. Sollte das Gesetz in Kraft treten, unterlägen die Organisationen einer Vielzahl zusätzlicher Berichtspflichten und Kontrollen. Für Verstöße sind erstmals auch strafrechtliche Verantwortlichkeiten der Organisationsleitungen vorgesehen.

Ausgewählte Ereignisse vom 28. Mai 2012 bis 14. Juli 2012.

ÄTHIOPIEN Als »schwarzen Tag für die Meinungsfreiheit« hat Amnesty International die Verurteilung mehrerer Oppositioneller bezeichnet, die sich wegen »terroristischer Akte« und »Hochverrats« verantworten müssen. Unter ihnen befinden sich unter anderem der prominente Journalist Eskinder Nega, der zu 18 Jahren Haft verurteilt wurde, sowie die Oppositionspolitiker Andualem Arage and Nathanael Mekonnen. Amnesty International hat das Urteil scharf kritisiert und die bedingungslose Freilassung der Männer gefordert. Sie seien lediglich verurteilt worden, weil sie von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht hätten.

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KUWAIT Zehn Jahre Haft für wenige Zeilen Kritik: Hamad al-Naqi, Anhänger der schiitischen Minderheit in Kuwait, wurde zu zehn Jahren Gefängnis inklusive Zwangsarbeit verurteilt, weil er über den Kurznachrichtendienst Twitter die Regierung kritisiert und den Islam »beleidigt« haben soll. »Kritik an der Religion ist von der Meinungsfreiheit geschützt und darf nicht kriminalisiert werden«, sagte Ann Harrison, stellvertretende Leiterin der Abteilung Mittlerer und Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty. Amnesty sieht Hamad al-Naqi als gewaltlosen politischen Gefangenen und hat seine sofortige Freilassung gefordert.

CHINA Mehr als drei Jahre sind seit der gewaltsamen Niederschlagung einer Demonstration in der chinesischen Stadt Urumqi vergangen. Von Dutzenden, wenn nicht Hunderten Personen, die der ethnischen Minderheit der Uiguren angehören und während der Proteste festgenommen wurden, fehlt bis heute jede Spur. Familien, die auf der Suche nach ihren Angehörigen an die Öffentlichkeit gingen, wurden von den chinesischen Behörden eingeschüchtert, festgenommen und bedroht. Amnesty International hat die Behörden aufgefordert, die Schikanierung dieser Familien zu beenden und den Aufenthaltsort der vermissten Personen bekannt zu geben.

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2012


Foto: maxwell photography

ERFOLGE

Hoffnungsträgerin. Aung San Suu Kyi in Dublin am 18. Juni 2012.

»IHR HABT MIR DIE KRAFT GEGEBEN« Lange musste sie auf diesen Moment warten. Aung San Suu Kyi, Oppositionspolitikerin und Friedensnobelpreisträgerin, hat im Juni 2012 erstmals seit mehr als 24 Jahren ihr Heimatland Myanmar verlassen und ist nach Europa gereist. Suu Kyi, in Myanmar auch ehrenvoll »Daw Suu« genannt, ist Vorsitzende der Oppositionspartei Nationale Liga für Demokratie (NLD) und gilt als Hoffnungsträgerin für einen demokratischen Wandel in Myanmar. Auf ihrer Europareise nahm sie in Oslo den Friedensnobelpreis und in Dublin die Auszeichnung »Botschafterin des Gewissens« von Amnesty International entgegen. Bei der Preisverleihung in Dublin war die Politikerin, die insgesamt 15 Jahre unter Hausarrest stand, sichtlich bewegt. »Ihr habt mir die

IRLAND / NORWEGEN

RECHTE FÜR JUGENDLICHE STRAFTÄTER GESTÄRKT

USA Sie bekommen eine neue Chance: Minderjährige Straftäter dürfen nicht mehr ohne die vorherige Prüfung mildernder Umstände zu einer lebenslangen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt werden. Das hat der Oberste Gerichtshof in den USA Ende Juni entschieden. Die Richter wiesen darauf hin, dass die bisherige Rechtspraxis verfassungswidrig sei und gegen das Verbot von »grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung« verstoße. Hintergrund des Urteils waren die Fälle zweier Jugendlicher, die wegen Mordes und Beteiligung an einem Mord eine lebenslange Haftstrafe erhielten. Die Richter führten aus, dass der »Mangel an Reife und Verantwortungsgefühl« bei Kindern eine Rolle in der Urteilsfindung

ERFOLGE

Kraft gegeben, weiterzumachen«, sagte Suu Kyi. Ihr sei nicht bewusst gewesen, wie viele Menschen sich für sie und ihre Mitstreiter eingesetzt hätten. »Wir hoffen, dass ihr in den kommenden Jahren an unserer Seite bleibt«, sagte sie am Ende ihrer Rede. Angesichts der jüngsten Reformen zeigte sich die Oppositionsführerin »vorsichtig optimistisch«, warnte aber vor blindem Vertrauen. Ende 2010 fanden in Myanmar die ersten demokratischen Wahlen seit Jahrzehnten statt. Unter der neuen zivilen Regierung wurden zwischenzeitlich eine Reihe politischer und wirtschaftlicher Reformen eingeleitet. Dennoch sitzen weiterhin Hunderte politische Gefangene in Haft, ethnische Minderheiten werden Opfer von Zwangsräumungen und willkürlicher Gewalt.

spielen müsse. Mehrere Bundesstaaten müssen nun ihre Gesetzgebung ändern. Derzeit verbüßen rund 2.500 Personen, die beim Tatzeitpunkt minderjährig waren, eine lebenslange Haftstrafe ohne die Chance auf eine vorzeitige Entlassung. Amnesty International begrüßte das Urteil als »willkommenen Schritt« auf dem Weg zur vollständigen Anerkennung internationaler Standards für die Rechte von Kindern in den USA. Die UNO-Kinderrechtskonvention verbietet es, minderjährige Straftäter zu einer lebenslangen Haftstrafe ohne die Möglichkeit auf Bewährung zu verurteilen. Die USA sind neben Somalia das einzige Land weltweit, das die Konvention noch nicht ratifiziert hat.

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Foto: EG Justice

Verurteilt trotz fehlender Beweise. Dr. Wenceslao Mansogo bei einem Treffen des UNO-Menschenrechtsrats in Genf 2010.

AKTIVISMUS ALS VERGEHEN Der Menschenrechtsaktivist Dr. Wenceslao Mansogo Alo ist frei – begnadigt vom Präsidenten Äquatorialguineas. Mansogo bleibt damit von einer dreijährigen Haftstrafe verschont. Das gegen ihn verhängte Berufsverbot wurde jedoch aufrechterhalten. Eine Amnestie ermöglichte ihm die Freiheit. Nach fast vier Monaten im Gefängnis wurde der bekannte Arzt und Aktivist Dr. Wenceslao Mansogo Alo im Juni entlassen. Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen hatten sich für ihn eingesetzt. »Er ist sehr dankbar für die Unterstützung von Amnesty«, sagt Marisé Castro, Expertin für Äquatorialguinea bei Amnesty International. »Für ihn war es sehr wichtig, zu wissen, dass sich so viele Menschen um ihn sorgen und seine Befreiung gefordert haben.« Als prominentes Mitglied und Menschenrechtsbeauftragter der in Äquatorialguinea einzigen verbliebenen Oppositionspartei, Convergencia para la Democracia Social (CPDS), prangert Mansogo seit Jahren Missstände an. Willkürliche Festnahmen sowie die Verletzung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind in dem kleinen zentralafrikanischen Staat an der Tagesordnung. Oppositionelle werden schikaniert und eingeschüchtert – wie der Familienvater selbst mehrfach erfahren musste. Die Umstände, die zu seiner Festnahme und späteren Verurteilung führten, lassen darauf schließen, dass sein politisches Engagement Grund für das Vorgehen der Behörden war. Ohne Anklage oder Beweise wurde Mansogo, der als Gynäkologe arbeit, am 9. Februar 2012 festgenommen. Zuvor hatte er den Tod einer Patientin bei der Polizei gemeldet, die während einer Operation in seiner Privatklinik einem Herzinfarkt erlegen war. Die Familie der Verstorbenen beschuldigte den Arzt,

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die Leiche verstümmelt zu haben. Ein Vorwurf, der durch zwei medizinische Untersuchungen widerlegt wurde. Zwar bestätigten beide Gutachten einen Herzinfarkt als Todesursache. Jedoch unterstellte eines der Gutachten, welches vom Gesundheitsminister des Landes ausgestellt worden war, dass der Herzinfarkt Folge einer fehlerhaften Narkose gewesen sei. Obwohl Mansogo nicht für die Narkose verantwortlich war, wurde er wenige Tage später in Haft genommen. Den Folgemonat über saß er ohne Anklage im Gefängnis. Erst im März folgte die Anklage wegen Verletzung seiner beruflichen Sorgfaltspflicht. Der ursprüngliche Vorwurf der Schändung der Leiche, der zu seiner Verhaftung geführt hatte, wurde fallengelassen. Trotz fehlender Beweise wurde er drei Monate nach seiner Festnahme zu drei Jahren Haft verurteilt sowie zur Zahlung zweier Geldstrafen. Weiter erhielt er ein Berufsverbot von fünf Jahren und seine Klinik soll geschlossen werden. Der Präsident Äquatorialguineas, Teodoro Obiang Nguema Mbasago, begnadigte Mansogo schließlich am 4. Juni neben weiteren Gefangenen. Die Macht des Präsidenten über das Justizsystem ist beispielhaft für den korrupten Behördenapparat in dem Land. »Die Behörden müssen ihre Verfassung und Gesetze respektieren«, fordert Castro. »Und sie müssen endlich aufhören, die Grundrechte der Menschen zu unterdrücken.« Zwar blieb Mansogo von seiner dreijährigen Haftstrafe verschont, die Geldstrafen und sein Berufsverbot wurden jedoch nicht zurückgenommen. Seine Anwälte sind bereits in Berufung gegangen. Wenceslao Mansogo will nicht aufgeben und bald seine Arbeit wieder aufnehmen. Text: Jessica Will

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2012


EINSATZ MIT ERFOLG Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

den Zusammenstößen beteiligt. Das geplante Stahlwerk ist das bislang größte ausländische Investitionsvorhaben in Indien. Amnesty glaubt, dass die Vorwürfe gegen Reddy und andere Aktivisten fingiert sind, um sie von ihrer Kampagne abzubringen.

KAMBODSCHA Sie haben gegen den Abriss ihrer Wohnungen protestiert und kamen dafür ins Gefängnis. Dreizehn kambodschanische Frauen, die wegen ihres Widerstands gegen die drohende Vertreibung von ihrem Land am Boeung Kak See in Phnom Penh im Gefängnis saßen, sind wieder frei. Ein kambodschanisches Gericht hat Ende Juni die Freilassung der Frauen angeordnet, die einen Monat zuvor von einem lokalen Gericht zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden waren. Amnesty International hatte sich im Rahmen einer Briefaktion für die Frauen eingesetzt und den Prozess gegen sie als »unfair« kritisiert. Die Anklage gegen die Aktivistinnen wurde jedoch nicht fallen gelassen, sodass sie bei weiteren Protesten gegen die Räumung jederzeit befürchten müssen, wieder inhaftiert zu werden. Von der Zwangsräumung sind Tausende Familien betroffen, die am Ufer des Sees leben.

Foto: privat

13 AKTIVISTINNEN FREIGELASSEN

Kritischer Journalist. Faisal Mohammed Salih.

JOURNALIST VORERST AUSSER GEFAHR

SUDAN Wegen seiner Arbeit wird er regelmäßig von den sudanesischen Behörden schikaniert. Faisal Mohammed Salih arbeitet als Journalist und leitet außerdem die Nichtregierungsorganisation Teeba Press, welche Journalisten ausbildet. Zuletzt war er angeklagt, weil er einer Aufforderung des sudanesischen Geheimdienstes NSS nicht nachgekommen war, der ihn angeblich befragen wollte. Damit habe er sich »einer Anordnung eines öffentlichen Bediensteten« widersetzt. Ende Mai sprach ihn schließlich ein Gericht von dieser Anklage frei. Gegen Faisal Mohammed Salih sind jedoch noch weitere Klagen anhängig, die in Zusammenhang mit seiner Arbeit als Journalist stehen. So wird er beschuldigt, mit einem Artikel über die Vergewaltigung der Aktivistin Safia Ishaag das Ansehen des Geheimdienstes ruiniert zu haben. Amnesty International wird den weiteren Verlauf der Verfahren gegen Faisal Mohammed Salih beobachten.

AKTIVIST IN FREIHEIT

Fünf Monate musste er in Haft verbringen, dann wurde Narayan Reddy gegen Kaution freigelassen. Der Aktivist ist ein führender Vertreter der Kommunistischen Partei Indiens im Bundesstaat Orissa und engagiert sich gegen die Enteignung von Gemeindeland, auf dem das südkoreanische Unternehmen POSCO ein Stahlwerk errichten will. Narayan Reddy wurde im Dezember 2011 festgenommen und wegen Mordes angeklagt, nachdem es bei Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern des Stahlwerks und Aktivisten zu einem Todesfall gekommen war. Nach Informationen von Amnesty International war Narayan Reddy nicht unmittelbar an

Foto: Free the 15!

INDIEN

Freigelassene Aktivistin. Tep Vanny.

ERFOLGE

KEINE TODESSTRAFE FÜR DROGENSCHMUGGEL

SINGAPUR Amnesty International hat Pläne der Regierung in Singapur begrüßt, die obligatorische Todesstrafe bei Drogenschmuggel und Mord abzuschaffen. Bis die entsprechenden Gesetzesänderungen vom Parlament verabschiedet werden, gilt ein Hinrichtungsstopp. Obligatorische Todesurteile sind unter internationalem Recht verboten, weil sie eine Form grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung darstellen. Gerichte weltweit haben diese Form der Strafe als verfassungswidrig bezeichnet. Die obligatorische Todesstrafe verhindert, dass mildernde Umstände oder die Einschätzung des Richters in die Urteilsfindung mit einbezogen werden können. Amnesty International lehnt jegliche Anwendung der Todesstrafe ab.

KEINE STEINIGUNG

SUDAN Die 20-jährige Intisar Sharif Abdallah war wegen »Ehebruchs« zum Tod durch Steinigung verurteilt worden. Anfang Juli hat nun ein Gericht in Omdurman, einem Vorort der sudanesischen Hauptstadt Khartoum, das Urteil aufgehoben und Intisar Sharif Abdallah aus Mangel an Beweisen von allen Vorwürfen freigesprochen. Intisar Sharif Abdallah hatte anfänglich auf nicht schuldig plädiert, sich jedoch bei einer späteren Anhörung schuldig bekannt. Kurz zuvor soll sie von ihrem Bruder geschlagen worden sein. Während des Gerichtsverfahrens wurden ihr weder ein Rechtsbeistand noch ein Dolmetscher zur Seite gestellt. Intisar Sharif Abdallah hat drei Kinder und wurde mit ihrem jüngsten Sohn, der gerade einmal vier Monate alt ist, in Gewahrsam gehalten. Amnesty International hat die sudanesischen Behörden aufgefordert, einen allgemeinen Hinrichtungsstopp zu erlassen, um damit einen Schritt in Richtung Abschaffung der Todesstrafe zu machen.

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Foto: Mohammed Salem / Reuters

NACHRICHTEN

Ernüchterndes Bild ein Jahr nach der Revolution. Anhänger von Gaddafi in einem Gefängnis in Tripolis, November 2011.

WEGWEISENDE ENTSCHEIDUNGEN Nach den ersten freien Wahlen in Libyen, die Anfang Juli stattfanden, sieht Amnesty International das Land vor wegweisenden Entscheidungen: Die Gewinner der Wahlen müssen alles daran setzen, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen. Andernfalls droht eine Wiederholung der Missbräuche, die zur »Revolution des 17. Februars« geführt haben. In einem neuen Bericht dokumentiert Amnesty, dass in weiten Teilen des Landes Milizen über Recht und Gesetz stehen und für weitreichende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.

LIBYEN

MEHR SCHUTZ IM MITTELMEER

EUROPÄISCHE UNION Amnesty hat die EUMitgliedsstaaten aufgefordert, mehr zum Schutz von Flüchtlingen zu unternehmen. Mindestens 1.500 Männer, Frauen und Kinder seien im vergangenen Jahr auf ihrer Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken, heißt es in einem AmnestyBericht zum Flüchtlingsschutz. »Europa muss seiner Verantwortung für Flüchtlinge in Seenot endlich gerecht

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Amnesty hat im Mai und Juni 2012 eine Untersuchungsmission in Libyen durchgeführt. Fast ein Jahr nachdem Tripolis an die revolutionären Kämpfer gefallen ist, zeigt sich ein ernüchterndes Bild: Im ganzen Land agieren Hunderte von Milizen außerhalb jeglicher rechtsstaatlicher Kontrolle; viele widersetzen sich einer Entwaffnung oder Integration in die nationalen Sicherheitskräfte. Trotz einiger Fortschritte, die Gefängnisse unter zentrale Kontrolle zu stellen, sind willkürliche Verhaftungen durch die zahlreichen Milizen nach wie vor an der Tagesordnung. Amnesty geht davon aus,

dass rund 4.000 Personen in inoffiziellen Hafteinrichtungen festgehalten werden. Einige der Häftlinge werden seit über einem Jahr ohne Anklage oder Prozess festgehalten. In zwölf der 15 von Amnesty besuchten Hafteinrichtungen berichteten Häftlinge von regelmäßigen Misshandlungen bis hin zu Folter. Die Menschenrechtsorganisation hat detaillierte Kenntnis von mindestens 20 Fällen, in denen die Folter zum Tod geführt hat. Die bisherige Übergangsregierung hat die systematischen Übergriffe der Milizen verharmlost. Diese bleiben denn auch fast vollständig straflos.

werden«, forderte die Amnesty-Asylpolitikexpertin Franziska Vilmar. Die Mitgliedsstaaten und EU-Institutionen müssten »alle nötigen Maßnahmen bei der Seenotrettung« treffen, »um dem Sterben im Mittelmeer ein Ende zu bereiten«. Amnesty kritisierte insbesondere das neue Migrationsabkommen zwischen Italien und Libyen. Dadurch bestehe die Gefahr, dass Italien weiterhin Menschen

ohne Überprüfung ihres Flüchtlingsstatus auf hoher See aufgreife und sie nach Libyen zurückschicke. Dort riskierten die Flüchtlinge, in ihre Heimatländer abgeschoben zu werden, wo ihnen Folter oder Misshandlung drohten. »Diese Maßnahmen führen dazu, dass Flüchtlinge schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt«, erklärte Vilmar.

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2012


Foto: Ralf Rebmann / Amnesty

Amer Mattar, 23, und Rula Asad, 28, sind Journalisten und Aktivisten aus Damaskus. In Syrien haben sie unter anderem für die Zeitungen »Al-Hayat« und »Syria Today« gearbeitet. Im vergangenen Jahr kritisch über die Lage von Dürreflüchtlingen berichtet und sich für sie eingesetzt. Amer Mattar wurde infolgedessen zweimal inhaftiert und gefoltert. Derzeit ist er Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung im HeinrichBöll-Haus Langenbroich. Rula Asads Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung endete im Juni. Sie lebt jetzt in den Niederlanden.

INTERVIEW

RULA ASAD UND AMER MATTAR

»ES IST WIE EIN THEATERSTÜCK« In Syrien kämpfen Regierung und Opposition um die Meinungshoheit in einem Konflikt, der bereits mehr als 14.000 Menschenleben gefordert hat. Ein Gespräch mit den syrischen Journalisten und Aktivisten Rula Asad und Amer Mattar. Sie sind schon seit einigen Monaten in Deutschland. Wie informieren Sie sich über die Ereignisse in Syrien? Rula Asad: Über verschiedene Nachrichtenseiten im Internet, Fernsehen und vor allem Facebook. Das Netzwerk ist für uns die primäre Informationsquelle. Wir nutzen es, um uns mit Freunden auszutauschen, die noch in Syrien sind. Ihre Informationen sind für uns im Zweifel glaubwürdiger als die der herkömmlichen Medien. Um Informationen sicher aus dem Land zu bringen, nutzen sie Proxy-Server und andere Hilfsmittel. Es befinden sich auch ausländische Journalisten in Syrien. Wie unabhängig ist deren Berichterstattung? Amer Mattar: In Syrien ist die Situation für ausländische Journalisten sehr kompliziert. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie sie in das Land kommen. Entweder sie schaffen es, heimlich einzureisen oder sie erhalten die offizielle Erlaubnis vom Regime. In diesem Fall können sich die Journalisten nicht frei bewegen. Das Regime sagt ihnen, was sie berichten dürfen und was nicht. Aber auch Journalisten, die illegal eingereist sind, können sich nur eingeschränkt bewegen. Welche Rolle spielen Aktivisten und Bürgerjournalisten in Syrien? Amer Mattar: Ohne sie wäre es nicht möglich, der Welt zu zeigen, was sich in dem Land wirklich abspielt. Professionelle Journalisten können nicht an jedem Ort in Syrien sein, wo eine Demonstration stattfindet. Zumal sie ja auch daran gehindert werden, sich frei zu bewegen. Bürgerjournalisten haben ihre Rolle in gewisser Weise übernommen. Für die syrische Revolution spielen sie eine zentrale Rolle.

NACHRICHTEN

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INTERVIEW

Ist es möglich, innerhalb von Syrien über die Gewalt zu berichten? Rula Asad: Von staatlicher Seite aus hört man nur, dass die nationale Armee nie die eigene Bevölkerung töten würde, sondern bewaffnete Gruppen von außerhalb dafür verantwortlich wären. Außerdem wurde verbreitet, dass die Regierung einen freien Dialog mit der Opposition beginnen und Reformen anschieben würde. Doch in Wahrheit werden Oppositionelle in Syrien verhaftet oder getötet. Es ist wie ein Theaterstück und die Bevölkerung glaubt daran. Amer Mattar: Innerhalb Syriens ist es unmöglich, etwas Kritisches zu schreiben und das zu publizieren. Menschen werden dafür inhaftiert und getötet. Es gibt nur wenige Autoren, die es schaffen, kritische Artikel im Ausland zu veröffentlichen. Wie viel Rückhalt haben die syrische Regierung und Bashar al-Assad in der Bevölkerung? Amer Mattar: Viele halten ihn für den falschen Präsidenten, sind aber trotzdem für das Regime. Sie haben das Gefühl, dass es im Moment keine Alternative gibt. Außerdem glaubt ein Teil der Bevölkerung an Verschwörungstheorien, die mit Israel, den USA oder der Türkei zu tun haben und viele Gründe dafür liefern, zum Regime zu halten. Rula Asad: Diese Personen vertrauen Medien, die ausschließlich der Regimelinie folgen, wie der Sender Al-Dunya und andere syrische Kanäle. Die Propaganda ist sehr umfassend. Es macht uns wütend, diese Art der Berichterstattung zu verfolgen. Ehrlich gesagt halte ich es für eine Zeitverschwendung, sich über syrische Staatsmedien zu informieren. Den Menschen, die zur syrischen Regierung halten, geht es vermutlich ähnlich: Sie halten im Gegenzug alle Informationen, die über Al-Jazeera, Al-Arabiya, CNN oder BBC verbreitet werden, für Lügen. Fragen: Ralf Rebmann

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MÄCHTIGER MILITÄRRAT

Der ägyptische Militärrat hat mit der Entscheidung, sich selbst unbeschränkte Macht zu geben, das Land auf den Weg zu weiteren Menschenrechtsverletzungen gebracht. Amnesty International warnt davor, dass die Armee die Menschenrechte weiterhin straffrei missachten kann, sollte diese Machtfülle nicht beschnitten werden. Im März 2011 trat eine Verfassungserklärung in Kraft, die der Armee die Regierungsgewalt zubilligte, bis die ägyptische Bevölkerung ein

Parlament und einen Präsidenten gewählt hat. Doch der Oberste Militärrat änderte die Erklärung am 17. Juni 2012 ab und erteilte sich selbst die Vollmacht über sämtliche Armeeangelegenheiten. Diese Verfassungsergänzungen entziehen die Armee der zivilen Kontrolle. Einer der Verfassungszusätze ermöglicht es dem ägyptischen Präsidenten, die Armee zur Bekämpfung von »internen Unruhen« zur Hilfe zu holen. »Es ist sehr besorgniserregend, dass die Armee sich

selbst nun Möglichkeiten geschaffen hat, um weiterhin Zivilpersonen verhaften und Gewalt gegen Protestierende einsetzen zu können – ohne eine funktionierende Überwachung des Militärs«, sagte Philip Luther, Leiter der Abteilung Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International. »Die ägyptische Armee mit ihrer schlechten Menschenrechtsbilanz sollte unter keinen Umständen die Macht haben, Zivilpersonen zu verhaften und festzuhalten.«

Foto: Bernat Armangue / AP / ddp images

ÄGYPTEN

Schlechte Menschenrechtsbilanz. Demonstration auf dem Tahrir-Platz in Kairo, November 2011.

HAFTSTRAFE FÜR ATHEISTEN

Weil er auf Facebook zugab, ein Atheist zu sein, muss der 32-jährige Alexander Aan in Indonesien für zweieinhalb Jahre hinter Gitter. Ein Gericht auf Sumatra warf dem Mann Gotteslästerung vor. Mit der Facebook-Gruppe »Ateis Minang«, die er verwaltet hatte, habe er den Propheten Mohammed beleidigt. Er könnte der erste Mensch in dem südostasiatischen Land sein, der ins Gefängnis muss, weil er sich zu keiner Religion bekennt. Amnesty übte scharfe Kritik an dem Urteil und forderte die sofortige und bedingungslose Freilassung des Mannes. Es handle sich um einen »schweren Rückschlag für die Meinungsfreiheit in Indonesien«, heißt es in einer Erklärung. Das Land verstoße damit gegen internationales Recht. Amnesty betrachtet Aan als gewaltlosen politischen Gefangenen. INDONESIEN

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VERURTEILT WEGEN DER ENTFÜHRUNG VON KINDERN

ARGENTINIEN Die früheren argentinischen Diktatoren Jorge Rafael Videla (86) und Reynaldo Bignone (84) sind Anfang Juli wegen Babyraubes zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Die Anklage hatte ihnen vorgeworfen, dafür verantwortlich zu sein, dass während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 Kinder inhaftierter Regimegegner ihren Eltern systematisch geraubt und unter falschem Namen an regierungstreue Familien gegeben wurden. Gegen Ex-General Videla verhängte das Bundesgericht in Buenos Aires eine Gefängnisstrafe von 50 Jahren, Bignone erhielt 15 Jahre. Vier weitere ranghohe Offiziere bekamen Strafen von 14 bis 40 Jahren Gefängnis. Zwei Angeklagte wurden freigesprochen. Schätzungsweise 500 Neugeborene und Kleinkinder von Frauen, die von den Militärs verschleppt worden waren, wurden illegal an fremde und zumeist regimetreue Familien gegeben. Die leiblichen Mütter – und oft auch die Väter – wurden gefoltert und ermordet. »Die Urteile gegen Videla und Bignone zeigen, dass niemand über dem Gesetz steht«, sagte Mariela Belski, Direktorin von Amnesty International Argentinien. Sie seien »ein großer Schritt auf dem Weg, die Verbrechen während der Militärdiktatur aufzuklären«. Die Regierung solle weiterhin alles dafür tun, um die Identität der verbliebenen Opfer von Kindesentführungen zu klären.

AMNESTY JOURNAL | 08-09/2012


KOLUMNE: MARTIN KRAUSS

Zeichnung: Oliver Grajewski

Was hat nun die Regierung von Viktor Janukowitsch davon gehabt, dass die besten Fußballer Europas auch in der Ukraine Station gemacht haben? Vorab wusste man doch, welche Funktionen so ein Ereignis erfüllt: Innenpolitisch produziert Sport Nationalismus und lenkt von Problemen ab. Und außenpolitisch sorgt Sport für ein gutes Image des Gastgeberlands. Nichts davon kann der ukrainische Präsident für sich reklamieren. Wie präsent die Politik während der EM war, zeigte sich, als ARD-Reporter Gerd Gottlob mehrfach statt Anatolij Tymoshuk einen Menschen namens Timoschenko als Spieler vorstellte. Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko ist eben die derzeit berühmteste Persönlichkeit in der Ukraine. Nicht ein Boykott hat ihr dazu verholfen, sondern die Diskussion darüber.

POLITIK UND SPORT

2014 stehen die Olympischen Winterspiele im russischen Sotschi und die Eishockey-WM in Belarus an. In die Debatte über Sportevents in Ländern wie Ukraine und Belarus hat sich mittlerweile der Begriff »menschenrechtliche Mindeststandards« eingeschlichen, die eingehalten werden müssten, ehe ein Land so ein Ereignis zugesprochen bekommt. Doch diese Wortkombination ist schlimm, deutet sie doch an, es gäbe so etwas wie Luxusmenschenrechte, die nicht unbedingt überall und für alle gelten müssten. Die Forderung nach solchen »Mindeststandards« ist auch deswegen falsch, weil sie Sportereignisse völlig von der übrigen Welt abkoppelt: Erst wenn das wichtige Drumherum einigermaßen okay wäre, lautet die Logik dieser Forderung, dürfe eine Weltmeisterschaft vergeben werden. Wer so redet, den sollte man daran erinnern, dass die Ukraine diese »Mindeststandards« 2007, als die Uefa ihr gemeinsam mit Polen die EM-Ausrichtung übertrug, erfüllt hatte: Ministerpräsident war damals der heutige Präsident Viktor Janukowitsch, wenige Monate später abgelöst von Julia Timoschenko. Staatspräsident war der Repräsentant der orangen Revolution, Viktor Juschtschenko. Ähnliches gilt übrigens auch für den Paradefall aller Sportboykottdiskussionen, die Olympischen Spiele 1936: Sie wurden 1931 an das damals sozialdemokratisch regierte Berlin vergeben. Doch die Vorstellung von »menschenrechtlichen Mindeststandards« geht noch aus einem weiteren Grund fehl: Sie blendet beispielsweise aus, dass Sport in Stadien stattfindet, die von Menschen unter teils miserablen Arbeitsbedingungen errichtet wurden. Oder dass Menschen für Sportstätten oder Hotels aus ihren Wohnquartieren vertrieben wurden – wie übrigens bei allen Olympischen Spielen, die seit 1984 stattfanden, auch jetzt in London. Wer von »menschenrechtlichen Mindeststandards« redet, ist immer noch der Ideologie, Sport solle mit Politik nichts zu tun haben, verhaftet. Aber der Sport ist ein historisch-sozial entstandenes Phänomen und also immer und überall politisch. Besonders laut wird die These von Funktionären vorgetragen. »Ich mache keine Politik, ich mache Fußball«, sagt etwa Uefa-Präsident Michel Platini. Wie weit man mit diesem Unsinn kommen kann, führt Platinis Ziehvater, Fifa-Chef Sepp Blatter, seit Jahren vor: Immer wenn sich Spieler oder Vereine an ein staatliches Gericht wenden wollen, springt die Fifa vor und droht mit Ausschluss. Das sei eine unerlaubte politische Einmischung. Auf diese Weise wird die Macht von Fifa, Uefa oder IOC immer weiter gestärkt. So offenbart sich der schlimmste Mangel der Forderung nach »Mindeststandards«: Sie kümmert sich nicht darum, dass die, die diese Standards einfordern sollen, kein bisschen demokratisch legitimiert und kontrolliert sind. Die Diskussion um mangelnde Demokratie in Ländern, die große Sportveranstaltungen ausrichten, ist gut, denn sie erzeugt politischen Druck. Aber diese Aufmerksamkeit sollte auch den Verbänden gelten. Wer wirklich guten Sport will, muss für die Demokratisierung des Sports kämpfen. Martin Krauß ist Sportjournalist.

NACHRICHTEN

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KOLUMNE

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AMNESTY JOURNAL | 08-09/2012


Thema: Kindersoldaten

Sie lernen schießen und kämpfen, bevor sie lesen und schreiben können. Sie müssen an die Front, dienen als Boten oder säubern Minenfelder. Tausende Kinder und Jugendliche werden weltweit als Soldaten missbraucht. Vor allem in den blutigen Konflikten in Zentralafrika werden sie häufig eingesetzt – sowohl von regulären Armeen wie auch von Rebellengruppen.

Verlorene Generation. Kindersoldaten in Goma im Ostkongo, 2007. Foto: Cedric Gerbehaye / Agence VU

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Traumatisiert und hilfsbed端rftig. Morgenandacht in einem Miliz-Camp in Nord-Kivu, Demokratische Republik Kongo, 2007.

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AMNESTY JOURNAL | 08-09/2012


Foto: Cedric Gerbehaye / Agence VU

Wie werden Kinder zu Soldaten?

THEMA

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KINDERSOLDATEN

Vor einigen Monaten erregte ein Video weltweite Aufmerksamkeit. Über 90 Millionen Menschen sahen sich im Internet einen Film über Joseph Kony an, den Anführer der »Widerstandsarmee des Herrn (LRA)«. Schon vor dem Film der Organisation »Invisible Children« war Joseph Kony als ein mit internationalem Haftbefehl gesuchter Mann bekannt, dessen Namen mit schrecklichen Verbrechen im Norden Ugandas verbunden ist. Die LRA bestand zeitweise aus bis zu 90 Prozent Kindersoldaten, die zwischen 13 und 16 Jahre alt waren. Während des Konfliktes in Norduganda entführte die LRA rund 25.000 Mädchen und Jungen. Nach der Entführung wurden diese Kinder zum Töten ausgebildet und viele dazu gezwungen, ihre eigenen Familienmitglieder umzubringen. Mädchen mussten älteren Soldaten außerdem als Sexsklavinnen dienen. Versuchten die Kinder zu fliehen, drohte ihnen der Tod, wobei die Hinrichtungen von anderen Kindern vollstreckt wurden. In allen Regionen der Welt werden Kinder in Konflikten als Soldaten eingesetzt. Besonders bekannt ist diese Problematik jedoch aus Afrika. Während des zehnjährigen Bürgerkrieges in Sierra Leone waren 7.000 Kindersoldaten im Einsatz. In Liberia waren es rund 21.000. Der Einsatz der Kinder im Krieg hinterließ seine Spuren. Die größte Herausforderung ist jedoch der behutsame Aufbau der Gesellschaft und die Reintegration der Kinder. Auf der einen Seite stehen die ehemaligen Kindersoldaten, die häufig traumatisiert sind und dringend medizinischer sowie therapeutischer Hilfe bedürfen. Auf der anderen Seite haben die zurückgebliebenen Familien große Bedenken, die Kinder wieder in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Zu grausam waren die Taten, die die Kinder während des Krieges verübt haben. Wenngleich Länder wie Liberia, Sierra Leone, Angola oder auch Mosambik befriedet werden konnten, bleibt das Thema auf der Tagesordnung. Insbesondere in der Region der Großen Seen, in Zentralafrika, werden noch immer Kinder rekrutiert und eingesetzt. So ging zwar auch in der Demokratischen Republik Kongo die Zahl an Kindersoldaten von rund 30.000 im Jahr 2004 auf heute schätzungsweise 2.600 zurück, aber gerade in den vergangenen Wochen konnten wieder verstärkte Aktivitäten von Rebellengruppen im Osten des Landes festgestellt werden. Das beinhaltet auch Versuche, Kinder erneut als Soldaten einzusetzen. Zugespitzt wird die Situation durch die LRA im Norden des Landes, die sich zwar aus Uganda weitgehend zurückgezogen hat, aber weiterhin in der Zentralafrikanischen Republik und in der DR Kongo Gräueltaten begeht. Am 14. März wurde Thomas Lubanga, Ex-Anführer einer kongolesischen Rebellengruppe, vom Internationalen Strafgerichtshof der Rekrutierung von Kindersoldaten schuldig gesprochen. Das ehemalige Staatsoberhaupt Liberias, Charles Taylor, wurde am 30. Mai vom Sondergerichtshof für Sierra Leone zu 50 Jahren Haft verurteilt, u.a. für die Rekrutierung von Kindersoldaten. Diese Urteile können Hoffnung geben, dass sich eines Tages auch Joseph Kony für seine Taten verantworten muss. Franziska Ulm ist Fachreferentin für Afrika der deutschen Sektion von Amnesty International.

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Totes Herz Mit etwa neun Jahren wird Emmanuel Jal ein Kindersoldat im S체den Sudans. Mit etwa elf Jahren erlebt er seine erste Schlacht. Ein Leben lang braucht er, um die Gr채uel des Krieges zu vergessen. Heute ist er ein gefeierter Rap-Star und engagiert sich f체r Amnesty. Von Uta von Schrenk

Musik als Therapeutikum. Emmanuel Jal.

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Foto: Kalpesh Lathigra

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erloren. »Sogar das Datum meiner Geburt ist verloren gegangen, als meine Welt verloren ging«, schreibt der internationale Rap-Star und Amnesty-Botschafter Emmanuel Jal in seiner Autobiografie »Warchild«. Emmanuel Jal ist noch zu jung für die Schule, als der Bürgerkrieg im Sudan, der zwei Millionen Menschen das Leben kosten wird und 21 Jahre lang um den ölreichen Süden geführt und durch ethnische Rivalitäten, religiöse Kämpfe und rassistische Motive gefüttert wird, in seiner Heimatstadt Tonj im Südsudan ankommt. Ein Krieg, der ihn zu einem Kindersoldaten machen wird wie Zehntausende andere Jungen und Mädchen in den Krisengebieten dieser Welt auch. Zu einem Zeitpunkt, in dem Jungen die Namen ihrer Fußballstars auswendig lernen, lernt Emmanuel Jal, der damals noch Jal Jok heißt, die Geräusche des Krieges zu unterscheiden. »Bald erkannte ich verschiedene Explosionsgeräusche – den Klang einer großen Bombe, den einer kleineren Granate, die von Soldaten geworfen wurde, oder das Zischen einer Rakete, einer RPG. Es gab auch verschiedene Gewehre – die AK-47 der SPLA, die Mack 4 der Murahaleen und die G3 der Regierungssoldaten.« Der Vater, von Beruf Polizist, wird Leutnant der SPLA, der »Sudanesischen Volksbefreiungsarmee«. Die Mutter flieht mit den fünf kleinen Kindern von Dorf zu Dorf, um den Kämpfen zwischen Regierungstruppen und der SPLA und den Brandschatzungen der arabischen Murahaleen-Milizen zu entgehen. Die arabischstämmigen Nordsudanesen heißen bei Emmanuel Jal bald nur noch jallabas wegen ihrer Kleidung, den Hass auf sie lernt er früh: die geliebte Tante, die vor seinen Augen vergewaltigt wird, Nachbarn, die erschossen werden, die Angst der Erwachsenen vor arabischen Straßenpatrouillen und schließlich die Mutter, die nach einem Angriff von den arabisch-dominierten Regierungstruppen nicht zu den Kindern zurückkehrt. Der Vater, der in der südsudanesischen Kleinstadt Leer stationiert ist, lässt die Kinder in ein relativ sicheres Dorf in der Nähe bringen. Auf einem Spaziergang macht er seinem ältesten Sohn klar, was er von ihm erwartet: »Du bist mein Soldat und musst deinen Brüdern und Schwestern zeigen, was es bedeutet, ein Mann zu sein.« Ein paar Tage später kommt ein SPLA-Soldat und holt Emmanuel Jal ab. Er ist etwa sieben Jahre alt. Dem Kind wird weisgemacht, dass die SPLA ihn im sicheren Äthiopien zur Schule schicken wird. Die Tante ist misstrauisch, aber der Junge vertraut auf den Soldaten, den sein Vater geschickt hat. »Wir näherten uns dem Zentrum von Leer. Dort waren so viele Leute, so viele Kinder, die alle zur Schule gehen wollten«, erinnert sich Emmanuel Jal. Plötzlich ertönt die Stimme seines Vaters über Mikrofon: »Ich bin Commander Simon Jok und ich freue mich, dass ihr euch für die großartige Möglichkeit entschieden habt, die die SPLA euren Kindern bietet.« Die großartige Möglichkeit wird flankiert von ertrinkenden und von Krokodilen zerrissenen Kindern, von Durst, Hunger und Einsamkeit, die den Marsch nach Äthiopien begleiten, der das Kind in das UN-Flüchtlingslager Pinyudu führt, das vom UNHCR nur unzureichend versorgt, jedoch von der SPLA kontrolliert wird. Pinyudu ist eines von drei Flüchtlingslagern an der äthiopischen Grenze, wohin etwa 400.000 Sudanesen vor dem Bürgerkrieg fliehen, unter ihnen 17.000 Kinder, vor allem Jungs – die bekannt werden als die »Lost Boys of Sudan«. Kinder wie Emmanuel Jal. Einige Monate lebt er hier und ja, tatsächlich, er geht zur Schule. Doch vor allem lernt der Junge, den Hass auf die jallabas zu schüren und der Propaganda der SPLA zu vertrauen.

THEMA

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KINDERSOLDATEN

Eines Tages ist es soweit: Die SPLA fordert Tribut dafür, dass sie die »Lost Boys« hierher an die äthiopische Grenze geführt hat. »Die Araber haben keine Gnade gezeigt. (…) Erinnert euch daran, was sie jedem einzelnen von euch angetan haben, denkt an das, was ihr hier in Pinyudu gehört habt, vergesst niemals, warum ihr euer Zuhause verlassen und hierher kommen musstet.« Die Kalaschnikow wird in die Luft gerissen, der Offizier schreit: »Dieses Gewehr ist von nun an meine Mutter und mein Vater.« Das Nachtgebet der Kindersoldaten. Mit etwa neun Jahren erlernt Emmanuel Jal in einem nahen Trainingslager der SPLA mit einer selbst geschnitzten AK-47 das Kriegshandwerk. Tägliche Schläge und Tritte, vermeintliches Ertränken, Peitschenhiebe und mindestens versuchter Missbrauch durch Ältere begleiten den Drill. Seine erste Schlacht erlebt er im Mai 1991. Nach seiner Zeitrechnung ist er elf Jahre alt. Danach landet er auf den Schlachtfeldern von Juba, der südsudanesischen Hauptstadt. Hier, im Zentrum dieses Kampfes um Öl lernt er den »Geschmack des Krieges« kennen: Schrapnells zum Frühstück, Granaten zum Mittag, Bomben zum Abend. Und hier lernt er, zu töten. Mit der AK-47, mit dem Messer, mit den Händen. Als sich die SPLA aufgrund von ethnischen Rivalitäten teilt, flieht Emmanuel Jal mit anderen Kindersoldaten in Richtung Waat, einem Zentrum der abgespaltenen SPLA-Nasir. Drei Monate dauert der Marsch durch die Wüste, drei Monate Hunger, drei Monate Durst. Zwölf Kinder überleben den Marsch. Zwölf von etwa 400. Emmanuel Jal ist eines von ihnen. Mit diesem Marsch endet sein Leben als Kindersoldat. Die Bilanz eines solchen Lebens? »Drei jallabas habe ich umgebracht für all jene, die ich verloren hatte. Kein Schmerz, keine Traurigkeit, kein Bedauern, keine Schuld. Alles, was ich weiß, ist: Ich will töten, töten, töten.« Eine Mitarbeiterin der Hilfsorganisation »Street Kids« in Waat sorgt dafür, dass Emmanuel nach Kenia ausgeflogen wird, dass er zur Schule geht. Im Falle eines Kindersoldaten ist retten ein anderes Wort für resozialisieren. Seine Schwester, die ihn nach Jahren in Nairobi findet, wird aussprechen, was der Krieg mit Kindern wie ihrem Bruder gemacht hat: »Lost Boys (…) haben gelernt, ihre Herzen zu töten.« Der Hass auf die jallabas ist nicht mal eben vergessen und auch das Kriegshandwerk nicht: Muslimische Freunde seiner Zieh-Mutter würde er am liebsten umbringen. Im Garten wirft er sich auf den Boden und versteckt sich hinter einem Busch, mit dem Stock in der Hand auf alles vermeintlich schießend, was sich bewegt. Mit Hilfe seiner neuen Umgebung schafft es der Junge, sich aus seinem alten Leben herauszuarbeiten. Mehr noch: Er engagiert sich selbst für andere »Lost Boys«, tritt mit einer Band auf, um Geld für ehemalige Kindersoldaten in den Slums von Nairobi zu sammeln. Zunächst wird Emmanuel Jal bekannt in der Gospel-Szene Kenias. 2005, als der Norden und Süden des Sudans einen fragilen Friedensvertrag unterschreiben, macht ihn sein Lied »Gua« (»Frieden«) in ganz Afrika zum Star – mit ungefähr 25 Jahren. Sein Album »Ceasefire« (»Waffenstillstand«), das er mit dem nordsudanesischen Oud-Star Abdel Gadir Salim aufnimmt, bringt den internationalen Durchbruch. Als Amnesty sich für ein Internationales Waffenhandelsabkommen stark macht, das seit Juli bei der UNO verhandelt wird, ist Emmanuel Jal als Botschafter dabei, »damit solche Grausamkeiten, wie ich sie erleben musste, in Zukunft verhindert werden können«. Und vielleicht auch, damit der Krieg in seinem Kopf endlich einmal ein Ende haben wird. Die Autorin ist freie Mitarbeiterin des Amnesty Journals in Berlin.

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»Jeden Tag können wir Kinder retten« Murhabazi Namegabe setzt sich in der Demokratischen Republik Kongo für ehemalige Kindersoldaten ein. Dank seines »Freiwilligenbüros für Kinder und Gesundheit« erhielten schon Tausende die Chance auf ein neues Leben. Wie viele Kinder haben Sie mit Ihrer Organisation bisher aus den Händen der Milizen und der Armee befreien können? Allein in den vergangenen zwei Jahren haben wir rund 1.000 Kinder befreit und in unseren Zentren betreut. Weitere 2.000 Kinder, die freigelassen wurden, sind direkt in ihre Gemeinden zurückgegangen. Wie viele Kindersoldaten gibt es zurzeit im Ost-Kongo? Wir haben im Februar ein Treffen mit anderen NGOs organisiert, die sich ebenfalls für die Menschenrechte von Kindern einsetzen. Auf diesem Treffen kamen wir zu der Schätzung, dass noch ungefähr 2.600 Kinder im Einsatz sind. Dafür sind vor allem kleinere Rebellengruppen verantwortlich. Die Rekrutierungszahlen sind aber rückläufig.

gen, dass es Gerechtigkeit geben kann. Sie zeigen den »Warlords«, dass sie damit rechnen müssen, bestraft zu werden. Aber es dauert noch zu lange, bis die Täter verhaftet und verurteilt werden. Wie verläuft der Prozess der Demobilisierung? Die Arbeit ist sehr anstrengend. Die Kinder, die wir befreien, sind zum Teil sehr gewalttätig und aggressiv. Sie haben Furchtbares erlebt – und häufig auch Furchtbares getan. Jedes befreite Kind durchläuft bei uns ein Programm: psychosoziale und medizinische Betreuung, Versorgung, Ausbildung, Suche der Angehörigen, Wiedervereinigung mit der Familie. Das alles kostet viel Geld und braucht viel Personal. Unsere Betreuerinnen und Betreuer müssen gut ausgebildet, sehr engagiert und motiviert sein. Wir haben zwei große Zentren in Bukavu in der Provinz Süd-Kivu. Eines für Mädchen und eines für Jungen. Alle Kinder passieren diese Zentren, bevor sie auf die kleineren, kommunalen Zentren aufgeteilt werden. Seit 2004 arbeiten wir mit anderen NGOs zusammen in der »Koalition für die Beendigung der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindersoldaten«. Seit 2004 konnten 40.000 Kindersoldaten demobilisiert und wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden.

Wie versuchen Sie die Milizenführer davon zu überzeugen, die Kinder gehen zu lassen? Die Verhandlungen mit der kongolesischen Armee wurden dadurch erleichtert, dass alle Offiziere umfassend darüber informiert wurden, dass der Einsatz von Kindersoldaten verboten ist und alle Kinder gemeldet werden müssen. Seit 2009 ist die Zusammenarbeit mit der Armee sehr positiv. Wir kontaktieren die Offiziere, und sobald Kinder identifiziert wurden, werden sie im Einklang mit den nationalen Gesetzen aus der Armee entlassen. Viel schwieriger ist es bei den nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen. Sie müssen verstehen, dass Kinder Rechte haben, und dass Erwachsene entsprechend der afrikanischen Traditionen Kinder zu beschützen haben. Außerdem versuchen wir ihnen zu verdeutlichen, dass sie gegen internationales und kongolesisches Recht verstoßen und dafür verurteilt werden können, auch vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.

Kam es schon einmal vor, dass Sie Kinder bei Milizen antrafen, die schon einmal an Ihrem Programm teilgenommen hatten? Einmal haben wir 13 Kinder in Nord-Kivu befreit. Als wir danach zu Verhandlungen mit Rebellen in Süd-Kivu gefahren sind, haben wir dieselben Kinder erneut gesehen. Sie wurden also von Milizen erneut aufgegriffen und nach Süd-Kivu verschleppt. Wir haben dort dann ein zweites Mal über ihre Freilassung verhandelt.

In den vergangenen Jahren wurden mehrere »Warlords« der internationalen Justiz übergeben, einige verurteilt. Welche Auswirkungen hat das für Sie vor Ort? Diese positiven Entwicklungen sind Siege gegen die Straflosigkeit. Das Justizsystem im Kongo ist desolat, aber die Urteile zei-

Werden Sie wegen Ihres Engagements bedroht? Wir sind sehr vorsichtig bei unseren Aktionen, denn es kann sich um Fragen von Leben und Tod handeln. Die UNO-Schutztruppe Monusco sorgt für unseren Schutz. Deren Soldaten begleiten uns auch zu manchen Missionen. Es ist eine gefährliche

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Foto: Alfredo Falvo / contrasto / laif

Nie wieder kämpfen. Ehemaliger Kindersoldat in einem BVES-Betreuungszentrum in Nord-Kivu, 2009.

Sie machen Ihre Arbeit bereits seit 16 Jahren. Hätten Sie es damals für möglich gehalten, dass sie heute immer noch nötig ist? Nein, auf keinen Fall. Aber jeden einzelnen Tag gibt es positive Überraschungen. Jeden Tag können wir Kinder retten. Jeden Tag können wir dazu beitragen, die Rechte der Kinder im Kongo durchzusetzen. Die Kinder, die wir gerettet haben, bedanken sich bei uns. Die Eltern der geretteten Kinder sagen uns, wie wichtig unsere Arbeit ist. Und auch Personen aus dem Ausland zollen uns Respekt. Ich gehe komplett in meiner Arbeit auf und bin glücklich, wenn wir Kinder befreien können. Die Kinder, die wir betreuen, sehen mich ständig. Doch ich bin kein freier Mensch mehr. Ich habe keine Familie mehr. Meine Frau und meine Tochter sehen mich kaum. Und ich habe Angst. Ich kann nachts nicht schlafen, weil ich fürchte, dass mich jemand töten will. Wie wichtig ist Ihnen die Zusammenarbeit mit Amnesty? Die Kooperation ist sehr wichtig und erfolgreich. Amnesty inspiriert uns mit ihrer langen Erfahrung im Kampf für die Men-

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KINDERSOLDATEN

schenrechte und beeinflusst uns sehr. Die Organisation hilft uns, auf die Menschenrechtsverletzungen im Kongo aufmerksam zu machen. Diese Öffentlichkeit reduziert die Drohungen und hat unseren Erfolg im Kampf für die Rechte der Kinder mitermöglicht. Alle Kinder in unseren Zentren werden über Menschenrechte unterrichtet, auch dabei hat uns Amnesty geholfen. Die Unterstützung durch die Menschen in anderen Ländern, die Amnesty-Petitionen unterschreiben oder uns Karten geschickt haben, motiviert uns. Das zeigt uns, dass sich andere Menschen für uns und das Schicksal der Kinder interessieren, und dass wir nicht allein sind. Fragen: Daniel Kreuz

INTERVIEW MURHABAZI NAMEGABE Foto: Amnesty

Arbeit. In den vergangenen 15 Jahren haben wir viele Mitstreiter verloren, die von Milizen umgebracht wurden. Wir werden ständig telefonisch oder per SMS bedroht, dass man uns töten wird. In den Verhandlungen zeigen uns die Milizen häufig ihre Waffen und sagen, dass sie gleich auf uns schießen werden. Weihnachten 2011 wurde mein Vater getötet. Meine Nichte ist verschwunden. Es gibt immer Feinde der Menschenrechte, die nie unsere Freunde werden.

ist seit 1997 Direktor des »Freiwilligenbüros für Kinder und Gesundheit« (BVES) im Ost-Kongo. 300 Freiwillige arbeiten in den mehr als 40 Betreuungszentren, in denen ehemaligen Kindersoldaten und Mädchen, die als Sexsklavinnen missbraucht wurden, Therapien, Schulunterricht und Handwerkskurse angeboten werden. Amnesty International hat die Organisation jahrelang finanziell unterstützt und bietet u.a. weiterhin Fortbildungsmaßnahmen für das BVES-Personal an.

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Es geht auch anders Der unkontrollierte Waffenhandel kostet in vielen afrikanischen Ländern nicht nur unzählige Opfer, sondern behindert auch eine nachhaltige Entwicklung. Ohne Nachschub wären die blutigen Auseinandersetzungen kaum möglich. Klare Regeln können dabei helfen. Von Wolfgang Grenz Die Schrecken der Kriege und Bürgerkriege in Afrika sind vielfach beschrieben. Und immer noch kostet Waffengewalt in einigen Ländern des Kontinents unzählige Menschenleben, sind ganze Gesellschaften traumatisiert und stellen die Kriegsfolgen ein großes Entwicklungshindernis dar. Bei dieser Beschreibung stehen zu bleiben, wäre aber doppelt falsch. Erstens sind in vielen afrikanischen Ländern ganz andere, positive Entwicklungen zu beobachten. Zweitens gilt es – wie auf anderen Kontinenten auch – Wege zu suchen, den bewaffneten Auseinandersetzungen den Boden zu entziehen. Ein Mittel kann die Kontrolle des Waffenhandels sein. Denn Bürgerkriege haben vielfältige Ursachen, aber ohne den Nachschub an Waffen und Munition aus aller Welt wären sie kaum möglich. Besonders grausam hat uns diese einfache Wahrheit der Bürgerkrieg in Sierra Leone vor Augen geführt. Dort starben in den Jahren 1991 bis 2001 etwa 120.000 Menschen, ein Drittel der Bevölkerung floh vor den Kämpfen. Die Milizen mordeten, vergewaltigten und verstümmelten Tausende, mehr als 5.000 Jungen und Mädchen machten sie zu Kindersoldaten. Charles Taylor, Kriegsherr und zeitweise Präsident von Liberia, lieferte im Tausch gegen Diamanten – sogenannte Blutdiamanten – Waffen in das Nachbarland. Er unterstützte die Mi-

»Allzu oft trägt der internationale Waffenhandel zu Unterdrückung, Korruption, Tod und Elend bei.« 44

lizen der »Revolutionären Vereinten Front« und stiftete sie zu Kriegsverbrechen an, wie der internationale Gerichtshof für Sierra Leone im Mai dieses Jahres feststellte. Das Gericht verurteilte Taylor wegen seiner entscheidenden Rolle bei diesen Verbrechen zu 50 Jahren Haft. Ein wichtiges Signal: Auch Präsidenten müssen sich für ihre Verbrechen verantworten. Doch noch wichtiger sind vielleicht die Fragen: Hätte verhindert werden können, dass Taylor seine Verbrechen begeht? Was muss noch getan werden, um ähnlichen Verbrechen vorzubeugen? Nicht die einzige, aber eine wichtige Antwort liegt in der Kontrolle des internationalen Waffenhandels. In Sierra Leone hielt der ständige Zufluss an Waffen, bezahlt mit Diamanten und anderen Rohstoffen, das Morden über Jahre am Laufen. Internationale Regeln, die es erlaubt hätten, den Waffenimport von vorneherein zu unterbinden, gibt es bis heute nicht. Und der Bürgerkrieg musste erst sechs Jahre wüten, bis der UNO-Sicherheitsrat endlich ein Waffenembargo über das Land verhängte. Aber trotz Embargo flossen weiter Waffen ins Land. Gesetzeslücken erlaubten es Händlern aus den Niederlanden, Südafrika oder der Ukraine, die Geschäfte ungehindert abzuwickeln. Laxe Kontrollen machten es möglich, dass die Lieferungen über Transportunternehmen aus Hongkong, den Vereinigten Arabischen Emiraten und den USA abgewickelt wurden. Für die Zwischenhändler war es leicht, Endverbleibszertifikate zu bekommen, nach denen die Waffen angeblich für die Armeen der Nachbarländer bestimmt waren. Kontrolliert wurden diese Angaben nicht. Der Zahlungsverkehr lief ungestört über Banken in Zypern, Singapur und den USA. Unter einem anderen schlecht umgesetzten Waffenembargo leidet die Demokratische Republik Kongo bis heute. Das ohnehin vielfach gebrochene Embargo wurde 2008 sogar gelockert. Seither kann die Regierung fast ungehindert Waffen und Munition für Armee und Polizei importieren. Das Problem: Erstens begeht auch die Armee weiterhin Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Zweitens gibt es keine wirksamen Kontrollen, die sicherstellen, dass die Waffen auch in der Hand der Armee bleiben. Die Waffen werden meistens gar nicht so markiert und registriert, dass man ihren Verbleib überhaupt kontrollieren könnte. Wie ein im Juni veröffentlichter Bericht von Amnesty International dokumentiert, gelangen deshalb weiterhin große Mengen Waffen und Munition an Milizen, die vor allem im Osten des Landes die Bevölkerung terrorisieren. Oft verkaufen auch hochrangige kongolesische Soldaten Material an Rebellengruppen. Teilweise an die gleichen Gruppen, die sie bekämpfen sollen. So sorgen auch legale Rüstungsimporte im Kongo dafür, dass die bewaffneten Konflikte trotz des Friedensvertrags von 2002 weiter schwelen.

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Foto: Bob Scott

Es gibt internationale Regeln für den Handel mit Bananen, aber nicht für den Waffenhandel. Amnesty-Aktion in New York, Juni 2012.

Dass es auch anders geht, zeigte sich in Liberia. Nach den leidvollen Erfahrungen des Bürgerkriegs und dem erzwungenen Rücktritt Taylors 2003, lockerte die UNO das Waffenembargo gegen das Land erst 2006. Lieferungen an Polizei und Armee wurden erlaubt, aber nur unter strengen Auflagen. Die Waffen werden markiert und der Bestand streng kontrolliert, damit sie nicht in falsche Hände geraten. Mit sichtbarem Erfolg auch bei der gewöhnlichen Kriminalität: Obwohl die Hauptstadt Monrovia unter einer steigenden Kriminalitätsrate litt, sank die Zahl der bewaffneten Überfälle. Das Beispiel zeigt: Es gibt Waffenlieferungen, gegen die aus Sicht der Menschenrechte nichts einzuwenden ist. Aber allzu oft trägt der internationale Waffenhandel zu Unterdrückung, Korruption, Tod und Elend bei. Nicht zuletzt verschlingen die Rüstungsausgaben Geld, das den Staaten bei der Armutsbekämpfung fehlt. Solche unverantwortlichen Geschäfte müssen international geächtet werden. Eine unrealistische Utopie? Nein, eine konkrete Möglichkeit: Im Juli soll auf einer UNO-Konferenz in New York der Text eines internationalen Waffenhandelskontrollvertrags, des »Arms Trade Treaty«, ausgehandelt werden. Aus Beispielen wie Sierra Leone, Liberia oder dem Kongo lässt sich ablesen, welche Elemente ein wirksames Abkommen enthalten muss: Die Lieferung von Rüstungsgütern darf nicht genehmigt werden, wenn abzusehen ist, dass damit schwere Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts begangen werden oder die Ar-

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WAFFENHANDEL

mutsbekämpfung in den Empfängerländern gefährdet wird. Zudem müssen alle Arten von konventionellen Rüstungsgütern, also Waffen ebenso wie Munition und Technik, sowie alle Arten des Transfers von dem Vertrag erfasst sein. Jede Waffenlieferung muss vorab geprüft und genehmigt werden. Illegaler Waffenhandel muss konsequent bestraft werden. Alle Staaten müssen ihre Rüstungsexporte und -importe transparent machen. »Die afrikanischen Staaten stünden gut da, wenn sie ihre knappen Ressourcen statt für die Rehabilitierung von Opfern bewaffneter Konflikte für andere Entwicklungsprojekte ausgeben könnten.« So begründete die liberianische Regierung ihre Unterstützung für einen starken »Arms Trade Treaty«. Auch die EU unterstützt bisher weitgehend einen Text, der diese Elemente enthält. Andere große Waffenexporteure wie die USA, Russland und China versuchen dagegen, den Text zu verwässern. Dass die Staaten überhaupt einen solchen Vertrag verhandeln, ist dem Druck der internationalen Zivilgesellschaft zu verdanken. Jetzt kommt es darauf an, noch einmal lautstark ein wirklich wirksames Abkommen zu fordern. Denn die Erfahrungen in Ländern wie Liberia, Sierra Leone und dem Kongo zeigen: Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass es zwar internationale Regeln für den Handel mit Bananen und Dinosaurierknochen gibt, aber nicht für den Waffenhandel. Wolfgang Grenz ist Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland. Weitere Informationen: www.amnesty.de/haendehoch

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Foto: Valerie Chetelat / Amnesty

»An der Grenze des Erträglichen.« Amnesty-Aktion in Bern, Juni 2012.

»Gemeinsam sind wir stark« Ohne das ehrenamtliche Engagement von Mitgliedern, die zu einem bestimmten Land oder Thema arbeiten, würde Amnesty International nicht funktionieren. Einer von ihnen ist Mathias John aus Berlin. Er ist Sprecher der Gruppe »Wirtschaft, Rüstung und Menschenrechte«. Von Daniel Kreuz Der Einsatz für die Menschenrechte kann häufig anstrengend und bedrückend sein. In manchen Momenten ist er aber einfach nur peinlich. Kaum jemand weiß das wohl besser als Mathias John. Der 55-jährige Berliner ist der ehrenamtliche Experte der deutschen Amnesty-Sektion zum Thema Rüstung und Waffenhandel, niemand in der Organisation kennt sich auf diesem Gebiet besser aus als er. Regelmäßig geht John in den Bahnhofskiosk, um die neuesten Waffenmagazine und Rüstungszeitschriften zu kaufen. Wohl fühlt er sich dabei nicht, weiß er doch

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nur zu gut, wie viele Menschenrechtsverletzungen mit Waffen begangen werden. Doch diese Unannehmlichkeiten nimmt John gezwungenermaßen in Kauf. Denn je besser er über neue Waffensysteme und Rüstungsgeschäfte informiert ist, umso mehr kann er bewirken. John ist Sprecher der Amnesty-Gruppe »Wirtschaft, Rüstung und Menschenrechte«. Seit über 30 Jahren setzt er sich dafür ein, dass Rüstungsexporte stärker kontrolliert und keine Waffen in Krisengebiete und Länder geliefert werden, in denen die Menschenrechte verletzt werden. Gemeinsam mit den hauptamtlichen Mitarbeitern bilden ehrenamtliche Experten wie John das Rückgrat der inhaltlichen Arbeit von Amnesty in Deutschland. Und die Waffenmagazine aus dem Kiosk sind natürlich bei weitem nicht seine einzige Informationsquelle. Der Verwaltungsangestellte einer Berliner Universität steht in engem Kontakt mit Aktivisten aus anderen

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Foto: Amnesty

Damals wie heute wird jede Information genau überprüft. Auf sorgfältige Recherche legt Amnesty großen Wert. Amnesty-Sektionen sowie den Mitarbeitern im Berliner Sekretariat und der Zentrale in London. Er arbeitet mit anderen NGOs zusammen oder geht gelegentlich auf Rüstungsmessen oder zum »Tag der offenen Tür« bei der Bundeswehr und dem Verteidigungsministerium. »Unzählige Stunden habe ich früher in der Bibliothek verbracht, als ich die dicken Wälzer der Fachliteratur kopiert habe.« Diese Zeiten seien mittlerweile dank des Internets und ausführlicher Online-Datenbanken vorbei. Doch damals wie heute wird jede Information genau überprüft. Auf sorgfältige Recherche legt Amnesty großen Wert. John studierte Chemie in Münster und war bereits in der Friedens- und Dritte-Welt-Bewegung aktiv, als er 1980 AmnestyMitglied wurde. »Ich hatte mich für Amnesty entschieden, weil hier der Einsatz für die Menschenrechte ganz konkret ist. Wir engagieren uns für einzelne Personen, können unmittelbar etwas für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen tun und haben immer wieder direkte briefliche oder persönliche Kontakte, die uns vor Augen führen, wie wichtig und sinnvoll diese Art der Menschenrechtsarbeit ist.« Als Amnesty Anfang der achtziger Jahre begann, auch verstärkt zum Thema Wirtschaft und Menschenrechte tätig zu werden, gehörte John zu den ersten, die sich in das neue Themengebiet einarbeiteten. Der internationale Waffenhandel war dabei stets ein wichtiger Aspekt. Bei der Gefangenenbetreuung sei es im Grunde darum gegangen, auf einen schlimmen Vorfall zu reagieren. Dass nun auch vorbeugend gearbeitet wurde, indem beispielsweise Rüstungsexporte in Diktaturen verhindert werden sollten, begrüßte John: »Wir wollten nicht mehr länger warten und erst dann reagieren müssen, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, sondern fortan dafür sorgen, dass die Menschenrechte erst gar nicht verletzt und Menschen zu Opfern werden.« John war Mitglied der ersten Amnesty-Delegationen, die sich zu Lobbygesprächen mit Bundestagsabgeordneten und später mit Mitarbeitern verschiedener Ministerien trafen, um sie von strengeren Regeln für Rüstungsexporte zu überzeugen. »Das war und ist wirklich das Bohren dicker Bretter.« Aber der Einsatz lohnte sich. So konnte verhindert werden, dass G36Sturmgewehre der deutschen Waffenschmiede Heckler & Koch in das damalige Bürgerkriegsland Nepal geliefert wurden. Auch die strengen Ausfuhrregeln für Elektroschocker, Handfesseln oder Tränengas gehen auf Initiativen von Amnesty zurück. Dies sei allerdings ausschließlich mit Lobby-Arbeit nicht zu erreichen gewesen, so John: »Das Beeindruckende an Mathias John.

PORTRÄT

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MATHIAS JOHN

Amnesty ist, dass wir eine unabhängige Mitgliederorganisation sind, die weltweit Millionen Unterstützer zum Schutz der Menschenrechte mobilisieren und somit öffentlichen Druck auf die Regierungen aufbauen kann. Denn gemeinsam sind wir stark.« Das gelte sowohl für die Amnesty-Mitglieder als auch für die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Doch Erfolge können auch Schattenseiten haben. Mehrmals schon ist John persönlich bedroht worden, wenn sich einzelne Protagonisten der Welt von Militärs, Paramilitärs und Waffenhändlern plötzlich im Licht von Amnesty-Recherchen wiederfanden. Auch wenn sich John nicht einschüchtern ließ, bleibt gerade die Nähe zu dieser militarisierten Schattenwelt nicht ohne Auswirkungen: »Das ist oft nah an der Grenze des Erträglichen.« Mitte der siebziger Jahre war John für 15 Monate selbst Teil dieser militärischen Welt, als er als Panzergrenadier seinen Wehrdienst ableistete. Im Falle eines Krieges hätte er eingezogen werden können. Daher verweigerte er wenige Jahre später den Kriegsdienst. »Man kann nicht in einen Krieg ziehen, ohne Menschenleben zu zerstören. Das wäre für mich nicht akzeptabel und tragbar gewesen. Und es hätte auch meine Persönlichkeit zerstört.« Auch wenn Amnesty in den vergangenen drei Jahrzehnten viel erreicht hat, werden nach wie vor überall auf der Welt Leben mit Waffen zerstört. Jede Minute stirbt ein Mensch durch Waffengewalt – das sind eine halbe Million Menschen jedes Jahr. Hunderttausende werden mit Waffen bedroht, unterdrückt und verletzt. Eine große internationale Kampagne von Amnesty und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die John in Deutschland mit begleitet hat, führte dazu, dass seit 2006 die Ausarbeitung eines internationalen Waffenhandelskontrollvertrags auf der Tagesordnung der Vereinten Nationen steht. Im Jahr 2012 besteht nun die historische Chance, den Prozess endlich zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, im Juli verhandelten die Vereinten Nationen in New York konkret über einen internationalen Waffenhandelskontrollvertrag (»Arms Trade Treaty«, ATT). Jedes Mal, wenn John in Fernsehbeiträgen aus Krisenregionen das deutsche Sturmgewehr G3 sieht, sagt er sich: »Hätten wir vor vielen Jahren schon einen ATT gehabt, wären diese Waffen möglicherweise dort nie hingekommen, weil die Bundesregierung bei der Exportentscheidung die Menschenrechte berücksichtigt und den Endverbleib besser kontrolliert hätte. Und dann rollt wieder ein Schützenpanzer durchs Bild und möglicherweise zeigen genauere Recherchen, dass auch dieser mit bewährter Technik aus Deutschland fährt.« Doch dies sind genau die Momente, die John anspornen, weiterzumachen. Daher wird er sich auch in Zukunft im Bahnhofskiosk informieren. Denn Mathias John weiß: Dieser Einsatz ist notwendig. Und er lohnt sich. Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

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Mit gutem Gewissen Der ägyptische Aktivist Maikel Nabil Sanad kämpft gegen den Einfluss des Militärs und für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in seinem Land. Bei den nächsten Parlamentswahlen will er als Kandidat antreten. Von Ralf Rebmann Die Krawatte ist perfekt geknotet, die Haare sind konsequent nach hinten gegelt. Maikel Nabil Sanad sitzt in der Geschäftsstelle von Amnesty International in Berlin und ist fest entschlossen, sein viertes Interview an diesem Tag zu geben. Zuvor hatte der 26-Jährige bereits Abgeordnete des deutschen Bundestages getroffen. Für den charismatischen Blogger gehört der Aufenthalt in Berlin am 23. Mai zu einer elftägigen Vortragsreise, die ihn quer durch Deutschland führt. Er wird von seinem 19-jährigen Bruder Mark Nabil begleitet und will aufklären: über die Stimmung in der ägyptischen Bevölkerung, die Ergebnisse der jüngsten Wahlen und die Rolle des Militärs. Maikel Nabil wurde seit Ende 2010 bereits zweimal inhaftiert, weil er Kritik am Militär geübt und den Armeedienst abgelehnt hatte. Zuletzt befand er sich über elf Monate in Haft, mehr als vier Monate davon im Hungerstreik. Sein Fall hatte internationale Proteste ausgelöst und ihn gleichzeitig zum bekanntesten Kriegsdienstverweigerer Ägyptens gemacht. Maikel Nabils größte Stärke: Er kann kommunizieren. Sein Repertoire: Youtube, Facebook und Twitter sowie ein Internetblog, auf dem er bisher über 300 Einträge veröffentlicht hat. Der 26-Jährige hat eine Meinung und die vertritt er selbstbewusst. Im Gespräch klingt das so: »Ich möchte für diejenigen sprechen, die keine Stimme haben« oder »Wenn jemand vom Militär gefoltert wurde und das niemand kritisiert, dann mache ich das eben.« 2009 wird Maikel Nabil erstmals mit dem Militär konfrontiert: Wie alle volljährigen, männlichen Ägypter muss er prüfen lassen, ob er sich für den Armeedienst eignet. Er wird zu drei Jahren Militärdienst verpflichtet – für den jungen engagierten Blogger ist es eine Katastrophe. Er schickt zahlreiche Protestbriefe an die Behörden, gründet sogar eine kleine Organisation gegen den obligatorischen Militärdienst, das »No for Compulsory Military Service Movement«. Ohne Erfolg. Kurz bevor er im Oktober 2010 eingezogen werden soll, macht er seinem Ärger in einem Blogeintrag Luft. »Ich schrieb, dass ich den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigere und die Konsequenzen dieser Entscheidung tragen werde.« Drei Wochen später wird Mai-

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kel Nabil vor seinem Haus festgenommen. Die Behörden bescheinigen ihm jedoch kurz darauf »mentale Probleme« und befreien ihn damit überraschenderweise vom Militärdienst. Es ist ein erster Erfolg seines beharrlichen Einsatzes, der später auch einen anderen jungen Mann, den 24-jährigen Emad Eldafrawy, dazu ermutigen wird, den Kriegsdienst öffentlich zu verweigern. In der ägyptischen Öffentlichkeit hat sich vor Maikel Nabil kaum jemand so deutlich gegen den obligatorischen Kriegsdienst positioniert. Seine prominente Rolle wird ihm zum Verhängnis, als der ehemalige Präsident Hosni Mubarak im Februar 2011 gestürzt wird und das Militär die Macht übernimmt. Am 28. März 2011 wird Maikel Nabil in Kairo festgenommen und wenige Tage später wegen eines kritischen Blogeintrags vor einem Militärgericht zu drei Jahren Haft verurteilt. Die Begründung: »Beleidigung des Militärs«. »Das Militär wollte ein Exempel statuieren«, sagt er heute. »Während des sehr kurzen Verfahrens wurden mir keine Rechte gewährt. Ich wurde sogar in Abwesenheit meines Anwalts verurteilt.« Die drakonische Strafe zeigt ihre Wirkung. So schrieb die Bloggerin Zeinobia im April 2011 auf ihrer Website »Egyptian Chronicles«: »Ich fürchte und sorge mich, dass die Strafen die Nabil erhielt, gegen alle Blogger angewendet werden können, die in ihren Blogs ebenfalls Übergriffe des Militärs dokumentieren – inklusive mir.« In den Folgemonaten werden mehr als 12.000 Zivilisten vor Militärgerichten verurteilt. Amnesty International dokumentiert Fälle von Folter sowie »Jungfräulichkeitstests« an Demonstrantinnen. Maikel Nabil leidet in dieser Zeit unter den Bedingungen seiner Haft. Ende August 2011 entschließt er sich zu einem Hungerstreik, den er bis zum Ende des Jahres durchhält. Wie hat er diese schwierige Phase erlebt? Im Interview ist dies einer der wenigen Momente, in dem man die Person Maikel Nabil wahrzunehmen glaubt und nicht den Aktivisten, der meist in politischen Statements spricht. Es sei eine schreckliche Zeit gewesen, er habe mehrmals daran gedacht, sich umzubringen. »Ein Hungerstreik ist ein Werkzeug des Widerstands«, fährt er fort. »Es ist besser zu sterben, während man Widerstand leistet, als zu akzeptieren, dass man drei Jahre in Haft verbringen muss.« Später bekommt er schwerwiegende gesundheitliche Probleme. Der sowieso schon schmächtige Maikel Nabil hungert sich von 60 auf fast 45 Kilogramm. Irgendwann beginnt er damit, Milch und Saft zu trinken. Es rettet vermutlich sein Leben.

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»Das Militär entscheidet, wer aufgestellt wird und wer nicht. In einem Land, in dem es politische Gefangene gibt, kann es keine freien Wahlen geben.«

Foto: Amnesty / Ralf Rebmann

Währenddessen setzt Mark Nabil alle Hebel in Bewegung, um seinem großen Bruder zu helfen, organisiert Anwälte, kontaktiert Medien und Organisationen. Im Oktober 2011 soll schließlich die Anklage vor einem Militärgericht neu verhandelt werden. Maikel Nabil weigert sich aus Protest an der Verhandlung teilzunehmen und landet deshalb beinahe in einer psychiatrischen Klinik. Zahlreiche Organisationen, auch Amnesty International, haben sich seit seiner Inhaftierung für ihn starkgemacht. »Irgendwann habe ich gemerkt, dass es in meinem Fall Fortschritte gibt«, sagt er. »Die ganze Unterstützung, die Briefe und Karten, haben mir geholfen zu überleben und mich davon überzeugt, den Hungerstreik zu beenden.« Wenige Tage vor dem Jahrestag der ersten großen Demonstration gegen Mubarak, am 25. Januar 2012, kommt er schließlich im Rahmen einer Generalamnestie frei. Hat sich die Situation für die ägyptische Bevölkerung inzwischen verbessert? »Wenn man an die Militärverfahren gegen Zivilisten denkt, ist es schlimmer als unter Mubarak«, sagt er. Viel besser stünde es um das Recht auf Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, die Zivilgesellschaft sei stärker als früher. Seine kritische Haltung gegenüber dem Militär hat Maikel Nabil beibehalten, den Ergebnissen der jüngsten Präsidentschaftswahlen traut er nicht. »Das Militär entscheidet, wer aufgestellt wird und wer nicht. In einem Land, in dem es politische Gefangene gibt, kann es keine freien Wahlen geben.« Weil er die Wahl für unfair hält, hat er seine Stimme nicht abgegeben. »Entweder stimme ich für einen Islamisten oder einen Kriminellen«, sagt er und meint damit den Kandidaten der Muslimbruderschaft Mohammed Mursi und Ahmed Schafik, den letzten Ministerpräsidenten Mubaraks. Maikel Nabil vertritt seine Meinung mit Überzeugung, auch wenn manches bei seinen Landsleuten auf Unverständnis stößt. So bezeichnet er sich selbst als Atheisten und setzt sich für eine Aussöhnung mit Israel ein. Im Herbst wird er in Erfurt ein Masterstudium in Politikwissenschaft beginnen. Nebenbei will er ein Buch über seine Zeit in Haft schreiben und sein politisches Engagement fortsetzen, um bei den nächsten Parlamentswahlen in Ägypten als Kandidat antreten zu können. »Ich wollte eigentlich schon bei den vergangenen Parlamentswahlen kandidieren«, sagt er, »aber damals konnte ich nicht teilnehmen. Ich saß ja im Gefängnis«. Bleibt kritisch. Maikel Nabil Sanad.

PORTRÄT

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MAIKEL NABIL

Der Autor ist Volontär beim Amnesty Journal.

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Ein Freiraum von hundert Leuten

Brillantes politisches Theater. »No Time for Art« von Laila Soliman, eine der profiliertesten Theatermacherinnen der ägyptischen Revolutions-Generation.

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Die alternative Theaterszene in Ägypten schwankt zwischen Euphorie und Resignation. Die Revolution steckt fest, freie Meinung auf der Bühne ist nach wie vor nur in kleinen Off-Theatern möglich. Von Georg Kasch

Foto: Gunnar Lüsch / MuTphoto

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ie Frage, ob Theater etwas verändern kann, vielleicht sogar die Politik oder eine Gesellschaft, ist bis heute nicht geklärt. »Ich kann über die Wirkung des Theaters keine zufriedenstellende Antwort geben«, sagt auch Laila Soliman, eine der profiliertesten ägyptischen Theatermacherinnen der Revolutions-Generation. »Jeder muss machen, was er für ehrlich hält. Ich selbst habe eine gespaltene Meinung über die Rolle des Theaters.« Dennoch hat Soliman, Jahrgang 1981, sich einem Theater verschrieben, das informieren und aufklären will. Ein Theater, das sich unabhängig nennt und sich insofern mit dem Off-Theater europäischer Prägung vergleichen lässt, als dass hier mit einfachsten Mitteln und dafür nur mangelhaft ausgestatteten Orten Inszenierungen erarbeitet werden, die pro Vorstellung etwa hundert Zuschauer erreichen. Ein Theater, das sich kritisch mit dem Status quo der ägyptischen Revolution auseinandersetzt – und ans Gestern erinnert, um daraus fürs Morgen zu lernen. Entwickelt hat sich dieses unabhängige Theater in den achtziger Jahren, als die beiden anderen nennenswerten Zweige des traditionsreichen ägyptischen Theatersystems ästhetisch wie inhaltlich nur noch Leerlauf produzierten: die staatlich finanzierten Regierungs- und die auf reine Unterhaltung ausgerichteten Privattheater. In einem Klima der Sicherheits-Paranoia und der Zensur, einem dauerhaften Ausnahmezustand einerseits und religiösem Extremismus andererseits keimte in den Theatermachern und Dramatikern die Sehnsucht danach, sich kritisch und aktuell an ihrer Gegenwart abzuarbeiten. Mit jungen, oft halbprofessionellen Truppen, die schnell, mit wenig Geld und bescheidenen Mitteln aktuelle Abende produzieren, schufen sie vor allem in Kairo und Alexandria ein unabhängiges Theater, das nicht nur eine künstlerische, sondern auch eine politische Bewegung sein will. Neben Inszenierungen ermöglicht es Seminare, Versammlungen und Veröffentlichungen, die das Bewusstsein vor allem junger Menschen prägen. Weil viele dieser jungen Menschen zu jenen Demonstranten gehören, die die ägyptische Revolution im Januar 2011 erst ermöglichten, sagt Soliman trotz ihrer generellen Skepsis: »Ohne diese Entwicklung der freien Theaterszene wären die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz nicht denkbar gewesen.« Von der Euphorie der Revolutionstage wie von der vorangegangenen Unterdrückung erzählt sie in ihrer mehrteiligen Inszenierung »No Time For Art«, die mehrfach in Deutschland gastierte. Teil 1 verwebt drei Augenzeugenberichte miteinander. Minimalistisch ist das Setting dieser dokumentarischen Performance; die Kraft geht von den Worten der präzise aneinander geschnittenen Zeugnisse aus. Oft wechseln sich die Erzählstränge rasant ab, unter den drei Performern und dem Oud-Spieler, die nebeneinander auf der Bühne sitzen, entwickeln sich kurze Dialoge, spalten sich Berichte in Szenen auf. Die Dichte überfordert und berührt. Während auf der Bühne so gut wie nichts geschieht, läuft beim Zuschauer umso eindrucksvoller das Kopfkino an. Das zeigt, wie sehr man jeglichen Bildern misstrauen muss: »No Time For Art 1« beginnt mit Nachrichtenausschnitten des

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öffentlichen ägyptischen Fernsehens, das die Revolution aus Staatssicht zeigt. Auf die dankbaren Bürger, die Lobeshymnen auf die ägyptische Polizei singen, folgen Aufnahmen zusammengepferchter junger Männer: Gefesselt, mit verbundenen Augen hocken sie beisammen, vor ihnen liegen Molotowcocktails, Messer und Bomben. Triumphierend berichtet der Nachrichtenkommentator von der Festnahme der verabscheuungswürdigen Aggressoren. Erst später wird die Verbindung zum Stück klar, wenn sich die Geschichte des Schauspielstudenten herausschält, der 2011 am Rande einer Tahrir-Platz-Demo verhaftet wird. Bevor er selbst in die Hände der Polizei gerät, versucht er, die anderen Festgenommenen zu beruhigen: »Ich habe überhaupt nicht verstanden, wieso die alle so ein ängstliches Gesicht gemacht ha-

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Amnesty International ist eine weltweite, von Regierungen, politischen Parteien, Ideologien, Wirtschaftsinteressen und Religionen unabhängige Mitgliederorganisation mit weltweit rund drei Millionen Unterstützerinnen und Unterstützern. Amnesty International setzt sich für die Durchsetzung aller in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formulierten Rechte ein.

GENERALSEKRETÄR/IN

Die deutsche Sektion von Amnesty International sucht die Nachfolgerin/den Nachfolger für ihren Anfang 2013 ausscheidenden Generalsekretär: Sie leiten das hauptamtliche Sekretariat der deutschen Sektion und vertreten Amnesty International gegenüber der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag, ausländischen Botschaften, nichtstaatlichen Organisationen sowie in der Öffentlichkeit. Ihrer Position kommt besondere Verantwortung bei der Umsetzung der politischen Ziele und bei der Entwicklung von Strategien in der Menschenrechtsarbeit der deutschen Sektion zu. Sie tragen außerdem gegenüber dem ehrenamtlichen Vorstand die Verantwortung für die Arbeit des Sekretariates mit mehr als fünfzig hauptamtlichen Angestellten. Sie arbeiten eng mit den internationalen Gliederungen von Amnesty International zusammen. Persönlichkeiten, die über sehr gute Kenntnisse des internationalen Menschenrechtssystems, fundierte Erfahrung in der Tätigkeit internationaler nichtstaatlicher Organisationen, nachweisliche Erfolge in der Leitung einer größeren Einrichtung, ausgezeichnete Kenntnisse der weltweiten politischen und sozialen Entwicklungen, Sicherheit im Umgang mit Medien, Kommunikationsfähigkeit und Durchsetzungsvermögen sowie die Fähigkeit und Bereitschaft zur Teamarbeit mit Ehren- und Hauptamtlichen verfügen, sind zur Bewerbung eingeladen. &KGPUVUKV\ KUV $GTNKP &KG 8GTIØVWPI GTHQNIV CW»GTVCTKƃKEJ #NU #PVTKVVUVGTOKP ist Anfang 2013 vorgesehen. Bitte senden Sie Ihre Bewerbung an die beauftragte Personalberatung: Boyden International GmbH, Herrn Dr. Gerhard Raisig Rathausplatz 12, 61348 Bad Homburg v. d. H. E-Mail: gerhard.raisig@boyden.de, Telefon: +49 172 672 41 39

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ben. Jetzt, wo ich aus dem Gefängnis raus bin, weiß ich, wieso.« Was nun folgt, ist ein Albtraum: Er wird verprügelt, an seinen langen Haaren aufgehängt, damit ihm die staatlichen Henkersknechte besser auf die Knie und die Schienbeine schlagen können, später traktieren sie ihn mit Elektroschocks, jemand trampelt auf seinem geschundenen Körper herum. Dann wird er mit weiteren Gefangenen zu jenem Fernsehbild inszeniert, das zu Beginn gezeigt wurde. Nichts ist, wie es scheint – dieses Motto steht unsichtbar über vielen Produktionen und Stücken aus Ägypten. Es gilt auch für die Revolution und ihre Folgen. Während man in Deutschland hin und wieder von den Schwierigkeiten des Demokratisierungsprozesses erfährt, sieht die Realität in Ägypten wesentlich dramatischer aus. »Das alte System wird fortgeführt in Form von Militärrat und Wahlfälschung – das hängt alles zusammen«, sagt Soliman. »Wir sind unzufrieden mit den Gerichtsverfahren. Es gibt keine echte Gerechtigkeit. Viele der gewalttätigen Polizisten wurden nicht verurteilt.« Demgegenüber stehen 13.000 seit Januar 2011 durch Militärgerichte verurteilte Demonstranten. Nur ein Teil von ihnen kam wieder frei, jedem aber bleibt die Haft als Vorstrafe, sagt Soliman. Der Revolution und ihrer Opfer gedenkt auch die Mutiny Group for Arts aus Alexandria. Sherif Dessouky fügt in seinem Stück »No Matter What Happens Now«, uraufgeführt beim Heidelberger Stückemarkt, der in diesem Jahr seinen GastlandSchwerpunkt Ägypten widmete, Interviews und Blogeinträge zu einer Textfläche zusammen. Die Machart ähnelt Solimans Abend verblüffend: Auch hier flimmern Fernsehbilder über die Leinwand, auch hier erzählen die Performer mit Herzblut von real erlittenen Misshandlungen, Verhaftungen, Folter. Noch durch verzögerte Übertitel und andere Pannen hindurch spürt man, dass es den Schauspielern aus Alexandria um ihr Innerstes geht. Was diese drei Monologe erzählen, ist stark. Und doch kann man beide Versuche, mit der jüngsten Geschichte umzugehen, kaum vergleichen. Denn Ästhetik wie Reflexion muss man im Fall der Mutiny Group zumindest naiv nennen: Zwischen einer zweckfreien Deko aus Stoffbahnen sitzen die drei Schauspieler, die in dieser Produktion ausdrücklich keine sein wollen (als ob das ginge) und illustrieren mit Betroffenheitsbalsam auf den Stimmbändern und mimetischen Schreien, wo Stille hilfreicher gewesen wäre. Eingebettet sind die Texte in Nachrichtenbilder, die tief in buttercremigem Musikpathos waten. Während auf den verwackelten Aufnahmen Menschen ihr Leben lassen, dröhnt die Hollywood-Botschaft »Wir werden siegen!«, als Apotheose leuchtet die ägyptische Fahne, denn »Ägyptens Kinder starben, damit Ägypten lebt«. Das ist starker Tobak, der sich zum einen aus den Produktionsbedingungen der unabhängigen Theater erklärt: Lärm und überlange Bilderfluten sind der Versuch der Mutiny-Truppe, gegen potentielle Langeweile anzukämpfen. Aufführungen, die länger als eine Stunde dauern und wenig Abwechslung bieten, ist das Publikum nicht gewöhnt. Außerdem hätten viele Ägypter, so erzählen die Theaterleute, die Revolution wie HollywoodAction wahrgenommen. Und das Pathos? Auch die »No Time for Art«-Truppe scheut große Begriffe wie Märtyrer und Gefallene nicht – ohne ist Ägypten derzeit nicht zu haben. Dennoch ist es bezeichnend, dass dieser Abend voll klebriger Revolutionsfolklore und Sieges-, also Happy-End-Metaphorik so resonanzlos bleibt, während Solimans Abend auch deshalb schmerzt, weil sie die ägyptische Stunde Null als Illusion entlarvt: Es kommt sehr wohl darauf an, was jetzt geschieht.

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Auch die zeitgenössische Dramatik ist wesentlich skeptischer, was die Zeit nach der Revolution betrifft. Zeinab Magdy etwa, Jahrgang 1988, schildert in »Rivo-loo-shun« die ägyptische Revolution aus Sicht einer jungen Dichterin, die von ihrer Mutter nicht an den Krisenherd auf der Straße gelassen wird. Also zieht sie sich ihre Informationen aus dem Netz (ein interessanter Punkt: die Botschaft »Sie haben Twitter blockiert« würde bei uns nur Nerds schockieren, in Ägypten kostete sie Leben), kommuniziert mit ihrer besten Freundin via Skype und erfindet eine Revolution auf dem Papier. Während des seifenopernhaften Fortgangs der Dinge zerbricht sie sich auffallend ausführlich den Kopf über ihr Jungfernhäutchen. Diese und andere Lamenti würzen ironisch, spielen mit Zensur und Sexualität, Rollen- und Umsturzbildern. Daneben markieren sie die unterschiedlichen Arten, mit denen junge Menschen auch in Ägypten die politischen Verhältnisse reflektieren: Während die Hauptfigur aus Angst vor einem nach der Revolution eingeführten Jungfrauentest erstarrt, unfähig, an etwas anderes zu denken, macht sich ihre Freundin ernsthaft Sorgen um all jene Demonstranten, die auch nach Mubaraks Rücktritt nicht aus den Gefängnissen entlassen wurden. Der Opfer der Revolution gedenkt auch »No Time for Art 0«, das sich übergangslos an Teil 1 anschließt: Zettel gehen durch die Reihen mit den Daten jener Menschen, die während der Revolution ums Leben kamen. Name, Alter, oft auch Beruf und Todesart haben die Theaterleute recherchiert und dabei eng mit Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen zusammengearbeitet. Wer will, kann nun einen dieser Zettel vorlesen und so auf Englisch ein Gerichtsverfahren fordern für all diejenigen, die für den Tod dieses Menschen verantwortlich sind. Aus Zuschauern werden Beteiligte und trotz Unruhe und Ausspracheproblemen formt sich eine Viertelstunde lang eine enge Gemeinschaft. Wie stark die ägyptische Gesellschaft aber noch vom alten Geist geprägt ist, zeigte eine Szene am Rande der Aufführung beim Heidelberger Stückemarkt im Mai: Da weigerte sich der anwesende stellvertretende ägyptische Generalkonsul, der zu Festivalbeginn noch ebenso großspurig wie allgemein davon gesprochen hatte, wie wichtig es sei, ägyptische Kultur in Deutsch-

KULTUR

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ÄGYPTEN

Foto: Dominik Butzmann / laif

»Was ist ein Freiraum von hundert Leuten im Theater, wenn es draußen keinen Freiraum gibt?« Laila Soliman, Theaterregisseurin aus Ägypten

Ausgezeichnet. Laila Soliman bei der Verleihung des Willy-Brandt-Preises.

land zu präsentieren, sich diesem anrührenden Menschenrechtsritus zu unterziehen. Er warf die Zettel auf den Boden, die dann eine der Schauspielerinnen aufhob und unter Tränen vorlas. Soliman war empört, hatte es allerdings nicht anders erwartet, weil der stellvertretende Generalkonsul noch zur alten Garde gehört. Allerdings sieht sie auch die aktuelle Entwicklung im Land mit Sorge. »Alle Zeichen stehen auf Stillstand. Wir haben eine Übergangsregierung, die nicht zu einem Übergang führt.« Stattdessen warteten alle auf einen neuen Präsidenten. Dass bei der zweiten Wahlrunde nur noch ein Vertreter des alten Regimes und einer der Muslimbrüder antraten, die Revolutionsgeneration also durch keinen Kandidaten vertreten war, bestätigt alle ihre Befürchtungen: »Der Kopf ist gefallen, aber der Körper ist noch da und genest auf geschwinde Art und Weise.« Nicht mal den Umstand, dass zurzeit niemand seine Texte von der Zensurbehörde genehmigen lassen muss, will sie als gute Nachricht deuten. »Im Moment wissen die Zensurbüros nicht genau, nach welchen Regeln sie zu urteilen haben«, erklärt Soliman, also werden die Büros umgangen, niemand legt seine Texte und Inszenierungspläne vor. Dass darin auch neuer Freiraum stecken könnte, lässt die Regisseurin nicht gelten und stellt die Gegenfrage: »Was ist ein Freiraum von hundert Leuten im Theater, wenn es draußen keinen Freiraum gibt?« Der Autor ist Kulturjournalist und lebt in Berlin.

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Hacken für den guten Zweck Vom handgeschriebenen Brief zur Smartphone-App: Amnesty International hat ein Pilotprojekt gestartet, um Aktivisten und Menschenrechtler mithilfe digitaler Technologien zu unterstützen. Die Ideen dafür liefern die Aktivisten selbst. Von Ralf Rebmann

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ie Festnahme kam unerwartet. Amjad Baiazy befand sich bereits am Flughafen von Damaskus, als er dort am 12. Mai 2011 von syrischen Sicherheitskräften aufgegriffen wurde. Eigentlich wollte der 29-Jährige nach London zurückfliegen, wo der gebürtige Syrer lebt und studiert. Stattdessen wurde er angeklagt, weil er sich für zivilgesellschaftliche Organisationen eingesetzt hatte. Nach einem zwei Monate dauernden Alptraum in syrischer Haft kam er schließlich frei und konnte im August 2011 ausreisen. Im Gedächtnis geblieben sind ihm Folter und Misshandlung, das Gefühl von Ohmacht und Hilflosigkeit. Er teilt dies mit Dissidenten und Oppositionellen weltweit, die willkürlich von Sicherheitskräften entführt wurden oder einfach »verschwanden«. Für Amnesty International war dieses Szenario der Ausgangspunkt eines Pilotprojekts, um erstmals digitale Technologien in den Fokus der Menschenrechtsarbeit zu rücken. Können Blogs, Google Maps und Smartphone-Apps Menschen wie Amjad Baiazy helfen und damit einen Beitrag zur Menschenrechtsarbeit von Amnesty International leisten? Owen Pringle ist davon überzeugt. Er leitet die Abteilung Digitale Kommunikation bei Amnesty International und ist zusammen mit seiner Kollegin Tanya O’Carroll für das Projekt verantwortlich. »Der Autor William Gibson sagte einmal: ›Die Zukunft ist bereits da, sie ist nur noch nicht gleichmäßig verteilt.‹ Neue Technologien helfen uns, dieses Ungleichgewicht zu beheben, weil sie neue Möglichkeiten der Mobilisation schaffen«, so Owen Pringle. »Mit dem Projekt wollen wir herausfinden, wie wir sie für unsere Arbeit nutzen können.« Dazu wurden zwei inhaltliche Schwerpunkte gesetzt: einerseits die willkürliche Inhaftierung von Aktivisten, andererseits die Situation von Migranten in Mexiko sowie Flüchtlingen in Nordafrika, die den gefährlichen Weg über das Mittelmeer wagen. Jeder soll sich an dem Projekt beteiligen können. »Anstatt selbst eine Lösung vorzuschlagen, wollen wir Personen mit einbeziehen, die von dem Problem betroffen sind, um zusammen mit ihnen ein Konzept zu entwickeln«, so Owen Pringle. Eine gute Gelegenheit dafür bieten sogenannte Hackathons. Diese Events, so schrieb jüngst das Technologie-Magazin »Wired«, hätten sich als »neue Foren« der Vernetzung und des Wissensaustauschs herausgebildet. Die Idee: Die Teilnehmer eines Hackathons, Aktivisten, Software-Entwickler und Webdesigner

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kommen für mehrere Tage zusammen, um im Wettbewerb an der Lösung für ein bestimmtes Problem zu arbeiten. Amnesty International nahm erstmals im Februar 2012 an einem Hackathon teil. Organisiert wurde er von der Design- und Innovationsfirma IDEO in London. Das Besondere daran: Zuvor war die Internetgemeinschaft aufgerufen worden, ihre Ideen für folgende Fragestellung einzureichen: »Wie kann Technologie Personen unterstützen, die in ihrem Einsatz für die Menschenrechte von willkürlicher Inhaftierung bedroht sind?« Über 320 Vorschläge kamen zusammen. Eine Jury wählte acht davon aus, die dann in London präsentiert wurden. Auch Amjad Baiazy war gekommen. Sein Konzept einer interaktiven Website hatte die Jury überzeugt. »Nachdem ich in Damaskus festgenommen wurde, musste ich sofort an meine Freunde und meine Familie denken«, so der Aktivist, »in einer solchen Situation kann man nichts für sich selbst tun. Deshalb sollte die Aufmerksamkeit zunächst bei den Freunden und Angehörigen liegen«. Ihnen solle die Website Hilfestellung geben:

Tipp. Schnelle Hilfe.

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Foto: Courtesy of IDEO

Welche Organisationen können kontaktiert werden? Ist es sinnvoll, den Fall über soziale Netzwerke zu kommunizieren? Welche Erfahrungen haben andere Aktivisten gemacht? »Die Seite kann auch als eine Art psychologische Stütze für Personen dienen, die befürchten müssen, irgendwann inhaftiert zu werden«, so Amjad Baiazy. Sein Konzept wurde auch ausgewählt, weil es ohne größere Schwierigkeiten zu realisieren ist. »Bei einigen Vorschlägen ging es darum, eine Art Sender zu bauen, den die Personen mit sich tragen und im Notfall auslösen«, so Owen Pringle. »Eine brillante Idee, die aber aus finan-

KULTUR

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NEUE MEDIEN

zieller Sicht nicht umzusetzen ist.« Ein Hauptziel des Projektes sei es, die »Dokumentation und Verbreitung von Information« zu ermöglichen und somit die Menschenrechtsbewegung als Ganzes zu stärken. Auch anderswo gibt es Versuche, digitale Hilfsmittel für einen guten Zweck einzusetzen: Die Organisation Witness hat sich auf Videos spezialisiert, um Menschenrechtsverletzungen publik zu machen. Derzeit arbeitet die Organisation an der Smartphone-App »Obscura Cam«, die sogar die visuelle Anonymisierung von Gesichtern im Video ermöglichen soll. Bei der Frage, wie Berichte von Augenzeugen im Internet übersichtlich dargestellt werden können, hat die kenianische Organisation Ushahidi, auf deutsch »Zeuge«, Pionierarbeit geleistet. Eine gleichnamige Online-Plattform wurde 2008 gegründet, nachdem es bei den Wahlen in Kenia zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen war. Personen konnten ihre Augenzeugenberichte via SMS oder Internetverbindung in Echtzeit auf einer Google Map platzieren. Das Konzept wurde inzwischen von zahlreichen anderen Initiativen adaptiert und eingesetzt: In Burundi, Mexiko und Kirgisistan wurde damit über Wahlfälschung berichtet, in Bangladesch dokumentiert »Bijoya« Übergriffe auf Frauen, in Nigeria werden mit dem »Nigeria Security Tracker« Straftaten öffentlich gemacht. Die US-Sektion von Amnesty International verfolgt mit »Eyes on Syria« ein ähnliches Projekt und der »LRA Crisis Tracker« dokumentiert bereits seit 2009 Übergriffe und Gewalttaten der kongolesischen Lord’s Resistance Army. So zahlreich die Möglichkeiten der digitalen Vernetzung sind, so zahlreich sind auch deren Risiken. »Das Wichtigste ist die Sicherheit«, sagt Sherif Elsayed-Ali, Leiter der Abteilung Flüchtlinge und Migranten bei Amnesty International. »Gefährdete Personen dürfen durch die Nutzung digitaler Technologien nicht in noch größere Gefahr gebracht werden, weil sie dadurch identifiziert oder gefunden werden könnten.« Für Amnesty stehe deshalb die Datensicherheit und Anonymität von Aktivisten und Menschenrechtlern an oberster Stelle. Dies war auch die Herausforderung bei einem weiteren Hackathon, der im Juni 2012 in Berlin, San Francisco und anderen Städten stattfand und von der Initiative Random Hacks of Kindness (RHoK) organisiert wurde. Die Teilnehmer waren kreativ. In Berlin konzipierten sie »Amnesty SOS«: Eine auf Ushahidi basierte Plattform soll Bootsflüchtlingen im Mittelmeer die Möglichkeit geben, Notrufe über SMS-Nachrichten abzusetzen. In San Francisco wurde das Konzept eines Online-Netzwerks entwickelt, das es Migranten ermöglichen soll, an verschiedenen Stationen der Reise Angehörigen und Freunden eine Überlebensnachricht zu schicken. Die weitere Entwicklung und Arbeit an den Konzepten wird zeigen, ob sie am Ende tatsächlich umgesetzt werden können. Noch in diesem Jahr möchte Amnesty International die ersten Prototypen unter realen Bedingungen testen. Amjad Baiazys Konzept steht kurz vor der Fertigstellung. Es trägt inzwischen den Namen »Protect Yourself« (Schütze Dich) und hat eine weitere Funktion erhalten: Informationen, die in Form von Checklisten den gefährdeten Personen oder den Angehörigen zur Verfügung stehen, können nun auch auf Mobiltelefonen angezeigt und einfach weiterverbreitet werden. Damit ermöglicht »Protect Yourself« nicht nur, dass jeder von den Erfahrungen anderer Aktivisten profitieren kann. Es sorgt auch dafür, dass Menschen wie Amjad Baiazy nicht umsonst in Haft gelitten haben. Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals in Berlin.

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Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial ermöglicht mit der Dokumentation »Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956« zum ersten Mal Einsicht in das komplexe Lagersystem des Stalinismus. Von Lena Schiefler

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iebzig Jahre nach Stalins »Großem Terror« und seinen »Säuberungsaktionen« widmet sich nun zum ersten Mal eine Ausstellung diesem dunkelsten Kapitel der sowjetischen Strafrechtsgeschichte. Auf 400 Quadratmetern Ausstellungsfläche gewähren die Stiftungen Neuhardenberg sowie die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora einen umfassenden Blick in das Zwangsarbeitslagersystem Gulag, wie sich die Hauptlagerverwaltung nannte. Mit erschütternden Dokumenten werden die summarisch kalkulierten Verhaftungen und Erschießungen unter Joseph Stalin veranschaulicht, die zum Trauma von Generationen wurden. »Stacheldraht. Baracke. Pritsche. Wattejacke. Blechschüssel. Becher. Löffel. Das ist wahrscheinlich schon alles. Keine Gaskammern, keine Folterinstrumente«, so führt der Ausstellungskatalog in das komplexe System Gulag ein. Zwischen 1929 und 1956 wurden 20 Millionen Menschen in Zwangsarbeitslager deportiert. Bei extremen Klimaverhältnissen verbrachten die Inhaftierten zehn Jahre und mehr in überfüllten Holzbaracken. Etwa zwei Millionen Häftlinge starben unter lebensfeindlichen Umständen: Kälte, Hunger, mangelnde Hygiene und härteste Arbeit. Seit über 20 Jahren setzt sich Memorial für die Aufarbeitung des Stalinismus ein und schafft »einen Raum für eine Kultur der Erinnerung an die politischen Verfolgungen in der UdSSR«, so die Memorial-Vorsitzende und Kuratorin der Ausstellung Irina Scherbakowa im Katalog. Dank der Vielzahl mündlicher und materieller Dokumente, die Millionen Verfolgter der Stalin-Zeit hinterlassen haben – viele wurden seit der Gründung der Organisation an die Mitarbeiter herangetragen –, wird in nachempfundenen Archivschränken die Odyssee durch das Lagersystem veranschaulicht. Neben den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten gehören die Zwangsarbeitslager unter Stalin zu den größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit des 20. Jahrhunderts. Dass es überhaupt mehr als ein halbes Jahrhundert für eine solche Ausstellung gebraucht hat, liegt zum Teil an den russischen Archiven, die erst seit zehn Jahren langsam geöffnet werden. Erst die Zusammenarbeit mit den Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, die sich seit 1997 auch für eine Aufarbeitung

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Foto: Quelle: Sammlung »Memorial«, Moskau. Foto: Peter Hansen

Kollektives Trauma

der Verbrechen des NS-Regimes in Russland sowie des Stalinismus einsetzen, hat die Finanzierung durch die Stiftung Neuhardenberg schließlich ermöglicht. So wurden Exponate wie »Ljubotschka« endlich zugänglich gemacht. Der Kurator und Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, Rikola-Gunnar Lüttgenau, nennt dieses Relikt das beste Beispiel der stalinistischen Willkür: Das lächelnde Püppchen in sowjetischer Uniform wurde von einer Mutter im Lager genäht, während die Tochter Karriere in der Roten Armee machte. »Dass man sich zu keinem Zeitpunkt der Rechtssprechung und der Gesellschaft sicher sein konnte, das verletzte die grundlegenden Rechte der Menschen aufs Äußerste«, so Lüttgenau. In den letzten Jahren stockt die Aufarbeitungsarbeit innerhalb des Landes, in dem in den dreißiger und vierziger Jahren schätzungsweise jede sechste Familie von Stalins Urteilen betroffen war. Der Begriff des »Volksfeindes« machte beinahe jeden zu einem potentiellen Täter. Der 1990 von Memorial aufgestellte »Solowezker Stein« auf dem Platz vor dem Lubjanka-Gefängnis in Moskau ist das einzige Denkmal für die Opfer der Terrorjahre. Bis heute ist das Gebäude Sitz des russischen Geheimdienstes. Ab 1938 wurden hier – ganz offiziell – Geständnisse unter Folter erpresst. Eine Fotografie zeigt die Kellergewölbe eines weiteren Untersuchungsgefängnisses, dem ältesten in Moskau, der Butyrka. Ein Partei-Banner an der Steinwand mahnt: »Bereinige dein Gewissen, vergiss nicht, dass früher oder später das Verbrechen aufgeklärt wird.« Als 1992 auf Initiative von Memorial das »Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen« verabschiedet

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Triptychon. Blicke aus dem Barackeninneren, Stickerei einer unbekannten Lagerinsassin, Inta (Region Workuta), Ende der vierziger Jahre.

wurde, das den 30. Oktober 1990 zum Tag der Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgung bestimmte, wurde die Hoffnung vieler ehemaliger Inhaftierter auf eine ausgewogene Geschichtsschreibung und die Achtung der Menschenrechte laut. Zensur, Verhaftungen, dubiose Gerichtsprozesse und -urteile gab es auch in den Jahrzehnten nach Stalin immer wieder. Der erste Memorial-Vorsitzende, der Atomphysiker Andrei Sacharow, wurde infolge der Annahme des Friedensnobelpreises 1975 in die Verbannung geschickt. Ähnlich erging es dem Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn. Einen von 15 Schränken widmet Memorial in der Ausstellung der Dissidentenbewegung der sechziger und siebziger Jahre, deren Texte die Organisation im weltweit größten Archiv für russische Gegenöffentlichkeit gesammelt hat. Mit der schleichenden Re-Stalinisierung wurden kritische Denker in Psychiatrien und Arbeitslager abgeschoben und die Intelligenzija in den Untergrund gezwungen. Über inoffizielle Vervielfältigungen von Texten im sogenannten Samisdat, also Selbstverlag, fanden verbotene Themen Gehör im In- und Ausland: so auch der »Archipel GULAG«, in dem der 1945 zu acht Jahren verurteilte Solschenizyn seine eigenen Erfahrungen in Lager und anschließender Verbannung mit den Erinnerungen von 227 ehemaligen Häftlingen verband. Als der KGB 1973 doch noch eine Abschrift des Manuskripts fand, wurde Solschenizyn ausgebürgert. Zwar stößt die Aufarbeitung weiterhin auf Abwehr, dennoch ist der Gulag seit der »Perestroika« kein Tabu-Thema mehr. In fast allen Regionen Russlands werden Gedenkbücher mit Kurz-

KULTUR

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AUSSTELLUNG »GULAG«

biographien von Opfern politischer Verfolgung veröffentlicht. Immer mehr regionale Memorial-Verbände verfügen über Archive und Museen, wie die Gedenkstätte zur politischen Repression in Perm (»Perm 36«) oder das Museum »Gedenken an Kolmya« in Jagodnoje. Doch ein staatlich gefördertes Programm für die Erfassung der Namen derer, die Opfer des Terrors geworden sind – analog etwa zur Datenbank für die gefallenen Soldaten des »Großen Vaterländischen Krieges« – fehlt nach wie vor. Memorial hat eine frei zugängliche Datenbank erstellt, die bisher über 2,6 Millionen Namen von Opfern politischer Repression in der UdSSR erfasst. »Uns geht es vor allem darum, dass das Unrecht des stalinschen Terrors uneingeschränkt als solches anerkannt, aufgeklärt und dass es nicht gegen angebliche Verdienste Stalins aufgerechnet wird«, sagt Vera Ammer von Memorial. Die russische Regierung hingegen wolle der Jugend eine Vergangenheit vermitteln, die sie nicht belastet, mit der es sich gut leben lässt. Also kehre sie die positiven Seiten heraus und betone, dass Stalin den Krieg gewonnen und den Faschismus besiegt habe, ein Verdienst, das gar nicht Stalin, sondern dem russischen Volk zuzuschreiben sei. Memorial betont hingegen immer wieder, dass ohne umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit eine Demokratisierung in Russland nicht möglich sei. Die Wanderausstellung wird ab dem 19. August 2012 im Weimarer Schiller-Museum zu sehen sein. Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Berlin.

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an AMNESTY INTERNATIONAL.

AMNESTY INTERNATIONAL Postfach, 53108 Bonn Tel.: 0228 - 98 37 30, Fax: 0228 - 63 00 36 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank Köln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50

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Fotos: Amnesty

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

PALÄSTINENSISCHE AUTONOMIEGEBIETE SECHS PALÄSTINENSISCHE MÄNNER Von sechs palästinensischen Männern fehlt seit dem 12. März 2002 jede Spur. Zum damaligen Zeitpunkt wurden sie in einer Hafteinrichtung der Palästinensischen Autonomiebehörde in Salfit im Westjordanland festgehalten. Sie standen unter Verdacht, Informationen an israelische Sicherheitskräfte weitergegeben zu haben. Bei den sechs Männern handelt es sich um ’Ali al-Khdair, Taiseer Ramadhan, Nazem Abu ’Ali, Shaker Saleh, Ismail Ayash und Mohammad Alqrum. Von einer offiziellen Anklageerhebung gegen die Männer ist nichts bekannt. Vor ihrem Verschwinden waren die Männer von ihren Familien im Gefängnis besucht worden. Die Verwandten berichteten von Folterspuren, die darauf hindeuteten, dass die Männer in schmerzhaften Positionen gefesselt worden waren. Später wurden die Familien von palästinensischen Sicherheitskräften unterrichtet, dass die sechs Männer aus der Hafteinrichtung entkommen und in Richtung Israel geflohen seien. Seitdem warten die Familienangehörigen jedoch vergeblich auf eine Nachricht ihrer Söhne, Ehemänner und Brüder. Es wird gemutmaßt, dass die Männer in der Haft zu Tode gekommen sind. Vertreter der palästinensischen Autonomiebehörde rieten den Familien auf informellem Wege dazu, die Suche aufzugeben. Bislang ist weder eine Untersuchung eingeleitet noch irgendjemand wegen der Folter und des Verschwindenlassens der Männer zur Verantwortung gezogen worden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten der Palästinensischen Autonomiegebiete. Fordern Sie ihn auf, eine gründliche Untersuchung der Berichte über die Folter und das spätere Verschwindenlassen von ’Ali al-Khdair, Taiseer Ramadhan, Nazem Abu ’Ali, Shaker Saleh, Ismail Ayash und Mohammad Alqrum einzuleiten. Bitten Sie ihn mit Nachdruck, die Ermittlungsergebnisse zu veröffentlichen. Appellieren Sie an den Präsidenten, jeden, der für die Folter an den Männern verantwortlich ist, in einem fairen Verfahren vor Gericht zu bringen. Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: His Excellency Mahmoud Abbas Office of the President Ramallah PALÄSTINENSISCHE AUTONOMIEBEHÖRDE Fax: 0097 - 22 - 296 31 79 E-Mail: info@president.ps (korrekte Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Palästinensische Diplomatische Mission S. E. Herrn Salah Abdel Shafi Ostpreußendamm 170, 12207 Berlin Fax: 030 - 20 61 77 - 10 E-Mail: info@palaestina.org

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Am 17. Dezember 2010 wurden etwa 350 Menschen aus 76 Familien von den örtlichen Behörden aus dem Zentrum der rumänischen Stadt Cluj-Napoca vertrieben. Die meisten von ihnen sind Roma. Vierzig dieser Familien wurden in Wohnungen in der Gegend Pata Rat am Stadtrand umgesiedelt. Die Unterkünfte befinden sich in unmittelbarer Nähe der städtischen Mülldeponie und einer ehemaligen Lagerstätte für chemische Abfälle. Es gibt zwar Trinkwasser und Strom, doch die Versorgung mit warmem Wasser und Gas ist nicht gewährleistet. Die nächste Bushaltestelle liegt etwa 2,5 Kilometer entfernt, wodurch den Anwohnern der Zugang zu Bildung, Arbeit, Krankenversorgung oder anderen grundlegenden Diensten erschwert wird. Den übrigen 36 Familien wurden keine Ersatzunterkünfte angeboten. Sieben Familien sind bei Verwandten in den bereits überfüllten Wohnungen in Pata Rat untergekommen. Den 29 weiteren Familien gestatteten die örtlichen Behörden den Bau improvisierter Unterkünfte in der Nähe der zur Verfügung gestellten Wohnräume. Dort stehen ihnen jedoch weder Strom noch Wasser oder sanitäre Anlagen zur Verfügung. Von der Stadtverwaltung haben sie lediglich eine mündliche Zusicherung erhalten und leben daher in täglicher Angst vor einer drohenden Zwangsräumung. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Bürgermeister von Cluj-Napoca. Bitten Sie ihn eindringlich, in ernsthafte Konsultationen mit allen in Pata Rat lebenden Familien zu treten, um eine langfristig ausgerichtete alternative Unterbringung zu erarbeiten. Fordern Sie ihn auf, den Betroffenen die Inanspruchnahme von Rechtsmitteln zu ermöglichen und ihnen Wiedergutmachung anzubieten, um sie für die durch die Zwangsräumung erlittenen Verluste und das ihnen hierdurch zugefügte Leid zu entschädigen. Dringen Sie auf ein gesichertes Wohnrecht und hinreichenden Zugang zu Versorgungsbetrieben und Dienstleistungen. Schreiben Sie in gutem Rumänisch, Englisch oder auf Deutsch an: Bürgermeister von Cluj-Napoca Herrn Emil Boc Primar Cluj-Napoca Strada Motilor 3, Cluj-Napoca RUMÄNIEN E-Mail: internationaldivision@primariaclujnapoca.ro (Betreff: »Emil Boc, dem Bürgermeister von Cluj-Napoca, zur Kenntnis [In atentia primarului orasului Cluj-Napoca, Emil Boc]«) (korrekte Anrede: Dear Mayor / Sehr geehrter Herr Bürgermeister) Fax: 0040 - 264 - 43 02 40 (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75)

Foto: Coalition for Change

Foto: Joshua Gross

RUMÄNIEN 350 MENSCHEN

GAMBIA DR. AMADOU SCATTRED JANNEH Weil Dr. Amadou Scattred Janneh T-Shirts mit der Aufschrift »Für ein sofortiges Ende der Diktatur!« besaß, muss der Aktivist eine lebenslange Freiheitsstrafe absitzen. Er wurde am 7. Juni 2011 festgenommen und wegen »willentlicher Erzeugung und Verbreitung von Hass, Missachtung oder Abneigung gegen die Person des Präsidenten oder die Regierung von Gambia« unter Anklage gestellt. Amnesty International betrachtet Dr. Amadou Scattred Janneh als gewaltlosen politischen Gefangenen. Am 16. Januar 2012 wurde Dr. Janneh, ehemals Minister für Information und Kommunikation in Gambia, schließlich zu lebenslangem Freiheitsentzug mit Zwangsarbeit verurteilt. Die T-Shirts waren von der Nichtregierungsorganisation »Coalition for Change – The Gambia« hergestellt und verbreitet worden. Aktivisten und Journalisten werden in Gambia regelmäßig diskriminiert und bedroht. Dazu zählen Beleidigungen, Drangsalierungen, rechtswidrige Festnahmen und Inhaftierungen, Folter, unfaire Gerichtsverfahren und Morddrohungen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten der Republik Gambia. Fordern Sie die sofortige und bedingungslose Freilassung von Dr. Amadou Scattred Janneh. Machen Sie den Präsidenten darauf aufmerksam, dass die Festnahme und Verurteilung von Dr. Janneh seine Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit verletzt. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Präsident Dr. Alhaji Yahya Jammeh Private Mail Bag State House Banjul GAMBIA (korrekte Anrede: Dear President / Sehr geehrter Herr Präsident) Fax: 002 20 - 42 20 34 E-Mail: info@statehouse.gm (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Gambia S. E. Herrn Mamour A. Jagne 126, Avenue Franklin D. Roosevelt 1050 Brüssel BELGIEN Fax: 0032 - 2 - 646 32 77 E-Mail: mamour@gambiaembassy.be; info@gambiaembassy.be

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft von Rumänien S. E. Herrn Dr. Lazăr Comănescu Dorotheenstraße 62–66, 10117 Berlin Fax: 030 - 21 23 91 99 E-Mail: office@rumaenische-botschaft.de

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

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Foto: Andrew Kelly / Control Arms Coalition

AKTIV FÜR AMNESTY

Aktionen rund um den Globus. Kundgebung vor dem UNO-Gebäude in New York, 27. Juni 2012.

17 Tonnen schwer, das Kanonenrohr so dick wie ein Baumund die Deutsche Polizeigewerkschaft die Kampagne. Auch stamm: Mit einem ausgedienten Panzer haben Aktivisten von internationale Künstler und Prominente fordern mehr Kontrolle Amnesty International, dem Bündnis Control Arms und Oxfam bei weltweiten Waffengeschäften: Die britische Soulsängerin Ende Juni in der Londoner Innenstadt auf eine aktuelle KamJoss Stone hat dafür ihren Song »Take Good Care« neu aufgepagne zum internationalen Waffenhandel aufmerksam gemacht. nommen, über 30 internationale Künstler, darunter Scarlett JoDie Organisationen fordern von den UNO-Mitgliedsstaaten eine hansson und Kevin Spacey, haben einen Brief an den UNO-Gestärkere Kontrolle der weltweiten Rüstungsgeschäfte. Bis Ende neralsekretär Ban Ki Moon unterzeichnet, und auch deutsche Juli finden in New York Gespräche über einen WaffenhandelsBands wie die Beatsteaks, Mia, Tokio Hotel oder 2Raumwohkontrollvertrag, den sogenannten »Arms Trade Treaty«, statt. nung haben sich zu den Forderungen von Amnesty International »Die Verhandlungen sind eine historische Chance, die genutzt bekannt. werden muss«, sagte Wolfgang Grenz, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland. Amnesty-Sektionen rund um den Globus haben in den vergangenen Wochen Aktionen und Veranstaltungen organisiert, um die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sensibilisieren. Ein Ergebnis der Bemühungen ist eine Petition mit über 620.000 Unterschriften, die Salil Shetty, Generalsekretär von Amnesty International, zusammen mit dem Bündnis Control Arms dem UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon überreichte. Die deutsche Amnesty-Sektion konnte dazu mehr als 50.000 Unterschriften beisteuern. »Dass die Staaten überhaupt einen solchen Vertrag verhandeln, ist dem Druck der internationalen Zivilgesellschaft zu verdanken«, so Grenz. So wird die Forderung nach einem Abkommen zur Kontrolle des Waffenhandels von vielen Gewerkschaften und Organisationen mitgetragen. In Druck der internationalen Zivilgesellschaft. Amnesty-Aktion in London, 27. Juni 2012. Deutschland unterstützen der DGB, die IG Metall

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Foto: Amnesty UK

»EINE HISTORISCHE CHANCE«


Sie treiben gerne Sport? Dann verbinden Sie doch Ihr Hobby mit dem Einsatz für eine gute Sache. So wie Winnie Maria Lechtape. Im Rahmen von »Amnesty in Bewegung« hat sie bereits an sieben Lauf-Events teilgenommen und über 4.000 Euro für Amnesty gesammelt. Auf der dazugehörigen Website lässt sich in wenigen Minuten ein eigenes Sport-Projekt erstellen. Angezeigt werden neben dem Profilfoto auch Informationen zur Person und Motivation. Durch die Funktion »Weitersagen« kann man sein Vorhaben über Facebook oder Twitter verbreiten, um Freunde oder Arbeitskollegen zum Spenden zu motivieren. Ein Barometer zeigt dabei stets die aktuelle Höhe der eingegangenen Spenden an. www.amnesty-in-bewegung.de

WIR ZIEHEN UM!

Ab dem 1. September 2012 ist die deutsche Sektion von Amnesty International unter folgender Adresse zu erreichen: Amnesty International Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V. Zinnowitzer Straße 8 10115 Berlin T: +49 30 - 42 02 48 - 0 F: +49 30 - 42 02 48 - 488 E: info@amnesty.de

IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn, Tel.: 0228 - 98 37 30, E-Mail: Info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Larissa Probst, Ralf Rebmann Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Daniel Bax, Wolfgang Grenz, Dominic Johnson, Georg Kasch, Jürgen Kiontke, Martin Krauß, Daniel Kreuz, Wera Reusch, Andrea Riethmüller, Lena Schiefler, Simone Schlindwein, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Sarah Wildeisen, Jessica Will, Franziska Ulm, Kathrin Zeiske Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: Hofmann Druck, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln, BLZ 370 205 00 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 1433-4356

AKTIV FÜR AMNESTY

WOLFGANG GRENZ ÜBER

URLAUB

Zeichnung: Oliver Grajewski

SCHWITZEN FÜR DIE MENSCHENRECHTE

Drei Wochen Frankreich – zum zwölften Mal schon fahre ich mit Freunden in den Sommerferien an die französische Atlantikküste. Ich freue mich auf Lesen, Radfahren, Schwimmen und gutes Essen. Frankreich ist, abgesehen von Fällen von Polizeigewalt, aus menschenrechtlicher Sicht wohl ein eher harmloses Urlaubsland. Aber bei vielen »Traumzielen« der Deutschen sieht das anders aus: ob Türkei, Ägypten oder Thailand – in zig Ländern werden Menschen, die ihre Meinung frei äußern, inhaftiert, werden Dissidenten misshandelt oder kritische Journalisten schikaniert. Wahrscheinlich werden die wenigsten Touristen Augenzeugen von Folter und Misshandlung. Womit sie hingegen durchaus konfrontiert werden können, ist Kinderarbeit oder Ausbeutung von Arbeitskräften. Wie sollten sich deutsche Urlauber also verhalten? Urlaub auf Balkonien? Davon halte ich wenig. Ein Boykott trifft meist die Falschen: nicht die Regierenden, sondern die Menschen, die vom Tourismus leben. Auch die politische Situation vor Ort anzusprechen, muss nicht immer richtig sein: In vielen Ländern bringt man die Bevölkerung damit leicht in Gefahr. Was jeder Urlauber tun kann, ist, die Augen offen halten und nach der Rückkehr aktiv werden: sich zum Beispiel an Amnesty wenden, an einer Online-Petition teilnehmen, um sich etwa für einen Menschenrechtsverteidiger in Haft einzusetzen. Die Strände in Tunesien oder die buddhistischen Tempelanlagen in Thailand darf man trotzdem genießen. Ein langjähriger Amnesty-Kollege hat übrigens vor vielen Jahren bei einem Aufenthalt in Marokko die Folgen einer Majestätsbeleidigung am eigenen Leib erfahren müssen: Weil er Briefmarken mit dem Konterfei des Königs verbrannte, steckte man ihn ins Gefängnis. Kritik an bzw. Beleidigung der Monarchie ist in Marokko strafbar. Vier Tage später ist er glücklicherweise wieder entlassen worden – unter anderem hatte Amnesty sich beim marokkanischen Innenminister für ihn eingesetzt. Doch einem Marokkaner hätten vermutlich mehrere Jahre Haft gedroht, Misshandlung nicht ausgeschlossen. So dramatisch wird Ihr Urlaub hoffentlich nicht verlaufen. Genießen Sie die freien Wochen – und wagen Sie einen Blick hinter die Kulissen, auch auf die Gefahr hin, etwas Schlechtes an Ihrem Urlaubsziel zu entdecken. Wolfgang Grenz ist Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International.

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BEIT MIT

© UNHCR / A. Rodríguez

ME N A R UF, DIESE ZUSAM A N E LI A IT IE S N FORDER E / SOS-EUROPA W W W.AMNESTY.D


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