Amnesty Journal: Ausgabe Februar/März 2017

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DAS MAGAZIN FÜR DIE MENSCHENRECHTE

AMNESTY JOURNAL

DRANBLEIBEN! DER KAMPF UM DIE MENSCHENRECHTE UNTER DONALD TRUMP

VIDEOS GEGEN VORURTEILE Zwei Syrer bringen Deutsche und Flüchtlinge zusammen

KRIEG IM KRIEG Die innerirakische Allianz gegen den IS bröckelt

DIE TRAUER ÜBERWINDEN Catherine Meurisses Graphic Novel »Die Leichtigkeit«

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2017 FEBRUAR/ MÄRZ


INHALT

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Abwarten und Schutz bieten. Donald Trump droht Städten die Mittel zu streichen, die irregulär Eingewanderte nicht nach ihren Aufenthaltspapieren fragen. Bürgermeister in Kalifornien rechnen deshalb mit hohen Einbußen – und langen juristischen Kämpfen.

TITEL: MENSCHENRECHTE UNTER TRUMP Einwanderungspolitik: Bürgermeister trotzen Trump

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Interview: »Amnesty muss sich neu ausrichten«

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Todesstrafe: Keine Aussicht auf Begnadigung

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Umwelt: Kampf gegen Pipeline durch Reservat

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THEMEN Asylpolitik: 2017 drohen schärfere Gesetze

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Integration: Mit Videos gegen Vorurteile

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Protokolle: Rassismus in Deutschland

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Irak: Turkmenen kämpfen gegen Kurden

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Brasilien: Gewalt gegen LGBTI-Aktivisten

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Zurück ohne Zukunft. 2016 wurden so viele Menschen aus Deutschland abgeschoben wie seit zehn Jahren nicht mehr. Dieser Trend könnte sich im Wahljahr fortsetzen – schon jetzt fordern Konservative wie Sozialdemokraten ein schärferes Vorgehen gegen abgelehnte Asylbewerber.

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KULTUR »Charlie Hebdo«: Catherine Meurisses Graphic Novel über das Attentat

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Nationalsozialistischer Untergrund: Ersan Mondtag inszeniert in München

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Rechtsterrorismus: Neue Bücher über die Hintergründe in Deutschland

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»Brexit Hate«: Ein Film über die Folgen des britischen Referendums für Einwanderer

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»Redefreiheit«: Timothy Garton Ash über das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung

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Deutscher Menschenrechtsfilmpreis: Manuela Bastians »Where to, Miss?« über indische Taxifahrerinnen

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RUBRIKEN Weltkarte 04 Good News: Killerroboter im Visier 05 Panorama 06 Interview: Carla del Ponte 08 Nachrichten 09 Kolumne: Alexandra Föderl-Schmid 11 Einsatz mit Erfolg 12 Markus N. Beeko über Terror und Freiheit 13 Rezensionen: Bücher 61 Rezensionen: Film & Musik 62 Briefe gegen das Vergessen 64 Aktiv für Amnesty 66 Impressum 67

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Schwul, verhasst und ausgegrenzt. In Brasilien schüren konservative Politiker und evangelikale Prediger den Hass gegen Lesben und Schwule. Aktivisten wehren sich dagegen – und gegen Polizeigewalt.

Grausames Puppentheater. Der Performancekünstler und Nachwuchsregisseur Ersan Mondtag bringt die Attentate des NSU im Sommer in den Münchner Kammerspielen auf die Bühne.

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Bis die Schlange stirbt. Umweltaktivisten und Ureinwohner wollen verhindern, dass der von Barack Obama verhängte Baustopp an der Dakota Access Pipeline wieder aufgehoben wird.

Krieg im Krieg. Bei der Offensive auf Mossul sind sie Partner im Kampf gegen den »Islamischen Staat«, doch in Tuz Khurmatu stehen sich schiitische und kurdische Milizionäre bewaffnet gegenüber. Entführungen und Folter bestimmen den Alltag in der nordirakischen Stadt.

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Nimm das Schwere leicht. Catherine Meurisse überlebte das Attentat auf »Charlie Hebdo« im Januar 2015. Ihre Graphic Novel »Die Leichtigkeit« ist ein poetischer Trauerbericht.

Titelbild: Protestbotschaften auf Post-It-Zetteln in der  New Yorker U-Bahn-Station Union Square, November 2016. Foto: Alex Fradkin / Redux / laif Fotos oben: Eric Grigorian / Polaris / laif  |  Alyssa Schukar / NYT / Redux / laif  |  Laetitia Vancon / NYT / Redux / laif  |  Yuri Kozyrev / NOOR / laif  |  Andrzej Rybak  |  Catherine Meurisse  |  David Baltzer / Zenit / laif Foto Editorial: Sarah Eick / Amnesty

INHALT

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EDITORIAL

»TAUCHEN SIE AUF, stürzen Sie sich hinein, bleiben Sie dran – stay at it!« Die Abschiedsrede Barack Obamas steckte voller ermunternder Worte, eine politische Handlungsanleitung für mehr Bürgerengagement und Solidarität. »Veränderung gibt es nur, wenn Menschen sich einmischen, mitmachen und sie gemeinsam einfordern«, sagte der erste schwarze Präsident der USA wenige Tage bevor zum ersten Mal ein Milliardär ins Weiße Haus einzog. Donald Trump gewann die Wahl mit rassistischen, fremdenfeindlichen und diskriminierenden Äußerungen – ein politischer Wendepunkt, der in seiner ganzen Tragweite noch gar nicht absehbar ist. »Wir sind zutiefst besorgt, was die Menschenrechte betrifft«, sagt Margaret Huang, die Direktorin von Amnesty in den USA, in unserem Titelinterview über Trump und dessen Administration. Die Bürgermeister kalifornischer Städte stellen sich bereits auf die Kürzung von Bundesmitteln ein – als Strafe dafür, dass sie Polizisten angewiesen haben, bei Festnahmen nicht nach Aufenthaltspapieren zu fragen, wie Arndt Peltner aus San Francisco berichtet. Unser Reporter Simon Riesche machte sich auf in das winterliche North Dakota, wo es Umweltschützern gelungen ist, den Verlauf einer Pipeline durch ein SiouxReservat zu verhindern – und damit der Ölindustrie ein Schnippchen zu schlagen. Der beunruhigende Machtzuwachs nichtstaatlicher Gewaltakteure ist ein weiterer Schwerpunkt dieser Ausgabe. So bekämpfen sich im Irak im Schatten der Offensive auf Mossul kurdische und turkmenische Milizionäre. Darüber berichtet aus dem Kriegsgebiet Birgit Svensson. Im Kulturteil widmen wir uns Rechtsextremisten in Deutschland sowie den islamistischen Attentätern auf die französische Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« – und beschreiben, wie es der Zeichnerin Catherine Meurisse gelang, durch ihren Comicroman »Die Leichtigkeit« die Trauer über ihre ermordeten Kollegen zu überwinden. Mit dieser Ausgabe übernimmt ein frisches Team die inhaltliche Gestaltung des Amnesty Journals: Hannah El-Hitami ist die neue Volontärin, ich nach vielen Jahren als Korrespondent auf dem Balkan und in Nahost der neue Verantwortliche Redakteur. Wir freuen uns darauf, Ihnen künftig die Welt ein wenig näher zu bringen. Stürzen Sie sich also hinein in dieses Heft und bleiben Sie politisch dran – stay at it! Markus Bickel ist Verantwortlicher Redakteur  des  Amnesty Journals.

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WELTKARTE

TĂœRKEI Der tĂźrkische Staatschef Recep Tayyip ErdoÄ&#x;an ist der EinfĂźhrung eines Präsidialsystems mit diktatorischen Vollmachten einen wichtigen Schritt näher gekommen. Gegen Proteste der Opposition stimmten die Abgeordneten seiner AKP und der nationalistischen MHP im Januar Verfassungsänderungen zu, die die Befugnisse des Staatsoberhaupts erheblich ausweiten wĂźrden. Sollte die BevĂślkerung den Vorschlägen der Ntionalversammlung in einem Referendum zustimmen, wĂźrde der Präsident kĂźnftig auch das Amt des Regierungschefs ausĂźben und kĂśnnte Dekrete mit Gesetzeskraft im Alleingang erlassen. 

IRAN Zehn Menschen sind allein in der ersten Januarwoche in iranischen Gefängnissen wegen Drogendelikten gehängt worden.  Amnesty warnte davor, dass weitere Hinrichtungen wegen Drogenvergehen anstĂźnden. Drogenbesitz selbst in kleinen Mengen kann im Iran mit der Todesstrafe geahndet werden. 2015 ging die Zahl der Hinrichtungen wegen Drogenstraftaten stark in die HĂśhe. 638 der 969 Hingerichteten waren deshalb verurteilt worden. Eine Gruppe von Parlamentariern scheiterte 2016 mit einem Gesetzesvorschlag, die Todesstrafe fĂźr leichte Drogenvergehen  abzuschaffen.

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BRASILIEN Bei Gefängnisaufständen in Brasilien sind seit Jahresbeginn mehr als 130 Menschen getĂśtet worden. Allein im AnĂ­sio-JobimGefängnis in der nordbrasilianischen Stadt Manaus kamen Anfang Januar 56 Menschen ums Leben; mehrere Opfer wurden gekĂśpft. Präsident Michel Temer sprach nach der Niederschlagung des Aufstands von einem Âťschrecklichen Unfall und kĂźndigte den Bau neuer Haftanstalten an. Weil das brasilianische Strafvollzugssystem vĂśllig ßberlastet ist, kommt es immer wieder zu Unruhen. Die Wärter in den von rivalisierenden Drogengangs kontrollierten Gefängnissen sind oft machtlos; schlechte Haftbedingungen erhĂśhen zudem die Spannungen zwischen den Gefangenen.

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ZENTRALAFRIKANISCHE REPUBLIK Der fragile Frieden in der Zentralafrikanischen Republik gerät immer mehr in Gefahr. Bei Kämpfen im Nordwesten des Landes wurden im Januar mehrere AngehĂśrige der UNO-Mission Minusca getĂśtet. 11.000 Blauhelmsoldaten versuchen seit 2013, ein Wiederaufflammen des Krieges zwischen muslimischen Aufständischen und Milizen der christlichen BevĂślkerungsmehrheit zu verhindern. Amnesty warf der Regierung Präsident Faustin Archange TouadĂŠras im Januar in einem Bericht vor, die Verfolgung von Kriegsverbrechern zu vernachlässigen. Reformen im Justizsektor seien unabdingbar, um einen dauerhaften, gerechten Frieden zu schaffen.

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DR KONGO Joseph Kabila bleibt vorerst Präsident der Demokratischen Republik Kongo. Darauf einigten sich Vertreter seiner Regierung im Dezember mit der Opposition. Ein von der katholischen Kirchengemeinschaft im Kongo (Cenco) Ende 2016 vermitteltes Abkommen sieht jedoch vor, dass Kabila keine dritte Amtszeit anstreben darf. AuĂ&#x;erdem sollen bis Ende 2017 Neuwahlen stattfinden. Kabila selbst, der seit 2001 an der Staatsspitze der Demokratischen Republik Kongo steht, hat das Abkommen allerdings noch nicht unterschrieben.  Seine Amtszeit lief im Dezember aus, ohne dass ein Nachfolger gewählt worden wäre. 

AMNESTY JOURNAL | 02-03/2017


GOOD NEWS

Foto: Nick Ansel l /PA Wire / pa

PAKISTAN Die Blasphemiegesetze in Pakistan werden als Waffe gegen religiĂśse Minderheiten missbraucht und ermuntern Zivilpersonen dazu, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen. Zu diesem Schluss kommt ein im Dezember verĂśffentlichter Amnesty-Bericht. Die aus der britischen Kolonialzeit stammenden Gesetze schĂźtzen zwar die religiĂśsen GefĂźhle – vor allem der muslimischen Mehrheit –, verstoĂ&#x;en jedoch gegen das Recht auf freie MeinungsäuĂ&#x;erung und Religionsfreiheit. Zudem basieren aufgrund der Gesetze erfolgte Festnahmen und Ermittlungen häufig auf falschen Anschuldigungen. í˘ł

Menschen gegen Maschinen. Proteste in London im April 2013.

KILLERROBOTER IM VISIER

UNO 2017 kĂśnnte das Verbot von Killerrobotern einen entscheidenden Schritt vorankommen. Auf der fĂźnften Konferenz zur ĂœberprĂźfung der UNO-Waffenkonvention in Genf beschlossen Vertreter von 89 Staaten, der Entwicklung solcher Kampfmaschinen nicht weiter tatenlos zuzusehen. Stattdessen sollen die Verhandlungen Ăźber ein Verbot formalisiert und ausgeweitet werden. Killerroboter sind autonome Waffensysteme, die Ziele ohne nennenswerte menschliche Kontrolle auswählen und angreifen kĂśnnen. Was wie die Bedrohung aus einem Science-Fiction-Roman klingt, kĂśnnte mithilfe moderner Technik bald Realität werden. Dem versuchten die Delegierten bei ihrer Zusammenkunft im Dezember einen Riegel vorzuschieben. FĂźr ein Verbot der vollständig autonomen Waffen sprechen sich weltweit bislang lediglich 19 Staaten aus. Deutschland gehĂśrt nicht dazu. Fachleute betrachten die Automatisierung von Kampfmitteln als dritten Schritt in der Evolution der KriegsfĂźhrung – nach der Erfindung des SchieĂ&#x;pulvers und der Nuklearwaffen. Auch Amnesty International setzt sich fĂźr ein Verbot ein. Killerroboter wĂźrden zwar die Sicherheit von Soldaten und Polizisten im Einsatz erhĂśhen, jedoch die Hemmschwelle senken, Ăźberhaupt in bewaffnete Konflikte einzutreten, kritisiert Rasha Abdul Rahim, die bei Amnesty in London fĂźr RĂźstungskontrolle zuständig ist. Die automatisierten Waffensysteme kĂśnnen nicht zwischen Zivilisten und Soldaten unterscheiden. AuĂ&#x;erdem lassen sie sich kaum auf die Regeln des internationalen KriegsvĂślkerrechts programmieren, so Abdul Rahim: ÂťRobotern die Macht der Entscheidung Ăźber Leben und Tod zu geben, Ăźberschreitet eine grundlegende moralische Grenze. Sie haben keine Emotionen, keine Empathie oder MitgefĂźhl, und ihre Verwendung wĂźrde gegen das Menschenrecht auf Leben und WĂźrde verstoĂ&#x;en.ÂŤ Nach Jahren des Stillstands ist der UNO-Beschluss ein kleiner, aber wichtiger Schritt hin zu einem Verbot automatisierter Waffensysteme, dem erstmals auch China seine Zustimmung erteilte. Doch die Zeit drängt: ÂťEine abwartende Haltung kĂśnnte zu weiteren Investitionen in die Entwicklung und zu einer rapiden Ausbreitung dieser Systeme fĂźhrenÂŤ, warnt Abdul Rahim.

WELTKARTE

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Foto: Soe Zeya Tun / Reuters

MYANMAR: NOBELPREISTRÄGERIN GEGEN ROHINGYA

Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi droht in die Fußstapfen ihrer autoritären Vorgänger zu treten. Gut ein Jahr nach dem Wahlsieg ihrer Nationalen Liga für Demokratie lässt die Regierung der einstigen Hoffnungsträgerin Soldaten in der Grenzregion Rakhine hart gegen die muslimische Minderheit der Rohingya durchgreifen. Zehntausende sind seit Oktober ins benachbarte Bangladesch geflohen. Amnesty-Recherchen zufolge haben Armee und Polizei in den vergangenen Monaten mehr als 1.200 Gebäude im Hauptsiedlungsgebiet der Rohingya abgebrannt; zudem sollen Soldaten für die Tötung von Zivilisten und die Vergewaltigung von Frauen verantwortlich sein. Erst nach internationalem Druck sagte Aung San Suu Kyi zu, Übergriffe gegen Angehörige der rund 1,1 Millionen Rohingya untersuchen zu lassen. Zum Jahreswechsel hatten 23 Nobelpreisträger in einem Brief an den UNO-Sicherheitsrat gefordert, den »Genozid« an den Rohingya zu stoppen. Bis März will die UNOMenschenrechtsgesandte für Myanmar, Yanghee Lee, einen Bericht über die Lage der Minderheit vorlegen.

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AMNESTY JOURNAL | 02-03/2017


ISRAEL: EMPÖRUNG ÜBER SOLDATENURTEIL

Für viele Israelis bleibt Elor Azaria ein Held im Kampf gegen den Terrorismus, auch wenn ein Militärgericht in Jaffa den Soldaten im Januar wegen Totschlags verurteilte. Auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu distanzierte sich von dem Richterspruch. Amnesty International sieht in dem Urteil hingegen einen Hoffnungsschimmer: »Die Verurteilung eines Mitglieds der israelischen Streitkräfte ist ein seltenes Ereignis in einem Land, das eine lange Geschichte exzessiver und ungerechtfertigter Gewalt hat und in dem Soldaten, die sich nach internationalem Recht strafbar gemacht haben könnten, selten belangt werden«, sagte der Amnesty-Nahostexperte Philip Luther. Im März 2016 hatte der Soldat den palästinensischen Angreifer Abdel Fattah al-Sharif an einem israelischen Kontrollpunkt per Kopfschuss getötet, als dieser bereits verletzt am Boden lag. Ein Video der Tat sorgte weltweit für Empörung. Während des Prozesses gegen Azaria demonstrierten Hunderte vor dem Gericht in Jaffa für seine Freilassung. Netanjahu hat angekündigt, sich für Azarias Begnadigung einsetzen. Foto: Ben Kelmer / i-Images / Polaris / laif

PANORAMA

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INTERVIEW CARLA DEL PONTE

Wir ermitteln, aber wofür, wenn sich niemand damit beschäftigt, dass die Verantwortlichen vor Gericht erscheinen? Warum ist das im Fall Syriens anders als bei den Friedensschlüssen auf dem Balkan, als Staatschefs wie Slobodan Milošević wussten, dass sie im Visier der internationalen Strafjustiz stehen? Die Dayton-Verhandlungen für Bosnien waren erfolgreich, weil die Amerikaner mit Milošević verhandelten im Wissen, dass das Sondertribunal für Jugoslawien gegen ihn ermittelte. Deshalb nenne ich dieses Vorgehen immer als Vorbild für Syrien: Man muss, wenn man Frieden erreichen will, auch mit der Regierung verhandeln – das heißt, mit Präsident Bashar al-Assad.

Foto: Hermann Bredehorst / Polaris / laif

Hat Ihre Kommission genügend Beweise, um Anklage gegen Assad zu erheben? Ja, wir haben ausreichend Material gesammelt, um Verfahren gegen hohe politische und militärische Verantwortliche aller Seiten zu führen. Wir warten allerdings immer noch darauf, unsere Beweise einem internationalen Gerichtshof übergeben zu können. Das sollte so schnell wie möglich geschehen, denn es wäre auch ein Beitrag zu den Friedensverhandlungen.

»WIR KÖNNTEN ASSAD VOR GERICHT BRINGEN« Obwohl unzählige Beweise für Kriegsverbrechen in Syrien vorliegen, ist es auch sechs Jahre nach Beginn des Aufstands gegen Diktator Bashar al-Assad zu keiner Anklage gekommen. Die Schweizer Juristin Carla Del Ponte gehört seit 2011 der Unabhängigen Internationalen Syrien-Ermittlungskommission der Vereinten Nationen an. Von 1999 bis 2007 war sie Chefanklägerin des UNO-Sondertribunals für das frühere Jugoslawien. Interview: Markus Bickel

Nach dem Fall Ost-Aleppos hat die UNO-Vollversammlung eine Resolution verabschiedet, die eine Verfolgung von Kriegsverbrechen in Syrien möglich macht. Kommt diese nicht Jahre zu spät? Nein. Für diese Verbrechen ist es nie zu spät. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn man früher begonnen hätte, Wege zu finden, um den Verantwortlichen den Prozess zu machen. Aber wir haben genügend Beweise gesammelt, um der Gerechtigkeit doch noch zum Durchbruch zu verhelfen. Sollte bei den Syrien-Verhandlungen in Genf die juristische Aufarbeitung der Verbrechen nicht eine viel größere Rolle spielen? Das sollten sie, aber leider sind Justiz und Gerechtigkeit bei diesen Verhandlungen kein Thema. Unsere Frustration ist groß:

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Der UNO-Sicherheitsrat müsste den Fall Syrien an den Internationalen Strafgerichtshof überweisen. Das wird von China und Russland aber blockiert. Müssen künftig nationale Gerichte Kriegsverbrechern den Prozess machen? Die ganze Arbeit können sie sicherlich nicht machen. Bislang finden nur in einzelnen Ländern Prozesse gegen ausländische Kämpfer statt, die sich dem »Islamischen Staat« angeschlossen haben. Da es bislang kein Staat gewagt hat, gegen hohe politische oder militärische Verantwortliche Verfahren zu eröffnen, bleibt dafür nur ein internationaler Gerichtshof. Südafrika, Gambia und Burundi haben angekündigt, den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu verlassen. Die Philippinen erwägen ebenfalls einen solchen Schritt, Großbritannien kürzt seine Mittel. Was bedeutet das für das Gericht? Es ist ein schwerer Moment für den Internationalen Strafgerichtshof, wenn Staaten ihm den Rücken kehren. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass wieder bessere Zeiten kommen werden – schließlich war die Schaffung eines permanenten Gerichtshofs ein großer Erfolg der internationalen Justiz. Rückwärts gehen kann man nicht, nur vorwärts, aber dafür muss man kämpfen, sonst wird es keine Gerechtigkeit für die Opfer geben. Seitens der afrikanischen Staaten heißt es, der Strafgerichtshof sei ein Instrument des Westens und übe Kolonialjustiz aus. Das ist eine politische Instrumentalisierung des Themas, die einfach nicht stimmt. Natürlich werden die Ermittlungen in Afrika zu Recht geführt, und das auch mit Erfolg. Deshalb mache ich mir nicht allzu viele Sorgen über solche Äußerungen.

AMNESTY JOURNAL | 02-03/2017


»Das Aushungern von Zivilpersonen als Mittel der Kriegsführung ist verboten.« ZUSATZPROTOKOLL ZUM GENFER ABKOMMEN ÜBER DEN SCHUTZ DER OPFER INTERNATIONALER BEWAFFNETER KONFLIKTE, ARTIKEL 54

Foto: Bassam Khabieh / Reuters

SYRIEN: HUNGER ALS WAFFE

Belagert und zerstört. Duma östlich von Damaskus.

Trotz neuer Verhandlungen über einen permanenten Waffenstillstand sind 13,5 Millionen Syrer am Ende des sechsten Kriegsjahres weiter auf humanitäre Hilfe angewiesen, darunter 4,9 Millionen, die in schwer erreichbaren Gebieten leben. Dazu zählen vor allem Regionen, die von Regierungseinheiten belagert werden – und deren knapp eine Million Bewohner systematisch von jeglicher Versorgung abgeschnitten sind. In etlichen Fällen haben auch Oppositionsmilizen humanitäre Organisationen daran gehindert, von ihnen kontrollierte Gebiete zu betreten. UNO-Nothilfekoordinator Stephen O’Brien beklagte Ende 2016, dass »fortwährende Hindernisse die Auslieferung dringend benötigter Hilfe« blockierten. Dem Regime Präsident Bashar al-Assads warf er »administrative Verzögerungen« vor. So hätte die Regierung in Damaskus im Dezember die Genehmigung für lediglich einen Hilfskonvoi erteilt. Nur 6.000 Menschen konnten deshalb mit Nahrungsmitteln und Medizin versorgt werden, und nicht wie zugesagt 800.000.

INTERVIEW

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NACHRICHTEN

4,9 MILLIONEN MENSCHEN LEBEN IN SCHWER ERREICHBAREN GEBIETEN.

91%

DER GEBIETE WERDEN DURCH EINHEITEN DES ASSADREGIMES BELAGERT. NUR

974.080 45% 411.000 MENSCHEN – DARUNTER

KINDER – LEBEN IN 16 BELAGERTEN GEBIETEN VOR ALLEM UM DAMASKUS, IDLIB, ALEPPO, DEIR AL-ZOR UND HOMS.

DER HILFSKONVOIS KAMEN 2016 IN DIE BELAGERTEN GEBIETE DURCH.

Idlib

Aleppo Deir al-Zor

Homs Damarkus

Quellen: UNOCHA, Siege Watch

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HERERO UND NAMA KLAGEN WEGEN VÖLKERMORDES

NAMIBIA Es war der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts, doch

seine Aufarbeitung kommt erst jetzt langsam ins Rollen: Wegen des Massakers an Herero und Nama in der Kolonie DeutschSüdwestafrika, dem heutigen Namibia, fordern Vertreter der beiden Gruppen nun finanzielle Entschädigung. Anfang 2017 reichten sie deshalb Klage vor einem Gericht in New York ein. Zwischen 1904 und 1908 hatten die Truppen Kaiser Wilhelms II. Historikern zufolge etwa 65.000 der 80.000 Herero getötet. Weil die deutschen Siedler den halbnomadischen Herero immer mehr Land raubten und die Kolonialverwaltung sie mithilfe von Rassengesetzen unterdrückte und entrechtete, lehnten diese sich vor 113 Jahren gegen die deutschen Machthaber auf. In einem »Schießbefehl« forderte der verantwortliche

General Lothar von Trotha die Herero auf, deutsches Gebiet zu verlassen und kündigte an, dass jeder, der sich dem widersetze, erschossen werde. Flüchtende Herero wurden in die Wüste getrieben, wo deutsche Soldaten sie verdursten ließen. Auch die Hälfte der rund 20.000 Nama in Deutsch-Südwestafrika wurde getötet, als sie sich im Oktober 1904 gegen die Kolonialherrschaft auflehnten. Die Bundesregierung erkannte die deutschen Verbrechen an Herero und Nama erst 2015 offiziell als Völkermord an und verhandelt derzeit mit Namibia über Wiedergutmachungsleistungen. Individuelle Entschädigungszahlungen hat der Sonderbeauftrage der Bundesregierung, Ruprecht Polenz (CDU), jedoch ausgeschlossen.

AUSNAHMEZUSTAND BIS SOMMER

FRANKREICH Mindestens bis Juli wird der

Foto: Robert Deyrail / Gamma-Rapho / laif

Ausnahmezustand in Frankreich noch dauern. Das beschlossen der Senat und die Nationalversammlung im Dezember. Die Regierung hatte die Verlängerung zuvor mit »erhöhtem Anschlagsrisiko« vor der Präsidentenwahl im April und der Abstimmung über ein neues Parlament im Juni begründet. Die erweiterten Befugnisse für Innenministerium und Polizei waren von Präsident François Hollande nach den Terroranschlägen in Paris im November 2015 beschlossen worden. Seitdem ist der Ausnahmezustand fünfmal verlängert worden, zuletzt nach dem Attentat von Nizza im Juli 2016. Amnesty International hat das Vorgehen französischer Sicherheitskräfte gegen Zivilisten wiederholt kritisiert. Maßnahmen wie Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss oder die Einführung einer temporären Residenzpflicht dürften nicht willkürlich vorgenommen werden. Auch mehrere Abgeordnete forderten ein Ende des Ausnahmezustands, dessen jüngste Verlängerung von der Nationalversammlung im Dezember mit einer Mehrheit von 288 zu 32 Stimmen verabschiedet wurde. Terrorprävention ohne Ende. Polizeikontrolle in Lyon im Dezember 2016.

COLONIA-DIGNIDAD-ANGEHÖRIGE VERURTEILT

CHILE Der Oberste Gerichtshof in Chile hat drei ehemalige Führungsmitglieder der Colonia Dignidad im Dezember zu je fünf Jahren Haft verurteilt. Das gleiche Strafmaß wurde gegen zwei frühere chilenische Geheimdienstmitarbeiter verhängt. Von den im Jahr 2006 wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagten 18 Personen müssen nun fünf eine Haftstrafe abbüßen. Vier Angeklagte wurden freige-

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sprochen. Der Gründer der Sekte in Südchile, Paul Schäfer, war bereits 2006 zu 20 Jahren Haft verurteilt worden; er starb 2010. Unter seiner Herrschaft wurden in der 1961 gegründeten Kolonie systematisch Kinder missbraucht und Bewohner zur Arbeit gezwungen. Das Regime von Augusto Pinochet nutzte das Gelände von 1974 bis 1990 als Folterlager, in dem bis zu 100 Regime-

gegner ermordet wurden. Auch in Deutschland droht einem Sektenmitglied Haft: Hartmut Hopp, der als Sektenarzt zur Führungsriege zählte, wurde in Chile wegen Beilhilfe zu Kindesmissbrauch zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er flüchtete 2011 nach Krefeld, wo er bis heute in Freiheit lebt. Im vergangenen Jahr forderte die hiesige Staatsanwaltschaft, das Urteil zu vollstrecken.

AMNESTY JOURNAL | 02-03/2017


KOLUMNE ALEXANDRA FÖDERLSCHMID

Anders als in Großbritannien und in den USA war die Überraschung in Österreich positiv: Nach dem Brexit-Votum und dem Sieg Donald Trumps hatten viele damit gerechnet, dass mit Norbert Hofer erstmals ein Rechtspopulist Staatsoberhaupt in einem westeuropäischen Land werden würde. Zumal seine Partei, die FPÖ, bis heute in Umfragen auf Platz eins liegt – weit vor den Regierungsparteien SPÖ und ÖVP. In Erwartung eines Triumphs waren Vertreter rechter Parteien deshalb am 4. Dezember zum Feiern nach Wien gereist.

Zeichnung: Oliver Grajewski

Doch es kam anders: Dass der Grüne Alexander Van der Bellen am Ende einen Vorsprung von 350.000 Stimmen hatte, hat er einer breiten politischen Allianz – und der Zivilgesellschaft – zu verdanken. Grüne, Linke, Liberale, Sozialdemokraten und ÖVPler taten sich zusammen. Vor allem Frauen und frühere Nichtwähler konnte Van der Bellen mobilisieren, sodass er am Ende auf 53 Prozent der Stimmen kam.

BUNTES ENGAGEMENT

Es war ein buntes Engagement, das weit über die Stammwählerschaft der Grünen hinausging. Diese waren bei der Nationalratswahl 2013 lediglich auf zwölf Prozent der Stimmen gekommen. Selbst Bürgermeister der konservativen ÖVP mobilisierten dort, wo Van der Bellen in den ersten Wahlgängen hinter Hofer lag: in den Landgemeinden. Auch wenn viele nur für Van der Bellen stimmten, weil sie ihn für das »kleinere Übel« hielten, verband seine Anhänger ein Motiv: gegen Rechts zu sein. Bei manchen war es auch schlicht Angst vor Hofers Worten. »Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist!«, hatte der Rechtspopulist vor dem ersten Wahlgang im vergangenen Frühjahr gesagt. Ohnehin verfügt das österreichische Staatsoberhaupt über mehr Kompetenzen als sein deutscher Amtskollege und spielt eine wichtige Rolle bei der Regierungsbildung. Auch die negative Berichterstattung im Ausland, in der Österreich vor allem in den angelsächsischen Medien als Nazi-Land beschrieben worden war, dürfte viele erschreckt und zu einem Bewusstseinswandel beigetragen haben. Viele wollten der FPÖ nicht den Weg zu einer erneuten Regierungsbeteiligung bereiten: Zwischen 2000 und 2005 hatte die Partei bereits mit der ÖVP koaliert. Mit Korruptions- und Amtsmissbrauchsvorwürfen aus dieser Zeit beschäftigen sich Gerichte bis heute. Sollte es 2017 zu vorgezogenen Parlamentswahlen kommen, könnte die FPÖ allerdings den Spitzenplatz erobern. Der Erfolg von Van der Bellens Anti-Rechtsallianz darf deshalb nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Konstellation ein Sonderfall war. Zugleich zeigte sie, dass Einzelne zu einem mobilisierenden Faktor werden und in der Politik etwas erreichen können, wenn sie sich zusammenschließen. Das sind Lehren, die man in Ungarn ziehen kann, wo es erstaunlich wenig Widerstand gegen den von Ministerpräsident Viktor Orbán forcierten Umbau des Rechtsstaats und die Einschränkung der Pressefreiheit gibt. In Polen hingegen haben Bürgerproteste die Regierung zur Rücknahme konkreter Maßnahmen gezwungen. In Österreich zeigte sich auch, dass Bürgerengagement den Wahlkampf vielfältiger macht. Politiker der Regierungsparteien haben wieder Mut geschöpft, gegen die FPÖ anzukämpfen und sich argumentativ von ihr abzugrenzen – statt deren Forderungen zu übernehmen. 2017 ist ein Schicksalsjahr für Europa, in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland stehen Wahlen an. In Österreich wurde der Beweis erbracht, dass Rechtspopulisten nicht unbesiegbar sind. Alexandra Föderl-Schmid ist Chefredakteurin der österreichischen Tageszeitung »Der Standard«.

NACHRICHTEN

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KOLUMNE

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Foto: Thierry Gouegnon / Reuters

AMTSEID IM EXIL

Gambia hat entschieden. Anhänger Adama Barrows feiern dessen Amtsantritt in Dakar am 19. Januar.

Nach dem Sieg Adama Barrows bei der Präsidentenwahl in Gambia wurde Oppositionsführer Ousainou Darboe aus der Haft entlassen. Amnesty hatte sich seit seiner Inhaftierung im vergangenen Sommer für seine Freilassung eingesetzt. Von Hannah El-Hitami Kurz nach Veröffentlichung des Wahlergebnisses war die Stimmung hoffnungsvoll. »Es ist ein neues Gambia«, sagte Ousainou Darboe bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis in der Hauptstadt Banjul im Dezember. Dass der Oppositionsführer und 18 weitere politische Gefangene auf freien Fuß kamen, hat hohe Erwartungen an eine geregelte Machtübergabe in dem westafrikanischen Land geweckt. Denn nach seiner Niederlage bei der Präsidentschaftswahl erkannte Staatschef Yahya Jammeh das Ergebnis zunächst nicht an. Sein Nachfolger Adama Barrow musste seinen Amtseid deshalb im Januar in der gambischen Botschaft im Nachbarland Senegal leisten. Barrow hatte Darboe als Kandidaten der größten Oppositionspartei des Landes UDP (Vereinigte Demokratische Partei) vertreten, weil dieser zum Zeitpunkt der Wahl im Gefängnis saß. Der 68-jährige Anwalt und Politiker Darboe setzt sich seit 1973 für einen friedlichen Machtwechsel in Gambia ein

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und hat schon viermal erfolglos gegen den 51-jährigen Jammeh kandidiert. Im April 2016 war er zusammen mit 55 weiteren Personen auf einer Demonstration in Banjul festgenommen und später zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Nie zuvor während Jammehs Herrschaft hatten es so viele Menschen gewagt, gegen eine Regierung auf die Straße zu gehen, die für ihr rücksichtsloses Vorgehen gegen Oppositionelle berüchtigt ist. Während des Wahlkampfs gab es immer wieder Proteste gegen die Regierung des Ex-Offiziers. Unter Jammehs Präsidentschaft, die seiner Vorstellung nach »eine Milliarde Jahre« dauern sollte, kam es zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. Amnesty berichtete vor allem seit einem Putschversuch 2014 von etlichen Fällen des »Verschwindenlassens«. Journalisten und Menschenrechtsaktivisten wurden willkürlich inhaftiert und gefoltert. Im Oktober 2014 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das »schwere Homosexualität« unter Todesstrafe stellt. Obwohl Gambia weniger als zwei Millionen Einwohner hat, gehörte es 2016 zu den fünf afrikanischen Staaten, aus denen die meisten Menschen über das Mittelmeer Richtung Europa flohen. Außerdem hat Jammeh Gambia immer weiter international isoliert: 2013 verließ das Land den Commonwealth, und im vergangenen

Oktober beschloss seine Regierung den Austritt aus dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), der sich seiner Ansicht nach zu wenig mit den Verbrechen westlicher Länder befasst. Der Wahlsieg des 1965 geborenen Barrows bedeutet deshalb für viele Gambianer den Beginn eines lange ersehnten politischen Wandels. Der muslimische Politiker und Unternehmer hat angekündigt, den Austritt aus dem IStGH rückgängig zu machen. Doch nachdem Jammeh seine Niederlage im Dezember zunächst öffentlich akzeptiert hatte, weigerte er sich wenige Tage später, das Ergebnis anzuerkennen. Seitdem ließen die Behörden mehrere unabhängige Radiosender schließen. Etliche Menschen wurden festgenommen, weil sie T-Shirts mit der Aufschrift #Gambiahasdecided trugen oder verkauften, um damit ihre Unterstützung für eine friedliche Machtübergabe auszudrücken. Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) kündigte im Januar an, den demokratisch legitimierten Machtwechsel im Zweifelsfall auch durch die Entsendung einer Eingreiftruppe zu erzwingen. Diesen Druck gab Jammeh schließlich nach. »Ich glaube, es ist nicht nötig, dass auch nur ein Tropfen Blut vergossen wird«, sagte er Ende Januar – und begab sich nach 22 Jahren an der Macht ins Exil.

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Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

LGBTI-AKTIVIST AUS HAFT ENTLASSEN

VENEZUELA Nach mehr als zwei Jahren Haft ist der venezolanische Menschenrechtsaktivist Rosmit Mantilla wieder frei. Der Politiker der Oppositionspartei Voluntad Popular hatte sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi-, Trans- und Intersexuellen eingesetzt und war im Mai 2014 festgenommen worden. Die Staatsanwaltschaft beschuldigte ihn, mit ausländischen Geldern Proteste gegen die Regierung Nicólas Maduros finanziert und zu Gewalt aufgerufen zu haben. Im November 2016 erlaubte man ihm, notwendige Operationen vornehmen zu lassen, kurze Zeit später wurde er in Caracas aus der Haft entlassen.

EINSATZ VON STREUMUNITION AUSGESETZT

SAUDI-ARABIEN Im Dezember hat die Regierung Saudi-Arabiens bekannt gegeben, im Jemen keine in Großbritannien hergestellten Streubomben mehr einzusetzen. Zuvor hatte die vom Königshaus in Riad geführte Militärallianz im Jemen zugegeben, seit Beginn des Krieges gegen die Huthi-Milizen im März 2015 Streubomben verwendet zu haben. Die USA hatten die Lieferung von Streumunition an Saudi-Arabien bereits im Mai 2016 ausgesetzt. Amnesty-Aktivisten weltweit setzen sich für ein Verbot dieser für Zivilisten verheerenden Waffen ein. Die Vereinten Nationen bezifferten die Zahl der in dem Konflikt getöteten Zivilisten im Januar auf mehr als 10.000.

AKTIVIST WIEDER AUFGETAUCHT

Der Menschenrechtsverteidiger Wahid Baloch ist im Dezember, vier Monate nach seinem Verschwinden, zu seiner Familie nach Karachi zurückgekehrt. Er ist einer von vielen Angehörigen der Minderheit der Belutschen, die von der pakistanischen Staatssicherheit in den vergangenen Jahren entführt worden sind. Seit 2004 sollen nach Angaben lokaler NGOs fast 8.000 Belutschen verschwunden sein. 700 Leichen von belutschischen Aktivisten wurden seit 2009 gefunden.

PAKISTAN

MENSCHENRECHTSVERTEIDIGER FREI

Der indische Menschenrechtsverteidiger Khurram Parvez ist im November aus der Haft entlassen worden. Er war im September unter dem Vorwurf festgenommen worden, eine unmittelbare Bedrohung des öffentlichen Friedens darzustellen, kam jedoch nach wenigen Tagen wieder auf freien Fuß. Kurz darauf nahm man ihn abermals fest; diesmal wurde er der Anstiftung zu Gewalt gegen Sicherheitskräfte beschuldigt. Am 25. November erklärte das Hohe Gericht des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir die Inhaftierung von Khurram Parvez für willkürlich und rechtswidrig – sodass er fünf Tage später freikam.

INDIEN

ERFOLGE

MARKUS N. BEEKO ÜBER

TERROR UND FREIHEIT

Foto: Bernd Hartung / Amnesty

EINSATZ MIT ERFOLG

Vom Anschlag in Berlin erfuhr ich durch SMS-Nachrichten von Freunden, die fragten, ob wir »wohlauf« seien. Bei mir weckte das Erinnerungen an einen anderen Anschlag: den von London. Am 7. Juli 2005 fand dort die Trauerfeier statt für AmnestyGründer Peter Benenson. Ich kam vom Flughafen und wollte mit der U-Bahn zum Trafalgar Square, von wo es nur ein paar Schritte sind bis zur Kirche St. Martin-in-the-Fields, dem Ort des Gedenkgottesdienstes. Doch die U-Bahn hielt erst zwei Stationen später, und keiner wusste warum. Beim Verlassen der Tube sahen wir überall Polizei- und Krankenwagen mit Blaulichtern. Erst in der Kirche berichteten Gäste, was passiert war: Bei Selbstmordanschlägen in drei U-Bahnen und einem Bus waren 56 Menschen getötet worden. Wir waren alle verstört. Doch umso bewegender war die Trauerfeier für Benenson. Der Pfarrer erinnerte daran, dass in seiner Kirche schon Gottesdienste für die Opfer von 9/11 und anderer Anschläge stattgefunden hatten. Und dass die Selbstmordattentate kein Grund seien, die Veranstaltung abzubrechen. Im Gegenteil: Gerade inmitten von Terror dürfe man die Bedeutung von Bürger- und Menschenrechten nicht vergessen, für die der Amnesty-Gründer bis zu seinem Tod gekämpft hatte. Dass Freiheit und Sicherheit zusammengehören, gilt bis heute. Eine Entwicklung ist allerdings verstörend: Die im Januar von Amnesty veröffentlichte Untersuchung der Antiterrorgesetze in 14 EU-Staaten zeigt, dass Einschränkungen von Grundrechten zunehmend ohne rechtsstaatliche, unabhängige richterliche Kontrolle möglich werden. So laufen wir Gefahr, jene Prinzipien zu opfern, die die Voraussetzung für unser Vertrauen in die Sicherheitsbehörden bilden – und für deren erfolgreiche Arbeit. Sich in Zeiten von Terror für Freiheits- und Bürgerrechte einzusetzen, ist kein Widerspruch, sondern selbstverständlicher Bestandteil unserer Sicherheit. Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen  Amnesty-Sektion.

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TITEL

Upside down. Protestcamp in North Dakota. Foto: Stephanie Keith / Reuters

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Menschenrechte unter Trump Amerika wieder groß machen will der neue US-Präsident Donald Trump. Millionen Menschen fürchten jedoch, dabei auf der Strecke zu bleiben – darunter Einwanderer ohne Papiere, Schwarze und andere Minderheiten. Zudem drohen gelockerte Waffengesetze und mehr Überwachung.

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Abwarten und Schutz bieten Donald Trump hat angekündigt, sogenannten Zufluchtsstädten, die irregulär Eingewanderte beherbergen, die Bundesmittel zu streichen. Bürgermeister in Kalifornien rechnen mit Einbußen in Milliardenhöhe – die nicht zuletzt für soziale Projekte fehlen werden. Von Arndt Peltner

A

m Abend des 1. Juli 2015 schlendert Kathryn Steinle mit ihrem Vater den Embarcadero entlang, eine der beliebtesten Touristenattraktionen San Franciscos. Die beiden gehen vorbei am berühmten »Ferry Building« und dann hinaus auf den Pier 14, von wo man einen wunderbaren Ausblick auf die Bay-Bridge, Treasure Island und Downtown San Francisco hat. Plötzlich fallen drei Schüsse, eine der Kugeln ist ein Querschläger und trifft die junge Frau hinten am Hals. Kathryn Steinle stirbt kurz darauf in einem Krankenhaus, ihre Halsschlagader ist verletzt worden. Der Täter war Juan Francisco Lopez-Sanchez, ein mehrfach vorbestrafter Mexikaner, der zuvor bereits fünfmal nach Mexiko abgeschoben worden war – doch immer wieder zurückkam. Die Waffe hatte er zuvor in San Francisco aus dem Privatwagen eines Beamten gestohlen. Mit dieser schoss er anschließend am Pier 14 um sich. Eigentlich hätte der 45-Jährige nach einer Drogenstraftat zum sechsten Mal nach Mexiko ausgewiesen werden sollen. Doch die Polizei San Franciscos überstellte ihn nicht an die zu-

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ständige Einwanderungsbehörde »Immigration and Customs Enforcement« (ICE), sondern entließ ihn aus der Haft, nachdem ein Richter die Anklage wegen Marihuana-Besitzes fallen gelassen hatte. Der Grund: Die Stadtväter erklärten San Francisco bereits 1989 zur »Sanctuary City«, einer Zufluchtsstadt für irregulär ins Land gekommene Einwanderer. Zehn Jahre zuvor hatte Los Angeles seine Polizeibeamten angewiesen, bei Kontrollen und Festnahmen nicht nach Aufenthaltspapieren zu fragen. 364 Bezirke, darunter 39 Städte, sind diesem Schritt inzwischen gefolgt und haben sich den Status von Zufluchtsstädten gegeben – darunter auch Miami und New York. Doch die rechtliche Lage ist nicht überall gleich: In San Francisco und anderen Städten, die ihre Schutzaufgabe sehr umfassend auslegen, ist es lokalen Polizeieinheiten untersagt, mit der Einwanderungsbehörde ICE zusammenzuarbeiten. Die Beamten sind angehalten, die vom ICE ausgestellten Anfragen zur Inhaftierung von Straffälligen zu ignorieren – und bei Festnahmen nicht nach Einwanderungsdokumenten zu fragen. In vielen anderen Kommunen bedeutet »Sanctuary City« hingegen in erster Linie, irregulär

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Foto: James Whitlow Delano / laif

Instrument der Abschottung. Grenzzaun nahe des kalifornischen Jacumba.

Eingewanderten den Zugang zu Sozialprogrammen zu ermöglichen und ihren Kindern den Schulbesuch. Am Tag des Todes von Kathryn Steinle begann in den USA der lange Präsidentenwahlkampf, die ersten Fernsehdebatten der Republikaner standen an. Zwei Wochen zuvor hatte Donald Trump seine Kandidatur erklärt und gleich mit markigen Sprüchen auf sich aufmerksam gemacht: »Wenn Mexiko seine Leute schickt, schicken sie nicht ihre besten«, sagte er vor laufenden Kameras. »Sie schicken Leute, die eine Menge Probleme haben, und sie bringen diese Probleme zu uns. Sie bringen Drogen. Sie bringen Verbrechen. Sie sind Vergewaltiger. Und manche, nehme ich an, sind gute Leute.«

Abschottung statt Legalisierung Der Tod einer jungen Amerikanerin durch die Schüsse eines ins Drogenmilieu verstrickten Mexikaners kam Trump da gerade recht. Umgehend twitterte er der Familie sein Beileid und behauptete, der Mord an ihrer Tochter hätte verhindert werden können, wenn San Francisco sich nicht zur Zufluchtsstadt erklärt hätte. Er kündigte deshalb an: »Wir werden den ›Sanctuary Cities‹, die für so viele sinnlose Tote verantwortlich sind, ein Ende bereiten. Keine finanziellen Mittel mehr für sie«, sagte er auf einer Wahlveranstaltung im Sommer 2015 unter dem Jubel seiner Anhänger. Eine Forderung, die sich im Oktober 2016 auch in Trumps Aktionsplan für die ersten hundert Tage im Weißen Haus wiederfand, seinem »Vertrag mit dem amerikanischen Wähler«: Bereits an seinem ersten Arbeitstag werde er die Streichung sämtlicher Bundesmittel für die Zufluchtsstädte anordnen, heißt es dort unter Punkt drei, »um die Sicherheit und die Herrschaft des Gesetzes wiederherzustellen«. Noch ist offen, ob der 45. Präsident der USA seinen im Wahlkampf angekündigten Kurs gegen die Zufluchtsstädte auch im Amt durchsetzen kann. Doch die aggressive Rhetorik lässt Schlimmes befürchten: Von zwei bis drei Millionen »kriminel-

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len Ausländern«, die ausgewiesen werden müssten, sprach er auf Veranstaltungen – obwohl etwa das »Migration Policy Institute« nur gut 820.000 Menschen unter dieser Kategorie führt. Doch mit seinen rassistischen und xenophoben Äußerungen hatte er Erfolg – auch rechtsextreme und offen fremdenfeindliche Gruppierungen wie der Ku-Klux-Klan sehen in dem 70-jährigen Milliardär ihren Kandidaten. Endlich werde ausgesprochen, was das weiße Amerika schon lange verlange, lautet die einhellige Meinung in vielen rechten Internetforen. Der Status nicht legalisierter Einwanderer, vor allem aus Mexiko, ist eines der großen politischen Themen in den USA und hat noch in jedem Wahlkampf für Zündstoff gesorgt. Dabei ist ihre Anzahl relativ klein: So geht das renommierte »Pew Research Center« von 11,1 Millionen Menschen ohne Papiere aus – das sind lediglich 3,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zwei Drittel leben bereits seit mehr als einem Jahrzehnt in den USA, warten aber immer noch auf ihre Legalisierung. Knapp sechs Millionen irregulär Eingewanderte sind Mexikaner. Fast zwei Drittel der Einwanderer leben in Texas, Florida, New York, New Jersey und Illinois und Kalifornien. Allein im »Golden State« leben 2,3 Millionen Einwanderer ohne Papiere, davon 71 Prozent Mexikaner. Abschottung statt Legalisierung lautet die Devise, die den politischen Umgang mit den Einwanderern in den USA prägt. Bereits 2006 verabschiedete Präsident George W. Bush den so-

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Trumps Mauer Doch auch mehr als ein Jahrzehnt später versuchen Monat für Monat Tausende Menschen aus Mexiko, Guatemala, El Salvador und Honduras in die USA einzureisen. Weil sich der Zaun nicht über die gesamten 3.200 Kilometer Grenze erstreckt, gelingt es Schleppern weiterhin, Immigranten ins Land zu bringen. Jahr für Jahr werden an der Grenze zu Mexiko aber auch Tausende Menschen von der Grenzpolizei aufgegriffen. Trump war das während des Wahlkampfes jedoch nicht genug: Eine Mauer, hoch, schön und undurchlässig wie die in Berlin oder in China müsse errichtet werden, verlangte er. »Wir werden anfangen zu bauen«, sagte er wenige Tage vor seinem Amtsantritt. »Auf irgendeine Art und Weise wird uns Mexiko für die Kosten der Mauer entschädigen. Sei es über eine Steuer oder eine Zahlung.« Es war ein Wahlkampf, wie ihn die USA noch nicht erlebt haben: Trump präsentierte sich als Außenseiter, als Law-and-

Order-Kandidat, der mit den »Illegalen« und den »Kriminellen« aufräumen werde. Er formulierte und unterschrieb sogar einen vermeintlichen Vertrag mit den amerikanischen Wählern, der zahlreiche Versprechen enthielt, die er in den ersten hundert Tagen seiner Amtszeit durchzusetzen beabsichtige. Dass für vieles davon gar nicht der Präsident, sondern der Kongress zuständig ist – darunter auch die Streichung von Bundesmitteln für Zufluchtsstädte – störte ihn nicht. Trump verfügt jedoch in Senat und Repräsentantenhaus über wichtige Verbündete. Im Januar brachte der republikanische Abgeordnete Lou Barletta den »Mobilizing Against Sanctuary Cities Act« im Kongress ein – ein alter Gesetzesentwurf, für den er 2011 und 2015 keine Mehrheiten erzielen konnte. Doch der politische Wind hat sich seitdem gedreht, sodass Barletta sein Ziel erreichen könnte, sämtliche Finanzhilfen an die betroffenen Kommunen, Bezirke und Bundesstaaten für ein Jahr aussetzen zu lassen. »Zu viele Bürgermeister und Stadtverwaltungen glauben, über dem Gesetz zu stehen und damit ihre Ideologie über die Sicherheit ihrer Bürger setzen zu können«, begründete er seinen Vorstoß. »Dieses Gesetz wird diese Praxis beenden, indem den Zufluchtsstädten verdeutlicht wird: Wenn ihr euch weigert, mit den Einwanderungsbehörden zusammenzuarbeiten, verliert ihr eure öffentlichen Bundesgelder.« Dutzende Kommunen bereiten sich bereits auf die Einschnitte vor, die mit der Amtsübernahme Trumps drohen. Washington D.C. wäre davon am stärksten betroffen, die amerikanische Hauptstadt hängt am finanziellen Tropf des Kongresses. Für San Francisco würde ein Stopp des Geldflusses einen Einschnitt von zehn Prozent des Haushalts bedeuten – rund eine Milliarde Dollar. Bürgermeister Ed Lee versicherte nach der Wahl Trumps, dennoch seiner Linie treu zu bleiben: »Wir waren schon immer und werden auch weiterhin ein Zufluchtsort sein, eine Stadt, die Schutz bietet, eine Stadt der Liebe.« San Franciscos Rechtsdezernent prüft bereits rechtliche Schritte, falls die Trump-Administration ihre Androhung wahr machen sollte. Die Stadt ist bereit, bis vor den Obersten Gerichtshof zu ziehen, um dort klären zu lassen, welche Rechte Städte, Bundesstaaten und die Bundesregierung haben.

Foto: Jonathan Sprague / Redux / laif

Gelassen ins Ungewisse

»Wir werden immer ein Zufluchtsort sein, eine Stadt, die Schutz bietet, eine Stadt der Liebe.« Ed Lee, Bürgermeister von San Francisco 18

Auf der anderen Seite der San Francisco Bay, in Oakland, will man sich ebenfalls nicht dem Druck aus Washington beugen. Rund 52 Millionen Dollar an Bundeshilfen erhält die Stadt im Jahr. Das sind vier Prozent des städtischen Haushalts und bedeutet viel Geld für die hochverschuldete Kommune. Doch auch dort zeigt man sich kämpferisch. Bürgermeisterin Libby Schaaf, die im Wahlkampf erklärte, der gefährlichste Ort der USA sei Trumps Mundwerk, sagte nach dem Sieg des Republikaners: »Die Wahl Donald Trumps fühlt sich für mich an wie ein Angriff auf alles, an das ich glaube und für das Oakland steht.« Die Stadtverwaltung werde deshalb weiterhin alles tun, um die Bewohner zu beschützen und »unsere progressiven Werte« zu verteidigen. »Wir sind stolz darauf, eine Zufluchtsstadt zu sein« und Menschen ohne Papiere vor »ungerechten Einwanderungsgesetzen« in Schutz zu nehmen. Die größte Gruppe irregulär Eingewanderter lebt in Los Angeles. Mehr als eine Million der gut elf Millionen landesweit sollen sich nach Untersuchungen des »Migration Policy Institute« im Großraum rund um die Metropole am Pazifischen Ozean integriert haben, wo mehr Menschen spanisch als englisch sprechen. Bürgermeister Eric Garcetti trifft sich regelmäßig mit Ver-

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Foto: Eric Grigorian / Polaris / laif

genannten »Secure Fence Act«, der den Bau eines fünf Meter hohen Doppelzauns auf einer Länge von 1.100 Kilometern an der Grenze zu Mexiko genehmigte. »Dieses Gesetz hilft, das amerikanische Volk zu schützen«, sagte Bush bei der Unterzeichnung. »Dieses Gesetz wird unsere Grenzen sicherer machen. Es ist ein wichtiger Schritt hin zu einer Einwanderungsreform.«


Schutz vor Abschiebung. Irregulär Eingewanderte in Los Angeles.

tretern von Flüchtlings- und Einwanderergruppen, um sie zu beruhigen. »Wir kooperieren mit den Bundeseinwanderungsbehörden, wenn es um Kriminelle in unserer Mitte geht, die ausgewiesen werden sollen«, stellt er klar. »Dennoch sind wir eine offene Stadt, in der unsere Polizeieinheiten nicht herumlaufen und Leute nach ihren Aufenthaltspapieren fragen, und das sollten sie auch nicht tun.« Als »Sanctuary City« freilich will Garcetti Los Angeles nicht bezeichnen. Dieser Begriff sei »unklar« und gebe ein falsches Bild der Realität wieder, sagt der Bürgermeister. Los Angeles erhält 507 Millionen Dollar aus Bundesmitteln im Jahr, davon sind 127 Millionen Dollar für die Polizeibehörden vorgesehen. Aus dem Umfeld des neuen Präsidenten war bereits zu hören, dass man möglicherweise gezielt für die Polizei bestimmte Gelder streichen werde, schließlich verweigerten diese ja die Zusammenarbeit mit den Bundesbehörden. In den Städten und Gemeinden, die es ablehnen, die Daten von Einwanderern an die Bundesbehörden zu melden, herrscht derzeit große Ungewissheit – und Wut. Der Bürgermeister Santa Fes, Javier Gonzales, verweist darauf, dass mit den 6,2 Millionen Dollar, die jährlich aus Washington überwiesen würden, die Mahlzeiten in städtischen Seniorenheimen, Kleinstkredite für junge Familien beim Häuserkauf und der regionale Flughafen unterstützt würden. Sollte der Präsident eine Politik durchsetzen, die »Senioren und Eigenheimkäufern schadet und so Zwist und Angst in unserer Gemeinde sät, dann werden wir dafür planen und uns darauf einstellen«, sagt Gonzales. Doch trotz aller Unsicherheit gibt es auch Stimmen, die gelassen auf Trumps Einzug ins Weiße Haus blicken. Einer von ihnen ist Bill Ong Hing, Rechtsprofessor an der Universität von

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San Francisco. Man müsse abwarten, wie ernst die neue Administration den Kampf um die Zufluchtsstädte wirklich nehme. Sicher sei nur, dass vieles »vor Gericht enden« werde. Hinzu komme, dass das Justizministerium zwar einzelne Polizeiprojekte bezuschusse, die gezielt gegen irregulär ins Land gelangte Immigranten gerichtet seien. Diese könnte die Trump-Administration ohne weiteres kürzen oder ganz streichen. Doch bei einer Höhe von landesweit 600 Millionen Dollar wäre das ein Tropfen auf den heißen Stein und würde kaum Wellen schlagen. Auch einige Bürgermeister, darunter die von Baltimore, Long Beach, Mesa und Springfield, haben in einer gemeinsamen Erklärung betont, dass sie erst einmal abwarten wollten, welche konkreten Pläne Trump künftig verfolgen werde. Vielen Kindern der irregulär Eingewanderten freilich hilft das nicht weiter. Nach Einschätzung von Shanthi Gonzales vom Schuldezernat in Oakland haben immer mehr Schülerinnen und Schüler Angst davor, zur Schule zu gehen, weil sie fürchten, dass ihre Eltern zu Hause festgenommen und in Abschiebehaft gesteckt würden. Sie selbst seien zwar in den USA geboren und somit Amerikaner, aber ihre Eltern hätten keine Papiere. Lehrer hätten ihr berichtet, »dass sie nach dem Wahltag die erschütterndsten Gespräche ihrer Karriere mit Schülern führten«. Gonzales hat deshalb durchgesetzt, dass ihr Schulbezirk ein Zufluchtsort für Immigranten und Muslime sein wird. »Wenn Schüler Angst haben, können sie nicht lernen«, sagt sie zur Begründung. Auch andere Schulen in kalifornischen Städten haben sich diesem Schritt bereits angeschlossen. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:  www.amnesty.de/app

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»Amnesty muss sich

Mehr als eine Million. Amnesty-Aktivisten in Chicago.

Margaret Huang ist Direktorin von Amnesty International USA. Interview: Markus Bickel

Wie beurteilen Sie den Amtsantritt von Donald Trump? Wir sind zutiefst besorgt, was die Menschenrechte betrifft. Aussagen, wie sie Trump während seines Wahlkampfs machte, hat es zuvor nicht gegeben. Sie sind beispiellos und ganz offensichtlich besorgniserregend. Außerdem hat Trump Personen in sein Kabinett geholt, die Menschenrechten feindlich gegenüberstehen. Amnesty International hat in den USA mehr als eine Million Mitglieder und Unterstützer, und wir werden jeden Versuch der neuen Administration bekämpfen, die Menschenrechte auszuhöhlen.

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Im Wahlkampf hat Trump sich unter anderem positiv über »Waterboarding« und andere Foltermethoden geäußert. Trump hat ausdrücklich gesagt, dass er »Waterboarding« nicht nur befürwortet, sondern mag. Um genau zu sein, hat er sogar gesagt, dass es nicht weit genug gehe. »Waterboarding« ist Folter. Kein Mensch erhält dadurch mehr Sicherheit, und es untergräbt jeglichen Versuch, ein Vorbild zu sein, was die Umsetzung von Menschenrechten angeht. Amnesty wird jegliches Bestreben entschieden bekämpfen, Foltermethoden wie »Waterboarding« wiederaufzunehmen oder auszuweiten. Welche Auswirkungen haben die diskriminierenden Äußerungen Trumps im Wahlkampf auf die Stimmung im Land? Seit der Präsidentenwahl haben Bedrohungen und Hasskriminalität in den USA zugenommen. Trump sendet mit seiner Rhetorik eine gefährliche Botschaft, die vergleichbar ist mit der

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neu ausrichten« Rhetorik rund um das Brexit-Referendum in Großbritannien. Wir dürfen nicht zulassen, dass Fremdenhass und Diskriminierung immer weiter um sich greifen, und wir dürfen nicht zulassen, dass sie zur Grundlage von Gesetzen werden.

Kann Trump seinen Vorgänger in den von Ihnen aufgezeigten Bereichen denn wirklich noch unterbieten? Amnesty International hat hart daran gearbeitet, Präsident Obama in Menschenrechtsfragen zur Verantwortung zu ziehen. Und es ist uns gelungen, bei einer Reihe von Vorhaben Änderungen zu bewirken – unter anderem bei der Anwendung von Folter und beim Verkauf von Waffen, die zu Menschenrechtsverstößen eingesetzt werden können. Alarmierende Aussagen wie die Trumps während des Wahlkampfs hat es vorher noch nicht gegeben. Wir werden alles daran setzen zu verhindern, dass aus diesen Positionen Gesetze werden. Obama hatte 2009 angekündigt, das Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba zu schließen. Doch besteht es bis heute weiter. Wir fürchten, dass die Chancen einer Schließung von Guantánamo unter Trump noch weitaus geringer sind als unter Obama, der das bei seiner Amtseinführung versprochen hatte. Trump hat zwei frühere Generäle zu Ministern ernannt, auch sein Nationaler Sicherheitsberater, Michael Flynn, ist pensionierter Dreisternegeneral. Wird das zu einer weiteren Militarisierung der amerikanischen Politik führen? Es ist schwierig, jetzt schon Prognosen abzugeben, was das Handeln der neuen Administration bestimmen wird. Aber frühere Äußerungen der beiden neuen Minister für Heimatschutz und für Verteidigung bereiten uns natürlich Sorgen, was eine weitere Militarisierung der Außenpolitik und eine Lockerung der Waffengesetze im Inland betrifft. Mehr Waffen führen zu mehr Gewalt – und nicht zu weniger Straftaten. Amnesty International betrachtet die massenhafte Verbreitung von Waffen in den USA als eine Menschenrechtskrise, und eine unserer wichtigsten Kampagnen hat zum Ziel, diese zu beenden. In den kommenden Jahren werden wir unsere Arbeit vor allem auf der Ebe-

MENSCHENRECHTE UNTER TRUMP

ne der Bundesstaaten fortsetzen, in der Hoffnung, dort Fortschritte erzielen zu können. Werden Sie durch gesetzliche Vorgaben für NGOs daran gehindert, noch entschiedener gegen Trumps Politik vorzugehen? Die Gesetze verbieten, dass steuerbefreite Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International Einfluss auf den Ausgang von Wahlen nehmen dürfen. Daran halten wir uns. Aber nun, da das Volk gewählt hat, werden wir nicht zögern, den Präsidenten an seine Verantwortung für den Schutz der Menschenrechte in den USA und weltweit zu erinnern. Muss sich Amnesty International in den USA für die Jahre von Trumps Präsidentschaft strategisch neu ausrichten? Ja. Wir haben seit der Wahl all unsere Kampagnenpläne und Strategien überdacht. In bestimmten Bereichen, zum Beispiel bei unserer Flüchtlingskampagne, werden wir unsere Ziele so anpassen, dass auch unter einem konservativeren Kongress Erfolge möglich sind. In anderen Bereichen müssen wir unsere Arbeit schnell ausweiten – das betrifft zum Beispiel die Unterstützung von Menschenrechtsverteidigern, die sich gegen Gesetze zur Wehr setzen, die Trump umsetzen will und die die Menschenrechte bedrohen. Zugleich fühlen wir uns natürlich weiter dem Einsatz für Menschenrechtsverteidiger weltweit verpflichtet. Amnesty hat die politische Führung immer für ihr Handeln verantwortlich gemacht. Deshalb ist unsere Arbeit in dieser neuen politischen Landschaft wichtiger denn je.

INTERVIEW MARGARET HUANG Foto: Amnesty

Foto: Scott Langley / Amnesty

Wie beurteilen Sie im Nachhinein die Präsidentschaft von Barack Obama? In Bezug auf die Menschenrechte ist Obamas Bilanz durchwachsen. Ihm ist es in vielen Bereichen gelungen, Menschenrechte auf die Tagesordnung zu setzen, in anderen jedoch nicht. Er hat die Anwendung von Folter verboten und dafür gesorgt, dass mehr Amerikaner Gesundheitsversorgung erhalten. Er hat Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen zu mehr Rechten verholfen und Rassismus bei der Polizei zum Thema gemacht. Doch wurden unter ihm auch Drohneneinsätze zu Überwachungs- und Angriffszwecken ausgeweitet und das unter George W. Bush eingeführte Überwachungsprogramm beibehalten. Zahlreiche Menschen wurden abgeschoben und Einwanderer in Gewahrsam genommen. Außerdem hat Obamas Regierung Waffen an repressive Regierungen verkauft, zum Beispiel an Saudi-Arabien.

»Fremdenhass und Diskriminierung dürfen nicht weiter um sich greifen.«

Margaret Huang leitet die US-Sektion von Amnesty International seit 2016. Zuvor koordinierte sie in der Zentrale in Washington D.C. die Kampagnen der Organisation. Nach ihrem Master-Abschluss in Internationalen Beziehungen an der Columbia University arbeitete sie mehr als zwei Jahrzehnte als Menschenrechtsfachfrau, unter anderem als Geschäftsführerin der Rights Working Group und Direktorin des US-Programms von Global Rights.

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Endstation San Quentin D

ie Hoffnung war groß, ein deutliches Zeichen gegen die Todesstrafe setzen zu können. Denn gleich in drei Bundesstaaten – Kalifornien, Nebraska und Oklahoma – waren die Bewohner parallel zur US-Präsidentschaftswahl im November 2016 aufgerufen, über die Zukunft der »Death Penalty« abzustimmen. Und das nur wenige Wochen nachdem das anerkannte »Pew Research Center« die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht hatte, die Todesstrafenbefürworter erstmals in der Minderheit sah: Nur noch 49 Prozent der Befragten sprachen sich dafür aus. Im März 2015 waren es noch 56 Prozent gewesen, und 1994 hatten sogar acht von zehn Amerikanern für die Todesstrafe plädiert. Doch in allen drei Referenden fielen die Ergebnisse im November 2016 eindeutig aus: In Kalifornien wird die Todesstrafe beibehalten, in Nebraska wird sie nur ein Jahr nach ihrer Abschaffung wieder eingeführt, und in Oklahoma soll sie sogar in der Verfassung des Bundesstaates verankert werden – dafür stimmten zwei Drittel der Wähler. Das bedeutet einen herben Rückschlag für die amerikanischen Gegner der Todesstrafe, die im vergangenen Jahrzehnt erreicht hatten, dass acht Bundesstaaten diese Strafe abschafften, sodass sie derzeit nur noch in 31 in Kraft ist. Das Wählervotum bedeutete insbesondere für Kalifornien einen Rückschritt. Dort gab es Anfang 2017 mit 750 Todeskandidaten deutlich mehr Menschen, die mit der bevorstehenden Vollstreckung der Urteile konfrontiert waren, als in anderen Bundestaaten. 53,6 Prozent der Wähler stimmten für die Beibehaltung der Strafe, obwohl in den Todesstrakten des bevölkerungsreichsten Bundesstaates seit Januar 2006 niemand mehr hingerichtet wurde. Der Grund: Seit elf Jahren wird darüber gestritten, welche Chemikalien für eine Hinrichtung benutzt werden dürfen. Mit einer knappen Mehrheit von 51,1 Prozent votierten die kalifornischen Wähler im November außerdem dafür, Todesurteile schneller zu vollstrecken. Das spare der Allgemeinheit Kosten, hatten die Befürworter argumentiert. Dem widerspricht Paula Mitchell. Die Direktorin des »Alarcón Advocacy Center« an der Loyola Law School macht eine einfache Rechnung auf: Selbst wenn jedes Jahr dreißig Hinrichtungen vorgenommen würden und lediglich zwanzig neue Verurteilte hinzukämen, säßen 2040 noch immer 475 Häftlinge in den Todestrakten der kalifornischen Gefängnisse.

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Für die Häftlinge in San Quentin, dem ältesten Staatsgefängnis Kaliforniens in der Bucht von San Francisco, bedeutet das, dass ihre Todeszellen noch lange weiterexistieren werden. Mit nur 13 Hinrichtungen seit der Wiedereinführung der Todesstrafe 1978 ist der East-Block von San Quentin zu einem Gefängnisblock für Lebenslängliche ohne Aussicht auf Begnadigung geworden. Seither starben 71 Gefangene eines natürlichen Todes, 25 Häftlinge nahmen sich das Leben. Für acht weitere verzeichnet die amtliche Statistik eine »andere« Todesursache. Erstaunlich ist, dass mehrere zum Tode Verurteile auf Nachfrage erklärten, sie seien nicht nur gegen die Beschleunigung der Hinrichtungen, sondern auch gegen die Abschaffung der Todesstrafe. Denn dann würden sie in andere Gefängnisse verlegt, was den Verlust der wenigen Privilegien mit sich brächte, die Todeskandidaten in San Quentin derzeit haben. Dazu zählen die Einzelzellen, die zwar nur 2,24 Quadratmeter groß sind, aber – anders als im normalen Strafvollzug – nicht mit einem Mithäftling geteilt werden müssen. Hinzu käme der Verlust von vielen Sozial-, Kunst- und Freizeitprogrammen. In San Quentin gibt es mehr als siebzig solcher Angebote, die vor allem von externen Freiwilligen angeboten werden, darunter Yogaklassen, Musik-, Kunst- und Universitätskurse. Darüber hinaus würde mit einer Umwandlung in lebenslange Haftstrafen ohne Aussicht auf Begnadigung für einige Todeskandidaten die Tür nach draußen für immer geschlossen bleiben. Mit der Aufhebung der Einspruchsmöglichkeiten wäre ihr Leben abgeschlossen, sie wären vergessen hinter dicken Mauern. Denn natürlich sitzen auch in San Quentin unschuldig zum Tode Verurteilte ein, die einzig die Hoffnung am Leben hält, dass ihre Haft im Todestrakt durch einen Berufungsentscheid des Obersten Gerichtshofs in Washington D.C. doch noch ein Ende finden könnte. So hatten die acht Richter des Supreme Courts Ende 2016 über die Rechtmäßigkeit gleich mehrerer drohender Hinrichtungen zu entscheiden, darunter die des 45-jährigen Ronald Smith im Staatsgefängnis Montana, der sich mit einem letzten Einspruch an das Verfassungsgericht gewandt hatte. Doch mit einer 4:4-Entscheidung wurde dieser abgelehnt. Smith wurde noch in derselben Nacht getötet, nach einem 35-minütigen, schmerzhaften Todeskampf, wie Zeugen berichteten.

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Foto: Michael Macor / San Francisco Chronicle / Polaris / laif

31 US-Bundesstaaten sehen die Todesstrafe in ihren Gesetzen vor. Durch die Neubesetzung von Richterposten könnten deren Befürworter am Obersten Gerichtshof in Washington D.C. bald die Mehrheit erlangen. Von Arndt Peltner


Kein Herauskommen. Gefängniswärter vor dem Todestrakt in San Quentin.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Urteile in Zukunft anders ausfallen, ist gering. Denn nach dem Tod des liberalen Richters Antonin Scalias vor einem Jahr ist der neunte Platz im höchsten Gericht der USA vakant: Seit Februar 2016 herrscht ein Patt zwischen vier konservativen und vier liberalen Richtern, weil die republikanische Mehrheit im Kongress eine Neubesetzung durch Präsident Barack Obama blockierte. Nun wird dessen Nachfolger den Posten neu besetzen – aller Voraussicht nach mit einem konservativen Richter. Zwar liegt die Entscheidung über die Anwendung der Todesstrafe bei den Bundesstaaten, doch könnte Trump, der ein dezidierter Todesstrafenbefürworter ist, in seiner Amtszeit in die Situation kommen, weitere Verfassungsrichter zu ersetzen, die in der Vergangenheit durch ihre kritische Haltung zur Todesstrafe auffielen, darunter die 83-jährige Ruth Bader Ginsburg, den 80-jährigen Anthony Kennedy und den 78-jährigen Stephen Breyer. Breyer war es auch, der im vergangenen Dezember nach einem weiteren Pattentscheid mit Todesfolge eine schriftliche Stellungnahme abgab. »Personen, die hingerichtet werden«, seien »nicht die Schlimmsten der Schlimmen«, schrieb er darin. Vielmehr seien sie oft per Zufall ausgewählt, möglicherweise wegen des Standorts ihres Gefängnisses, der persönlichen Entscheidung des zuständigen Staatsanwalts – oder, schlimmer noch, »auf Grundlage ihrer Rasse«. Die Zeit sei deshalb gekommen, »dass dieses Gericht die Verfassungsmäßigkeit der Todesstrafe überdenkt«.

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Doch danach sieht es nicht aus unter einem Präsidenten, der sich damit brüstete, »ein starkes, starkes Signal« senden zu wollen, indem er per präsidialer Anordnung die Todesstrafe für Polizistenmörder einführen werde. Sollte sich Trump durch den Tod von einem oder mehreren der älteren liberalen Richter des Obersten Gerichtshofs die Möglichkeit bieten, diese durch Konservative zu ersetzen, dann würde die Todesstrafe für lange Zeit als verfassungskonform zementiert bleiben. Die Hoffnung der Hinrichtungsgegner richtet sich deshalb auf die einzelnen Bundesstaaten, denn dort findet der Kampf gegen die Todesstrafe in den USA statt – und zwar durchaus erfolgreich: Verurteilten Richter 1996 noch 315 Mörder zum Tode, sprachen sie 2015 nur noch 49 Todesurteile aus. Die Zahl der Hinrichtungen sank von 98 im Jahr 1999 auf 28 im vergangenen .

»San Quentin ist ein Gefängnis für Lebenslängliche ohne Aussicht auf Begnadigung.« 23


Etappensieg. Demonstranten im Dezember in Cannon Ball, North Dakota.

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Bis die Schlange stirbt

Umweltaktivisten und Ureinwohner fürchten, dass Donald Trump den von seinem Vorgänger verhängten Baustopp an der Dakota Access Pipeline wieder aufheben könnte – zum Wohle der Ölindustrie. Das wollen sie verhindern. Von Simon Riesche

Foto: Alyssa Schukar / The New York Times / Redux / laif

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E

s war eine Szene, wie sie sich Hollywood nicht besser hätte ausdenken können. Draußen fegen eisige Nordwinde über den Parkplatz, drinnen im Veranstaltungssaal des »Prairee Knights Casino & Resort« wird es für einen Moment ganz still. Wesley Clark Junior, Veteran der USArmee und Sohn eines Viersternegenerals, fällt vor Leonard Crow Dog, dem im Rollstuhl sitzenden Medizinmann der Lakota-Sioux, auf die Knie, um ihn und sein Volk, ja eigentlich alle amerikanischen Ureinwohner, um Vergebung zu bitten. Für nichts weniger als die Schuld, die weiße Eroberer in Amerika im Laufe der letzten Jahrhunderte auf sich geladen haben. »Wir haben euch das Land genommen. Wir haben Verträge unterschrieben und dann gebrochen. Wir haben Bodenschätze aus euren heiligen Bergen gestohlen«, sagt Clark, der selbst als Drehbuchautor arbeitet, mit leiser Stimme. »Wir haben euch nicht respektiert, haben eure Erde verschmutzt, haben euch auf zahlreiche Weise verletzt. Aber jetzt sind wir gekommen, um zu sagen, dass es uns leidtut.« Neben Tränen der Rührung fließen nach diesem Schuldeingeständnis auch jede Menge Freudentränen im Reservat »Standing Rock«. Denn gefeiert werden kann an diesem kalten Dezembertag in North Dakota ein Etappensieg in einem Konflikt, den die Schauspielerin Jane Fonda kurz zuvor mit den Worten »Gier gegen die Zukunft der Menschheit« umschrieben hatte. Dieser dreht sich um den genauen Verlauf der Dakota Access Pipeline (DAPL), die eines Tages mehr als 470.000 Barrel Öl aus den Fracking-Regionen im hohen Norden der USA in den Bundesstaat Illinois pumpen soll – über fast 2.000 Kilometer Länge. Ginge es nach den ursprünglichen Plänen der Betreiberfirma Energy Transfer Partners, dann würde die Pipeline unmittelbar nördlich von »Standing Rock« den Missouri kreuzen. Diese Pläne wurden von der Regierung Barack Obamas Anfang Dezember jedoch gestoppt, wobei die Erklärung der zuständigen Behörde weit weniger filmreif klang als die von Jane Fonda oder Wesley Clark Junior. Es sollen »alternative Routen geprüft« und ein neues Umweltgutachten erstellt werden, hieß es im Statement der Staatssekretärin Jo Ellen Darcy. Man werde Obama, der zusammen mit seiner Frau bereits 2014 das Reservat besucht hatte, auf ewig dankbar sein, freute sich Dave Archambault II, der Stammesvorsitzende der Standing Rock Sioux. Der Lauf der Geschichte sei korrigiert worden. Weil sie fürchteten, dass Öl aus der Pipeline das Trinkwasser im flussabwärts gelegenen Reservat verschmutzen und wichtige Grabstätten entweihen könnte, hatten die Standing Rock Sioux im April 2016 damit begonnen, in der Nähe der Baustelle ein Protestcamp zu errichten. Ob sie ihre Tipis und Wohnwagen dabei außerhalb oder innerhalb ihres Stammesgebiets aufstellten, ist umstritten. Der fragliche Landabschnitt wurde ihnen zwar 1851 zugesichert, allerdings nie offiziell übergeben. Vor der Entscheidung Obamas waren die Proteste immer

»Energieminister Perry saß zuvor im Verwaltungsrat des Pipeline-Betreibers.« 26

lauter geworden. Gegen die größtenteils gewaltlosen Kundgebungen stzten die Sicherheitskräfte Tränengas, Gummigeschosse und Wasserwerfer ein. Hunderte Menschen wurden festgenommen, eine 21-jährige Demonstrantin schwer verletzt. Amnesty International kritisierte die »unverhältnismäßige Militarisierung« und den Einsatz von Gewalt, der das Menschenrecht auf friedlichen Protest verletze. Bezirkssheriff Kyle Kirchmeier hielt dagegen: »Es geht nicht um die Pipeline oder die Demonstranten. Es geht hier um Gesetze, und wir wollen, dass alle Seiten diese Gesetze einhalten.« Das sehen die meisten Bewohner des Protestcamps »Oceti Sakowin« anders. »Es ist unser Land, so einfach ist das«, ruft Joye Braun, die sich um neu ankommende Besucher kümmert, aber auch über Facebook und andere Social-Media-Kanäle mit Unterstützern in aller Welt in Kontakt steht. Ihr Schreibtisch steht in einem schlecht beheizten Zelt. So erbarmungslos das winterliche Wetter in North Dakota ist, so widerstandsfähig zeigen sich die Menschen, die hier ausharren. Dicke Jacken und Winterstiefel gehören zur Grundausstattung, heiße Suppen, Tee und Kaffee wärmen von innen. »Wir kommen schon zurecht und helfen uns gegenseitig«, sagt Braun und lacht. »Oceti Sakowin« bedeutet übersetzt »Feuer der sieben Stämme«. Zum ersten Mal seit der legendären Schlacht am Little Bighorn von 1876 sind alle großen Sioux-Gruppen wieder zusammengekommen – eine wahrhaft historische Begebenheit. Auch Angehörige anderer indigener Gruppen aus den USA, aber auch aus dem Ausland, machten sich auf den Weg nach »Standing Rock«. Tausende nichtindigene Umweltaktivisten komplettieren die ungewöhnliche Allianz. »Wasser ist Leben« steht auf vielen bunten Fahnen, die im Schneesturm flattern. Die Botschaft ist so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner der Campbewohner.

Abschied von Umweltauflagen Vereint sind sie auch in ihrer Skepsis gegenüber dem neuen Präsidenten. Die Annahme, dass Donald Trump es mit dem Umweltschutz nicht so genau nehmen werde und stattdessen lieber etwas für die Wirtschaft mache, ist schließlich in den ganzen USA weit verbreitet – und kam gut an: Umfragen zeigen, dass es vor allem solche Erwägungen waren, die dem 70-Jährigen im November den Wahlsieg bescherten. Die Aussage des Republikaners, dass der Klimawandel eine Erfindung der Chinesen sei, hat ihm offenbar nicht geschadet. Welche Art von Umwelt- und Energiepolitik Trump machen wird, werden bereits die ersten Monate seiner Präsidentschaft zeigen. Nicht nur seine Ankündigung, künftig auf Deregulierung zu setzen, gibt die Richtung vor. Es sind vor allem Trumps Personalentscheidungen, die eine klare Sprache sprechen. So ernannte er Rex Tillerson, den Vorsitzenden des größten amerikanischen Energiekonzerns Exxon Mobile, zum Außenminister. Scott Pruitt, der als Generalstaatsanwalt von Oklahoma immer wieder gegen die Direktiven der US-Umweltbehörde zu Felde zog, soll nun ausgerechnet deren Leiter werden. Ryan Zinke, der als Abgeordneter konsequent gegen Umweltschutzinitiativen stimmte, wird Innenminister. Der Trump wohlgesonnene Milliardär Carl Icahn wiederum könnte als einflussreicher Berater in Regulierungsfragen dafür sorgen, dass zahlreiche Umweltauflagen für Ölkonzerne schon bald der Vergangenheit angehören. Und dann gibt es da noch Rick Perry, der als Gouverneur von Texas zwar durchaus in Windenergie investierte, aber zugleich als treuer Freund der Ölindustrie gilt – und als überzeugter Kli-

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Bitte um Verzeihung. Wesley Clark Jr.  im Dezember 2016 in Standing Rock.

Foto: Stephanie Keith / Reuters

Konfrontation. Wasserwerfereinsatz gegen Demonstranten in Cannon Ball.

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Kampf gegen Klima und Konzerne. Aktivisten in North Dakota.

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Foto: Gabriella Bass / Polaris / laif

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mawandelskeptiker, der weiterhin auf Kohle als wichtigen Energieträger setzt. Ihn hat Trump zum Energieminister auserkoren, dabei hatte Perry noch vor fünf Jahren selbst für die Abschaffung des Ministeriums plädiert. Zuletzt saß er im Verwaltungsrat einer jener Firmen, die die Pipeline durch North Dakota bauen lässt: Energy Transfer Partners. Auch Trump hat als Unternehmer kräftig in Energy Transfer Partners investiert – und in die Firma Philips 66, der ein Viertel der fertigen Pipeline gehören wird. Dass Trump den PipelineBau unterstütze, habe selbstverständlich nichts mit dessen persönlichen Investments zu tun, versicherten Berater des gewählten Präsidenten noch vor dessen Amtsantritt. Schließlich habe er bereits im Sommer 2016 alle Aktien von Energy Transfer Partners verkauft, so seine Sprecherin Hope Hicks. Ob er auch Aktien von Philips 66 veräußert hat, blieb bis zu seinem Umzug ins Weiße Haus unklar. Jason Miller, Kommunikationschef des Übergangsteams des Wahlsiegers, behauptete lediglich, dass der neue Präsident bereits im vergangenen Juni alle in seinem Besitz befindlichen Aktien verkauft habe. Dass Trump sich offenbar bereits Monate vor der Präsidentschaftswahl von seinem insgesamt angeblich 40 Millionen Dollar schweren Portfolio trennte, könnte weniger mit der Sorge um mögliche Interessenskonflikte zu tun gehabt haben, als vielmehr mit dem teuren Wahlkampf, vermuten Beobachter. Dabei gab es durchaus viele großzügige Spender, die die Kampagnen Trumps und anderer Republikaner unterstützten. Allein 100.000 Dollar im »Trump Victory Fund« kamen von Kelcy Warren, dem Chef von Energy Transfer Partners. Trumps Vorgänger Obama hingegen setzte zum Ende seiner Amtszeit, in der er immer wieder versucht hatte, sich für den Kampf gegen »Big Oil« und den Klimaschutz stark zu machen, zumindest noch umweltpolitische Ausrufezeichen. Von weitreichenderer Bedeutung als der vorübergehende Pipeline-Baustopp in North Dakota ist dabei die wohl kaum von seinen Nachfolgern rückgängig zu machende Entscheidung, gemeinsam mit Kanada große Teile der arktischen Gewässer und bestimmte Atlantikgebiete für Öl- und Gasbohrungen zu sperren. Damit sollten die Ökosysteme sowie die Interessen der dort lebenden Ureinwohner geschützt werden. Während viele Verbände, die sich für die Rechte und Interessen der »Native Americans« einsetzen, Obama lobten, werfen sie Trump Ignoranz und Rassismus im Umgang mit Amerikas indigener Bevölkerung vor. Die Liste abschätziger Aussagen des Milliardärs ist lang: Im Wahlkampf hatte Trump die demokratische Senatorin Elizabeth Warren mit Blick auf ihre indianischen Vorfahren immer wieder abschätzig »Pocahontas« genannt. Im Streit um Kasinolizenzen im Bundesstaat New York verbreitete er als Geschäftsmann einst einen Radiospot, in dem der Stamm der Saint Regis Mowhak als Gruppe von Kriminellen und Drogendealern bezeichnet wurde. »Die sehen überhaupt nicht wie Indianer aus«, lästerte er während einer Kongressanhörung über den Stamm der Mashantucket Pequot in Connecticut. In Bismarck, der Hauptstadt North Dakotas, weniger als 100 Kilometer vom Reservat »Standing Rock« entfernt, dürften ihm solche Äußerungen eher Stimmen gebracht als ihn gekostet haben: Zwei Drittel aller Wähler in dem Bundesstaat stimmten für den Kandidaten der Republikaner. Einst sollte die Pipeline an der Stadt vorbeigelegt werden, aber die Einwohner hatten im Planungsprozess eine solche Route verhindert, aus Sorge um ihr Trinkwasser. Dass die Bewohner des Reservats ganz ähnliche Bedenken haben, wollen hier viele trotzdem nicht gelten lassen.

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»Als Unternehmer hat Trump kräftig in Energy Transfer Partners investiert.« Am Tresen einer Bar in Bismarcks Stadtzentrum sitzt eine Gruppe Männer und schimpft auf »die Indianer und die Ökofreaks« in »Standing Rock«. Ein paar Abende zuvor hatten sie sich an einer Demonstration für Sheriff Kirchmeier und seine harte Linie gegen die Aktivisten beteiligt. »Mein ganzes Leben war ich gierig, gierig, gierig«, hat der 45. Präsident der Vereinigten Staaten, dessen Kabinett über mehr Reichtum verfügt als ein Drittel aller Haushalte in den USA zusammen, im Wahlkampf gesagt. Das finden die Männer am Tresen gut.

Nüchterne Fakten, düstere Prophezeiung Zurück am verschneiten Ufer des Missouri in North Dakota, wo auch der berühmte Häuptling »Sitting Bull« begraben liegen soll: Im Protestcamp »Oceti Sakowin« wärmt sich eine Gruppe Demonstranten am Feuer, sie gehören zum Stamm der Standing Rock Sioux. Wieder einmal drehen sich die Gespräche um die Gier der Öl-Lobby, die Rücksichtslosigkeit der Regierenden, aber auch die eigene Perspektivlosigkeit. Die Stimmung ist nachdenklich. »Nein, einen Job habe ich nicht«, sagt der 25-jährige Montgomery. »Ich bin im Reservat geboren, in einer sehr zerrütteten Familie groß geworden, wie fast alle hier, dann irgendwann in die Armee eingetreten, wieder raus, viele Probleme, und jetzt bin ich wieder im Reservat.« Einige in der Runde hätten sogar Trump gewählt, sagt Montgomery und lächelt verlegen. »Vielleicht ist er ja doch nicht so schlimm, wie alle sagen.« Diesen vorsichtigen Optimismus in Bezug auf Amerikas neuen Präsidenten teilen nur wenige Demonstranten im Camp. Viele rechnen stattdessen fest damit, dass Trump alles versuchen werde, den Baustopp der Pipeline und die Suche nach Alternativrouten schnellstmöglich zu beenden. Dass der Stammesvorsitzende Archambault die selbst ernannten »Wasserbeschützer« aufrief, den Etappensieg zu nutzen, um für eine Weile nach Hause zu gehen, stößt auf Unverständnis. Gerade jetzt müsse man doch standhaft bleiben. »Wir leisten Widerstand, bis die schwarze Schlange tot ist«, sagt LaDonna Brave Bull Allard, die ebenfalls den Stamm der Standing Rock repräsentiert. Eine schwarze Schlange, so verkündet eine überlieferte Prophezeiung der Ahnen, werde eines Tages großes Leid über das Land bringen. Viele Sioux sind sich sicher: Damit kann nur die Dakota Access Pipeline gemeint sein. Doch nicht nur düstere Prophezeiungen, auch nüchterne Fakten nähren schlimme Befürchtungen. Nur etwa 250 Kilometer von »Standing Rock« entfernt wurde unlängst ein Fluss durch eine undichte Pipeline verseucht. Hunderttausende Liter Öl seien ausgetreten, gab das Gesundheitsministerium von North Dakota bekannt. Anwohner hatten das Leck am 5. Dezember entdeckt. Dem Tag, an dem Wesley Clark Junior vor Medizinmann Leonard Crow Dog auf die Knie ging.

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THEMEN

Asylpolitik

Zurück ohne Zukunft Abschiebung ins Ungewisse. Abgelehnter albanischer Asylbewerber in der Aufnahmeeinrichtung Oberfranken in Bamberg.

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Foto: Laetitia Vancon / The New York Times / Redux / laif

ASYLPOLITIK

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Ein eisig kalter Wind fegt durch die einstige Bleech Street, die seit Abzug der US-amerikanischen Streitkräfte vor drei Jahren Buchenstraße heißt. Junge Männer in Kapuzenjacken und Badelatschen treten aus den ehemaligen Kasernengebäuden. Frauen in Strickjacken schieben ihre Kinderwagen. Einige Väter tragen ihren Nachwuchs auf den Schultern, dazwischen ältere Kinder in dicken Pullis und Anoraks. Sie alle steuern auf das flache Gebäude am Ende der Straße zu, vor dem die Warteschlange unaufhörlich wächst: Es ist Mittagszeit in der besonderen Aufnahmeeinrichtung Oberfranken (AEO) in Bamberg. Zwei Sicherheitsleute öffnen die Türen der Kantine. Auf dem Tresen stehen Plastikschüsseln mit Chili con Carne, Reis und etwas Salat für die rund tausend Bewohner aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, Georgien, dem Irak, Iran, Albanien und den Staaten des früheren Jugoslawiens. Nur in kleinen Gruppen dürfen sie den Ausgaberaum betreten, sodass die Schlange der in der Kälte Ausharrenden in den nächsten zwei Stunden kaum abreißen wird. Mehr als 300 Menschen aus dem Kosovo, Albanien, Bosnien, Mazedonien und Serbien wohnen in der ehemaligen US-Kaserne im Osten Bambergs. Das umzäunte und von Sicherheitsleuten bewachte Gelände ist die Endstation ihrer Flucht – und das Ende ihrer Träume von einer besseren Zukunft. Weil die Staaten des Westbalkans 2015 zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt wurden, sollen sie nach dem Willen der bayerischen Landesregierung auch schnellstmöglich dorthin zurückkehren. Deshalb werden sie, anders als die übrigen Bewohner, die Aufnahmeeinrichtung nicht mehr verlassen – es sei denn für die Heimreise. Hier stellen sie in einem eigens eingerichteten Büro des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ihren Asylantrag. Die Anerkennungsquote in den Schnellverfahren von maximal einer Woche geht laut BAMF-Mitarbeiter Peter Immeler »gegen Null«. Einmal abgelehnt, gelten die Flüchtlinge als ausreisepflichtig und erhalten außer den Essensrationen keine weiteren Sozialleistungen. Bayern ist bundesweit Vorreiter bei diesem harten Kurs: Aus den zwei »Aufnahme- und Rückführungseinrichtungen« in Manching bei Ingolstadt und Bamberg sind seit ihrer Eröffnung im Juli 2015 mehr als 3.400 Menschen »freiwillig« ausgereist, weitere 1.855 wurden abgeschoben. Nordrhein-Westfalen und andere Bundesländer sind dem bayerischen Vorbild bereits gefolgt. So wurde 2016 zu einem Rekordjahr: Mehr als 25.000 Menschen wurden abgeschoben – so viele wie zuletzt vor zehn Jahren. Drei von vier stammten aus den sogenannten sicheren Herkunftsländern auf dem Westbalkan, aus dem Kosovo, Albanien, Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro. Freiwillig zurückgekehrt sind im vergangenen Jahr nach Angaben des BAMF weit mehr als 50.000 Menschen. Doch damit nicht genug: Nach dem islamistischen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz im Dezember forderte Ministerpräsident Horst Seehofer eine weitere Verschärfung der deutschen Flüchtlingspolitik. »Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren«, sagte er nach der Amokfahrt mit zwölf Toten. Diese Äußerung gibt den Ton für das Bundestagswahljahr 2017 vor: Bereits vor dem Anschlag hatten Unionspolitiker eine

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Verschärfung der Abschieberegelungen gefordert, was auf dem CDU-Bundesparteitag in Essen in den Leitantrag übernommen wurde. Im Visier der Hardliner steht bereits die nächste Gruppe abgelehnter Asylbewerber: Schon vergangenen Sommer hatte Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) die Rückführung mehrerer Hunderttausend Flüchtlinge nach Afghanistan und Syrien gefordert; im Dezember hob der erste Flieger mit mehr als dreißig abgelehnten Asylbewerbern vom Frankfurter RheinMain-Flughafen nach Kabul ab. Offizielle Begründung: Die Sicherheitslage in dem Bürgerkriegsland habe sich verbessert. »Solche Rückführungsaktionen sind richtig und notwendig, um unser Asylsystem funktionsfähig zu halten«, verteidigte Innenminister Thomas de Maizière das Vorgehen. Als »Aushöhlung des Asylrechts« kritisiert der Bayerische Flüchtlingsrat die Asylpolitik des Landes. »Die Regierung versucht, Geflüchtete um jeden Preis abzuschieben, anstatt ein individuelles Asylverfahren mit Einzelfallprüfung zu gewährleisten«, sagt Mitarbeiterin Mia Pulkkinen. »Inzwischen zeigen zahlreiche Fälle, dass die Praxis der Zentralen Ausländerbehörden besonders in Manching und Bamberg gezielt gegen Menschenrechte verstößt, um Abschiebungen durchzusetzen.« So wurde in Bamberg über ein Jahr lang, bis August 2016, keine Asylsozialberatung angeboten. Einzige Anlaufstelle für die Fragen und Probleme der Bewohner war in dieser Zeit eine wöchentliche Sprechstunde des Ombudsteams der Stadt Bamberg, bestehend aus Mitgliedern des Stadtrats, Sozialverbänden und ehrenamtlichen Organisationen. »Wir wurden Zeuge, dass auch schwerstkranke und traumatisierte Menschen abgeschoben wurden, obwohl fachärztliche, qualifizierte Atteste vorlagen«, bestätigt der Arzt Marten Schrievers vom Ombudsteam. »Stattdessen begleiten eigene Ärzte die Abschiebung und attestieren den Menschen Reisefähigkeit.«

Brennpunkt Priština Zum Beispiel in den Kosovo. In einer kleinen Wohnung am Stadtrand der Hauptstadt Priština kauert Adem Buzolli auf dem Fußboden. Der magere Mann inhaliert den Rauch einer Zigarette und starrt gedankenverloren ins Leere. Als Kind überlebte er eine Hirnhautentzündung. Doch zurück blieben eine geistige Behinderung und ständig wiederkehrende rasende Kopfschmerzen, wenn er »Stress hat«, wie die Familie es nennt. Irgendwann kamen nächtliche Unruhe und Alpträume hinzu. Schon mehrmals wollte er sich das Leben nehmen. »Wir können ihn nie alleine lassen. Sogar zur Toilette oder zum Duschen müssen wir ihn begleiten«, erzählt seine Tochter Antigona. In Deutschland ging es ihm anfangs besser, sagt die heute 17-Jährige. Er wirkte befreiter. Anderthalb Jahre lebte das Ehepaar Adem und Sanije Buzolli mit ihren vier Kindern im nordrhein-westfälischen Erkrath, zum Schluss in einer eigenen Wohnung. Obwohl ihr Asylantrag abgelehnt wurde, hofften sie wegen der Krankheit des Vaters auf eine Bleibeperspektive in Deutschland. »Wir hatten ein Arztgutachten und haben Widerspruch gegen die Abschiebung eingelegt«, sagt Antigona Buzolli. Auch dass ihre Geschwister regelmäßig zur Schule gingen und sie sich auf Schulabschluss und Ausbildung vorbereitete, half der Familie nicht: Eines Nachts hämmerten Polizisten gegen die Wohnungstür und rissen die Buzollis aus dem Schlaf. Ein Übersetzer informierte sie über die bevorstehende Abschiebung. Ein Arzt maß Adem Buzolli den Blutdruck und bescheinigte ihm, dass er den Flug überstehen werde. Drei Polizeifahrzeuge brachten die Familie zum Düsseldorfer Flughafen, wo der Abschiebeflieger wartete.

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Foto: Nicolas Armer / dpa / pa

2017 droht eine deutliche Verschärfung der Asylpolitik. Bereits im vergangenen Jahr wurden so viele Menschen aus Deutschland abgeschoben wie seit einer Dekade nicht mehr – vor allem auf den Westbalkan. Von Michaela Ludwig


»2016 war ein Rekordjahr: Mehr als 25.000 Menschen wurden abgeschoben.«

Triste Aussichten. Aufnahmeeinrichtung Oberfranken in Bamberg.

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Im Kreis der Familie. Adem Buzolli (Mitte) in Priština.

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eine Katastrophe«, sagt er und zuckt resigniert mit den Schultern. Weder Driton noch Antigona gehen in Priština wieder zur Schule. »Wir müssen der Familie helfen«, sagt sie.

Abschiebung um jeden Preis Der Kosovo zählt zu den ärmsten Ländern Europas, zugleich ist er das jüngste: Etwa zwei Drittel seiner Bewohner sind unter 30 Jahre alt. Jedes Jahr verlassen rund 36.000 junge Menschen die Schulen und strömen auf einen Arbeitsmarkt, der nur sehr wenige von ihnen aufnehmen kann. Während die Arbeitslosenquote bei 35 Prozent liegt, finden nach Schätzungen der Weltbank 61 Prozent der Jugendlichen keine Beschäftigung. Die Buzollis gehören zur Minderheit der Ashkali, die ebenso wie Roma vom Arbeitsmarkt nahezu ausgeschlossen sind. Laut Amnesty-Länderbericht aus dem Jahr 2015 leiden Angehörige der Minderheiten weiterhin unter institutioneller Diskriminierung. In den vergangenen Jahrzehnten flohen hauptsächlich Roma und Ashkali vor Diskriminierung und Armut. Mit der großen Ausreisewelle im Winter 2014 und Frühjahr 2015 verließen jedoch mehr als 40.000 Menschen – darunter viele Angehörige der albanischen Bevölkerungsmehrheit – den Kosovo und stellten in Deutschland einen Asylantrag. Als ausschlaggebend für die Massenflucht sehen Experten wie Vedran Dzihic vom Österreichischen Institut für Internationale Politik den Ausgang der letzten Parlamentswahlen. »Es kam eine Regierung an die Macht, die weder als funktionsfähig noch als glaubwürdig eingeschätzt wurde«, sagt der Politikwissenschaftler. Die Geduld der Menschen war definitiv am Ende. Korruption ist im Bildungs- und Gesundheitssystem, in Verwaltung wie auf höchster

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Foto: Andrew Testa / Panos Pictures

Als die Buzollis im April 2016 nach Priština zurückkehrten, wurden sie von Adems Eltern aufgenommen. Mit zwei weiteren Brüdern des Vaters teilen sie sich drei kleine Zimmer. Nach einigen Tagen klagte Adem über hämmernde Kopfschmerzen. Ein dunkler Ausschlag kroch über den gesamten Körper. Zwei Wochen blieb er im Krankenhaus. Im Kosovo werden psychisch kranke und behinderte Menschen nur unzureichend versorgt. Zwar sind Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte kostenfrei, doch die Schmerzmittel, Antidepressiva und Schlafmittel, die in Deutschland das Sozialamt bezahlt hatte, muss Adem Buzolli nun selber kaufen. Den deutschen Behörden ist die unzureichende Situation bekannt. »Weder medizinisches Personal noch adäquate Einrichtungen für die Behandlung psychisch kranker Patienten sind derzeit im Kosovo in ausreichendem Maße vorhanden«, heißt es im Länderinformationsblatt Kosovo vom BAMF und der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Auch in dem vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanzierten Länderinformationsportal steht: »Menschen mit Behinderung sind und bleiben bis auf weiteres von Armut, Isolation und Stigmatisierung betroffen«. Weil Adem arbeitsunfähig ist, erhält er eine Invalidenrente von 100 Euro. Das reicht für seine Medikamente, aber keineswegs für eine sechsköpfige Familie zum Leben. So durchkämmt Adems Sohn Driton jeden Tag Straßen und Mülltonnen der Stadt auf der Suche nach Blechdosen. »Für ein Kilogramm gibt es 50 Cent«, erzählt der 15-Jährige. Dafür benötige er oft einen ganzen Tag. Manchmal findet er als Tagelöhner Arbeit auf einer Baustelle. Das bringt immerhin zehn Euro. »Das Leben hier ist


Foto: Gesa Becher

politischer Ebene allgegenwärtig. »Transparency International« zählt den Kosovo zu den korruptesten Staaten der Region. Dabei war die Hoffnung groß, als die serbische Verwaltung des Kosovos 1999 nach mehr als zwölf Wochen Nato-Bombardement endete. »Es muss rasch und zügig geholfen werden«, versprach der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder nach dem ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg. Hunderte Millionen Euro an internationalen Hilfsgeldern flossen seitdem in das Land, dessen Führung 2008 trotz Protesten der serbischen Minderheit die Unabhängigkeit ausrief. Die Europäische Union bildet im Rahmen der Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX bis heute Richter, Staatsanwälte und Polizisten aus und hat sich auf die Fahnen geschrieben, Korruption und organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Vergebens: Der Europäische Rechnungshof kritisierte 2012 die Arbeit von EULEX als »nicht effizient genug«. Der Politologe Vedran Dzihic formuliert es drastischer: »Man muss definitiv von einer Mitverantwortung Europas an der Misere im Kosovo sprechen.« All das hindert die deutschen Behörden nicht daran, abgelehnte Asylbewerber von der sogenannten freiwilligen Ausreise zu überzeugen oder in den Kosovo abzuschieben. Im Gegenteil: Das bayerische Konzept aus Druck und Abschreckung scheint aufzugehen. »Die konsequente Rückführung in die Westbalkanstaaten hat dazu geführt, dass die Zahlen der Neuzugänge aus diesen Staaten im Jahr 2016 massiv zurückgegangen sind«, sagt ein Sprecher des bayerischen Innenministeriums.

»Das bayerische Konzept aus Druck und Abschreckung scheint aufzugehen.« Der Fokus der Behörden richtet sich Anfang 2017 aber bereits auf eine andere Flüchtlingsgruppe: Um aus Nordafrika über das Mittelmeer geflohene Menschen möglichst rasch wieder abschieben zu können, schlug Innenminister de Maizière im Januar die Einrichtung von »Bundesausreisezentren« vor. Zudem sollte »der Bund eine ergänzende Vollzugszuständigkeit bei der Aufenthaltsbeendigung« erhalten. Eine »nationale Kraftanstrengung beim Thema Rückkehr« sei nötig, um abgelehnten Asylberbern zu »signalisieren, dass für sie eine Integration nicht gewollt ist und die Ausreise bevorsteht«. Klare Worte, die den Ton vorgeben für ein Wahljahr, in dem Flüchtlinge wenig zu melden haben dürften. Diesen Artikel können Sie sich in unserer Tablet-App vorlesen lassen:  www.amnesty.de/app

Junger Staat, keine Zukunft. Straßenszene in Priština.

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Auf ihrem Youtube-Kanal »German Lifestyle« nehmen zwei junge Syrer Stereotype und Missverständnisse zwischen Deutschen und Flüchtlingen aufs Korn. Von Hannah El-Hitami »Herr Faham, Sie kommen aus Syrien? Da haben Sie sicher einiges mitgemacht, willkommen in Deutschland!«, begrüßt die freundliche Angestellte der Ausländerbehörde den Neuankömmling. »Jetzt wollen wir mal sehen, wie wir Ihnen helfen können.« Großzügig überreicht sie Alaa Faham Bahncard, Busfahrkarte sowie ein Bündel Geldscheine. Und versichert dem jungen Mann, dass seine Wohnung selbstverständlich auch schon einzugsbereit sei. Sprachsicher lässt sie in ihre Erklärungen ein paar Sätze Arabisch einfließen. In Anbetracht der seit Sommer 2015 völlig überlasteten Ausländerbehörden kann diese Szene nur aus einem Traum stammen. Oder es handelt sich um Comedy: Auf ihrem Youtube-Kanal »German Lifestyle« (GLS) machen sich Alaa Faham und Abdul Abbasi über all die Schwierigkeiten und Missverständnisse lustig, die das Aufeinandertreffen von Syrern und Deutschen prägen. Vor der Handykamera stellen sie peinliche Situationen nach, die viele Syrer in Deutschland erlebt haben: so etwa die Unsicherheit darüber, ob man sich zur Begrüßung nun umarmt, küsst oder die Hand gibt. Oder sie zeigen sich selbstironisch bei dem Versuch, das Wort »Immatrikulationsbescheinigung« richtig auszusprechen. Ihre Videos tragen Titel wie »Der erste Tag eines Syrers an der Schule« oder »Wenn eine Deutsche mit einem Araber zusammen wäre«. In diesen Sketchen ist der Deutsche vor allem pünktlich, gewissenhaft und geht gerne spazieren. Der Syrer wird als faul, chaotisch und gastfreundlich dargestellt. »Wir übertreiben, um zu zeigen, wie lächerlich das ist«, sagt Abbasi.

»Humor ist die beste Methode, Leute zu erreichen.« Alaa Faham 38

Seine Devise im Kampf gegen diese Stereotype ist eindeutig: »Es gibt kulturelle Unterschiede, aber statt Angst davor zu haben, lasst uns darüber Witze machen!« Im August 2015, als an manchen Tagen mehr als 10.000 Syrer die Grenzen überquerten, beschloss Abdul Abbasi, den Neuankömmlingen ein wenig unter die Arme zu greifen, schließlich hatte er sich nach zwei Jahren in Göttingen längst eingelebt. Er postete ein Video über die Schwierigkeiten der deutschen Sprache im Intrnet, das auch Alaa Faham anklickte, der 2014 aus Idlib nach Hamburg geflohen war. »Das Video war einfach zu langweilig«, erinnert sich der 19-Jährige an den halbstündigen Beitrag. Er kontaktierte seinen Landsmann, die beiden lernten sich bei ein paar Shishas näher kennen, und kurz darauf ging es mit den Comedy-Videos von GLS auch schon los. Auf dem Campus der Göttinger Georg-August-Universität erzählen die beiden bei Kaffee und Zigaretten von ihrer Zusammenarbeit, die inzwischen Dutzende Videos hervorgebracht hat – zur Integrationsproblematik, zu kulturellen Eigenarten und Versuchen, diese zu überbrücken. Mit knapp 100.000 Facebook-Likes haben sie eine beachtliche Fangemeinde. Ihr Erfolgsrezept: »Erstens sind wir einfach komisch«, behauptet Faham mit einem breiten Grinsen. »Und zweitens ist Humor die beste Methode, Leute zu erreichen.« Anfangs produzierten sie ihre Beiträge nur in arabischer Sprache. Doch seit Anfang 2016 konzentrieren sich Faham und Abbasi auf ihr eigentliches Ziel, die Verständigung zwischen Deutschen und Syrern voranzutreiben. In den Videos sprechen sie seitdem deutsch, die Untertitel sind arabisch. Der zentrale Platz der Georg-August-Universität ist an diesem sonnigen Tag Treffpunkt der Studierenden. Abbasi studiert hier Zahnmedizin, und auch Faham überlegt, von der Elbe an die Leine zu ziehen, um in Göttingen Politik oder Geschichte zu studieren. Und um am selben Ort gemeinsam noch intensiver an ihren Videos arbeiten zu können sowie andere Projekte voranzutreiben: Eine Deutschlandtour sei geplant, erzählen sie, und ein Buch – sowie weitere Auftritte in Talkshows und Gespräche mit Politikern. Dass die beiden auch ernst sein können, zeigte Abbasi bereits während eines Auftritts bei Anne Will, und Faham in Videos, die ganz ohne Comedy-Elemente zwischen Syrern und Deutschen zu vermitteln versuchen. »Wir möchten uns in eure Gesellschaft integrieren, uns an das Grundgesetz halten. Wir möchten, dass wir zusammen friedvoll leben und zueinander

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Foto: Peter Jelinek

Lachen gegen Vorurteile


Lachen und informieren. Abdul Abassi und Alaa Faham in Göttingen.

stehen, weil wir zusammen stärker sind«, sagt er in fast akzentfreiem Deutsch im Video »Eine Nachricht«. In den Kommentaren zu ihren Beiträgen taucht immer wieder die Behauptung auf, dass man mit Flüchtlingen wie diesen ja kein Problem habe, dass die beiden aber Ausnahmen darstellten. Faham protestiert und verweist auf Hunderte von Likes, die sie für kontroverse Beiträge von syrischen Fans bekommen haben. Zwar erhalten sie auch immer wieder Hassmails von Syrern, die vor allem auf Themen wie Homosexualität, Frauenrechte oder Religion empfindlich reagieren, doch die meisten Reaktionen seien positiv und konstruktiv. »Ich übe sehr viel Kritik an den Syrern hier, weil ich will, dass wir uns verbessern«, sagt der 22-jährige Abbasi. »Wenn wir nicht über unsere Probleme reden, werden sie immer heftiger, und vielleicht gibt es irgendwann keine Lösung mehr.« Die Vorurteile der Deutschen, glaubt Faham, gründeten auf einer Medienberichterstattung, die positive Beispiele des Zusammenlebens von Flüchtlingen und Deutschen außer Acht lasse. »Viele Deutsche denken echt, dass wir aus dem Mittelalter kommen«, stellt Abbasi lachend fest. Im September 2016 erhielt er sogar ein Rückflugticket nach Syrien von der NPD. Er postete danach ein humorvolles Video auf Youtube. »Es bringt nichts, sich aufzuregen und aggressiv zu reagieren«, sagt er. Im Gegenteil: Oft seien die Leute einsichtig, wenn man sie respektvoll behandele. Entmutigen lassen sich die beiden Youtuber jedenfalls nicht. »Was uns richtig motiviert weiterzumachen, ist, dass wir auch so

INTEGRATION

waren«, sagt Abbasi, der vor seiner Ankunft in Göttingen nicht allzu viel von der deutschen Mentalität hielt. »Wir haben uns geändert, weil wir die Menschen hier kennengelernt haben.« Er ist sich sicher: Wer Vorurteile gegen bestimmte Personengruppen hat, ist noch keiner dieser Personen selbst begegnet. Solche Begegnungen wollen sie nun vorantreiben. »Ich bringe sie zum Lachen, dann gebe ich ihnen ein bisschen Information. Dann nochmal lachen, dann noch ein bisschen Information«, erklärt Abbasi seine Strategie. So ziehen sie auch durch Schulen und sprechen mit jungen Menschen über deren Vorurteile. Und immer wieder gebe es Angebote einer Zusammenarbeit von politischer Seite, die bislang aber kaum umgesetzt worden seien. Dabei ist das Potenzial der syrischen Community in Deutschland groß – auf den unterschiedlichsten Gebieten. Als im vergangenen Oktober in Sachsen nach dem syrischen Terrorverdächtigen Jaber Albakr gesucht wurde, erschien der Fahndungsaufruf nur auf Deutsch. Faham und Abbasi übersetzten ihn ins Arabische und teilten ihn auf ihrer Facebook-Seite, wo er insgesamt 45.000 Menschen erreichte. Kurz darauf wurde Albakr von Syrern in Leipzig festgehalten und der Polizei übergeben, ehe er sich in Untersuchungshaft erhängte. »Wir haben so ein kleines Beispiel einer Zusammenarbeit gezeigt, und es hat geklappt. Wie wäre es, wenn wir das mit der Integration machen – obwohl ich das Wort überhaupt nicht mag – oder mit dem Arbeitsmarkt?«, schlägt Abbasi vor. Dann stellt er bedauernd fest: »Wir suchen hier immer noch nach Anerkennung.«

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Illustration: Susann Stefanizen

»Migrationshintergrund ist ein Unwort«

Rassismus in Deutschland I: Ihre Lehrer wollten nicht, dass Nuray Demir (33) aufs Gymnasium ging. Später studierte die Tochter türkischer Einwanderer in Hamburg, Wien und Marseille. Heute inszeniert die Künstlerin in der Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg und bei den Berliner Tanztagen. Sie kritisiert den naiven Umgang mit Privilegien. Ich finde es ambivalent, wenn ich eingeladen werde, um über Rassismus und Exotismus zu sprechen, weil schon die Einladung für mich Teil des Problems ist. Einerseits ist es wichtig darüber zu sprechen, aber andererseits werden diese Themen nicht an weiße Deutsche herangetragen. Die könnten aus einer privilegierteren Position heraus ja genauso gut über Rassismus sprechen. Hinzu kommt, dass man mich zu diesem Thema viel öfter anfragt als etwa zu ästhetischen Erfahrungen. Anders gesagt: Die anderen dürfen zu spezifischen Kulturfragen sprechen, während ich den Rassismusdreck beseitigen muss. Selbst wenn mir natürlich klar ist, dass ich biografisches Wissen mitbringe, das sie nicht haben: Ich durfte in den Neunzigern im Sauerland als Kind sogenannter Gastarbeiter nicht aufs Gymnasium. Mein Realschullehrer sagte immer vor allen anderen Schülern: »Du machst eine Ausbildung, Nuray.« Meine Dreisprachigkeit galt als Defizit, nie als Kompetenz. 1993 dann politisierte mich der Brandanschlag von Solingen

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– mit der kindlichen Gewissheit, dass es auch meine Familie hätte treffen können. Aber es brannte und brennt weiterhin in Deutschland: Auch an der Kunsthochschule in Hamburg fühlte ich mich total gehässig behandelt und kam mir vor wie ein Fremdkörper. Auch deshalb sollten alle über Rassismus sprechen – über Diskriminierungen, wie ich sie erlebt habe, oder eben über die Privilegien, die dazu führen, dass andere davon profitieren. In der Kunst gibt es eine inhaltliche, diskursive Öffnung gegenüber dem Thema, während auf der strukturellen Ebene, etwa bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, nicht viel passiert. Das in Betracht zu ziehen, ist enorm wichtig. Ich habe auch positive Erfahrungen gemacht mit reflektierten Institutionen, die Privilegien in einer Art Powersharing abgeben. Aber meistens herrscht ein naiver, völlig unreflektierter Umgang vor. Es wird eine imaginierte weiße Norm aufrechterhalten, die unangefochten bleibt, während alles andere markiert, exotisiert oder rassifiziert wird – oft als Folklore. Eigentlich geht es in der Kunst ja um Präsentation und Repräsentation. Aber wenn bestimmte Menschen an diesen Orten gar nicht präsent sind, dann kann eben nur über sie gesprochen werden, nicht mit ihnen. Obwohl Kunstinstitutionen öffentlich finanziert werden, sind sie meist exklusiv und elitär. Auch das Publikum stellt eine homogene Parallelgesellschaft dar. Anstatt sich darüber auszulassen, warum andere Leute nicht ins Theater gehen, müssen wir uns fragen, wer das Programm macht, denn damit ließe sich auch das Publikum erklären. Was es inzwischen an vielen Theatern gibt, sind Projekte für Jugendliche mit sogenanntem Migrationshintergrund. Sie gehören zwar der dritten Einwanderergeneration an und leben in einer postmigrantischen Gesellschaft, aber trotzdem werden sie immer wieder mit diesem Unwort markiert. Das ist absurd und suggeriert, dass sie auf der Bühne eigentlich nichts zu suchen haben. Das gleiche gilt für Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger oder behinderte Personen. Was vermeintlich gut gemeint ist, ist tatsächlich oft eine Mitleidsperformance. Und kein Mensch ist auf Mitleid angewiesen. Biografisch bedingt setze ich mich mit Rassismus auseinander, auch künstlerisch. Ich will aber auch andere Themen verfolgen und nicht immer nur passiv auf gewisse Rassismen reagieren, sondern eine Vision aufzeigen, wie Zusammenleben funktionieren kann. Für meine Abschlussarbeit habe ich deshalb einen Wohncontainer am Haupteingang der Kunsthochschule in Hamburg aufgestellt, als Installation, als Begegnungsraum – anknüpfend an die ersten Moscheen in Deutschland, die in Containern in Hinterhöfen untergebracht waren. Bei diesem Werk ging es um die Matrix von Peripherie und Zentrum, und da gibt es viel Kontinuität, wenn wir an heute denken. Protokoll: Andreas Koob

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»Den Schwarzen im eigenen Team lieben die Fans« Auf der Trainerbank erlebt man teils über neunzig Minuten hinweg extreme Beleidigungen. Das unverdrossene Pöbeln von der Seite lässt einem keine Ruhe. Ich versuche den Spielern beizubringen, dass diese Sprüche nichts mit der Wahrheit zu tun haben. Solche unschönen Minuten sollten uns nicht Tag und Nacht beschäftigen. Denn am nächsten Morgen trainieren wir wieder und respektieren uns. Ich habe immer wieder Rassismus erlebt. Das ist wie bei einem Kind, das fortwährend gehänselt wird, und es irgendwann gar nicht mehr merkt: Am Anfang mag es komisch sein, dann unschön, bevor es irgendwann dem Anschein nach normal ist, wenn die Leute das immer wieder machen – ohne Bestrafung, ohne Konsequenz. Ich habe als Trainer die politische Situation im Fußball thematisiert und vieles unternommen. Babelsberg 03 war beim Thema Diskriminierung ohnehin schon immer feinfühlig. Das scheint wie eine Art Schutzschild zu wirken. Es gibt zwar immer noch rassistische Vorfälle, aber es hat sich inzwischen deutlich gelegt. An unseren Spielorten im Nordosten Deutschlands, wo das gang und gäbe war, scheinen sich inzwischen viele zu überlegen, ob sie sich das noch erlauben können oder ob das nicht ihrem Ruf schadet. Für meine Spieler gilt: Ihr könnt alles sagen, aber ihr dürft niemals diskriminieren. Man kann sich um jeden Ball streiten, aber es darf niemals um irgendwelche ethnischen Hintergründe oder politischen Ideologien gehen. Das lasse ich nicht durchgehen. Fairness muss die Basis sein. Im Herbst 2015 sind wir zum dritten Mal gegen den FSV Zwickau angetreten. Schon bei den beiden Spielen zuvor hatte es unfaire Aktionen seitens des gegnerischen Teams gegeben. In dieser Partie gab es gleich zwei Beleidigungen – und das nicht wegen des Spielverhaltens, sondern aufgrund der Herkunft meiner Spieler. Nach dem Spiel tat der Trainer von Zwickau so, als sei nichts passiert. Er sagte, er könne seiner Mannschaft ein Kompliment machen. Dabei waren seine Spieler durchs Stadion gerannt und hatten gerufen: »Alles Kanacken hier!« Das Verhalten konnte ich nicht durchgehen lassen. Meine deutliche Kritik wurde vom Nordostdeutschen Fußballverband aber eher heruntergespielt. Es gab eine Geldstrafe, der Rest wurde unter den Tisch gekehrt. Der Rassismus auf dem Platz ist seit den Neunzigern nicht mehr und nicht weniger geworden. Früher kam er vielleicht offener und extremer daher, heute verdeckter und strategischer. Kriege werden eben immer geführt, nur die Methoden ändern sich. Und Diskriminierung ist auch eine Art Krieg. In der Fankultur werden Vorurteile ebenfalls gnadenlos egoistisch ausge-

RASSISMUS IN DEUTSCHLAND

spielt: Sobald der schwarze Fußballer für das eigene Team spielt, lieben ihn die Fans. Den schwarzen Spieler der gegnerischen Mannschaft beleidigen und hassen sie. Es gibt extreme Unterschiede zwischen dem Fußball in West und Ost – auch wenn man im Osten von Verein zu Verein sehr unterscheiden muss. Aber auch abseits des Platzes erlebe ich Rassismus schon seit den Neunzigern: In Rostock wurde unsere Unterkunft bei einer Klassenfahrt von rechten Jugendlichen besetzt, und auf Usedom haben mich rechte Schläger während eines Trainingslagers mit vorgehaltener Waffe aus der Disco gejagt. Menschen, die die Realität nicht sehen und wahrhaben wollen, gibt es überall. Wir sollten uns mit Respekt und Liebe begegnen. Auch wenn es Diskriminierung gibt, liebe ich Deutschland. Nicht zuletzt, weil das Land selbstkritisch ist gegenüber Nationalismus und der eigenen Vergangenheit. Die Deutschen schämen sich für das, was in Auschwitz geschehen ist und leugnen es nicht. In der Türkei empfinde ich den Umgang mit der Geschichte anders. Und das ist ein krasser Unterschied, für den ich das Land hier liebe. Protokoll: Andreas Koob

Illustration: Susann Stefanizen

Rassismus in Deutschland II: Cem Efe (38) ist Trainer des SV Babelsberg 03. In der Regionalliga Nordost kämpft der Sohn türkischer Eltern nicht nur um Punkte, sondern auch gegen rassistische Diskriminierung und eine von Vorurteilen bestimmte Fankultur.

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Krieg im Krieg

Ethnische Teilung. Eine Mauer trennt turkmenische und kurdische Bewohner von Tuz Khurmatu.

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Foto: Yuri Kozyrev / NOOR / laif

Bei der Offensive auf Mossul kämpfen kurdische und schiitische Milizionäre Seite an Seite gegen den »Islamischen Staat«. Im nordirakischen Tuz Khurmatu stehen sie sich jedoch verfeindet gegenüber – Entführungen, Folter und Vertreibungen bestimmen den Alltag. Von Birgit Svensson

IRAK

Schwarze Fahnen und das Bild eines jungen Mannes mit leidendem Gesichtsausdruck machen schon am Ortseingang deutlich, wer die neuen Herrscher von Tuz Khurmatu sind: Nicht die sunnitischen Dschihadisten des »Islamischen Staats« (IS) und ihres Anführers Abu Bakr al-Bagdadi kontrollieren die 175 Kilometer nördlich von Bagdad und 80 Kilometer südlich von Kirkuk gelegene Stadt, sondern schiitische Milizen. Das Antlitz des Prophetenenkels Hussein, der bei der historischen Schlacht um Kerbela 680 starb und von Schiiten als Märtyrer verehrt wird, fehlt deshalb an keinem Checkpoint. Noch vor Kurzem lebten kurdische, turkmenische und arabische Bewohner in Tuz Khurmatu friedlich nebeneinander. Gemischte Ehen waren nichts Ungewöhnliches, man stand füreinander ein. Doch im November 2015 kam es zu schweren Gefechten zwischen Angehörigen der kurdischen Peschmerga und turkmenischen Kämpfern, die sich dem schiitischen Milizenverband Hashd al-Shaabi (Volksmobilisierung) angeschlossen hatten. Die vom Iran finanzierte und gesteuerte Einheit bildet die wichtigste Kampfgruppe gegen den IS, der im Sommer 2014 bis unmittelbar vor Tuz Khurmatu vorgerückt war. Doch seit gut einem Jahr sind auch Kurden Gegner der Volksmobilisierungseinheiten: 16 Menschen wurden bei den Schießereien in Tuz Khurmatu getötet, darunter drei Hashd-al-Shaabi- und ein Peschmerga-Kämpfer. Hunderte Zivilisten flohen. Was zum Ausbruch der Kämpfe rund um den Komar-Markt im Zentrum der Stadt führte, ist umstritten. Kurdische Gesprächspartner behaupten, ein schiitischer Milizionär habe einen Sprengsatz in das Haus eines Kurden geworfen, woraufhin man zu den Waffen gegriffen habe, um sich zu verteidigen. Schiitische Bewohner Tuz Khurmatus hingegen sagen, kurdische Provokateure hätten bewusst Spannungen geschürt. Unumstritten ist, dass nach den Gefechten Ende 2015 die schleichende Teilung der 60.000-Einwohner-Stadt in der irakischen Provinz Salah al-Din begann. Eine hohe Mauer trennt nun den mehrheitlich von Kurden besiedelten Teil von dem turkmenischen. Viele sunnitische Araber haben die Stadt inzwischen verlassen, aus Furcht, zwischen die Fronten zu geraten. Die, die blieben, trauen sich abends nicht mehr auf die Straße, aus Angst entführt zu werden. Wie so viele aus ihren Reihen. Auch Ali, der seinen Nachnamen nicht gedruckt sehen will, geriet in die Fänge der mächtigen schiitischen Milizen. Bedrückt sitzt der junge Mann in einem Schnellrestaurant im neuen Basar von Tuz Khurmatu und wartet auf Kunden. Als im vergangenen Frühjahr abermals Kämpfe zwischen turkmenischen und kurdischen Milizionären ausbrachen, unterhielt er noch einen Geldwechselstand in der Haupteinkaufsstraße, erzählt der 25Jährige. Plötzlich seien zwei Pickups vorgefahren. Vermummte Männer seien ausgestiegen und hätten ihn und mehrere Händ-

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ler umstellt, ihnen Masken über den Kopf gezogen und sie auf die Ladefläche des Wagens gezerrt. »Bist du Kurde?«, hätten sie ihn auf Arabisch gefragt. Er habe nicht gewusst, was er antworten solle, sagt er, denn sein Vater sei Kurde, seine Mutter Turkmenin. »Ihr seid Ungläubige«, raunte ihm einer der Entführer zu, den Ali nie zu Gesicht bekam, »Freunde Israels«. Als die Fahrt endlich endete, band ihm einer der Männer die Arme hinter dem Rücken zusammen und hängte ihn an einem Haken an der Decke oder an einer Wand auf. Etwa eine halbe Stunde habe er so gehangen, bis jemand mit Röhren oder Stangen auf ihn einschlug. Er wimmerte und schrie: »Bringt mich um, aber foltert mich nicht!« Doch die Männer machten weiter. Noch heute schmerzt Alis rechter Arm von der Tortur, die er damals erlitt. Ein Arm wurde ausgekugelt, einige Knochen zersplittert, mehrere Zähne ausgeschlagen. Die Striemen der Schläge sind noch auf seinem Rücken zu sehen. Nur weil seine Familie ihn freikaufte, ließen die Männer ihn nach vier Stunden ziehen, erzählt er ein halbes Jahr nach der Entführung. Die 20.000 US-Dollar, die er als Devisenwechsler bei sich hatte, habe er nie wiedergesehen, nur Handy und Pistole zurückbekommen. Statt Geld zu tauschen brät er jetzt Falafel und Kebab in dem kleinen Schnellrestaurant im neuen Basar. Doch mit den umgerechnet rund 6,50 Euro, die er damit am Tag verdient, kommt er kaum über die Runden – und für die nötigen Arzt- und Krankenhausbesuche bleibt nichts übrig. Natürlich würde er seine Peiniger gerne zur Rechenschaft ziehen, sagt Ali trotzig. Turkmenen aus Tuz Khurmatu hätten ihn gefoltert, da ist er sich sicher. Der letzte Drohanruf läge nur zwei Monate zurück, doch er habe Angst, etwas zu unternehmen. Weil das nicht nur ihm so geht, fürchten viele, dass die Verhältnisse in Tuz Khurmatu ein Szenario für die Zukunft des ganzen Iraks sein könnten. Denn so wie andere Gemeinden im Norden des Landes zählen die Stadt und ihre Umgebung zu den sogenannten umstrittenen Territorien, auf die sowohl die kurdische Regionalverwaltung (KRG) in Erbil als auch die Zentralregierung in Bagdad Ansprüche erheben. Über deren Zugehörigkeit sollte laut Verfassung eigentlich in einem Referendum entschieden werden. Doch das Vorhaben machte der Blitzkrieg des IS im Sommer 2014 vielleicht für immer zunichte. Denn damals rückten Einheiten der kurdischen Peschmerga in viele Gebiete ein, die die irakische Armee auf der Flucht vor den Dschihadisten geräumt hatte – und schufen somit Fakten. Diese Entwicklung wollen die Schiitenmilizen nun rückgängig machen. »Tuz Khurmatu ist eine turkmenische Stadt«, stellt Atef al-Najar klar. In olivgrüner, eng anliegender Uniform und modischen Schuhen, den Revolver salopp am Oberschenkelband befestigt, sitzt der 40-Jährige in einem Sessel und schlürft Tee aus einem kleinen Glas. Er ist Kommandeur der Badr-Brigaden,

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der mächtigsten Schiitenmiliz im Verbund der Volksmobilisierungseinheiten Hashd al-Shaabi, die nach den Kämpfen zwischen Turkmenen und Kurden 2016 die Kontrolle in Tuz Khurmatu übernahm. Die Aufmerksamkeit, die den Turkmenen seitdem zuteilwird, genießt al-Najar sichtlich. Sämtliche Größen der irakischen Politik seien zu ihm gekommen, um zwischen den Bevölkerungsgruppen zu schlichten und zu vermitteln, sagt er stolz. »Auch die Iraner haben mit uns geredet.« Als sein Smartphone summt, erscheint Irans Oberster Religionsführer Ali Khamenei auf dem Display. Auf der Rückseite ist ein Foto des iranischen Revolutionsführers Ruhollah Khomeini aufgeklebt. Auch die Badr-Brigaden werden von Teheran gelenkt und finanziert. Während sunnitische Politiker deshalb von einer »iranischen Eroberung« des Iraks sprechen, empfinden schiitische Turkmenen wie al-Najar den Machtzuwachs als Befreiung – und als späte Gerechtigkeit für lange erlittenes Unrecht. So sei es Turkmenen unter Saddam Hussein etwa verboten gewesen, eine Waffe zu tragen, sagt der Milizenchef von Tuz Khurmatu. Nach dem Sturz des Diktators hätten dann die in die Stadt eingerückten kurdischen Verwalter gegen eine Bewaffnung der Turkmenen opponiert. »Die haben uns außen vor gelassen, haben uns klein gehalten.« Doch diese Zeiten seien seit Bildung der Hashd al-Shaabi-Milizen vorbei, endlich könne man sich bewaffnen: »Diese Stärke nutzen wir jetzt aus.« Foltervorwürfe freilich weist der Milizenchef strikt von sich: »Wir foltern nicht, jeder Turkmene hier hat einen kurdischen Freund.« Immerhin räumt al-Najar ein, dass die turkmenischen Bewohner Tuz Khurmatus sehr wütend seien, was zur Gewalt in der Stadt sicherlich beigetragen habe. Mit etwa drei Millionen Angehörigen bilden die Turkmenen die drittgrößte Bevölkerungsgruppe im Irak nach Arabern und Kurden, auf politischer Ebene waren sie jedoch immer unterrepräsentiert. Nicht nur unter Saddam Hussein, der im Zuge seiner Arabisierungspolitik Tausende Turkmenen aus ihren Dörfern vertrieb und umsiedelte, sondern schon seit der Gründung des Königreichs Irak nach dem Ersten Weltkrieg. Ausgerechnet der Siegeszug des »Islamischen Staats« könnte das nun ändern.

Kirkuk im Visier Nur drei Kilometer von der Hauptstraße zwischen Tuz Khurmatu und Kirkuk entfernt wehen die schwarzen Fahnen der Terrormiliz. Hier konnten sich die Dschihadisten halten – nicht zuletzt deshalb, weil Sondereinheiten der irakischen Armee, kurdische Peschmerga und die internationale Luftallianz gegen den IS sich derzeit darauf konzentrieren, Mossul zurückzuerobern. Bei Dahuk, auf halbem Wege von Tuz Khurmatu nach Kirkuk, verläuft die Front. Hier ist auch der Deutsche Herbert Lang immer wieder im Einsatz, und zwar als sogenannter Sicherheitsdienstleister im Auftrag der US-Armee. Seine Aufgabe ist es, die regulären irakischen Verbände, die gegen den IS kämpfen, mit Nachschub zu versorgen, und die Soldaten mit ihren Waffen vertraut zu machen. In seinem Hauptquartier auf einem Luftwaffenstützpunkt in Kirkuk zeigt der 46-Jährige hinüber zu einem großen Bildschirm, auf dem Fotos von Mörsergranaten zu sehen sind, die in einem Waffenlager in einem Vorort von Mossul ausgehoben wurden. Mehr als 5.000 davon hätten Kämpfer der Anti-IS-Allianz bereits gefunden, sagt er, und beziffert die Zahl der IS-Waffenfabriken in Mossul auf 25. Mindestens sechs Monate werde es noch dauern, bis Regierungstruppen Iraks zweitgrößte Stadt zurückerobert hätten, schätzt er. »Der Kampf um Aleppo ist vor-

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Foto: Ako Rasheed / Reuters

»Wir foltern nicht. Jeder Turkmene hat schließlich einen kurdischen Freund.« Badr-Brigadenchef al-Najar


bei, sodass der IS nun Kapazitäten frei hat, um von Westen nach Mossul vorzurücken«, sagt er zur Begründung. Auch die Ölstadt Kirkuk nahmen die Dschihadisten im Herbst schon ins Visier. Vom Dach seines Hauptquartiers im Stadtzentrum aus schildert der deutsche Militärdienstleister den Angriff auf Kirkuk im vergangenen Oktober: Aus drei Richtungen seien IS-Kämpfer ins Stadtzentrum vorgedrungen, vier Tage habe es gedauert, bis sie wieder zurückgeschlagen werden konnten, so akribisch vorbereitet sei der Angriff gewesen. »Sie wollten zunächst eine Ölraffinerie einnehmen, dann den Gouverneurspalast und die Hauptwache der Sicherheitskräfte.« Lang war mit dabei, als das Feuer auf die Angreifer eröffnet wurde. Einschusslöcher in mehreren Gebäuden der Innenstadt erinnern drei Monate später immer noch an die Kämpfe. In den Jahren nach der amerikanischen Invasion 2003 war Kirkuk nach Bagdad die Stadt mit den meisten Terroranschlägen im Irak. Fast täglich explodierten Sprengsätze, Selbstmordattentäter rissen viele Menschen mit sich in den Tod. Wie in Tuz Khurmatu leben auch in Kirkuk Angehörige fast aller irakischen Bevölkerungsgruppen: Kurden, Araber und Turkmenen, aber auch Assyrer, Jesiden und Kakai. Weil der Ölreichtum der Stadt Begehrlichkeiten weckt, ist sie so umkämpft: Die kurdische Regionalregierung in Erbil erhebt Anspruch auf die Verwaltung, womit die Zentralregierung in Bagdad nicht einverstanden ist. Doch weil es den kurdischen Peschmerga gelang, das Vakuum zu füllen, das im Sommer 2014 nach dem Rückzug der Regierungseinheiten entstanden war, gingen die Anschläge in der

Stadt merklich zurück. Die Straßen wurden sicherer und die Einwohner Kirkuks konnten aufatmen – bis zum Angriff des IS im vergangenen Oktober. Seitdem nehmen die Spannungen zu. Bevor der IS auftauchte, habe die Kooperation zwischen Kurden und Turkmenen in der Stadt hervorragend funktioniert, sagt Khaled Shwani in seinem Haus in Kirkuk. Der kurdische Politiker ist Rechtsberater des irakischen Präsidenten Fuad Massum und war lange Jahre Vorsitzender des Rechtsausschusses im Parlament in Bagdad. Er beklagt, dass sich »die Landkarte« der Turkmenen »extrem verändert« habe, sodass »die Einheit der Volksgruppe« nicht mehr gegeben sei. Das liege daran, dass die Religion inzwischen eine größere Rolle spiele als die Ethnie: Da es sowohl schiitische wie sunnitische Turkmenen gebe, orientierten sich viele nun an den regionalen Mächten, denen auch arabische Angehörige der beiden Konfessionsgruppen folgten: sunnitische Turkmenen an der Türkei, schiitische am Iran und den von Teheran gelenkten Hashd al-Shaabi. Noch überdecke der gemeinsame Kampf von kurdischen Peschmerga, irakischen Regierungssoldaten und den schiitischen Volksmobilisierungsmilizen der Hashd al-Shaabi gegen den IS in vielen Fällen die Differenzen, sagt Präsidentenberater Shwani. Doch seine Sorgen um die Zukunft des Zusammenlebens zwischen Kurden, Arabern und Turkmenen sind angesichts der zunehmenden konfessionellen Spannungen groß. Dabei seien die ethnisch motivierten Konflikte in seinem Land ja schon komplex genug. »Aber wenn die Religion noch dazu kommt, wird es unendlich viel schwieriger.«

Mächtige Milizen. Kurdische Peschmergakämpfer nach dem Angriff des IS auf Kirkuk im Oktober 2016.

IRAK

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Schwul, verhasst und ausgegrenzt

Alltagsflucht. LGBTI-Party auf einem Ausflugsdampfer in Belém.

Brasilien erlebt eine Welle homophober Gewalt, an der auch die Polizei ihren Anteil hat. Aber vor allem konservative Politiker und evangelikale Prediger schüren den Hass. Homosexuelle und Transgender fordern deshalb eine Aufklärungsoffensive – und haben bereits ihre eigene Kirche gegründet. Von Andrzej Rybak (Text und Fotos) Der Homosexuelle Diego Vieira Machado starb auf dem Campus der Staatsuniversität von Rio de Janeiro. Die halbnackte, verstümmelte Leiche des 29-jährigen Literaturstudenten aus Belém am Amazonas wurde im vergangenen Juli mit Folterspuren und

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Kopfverletzungen am Ufer der Guanabara-Bucht gefunden. »Er flüchtete vor der Homophobie, die bei uns im Norden weit verbreitet ist«, erzählt sein Bruder Maycon in einem Vorort von Belém. »In Rio hoffte er, eine liberale Gesellschaft zu finden, die sein Schwulsein akzeptiert. Ausgerechnet dort wurde er deswegen brutal ermordet.« Machado ist nicht das einzige Opfer. Brasilien erlebt seit einigen Jahren eine Welle homophober Gewalt. Allein im Jahr 2015 wurden 318 Lesben, Schwule und Transsexuelle wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität ermordet – alle 27 Stunden ein Mord. »Es ist zuletzt deutlich schlimmer geworden«, sagt Jandira Queiroz von Amnesty

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»Eine typische brasilianische Mutter würde lieber einen Dieb als Sohn haben als einen Schwulen.«

International in Brasilien. »Die Lage droht außer Kontrolle zu geraten.« Von Januar 2012 bis September 2016 sind 1.600 Homosexuelle und Transgender in Brasilien getötet worden, schätzt die Nichtregierungsorganisation »Grupo Gay da Bahia«, die Zeitungsmeldungen ausgewertet hat. Sie ist die älteste und am besten organisierte Vereinigung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intersexuellen (LGBTI) des Landes. Die Opferzahl dürfte weit höher liegen, denn oft werden homophobe Morde von der Polizei nicht als solche registriert. Brasilien genießt das Image eines offenen und toleranten Landes. In São Paulo findet jedes Jahr die größte Schwulenpara-

BRASILIEN

de der Welt statt, im Karneval wird Sexualität geradezu öffentlich zelebriert. Seit dem Ende der Militärdiktatur vor 30 Jahren hat das Parlament viele Gesetze verabschiedet, die das Leben der sexuellen Minderheiten verbesserten. Seit 1996 bietet das Land kostenlos Medikamente für HIV-Infizierte; schwule und lesbische Paare dürfen Kinder adoptieren; 2013 wurde die Homo-Ehe legalisiert. Doch hinter der liberalen Fassade schwelen Hass und Gewalt. »Ich bin schon oft zusammengeschlagen und vergewaltigt worden«, sagt der Transvestit Natascha Carvalho. Er zeigt bei diesen Worten keinerlei Gefühlsregung, so als habe er sich an die Gewalt gewöhnt. Er lebt in São Jorge, einem Armenviertel von Manaus, in dem viele Drogenabhängige, Schwule und Transvestiten wohnen. Natascha brach früh die Schule ab, kann kaum schreiben. »Ich konnte keinen Job finden. Mir blieb nichts anderes übrig, als auf den Strich zu gehen.« Natascha hat blond gefärbte lange Haare und schlecht lackierte Fingernägel. Der Transvestit kennt viele, die homophober Gewalt zum Opfer fielen. Eine lesbische Freundin wurde von einer Gruppe Männer brutal vergewaltigt, die ihr eine Lektion erteilen und sie zu einer »richtigen« sexuellen Orientierung zwingen wollten. Ein schwuler Nachbar wurde mit 55 Messerstichen ermordet – dabei war er schon nach dem dritten tot. Natascha will weg: »Wenn ich genug Geld gespart habe, gehe ich nach São Paulo«, sagt der Transvestit. »Ich kenne dort einen Mann, bei dem ich wohnen kann.« Selbst in diesem Land, in dem Gewalt weit verbreitet ist, fallen die Morde an Homosexuellen durch ihre Brutalität auf. »Die Homophobie ist in der brasilianischen Kultur tief verwurzelt«, sagt der Anthropologe Luiz Mott, Begründer der »Grupo Gay da Bahia«. »Die Gewalt gegen Schwule wird durch den Machismo beflügelt, der in der Gesellschaft salonfähig ist. Eine typische brasilianische Mutter würde lieber einen Dieb als Sohn haben als einen Schwulen.« Homosexuelle oder Transgender würden oft von ihren Familien verstoßen, in der Schule gemobbt und landeten letztlich auf dem Strich. Schuld an der zunehmenden Gewalt sind aber auch die evangelikalen Pfingstkirchen, die offen gegen sexuelle Minderheiten und Transgender hetzen. Sie breiteten sich in Brasilien in den vergangenen Jahrzehnten rasend schnell aus, schon heute sollen ihnen etwa 30 Prozent der Bevölkerung angehören. Die Evangelikalen halten Homosexualität für eine perverse Krankheit und Gotteslästerung – und jagen nicht-heterosexuelle Kirchenmitglieder regelrecht. »Die nutzen jede Möglichkeit, um gegen uns zu lästern«, sagt der Schwulenaktivist Eduardo Benigno von der »Grupo Homosexual do Pará« in Belém. »Selbst während der Messen sta-

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cheln sie die Kirchgänger auf.« Als schwuler Student kämpfte er gegen die Stigmatisierung HIV-Infizierter und gegen die Verbreitung von AIDS, nun setzt sich der 39-Jährige für LGBTI-Rechte ein. Die evangelikalen Kirchen kontrollieren in Brasilien Dutzende von Fernsehstationen und Radiosendern, über die sie homophobe Propaganda verbreiten. Inzwischen haben sie auch einen enormen Einfluss auf die brasilianische Politik, rund 60 evangelikale Abgeordnete und Senatoren sitzen im Kongress in Brasilia. Sie bilden dort eine starke und sehr disziplinierte Gruppe, die es sich zum Ziel gesetzt hat, jede weitere Liberalisierung der Gesetzgebung in Bezug auf sexuelle Minderheiten zu stoppen und die bisher gewährten Freiheiten konsequent zurückzunehmen. Sie widersetzten sich zuletzt dem Vorstoß, die Strafen für Schwulendiskriminierung zu verschärfen und blockierten eine

Das Gewaltopfer. Natascha Carvalho

Der Aktivist. Eduardo Benigno

Bildungsreform, die darauf zielte, Toleranz gegenüber Minderheiten an den Schulen zu lehren. Einer ihrer prominenten Anführer, der Kongressabgeordnete Jair Bolsonaro, fordert gar körperliche Züchtigung, um Homosexuelle zu Heterosexuellen zu erziehen. Sein konservativer Kollege Marco Feliciano sieht den Fortbestand der Nation und der Familie gefährdet, da gleichgeschlechtliche Paare keine Kinder haben können. Solche Stimmen verstärken die Vorurteile in der Gesellschaft – und im Staatsapparat. Die Polizei hält es für überflüssig, Trainingsprogramme für Beamte abzuhalten, die bei der Bekämpfung von Anti-Gender-Kriminalität eingesetzt werden. Dabei werfen Opfer homophober Gewalt der Polizei immer wieder vor, sie zu schikanieren und zu demütigen. Auch vor Gericht geht es nicht immer vorurteilslos ab. Meist werden Angriffe auf Homosexuelle entweder gar nicht oder nur äußerst milde bestraft. Und oft kommen die Täter mit einer Geldstrafe davon. Berto Paes kennt das aus eigener Erfahrung. Der Besitzer

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der »Bar do Angela« in Belém, die als beliebter Treffpunkt von Schwulen und Lesben bekannt ist, wurde von Polizisten verprügelt und eingesperrt. »Zwei Beamte kamen herein, als wir eine Party gefeiert haben, und begannen, die Leute ohne Grund zu durchsuchen«, erzählt der 43-Jährige. »Sie fassten den Frauen zwischen die Beine und an die Brüste, dann verlangten sie Geld.« Als er gegen die Belästigung seiner Gäste protestierte, wurde er kurzerhand abgeführt und im Gefängnis zusammengeschlagen. Nach heftigen Protesten der brasilianischen Vereinigung der Lesben, Schwulen und Transgender wurde Paes zwar am nächsten Tag freigelassen, doch seine Klage gegen die Polizisten wurde aus Mangel an Beweisen abgewiesen – trotz eindeutiger Prügelspuren. »Die Polizei ist doch nur Abbild der Gesellschaft«, sagt die Transsexuelle Renata Taylor, die selbst mehrmals Opfer der Poli-

Der Barbesitzer. Berto Paes

zei wurde und sich immer wieder mit Gewalt konfrontiert sieht. Vor dem Teatro da Paz, einem neoklassischen Bau in Belém, fällt Taylor durch ihre ein Meter neunzig sofort auf. Sie trägt ein Stirnband, das ihre langen schwarzen Haare nach hinten fallen lässt. »Früher haben hier nachts Transsexuelle und Schwule auf die Freier gewartet«, sagt die 48-Jährige. »Manchmal kam die Polizei, schnappte sich die Leute und ließ sie stundenlang in einem Brunnen hocken.« Taylor, eine ausgebildete Friseurin, ging auch eine Zeit lang auf den Strich, weil niemand in der Stadt ihr einen Job geben wollte. Dann machte sie einen eigenen kleinen Salon auf – und begann, sich für die Rechte der LGBTI-Gemeinde einzusetzen. Heute ist Taylor geschäftsführende Sekretärin der Menschenrechtsabteilung der ANTRA, der Nationalen Vereinigung von Transsexuellen und Transvestiten. Verantwortlich für die homophobe Gewalt sei vor allem der Mangel an Bildung, glaubt Taylor. »Viele Leute halten Transgender und Schwule tatsächlich für perverse oder zumindest sexsüchtige Menschen. Sie haben diese Vorurteile und Verleum-

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dungen immer wieder gehört.« Das Problem wird durch die Armut verstärkt, die die Schwulen und Transgender bei ihrem Kampf ums Überleben an den Rand der Gesellschaft führt, in die Prostitution und Kriminalität. In diesem von homophober Gewalt geprägten brasilianischen Alltag ist die Christliche Gegenwartskirche (Igreja Cristã Contemporânea) ein wichtiger Zufluchtsort. Sie wurde 2006 von dem schwulen Rechtsanwalt und Theologen Marcos Gladstone in Rio de Janeiro gegründet und steht sexuellen Minderheiten und Transgender offen. »Wir sind der Meinung, dass Homosexuelle, Lesben und Transgender genauso Gottes Kinder sind, wie die anderen«, sagt der 50-jährige Gladstone, der mit einem schwulen Pastorenkollegen verheiratet ist und zwei adoptierte Jungen großzieht. Ihre Ehe wurde vergangenes Jahr offiziell registriert – als erste Homo-Ehe zwischen zwei Pastoren in Brasi-

Die Aktivistin. Renata Taylor

lien. »In seiner Barmherzigkeit kann unser allmächtiger Gott niemanden verstoßen«, sagt Gladstone. »Auch die Schwulen nicht.« Der Hauptsitz der Kirche befindet sich in Madureira, im Norden von Rio de Janeiro. Vor dem gelb gestrichenen, simplen Gotteshaus schauen private Sicherheitsleute nach dem Rechten. Denn die Kirchgänger haben Angst. »Manche unserer Mitglieder wurden persönlich angegriffen, zusammengeschlagen oder beschimpft«, sagt Gladstone. »Leider nimmt die Gewalt in letzter Zeit zu. Ich habe die Sicherheitsmaßnahmen verschärft und versuche, Trost zu spenden.« Die Kirche ist ein Sammelbecken der bunten schwul-lesbischen Gemeinde der Millionenmetropole und wächst jeden Tag. Es kommen frustrierte schwule und lesbische Christen, die von ihren Kirchen verstoßen wurden. Und es kommen heterosexuelle Gläubige, die sich mit der Idee solidarisieren oder ein homosexuelles Familienmitglied begleiten. In der Messe läuft alles den gewohnten christlichen Gang, eine Band spielt erbauliche Kirchenlieder, die Gemeinde singt

BRASILIEN

»Nur durch Bildung und Aufklärung lässt sich die Gewalt gegen Schwule und Transgender abbauen.«

Der Pastor. Marcos Gladstone

mit und tanzt. Gladstone hält die Predigt. »Wir unterscheiden uns in der christlichen Lehre nicht von anderen Kirchen«, betont der Pastor. »Wir sind aber der Meinung, dass auch Schwule das Recht haben, das Wort Gottes zu hören.« Inzwischen hat die Gegenwartskirche fünf Gotteshäuser und mehr als 12.000 Anhänger. Nach Rio de Janeiro hat Gladstone Kirchen in São Paulo und Belo Horizonte eröffnet. Die Messen sind auch dort gut besucht. »Die LGBTI-Gemeinde ist überwiegend genauso gläubig wie die Heteros«, sagt Gladstone. »Sie braucht geistliche Führung.« Die Kirche lebt von Spenden ihrer Mitglieder, die zumeist der Mittelklasse angehören. Gladstone geht nicht nur seinen seelsorgerischen Pflichten nach, er wirbt auch bei jeder Gelegenheit für Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten. Er gibt Interviews in brasilianischen Medien, sucht den Dialog mit anderen religiösen Führern, aber auch mit den Hetzern aus der Politik. »Nur durch Bildung und Aufklärung lässt sich die Gewalt gegen Schwule und Transgender abbauen«, sagt der Pastor. »Und mit Gottes Hilfe.«

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KULTUR

»Die Leichtigkeit« von Catherine Meurisse

Nimm das Schwere leicht

Archaische Trauer. Selbstporträt der Zeichnerin Catherine Meurisse kurz nach dem Attentat auf ihre Redaktionskollegen bei »Charlie Hebdo«.

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CATHERINE MEURISSE

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Zeichnung: Catherine Meurisse, aus dem besprochenen Band


Zeichnung: Catherine Meurisse, aus dem besprochenen Band

Allein im Meer der Trauer. Die Karikaturistin, überschwemmt von Solidaritätsbekundungen.

Nur durch Zufall überlebte die Zeichnerin Catherine Meurisse das Attentat auf das französische Satiremagazin »Charlie Hebdo« im Januar 2015. Ihre Graphic Novel »Die Leichtigkeit« ist ein poetischer Trauerbericht. Von Dimitrios Charistes

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ie Karikaturistin Catherine Meurisse entkam dem Attentat auf die Redaktion des französischen Satiremagazins »Charlie Hebdo« nur, weil sie am Morgen des 7. Januar 2015 nicht rechtzeitig aufstand und zu spät im Redaktionsgebäude in der Rue Nicolas-Appert eintraf, um an der Frühkonferenz teilzunehmen. Ihre Kollegen, Mentoren und Freunde aber wurden aus dem Leben gerissen. Zwei maskierte Täter, die sich später zu Al-Qaida bekannten, drangen gewaltsam in die Redaktionsräume ein, töteten elf Menschen, verletzten mehrere Anwesende und brachten auf der Flucht einen Polizisten um.

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In ihrer nun auf Deutsch vorliegenden Graphic Novel »Die Leichtigkeit« verarbeitet die Künstlerin ihren Trauerprozess und stellt existenzielle Fragen zu Gerechtigkeit und Zorn. Entstanden ist ein poetischer Tatsachenbericht, der sich trotz der sensiblen Thematik – typisch »Charlie Hebdo« – auch von der humoristischen Seite zeigt: Ein Comicroman, der zum persönlichen Nachdenken anregt, der subjektive Gedankengänge und innerliche Zerrissenheit visualisiert – und dennoch ein lebensbejahendes Plädoyer für Freundschaft, Kultur und Schönheit ist. »Schönheit wird die Welt retten«, hat der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski geschrieben. Im Fall von Catherine Meurisse stimmt das. Ein knappes Jahr nach dem Attentat versuchte die 1980 geborene Zeichnerin, die sich mit dem Job bei »Charlie Hebdo« einen Jugendtraum erfüllt hatte, wieder ins Leben zurückzukehren. Sie mietete ein Zimmer in der Villa Medici in Rom, die seit Jahrhunderten Künstler aus aller Welt aufnimmt, um sie mit Inspirationen auf ihrer Sinnsuche zu unterstützen. Der Entscheidung war eine zähe Zeit der Trauer vorausgegangen, zahlreiche Sitzungen bei Psychologen und Gespräche

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»Plötzlich ist Meurisses Redaktionsfamilie wieder lebendig und frech wie eh und je.«

CATHERINE MEURISSE

Propheten bildlich darzustellen. Die Lektüre seiner Comic-Strips lässt miterleben, wie ein begabter, mutiger und politischer Künstler versucht, sich mit dem Tod und der quälenden Frage nach dem Warum auseinanderzusetzen und sich selbst zu therapieren. Catherine Meurisse wählt eine andere Herangehensweise. Sie hinterfragt nicht die Hintergründe der Tat, verfällt nicht in blinden Zorn oder Rachegedanken. Sie trauert sinnlich und erbarmungslos offen, drückt ihre Lage emotionaler aus als Luzier dies in seinem Werk tut. Ästhetisch nachvollziehbar wird ihr Weg zurück ins Leben auch durch die Farbgestaltung des Buches. Dominieren anfangs noch düstere und triste grau-schwarz-weiße Zeichnungen, rücken später zunehmend hellere Farben in den Vordergrund, die ihre Rückkehr ins Leben symbolisieren. Positiv aufgeladen sind etwa ihre stillen und minimalistischen Zeichnungen, in denen die Künstlerin einen eskapistischen Aufenthalt in Italien schildert. Ob beim Betrachten einer Skulptur oder einer Lichtung bei Sonnenaufgang: Natur, Kultur und Kunst lassen sie weitermachen. Und auf der letzten Doppelseite sticht dann sogar ein hoffnungsvolles Himmelblau hervor. Hier schreibt sie gegen ihre Depression an: »Ich habe fest vor, wach zu bleiben, schon auf das kleinste Anzeichen von Schönheit zu achten. Jene Schönheit, die mich rettet, indem sie mir Leichtigkeit zurückgibt.« Catherine Meurisses Buch steht ganz in der Tradition satirischen Widerstands: Der Zeichenstift wird der Barbarei immer überlegen sein. Catherine Meurisse: Die Leichtigkeit. Carlsen Verlag,  Hamburg 2016. 144 Seiten, 19,99 Euro. Ab 14 Jahren.

CATHERINE MEURISSE

Foto: Dargaud / Rita Scaglia

mit Freunden, die sich ihrer annahmen und doch nur scheitern konnten. Begleitet nur von den eigenen Gedanken macht sich Meurisse auf den Weg aus der Schwere. Und so blättert sich der Leser durch ihren Trauerprozess, kann dessen psychologische Phasen nachvollziehen: Leugnen, intensiv aufbrechende Emotionen, Suchen und Loslassen sowie Akzeptanz und Neuanfang. Die Künstlerin lässt den Leser an diesem Prozess teilhaben – vom selbstquälerischen Grübeln über ihre Affäre mit einem verheirateten Familienvater bis zum einsamen Gang ans Meer. Ihre große Sehnsucht nach Nähe, Gemeinsamkeit und einer Familie ist das zentrale Motiv ihrer Selbstfindungsphase, geht doch Meurisse den schweren Weg allein. Melancholisch blickt sie zurück auf die Arbeitswelt in der Redaktion. Ihre detailreichen Alltagszeichnungen, in denen sie ihrer ermordeten Kollegen gedenkt, sind berührend. Plötzlich ist Meurisses Redaktionsfamilie, unter ihnen die in Frankreich so umstrittenen wie populären Karikaturisten Charb, Cabu und Honoré, wieder lebendig und frech wie eh und je. Laue Skizzen war man vom Team der »Charlie Hebdo«Redaktion ohnehin nicht gewohnt. Radikal, rebellisch, ohne Kompromisse griffen die Zeichner Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft an – und übten Kritik auch am eigenen saturierten Lebensstil. Die Cartoonistin findet große Metaphern für ihre Gefühle, wie zum Beispiel die unsichtbare Mauer, die sie durchschreitet, als sie erstmals wieder die Räumlichkeiten der Redaktion betritt. Bedrückend sind auch die Abschnitte, in denen Meurisse nachzeichnet, wie sie unter Polizeischutz steht und sich gefangen fühlt. Besonders nachdenklich machen die Szenen, in denen nach dem Verlust ihrer publizistischen Heimat auch die eigene Identität ins Wanken gerät. Die internationale Solidarisierung im Namen der Meinungs- und Pressefreiheit brachte der Redaktion zwar ein gewaltiges Medienecho und führte zu einer weltweiten Diskussion über westliche Freiheitswerte und religionskritische Satire. Dass sich plötzlich alle Welt mit »Je suis Charlie«-Buttons schmückte, empfand Meurisse in den Wochen nach dem Massaker jedoch als paradox. Wie sich das große Leid und Verlassenheitsgefühl der Überlebenden nach dem Attentat auf »Charlie Hebdo« anfühlte, hatte Renard Luzier alias Luz bereits im Frühjahr 2015 in seiner zeichnerischen Aufarbeitung »Katharsis« zum Ausdruck gebracht. Auch er kam an jenem Montag im Januar zu spät zur Redaktionskonferenz – und hielt die gerade eintreffende Meurisse davon ab, das Gebäude zu betreten. Beide hörten die Schüsse. Luzier zeichnete in der ersten Ausgabe nach dem Attentat das berühmte grüne Titelbild der Sondernummer mit dem Propheten Mohammed, der ein Schild mit der Aufschrift »Je suis Charlie« in der Hand hält, das weltweit zum Symbol von Vergebung und Solidarität wurde – und das muslimische Tabu brach, den

Catherine Meurisse wurde 1980 in Niort in Westfrankreich geboren. Sie studierte zunächst Französisch und Literatur, ehe sie in Paris die Ecole Estienne für Illustration besuchte. Noch während ihres Studiums stieß sie zum Team von »Charlie Hebdo«. Sie zeichnete auch für andere Magazine und Tageszeitungen, illustrierte Kinderbücher und veröffentlichte Comics mit humoristischer und literarischer Ausrichtung. Nach zehn Jahren Mitarbeit bei »Charlie Hebdo« verließ sie das Magazin nach dem Attentat. »Die Leichtigkeit« ist ihre erste Graphic Novel, die auf Deutsch erschienen ist.

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Grausames Puppentheater Der Performancekünstler und Nachwuchsregisseur Ersan Mondtag bringt die Attentate des NSU im Sommer in den Münchner Kammerspielen auf die Bühne. Von Georg Kasch

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er größte Skandal am Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) besteht darin, dass er kein Skandal mehr ist. Eigentlich müssten die Zeitungen täglich über die rechtsextreme Terrorgruppe berichten, schließlich haben deren drei Mitglieder zwischen 2000 und 2006 in Deutschland mutmaßlich zehn Menschen ermordet, neun von ihnen Migranten. Eigentlich müsste der Verfassungsschutz umgebaut und viele seiner Mitarbeiter ausgetauscht werden, schließlich wird in den Untersuchungsausschüssen von Bundestag und sieben Bundesländern sowie in dem NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München deutlich, wie sehr die Behörde in die Strukturen der rechten Szene verwickelt ist. Angesichts der öffentlich gewordenen Ermittlungspannen müssten eigentlich viele der ermittelnden Polizisten im Umgang mit Rechtsextremen neu geschult werden. Stattdessen passiert wenig und die Hauptangeklagte Beate Zschäpe versuchte bislang alles, um die Aufmerksamkeit des Gerichts zu zermürben. Da ist es wichtig, dass andere die Erzählung über eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte übernehmen. Zum Beispiel das Theater. Im Juni wird Ersan Mondtags Projekt zum NSU an den Münchner Kammerspielen Premiere haben. Bei der Konzeption ist Mondtag und Kammerspiel-Dramaturg Tarun Kade klar: Es wird keine Konzentration auf die NSU-Mitglieder Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt geben. »Das passiert schon in den Medien«, sagt Mondtag. »Da wird um Zschäpe eine Personality-Show gestrickt, sie wird zum bösen Popstar verklärt, ihre Kleidung analysiert.« Stattdessen soll der Abend auf den Alltag fokussieren, in den die Morde einbrechen, den sie erbarmungslos stören und zerstören. »Wir wollen auf der Bühne eine Konzentration, ein Brennglas schaffen, mit dem man in die Situation reinzoomt«, sagt Mondtag. Oberflächliche Analysen des Themas gebe es schließlich genug. Mondtag gehört zu den Shootingstars der deutschsprachigen Theaterszene. Er wird dieses Jahr 30, ist aber längst dauerbeschäftigt auf Bühnen in Frankfurt, München, Hamburg und Berlin. Ein Wunderkind-Image hat er auch deshalb, weil er in Berlin-Kreuzberg in einer türkischen Familie – Mondtag ist eine wörtliche Übersetzung seines Namens Aygün – aufwuchs und sich die Bildung, die seine Inszenierungen prägt, erst spät in Museen, Kinos und Theatern angeeignet hat. Hospitanzen und Assistenzen absolvierte er bei so unterschiedlichen Regisseuren wie Thomas Langhoff, Claus Peymann und Frank Castorf.

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Mit dem am Staatstheater Kassel uraufgeführten »Tyrannis« wurde er 2016 zum Berliner Theatertreffen eingeladen – eine Art Ritterschlag. Das Stück zeigt eine europäische Mittelschichtfamilie, stumm gefangen in seltsamen Ritualen und Horror. Missbrauch wird angedeutet, Gewalt – aber alles bleibt in der Schwebe, bis eine schwarze Frau vor der Tür steht; eine Fremde, die Ängste weckt und den gewohnten Rhythmus durcheinanderbringt. Ihre roten Haare lassen vermuten: Sie ist Teil dieser Familie. Ein herrliches Spektakel ist das, ein buntes Wunderland,

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Hochpolitisch. Ersan Mondtag.

Foto: David Baltzer / Zenit / laif

nah an Oper und Horrorfilm, voller Zitate und Anspielungen. Bei aller Künstlichkeit und Kunst ist »Tyrannis« hochpolitisch, was sich über alle Projekte Mondtags sagen lässt. Auch wenn er im Gespräch auf eine lässige Art freundlich wirkt, scheint doch eine gute Portion Wut auf die Verhältnisse in ihm zu stecken. Angst gehört für ihn, der im Theaterbetrieb ziemlich furchtlos wirkt, zu den bestimmenden Themen, »weil seit 2001 in allen gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Bereichen Angst als Mittel eingesetzt wird«, wie er sagt. Die Initialzündung hierfür sieht Mondtag in den damaligen Anschlägen auf das World Trade Center in New York. Die neue Unsicherheit nutze seither vor allem rechten Populisten sowie Terroristen. Seine Beschäftigung mit dem NSU-Terror ist da nur konsequent. Schon im Februar 2015 hatte sich Mondtag mit dem NSU auseinandergesetzt – zwei Jahre nachdem er sein Regie-Studium an der renommierten Otto-FalckenbergSchule in München abbrach, um mit dem »Kapitael zwei kolektif« Münchens traditionell eher zahme freie Theaterszene aufzumischen – mit einer Party-Performance-Reihe. Ausgabe Nummer 4, »NSU«, war eine fünfstündige Performance mit Schauspielern, Streichquartett und Chören – im MMA-Club, einst als Heizkraftwerk der NSDAP-Parteizentrale erbaut. Mehr Symbolik geht nicht. Gedacht war der Abend auch als Gegenentwurf zu den Lesungen der NSU-Protokolle an den Münchner Kammerspielen. Dem etablierten Theater ging es erst einmal darum, den Inhalt der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. »Das war total ernst, weihevoll, wattehaft. Wir wollten da was Performatives entgegenset-

ERSAN MONDTAG

Angst ist für Mondtag seit den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 das bestimmende Thema. zen«, sagt Mondtag. Auch die neue NSU-Produktion im Sommer dürfte performativ werden – schließlich steht Mondtag für eine höchst künstliche Ästhetik, die an bildende Kunst erinnert, an Puppentheater, an menschliche Maschinen. Die Umsetzung des Stoffes ist noch im Fluss, in der Konzeption hinterlässt auch die aktuelle Politik ihre Spuren, wie die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und das Erstarken des Front National in Frankreich und der AfD in Deutschland – wie die populistische Stimmungsmache von Rechts ganz allgemein, unterstützt aus der Mitte der Gesellschaft. Grausam findet Mondtag, dass die Taten des NSU von den Ermittlungsbehörden lange als »Döner-Morde« bezeichnet und die Opfer selbst verdächtigt und diffamiert wurden. »Niemand hat ihnen Gehör geschenkt, niemand hat in Richtung Rechtsterrorismus ermittelt. Stattdessen wurde etwa einer durch den NSU-Terror verwitweten Frau erzählt, ihr Mann habe eine Affäre gehabt. Solche Dinge wurden einfach als Kollateralschäden betrachtet.« Zudem kommen fast vier Jahre nach Prozessbeginn immer noch neue Ungereimtheiten ans Licht: Fünf Zeugen sind seit 2013 ums Leben gekommen, angeblich unter natürlichen Umständen. Und die Anwesenheit des hessischen Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme während des Mordes an Halit Yozgat 2006 in einem Internetcafé in Kassel ist ebenso ungeklärt wie die Verstrickungen des Inlandsgeheimdienstes in das makabre V-Mann-System. »Vieles davon ist ohne aktive Mithilfe der Beteiligten kaum aufzuklären, weil Massen an Akten aus undurchsichtigen Motiven nach der Entdeckung der Täter geschreddert wurden«, sagt Kade. Mondtag erinnern all die Widersprüche an die US-Serie »House of Cards«, die einen machtgetriebenen Politikapparat voller Intrigen und Zynismus zeigt. Am Ende soll aber keine riesige Materialsammlung stehen oder ein Abend, der alle Widersprüche in sich vereinigt, sondern ein eigenständiges Kunstwerk, »eine moderne Tragödie, weil man weiß, dass das Ende nicht abwendbar ist«, sagt Mondtag. Schließlich wurde schon viel zum Thema gesagt. Je mehr dazukomme, desto abstrakter werde das Sprechen darüber: »Der Empörungsvorrat erschöpft sich«, sagt Kade. Kann das Theater da überhaupt politisch wirken? »Die Menschen, die das sehen, können zumindest eine Empathie zu den Figuren auf der Bühne aufbauen, mitfühlen, und dann macht es plötzlich keinen Unterschied, welche Nationalität die NSU-Opfer hatten«, sagt Mondtag. Wichtig sei der Versuch allemal, gerade in einer Zeit, in der sich neue rechte Bewegungen als Schützer und Vertreter des »kleinen Mannes« zu etablieren versuchen. »Dass die Rechte heute ungehindert diese Position einnehmen kann, finde ich brutal«, sagt Mondtag. Zumal die brennenden Flüchtlingsheime und die zunehmenden rechten Gewalttaten eine deutliche Sprache sprechen. Es ist eine kalte, herzlose, zynische Sprache. Es ist das Vokabular des NSU.

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Kurze Wege nach

Rechte Willkommenskultur. Die geplante Asylbewerberunterkunft in Tröglitz, Sachsen-Anhalt, in der Nacht zum 4. April 2015.

Brennende Asylbewerberheime, NSU-Morde, Hass auf Gleichheit: Drei Bücher geben Auskunft über die Hintergründe des rechten Terrors in Deutschland. Von Maik Söhler

2009 bis 2015 parteiloser Bürgermeister in Tröglitz, SachsenAnhalt. Wegen mangelnder politischer Unterstützung bei der Unterbringung von Flüchtlingen vor Ort und einer von der NPD mitinitiierten Demonstration vor seinem Wohnhaus trat er im März 2015 von seinem Amt zurück.

Terror in Tröglitz

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er Weg vom Leben in einer neonazistischen Szene zum rechtsextremen Terror kann kurz sein. Zwischen dem Abtauchen von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe im Januar 1998 und dem Beginn der Mordserie der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) im Jahr 2000, der zehn Menschen zum Opfer fielen, liegen gerade einmal zwei Jahre; eines nur, wenn man den Sprengstoffanschlag in Nürnberg 1999 hinzuzählt, der ebenfalls dem NSU zur Last gelegt wird. Auch der Weg vom politischen Protest zum rechtsextremen Terror kann kurz sein: Um die 100 Brandanschläge wurden im Jahr 2015 auf Wohnheime von Asylbewerbern und Flüchtlingen in Deutschland verübt, oft in Orten, wo wenige Wochen zuvor gegen die Aufnahme von Flüchtlingen demonstriert worden war. 2016 zählte das Bundeskriminalamt mehr als 900 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte – vom Gewaltdelikt bis zur Sachbeschädigung. Rund 93 Prozent dieser Attacken hatten einen rechtsextremen Hintergrund. Nicht gezählt sind all die Aufrufe, anonymen Briefe und Anrufe, in denen man Flüchtlingsunterstützern mit Mord, Folter und Vernichtung drohte. Aus einem solchen Schreiben zitiert Markus Nierth in seinem Buch »Brandgefährlich«: »Pfarrer, wir werden kommen und dich holen. Dann wirst du an ein Kreuz genagelt und angebrannt wie ein Nigger! Du Schande der weißen Rasse!« Nierth ist evangelischer Theologe und war von

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Zusammen mit der Journalistin Juliane Streich zieht er nun die Bilanz einer politischen und gesellschaftlichen Kontroverse in und um Tröglitz, an deren Tiefpunkt in der Nacht zum 4. April 2015 ein für Asylbewerber vorgesehenes Heim abbrannte. Auch dort waren zwischen den ersten Bürgerprotesten und dem Brandanschlag nur wenige Monate vergangen. »Die Saat des Hasses war aufgegangen und eskalierte in diesem Brand«, schreibt Nierth, betont aber zugleich, dass er die Tröglitzer anfangs in Schutz genommen habe. Die Behörden hätten die Zuweisung nicht genügend kommuniziert. Erst das Ausbleiben einer spürbaren Unterstützung aus dem Ort, das Schweigen der Mehrheit, sorgte für seinen Rücktritt. Es folgten Schlagzeilen wie: »Das Dorf, in dem der Pöbel siegte« und »Wie Nazis einen Bürgermeister aus dem Amt jagten«. Nierth hat dennoch kommunalpolitische Vorschläge parat: »Gerade die politisch Verantwortlichen sollten möglichst offen informieren, ohne zu spekulieren, das heißt alle vorhandenen Fakten offenlegen, Gerüchte schnell dementieren, weiterführendes Wissen zu Asyl und Flucht zur Verfügung stellen und Themenabende anbieten.« Sein Buch ist ein Plädoyer für zivilgesellschaftlichen Mut. Es wird ergänzt durch Recherchen seiner Co-Autorin Streich, die Orte im Westen Deutschlands beschreibt, in denen es ebenfalls Proteste gegen Flüchtlinge gab. Zu Übergriffen kam es jedoch nicht, weil »die Mitte« sich dort positioniert habe, »und das

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rechts

Foto: Polizei Sachsen-Anhalt / dpa / pa

»Pfarrer, wir werden kommen und dich holen. Dann wirst du an ein Kreuz genagelt und angebrannt wie ein Nigger!« Aus einem Drohbrief gebracht habe, die spektakulär sein solle, auf Öffentlichkeit abziele und von der Ideologie der Täter geprägt werde. Zum rechten Terror hält Dietze fest, es gebe »in Europa rechtsextremistische Bewegungen, die Terrorismus gegen die Gleichstellung und Integration der jüdischen Bevölkerung oder auch anderer Gruppen einsetzten (und immer noch einsetzen)«. Zum Terrorismus gehört Dietze zufolge auch die Strategie, Reaktionen der Staaten zu erzwingen. Dies können Militarisierung und harte Repression sein, sie zeigen den Staatsapparat dann tatsächlich als das Monster, als das er zuvor propagandistisch beschrieben wurde.

Eine staatliche Terrorfiktion macht den wesentlichen Unterschied aus«. Heute leben auch in Tröglitz Asylbewerber, und manche, die sie einst ablehnten, sagen nun: »Die sind ja ganz harmlos und freundlich.«

Was ist Terrorismus? Unter rechtem Terror in Deutschland werden so unterschiedliche Taten gefasst wie der Oktoberfest-Anschlag im Jahr 1980 mit 13 Toten, die Morde und Anschläge des NSU, aber auch Angriffe auf Asylbewerberheime. So groß die Bandbreite gewalttätiger Attacken, so naheliegend ist die Frage: Was genau ist Terror? Carola Dietze, Historikerin und Autorin der Studie »Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858–1866« bietet unter Rückgriff auf den wissenschaftlichen Diskurs diese Definition an: »Planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund«. Dietze untersucht in ihrem 750 Seiten starken Werk nicht allein den Rechtsterrorismus, sondern drei Grundideen von Terroristen, »und zwar die Leitidee persönlicher Freiheit und Gleichheit ebenso wie die Idee politischer Partizipation und nationaler Selbstbestimmung und das Anliegen, Freiheit und Gleichheit zu verhindern, zu unterlaufen oder zu widerrufen«. Anders gesagt: Die Richtungen des Terrorismus, denen sie alle weiteren terroristischen Akte unterordnet, sind sozialrevolutionär, ethnisch-nationalistisch und rechtsradikal. Der Terrorismus, wie wir ihn heute kennen, sei ein Produkt der Moderne des 19. Jahrhunderts und entspringe einer »Handlungslogik im Bereich von Politik, Gesellschaft und Medien«, die sich in Europa, den USA und Russland herausgebildet habe, wobei die Terroristen des 19. Jahrhunderts, über Tageszeitungen vermittelt, voneinander gelernt hätten. Dietze spricht von einem »transnationalen, seriell-kollektiven Lernprozess«, der eine neue Form politischer Gewalt hervor-

RECHTSTERRORISMUS

Die Dialektik von Terror und staatlicher Terrorbekämpfung ist auch ein Thema in Harald Lüders’ fiktionalem Politthriller »Dunkelmacht«. Der Roman erzählt die Geschichte des Journalisten Mitch Berger, der einen Terrorplan von rechtsextremen Geheimdienstmitarbeitern aufdeckt. Diese haben das Ziel, mit einem Anschlag auf eine Asylbewerberunterkunft die Flüchtlingspolitik Angela Merkels in ihrem Sinne zu beeinflussen. Man könnte den Plot getrost als dumpfen Verschwörungsthriller abtun. Aber die Art, wie Lüders die Arbeit in den Landesämtern und beim Bundesamt für Verfassungsschutz in seinen Roman einarbeitet, lässt einen dann doch schaudern. Denn die Vernichtung von Akten mit NSU-Bezug über V-Männer, Aktionen der Dienste und Netzwerke in Verfassungsschutzämtern hat real stattgefunden. »Quellenschutz vor Strafverfolgung« ist eben kein fiktionales Prinzip, das Lüders erfunden hat, um seinen Roman spannender zu machen, sondern es kennzeichnet die Praxis des Schredderns von NSUAkten beim Verfassungsschutz der vergangenen Jahre. »Sie vernichten hier exakt jene Vorgänge, nach denen diverse parlamentarische Untersuchungsausschüsse gefragt haben«, sagt in »Dunkelmacht« ein Verfassungsschützer zum anderen. Wer solche Dienste hat, braucht sich über ein Erstarken des Rechtsterrorismus nicht zu wundern. Markus Nierth/Juliane Streich: Brandgefährlich. Wie das Schweigen der Mitte die Rechten stark macht. Ch. Links Verlag, Berlin 2016. 216 Seiten, 18 Euro. Carola Dietze: Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858–1866. Hamburger Edition, Hamburg 2016. 752 Seiten, 42 Euro.  Harald Lüders: Dunkelmacht. Westend Verlag, Frankfurt/M. 2016. 352 Seiten, 15 Euro.

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»Als würde einem die beste Freundin den Rücken kehren« Zack Adesina hat eine Kurzdokumentation über die Auswirkungen des britischen Referendums für einen EU-Austritt gedreht. Sein Film »Brexit Hate« befasst sich mit den Folgen für die Migranten in Großbritannien. Interview: Jürgen Kiontke

Ihr Dokumentarfilm befasst sich insbesondere mit den Auswirkungen des Brexit-Votums auf Arbeitsmigranten aus Osteuropa. Wie ist es dieser Gruppe seit der Abstimmung im Juni 2016 ergangen? Es gibt zahlreiche Osteuropäer, die aus London weggezogen sind oder planen, London zu verlassen. Eine der eindrucksvollsten Charaktere ist eine Frau, die seit vielen Jahren in Großbritannien lebt, arbeitet und Steuern zahlt. Sie sagt, dass sie sich seit dem Volksentscheid für den Austritt aus der Europäischen Union von dem Land, in dem sie lebt, zurückgewiesen fühle: »Es ist so, als würde man eines Morgens aufwachen und feststellen, dass die beste Freundin einem plötzlich und ohne Erklärung den Rücken gekehrt hat. Ich kann nicht aufhören zu weinen.« Diese Aussage zeigt deutlich, dass viele Osteuropäer in den vergangenen 20 Jahren nicht nur wegen der Arbeit gekommen sind. Sie haben tiefe Wurzeln geschlagen, sind eng mit Briten befreundet, haben Familien gegründet. Und plötzlich fühlen sie sich nicht mehr sicher, ihr Status ist ungewiss. Die Folge sind Furcht, Misstrauen und Wut. Ich versuche in dem Film, diese emotionale Zerrissenheit aufzuzeigen. Was war der Auslöser für diesen Film? Das Filmkonzept entstand eigentlich schon lange vor dem

»Eine hohe Zahl an schwarzen und asiatischen Briten hat für den Austritt aus der EU gestimmt.« 58

EU-Referendum. Bereits seit einigen Jahren konnte ich beobachten, dass mein Land sich unter der polierten und stillen Oberfläche langsam veränderte. Eine seltsame Art von Nationalismus hat sich in Großbritannien breitgemacht – aufgrund sozialer Ungleichheiten und stark befeuert durch das rechte wie auch das linke politische Spektrum: ein Nationalismus, der auf Separatismus statt Einheit setzt. Das ist der Grund, weshalb wir nun an dem Punkt sind, dass manche Leute stolz sind auf ihren offenen Rassismus gegenüber Osteuropäern. Und es ist auch der Grund, warum einige nationale Zeitungen Anti-EU-Schlagzeilen drucken, die selten auf Fakten basieren. All dies kam in Verbindung mit dem Brexit-Votum ans Licht, und da dachte ich mir, jetzt ist die richtige Zeit für den Film, jetzt muss gezeigt werden, wie sich all dies auf Migranten auswirkt und weshalb sie Großbritannien den Rücken kehren und in andere Länder gehen, in denen sie sich gewürdigt und sicherer fühlen. Gibt es mehr rassistische Übergriffe auf Migrantinnen und Migranten? Ja, die Zahl der von der englischen und walisischen Polizei registrierten Hassverbrechen hat stark zugenommen: In den beiden Wochen vor der Volksabstimmung und am Tag des Referendums, dem 23. Juni, wurden gut 1.500 rassistisch oder religiös motivierte Straftaten begangen – das ist ein Anstieg um etwa 41 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. In unserem Land gibt es Menschen, die täglich beleidigt, eingeschüchtert und manchmal sogar tätlich angegriffen werden. Gibt es Gruppen in Großbritannien, die besonders gefährdet sind? Jede Person, die erkennbar anders ist und möglicherweise wie ein Migrant aussieht, kann das Ziel solcher Attacken werden. Im Juni 2016 wurde in den britischen Medien über eine ältere deutsche Frau berichtet, die seit 43 Jahren in Großbritannien lebt und nun traumatisiert ist, nachdem sie Opfer eines fremdenfeindlichen Übergriffs wurde – ihre Haustür wurde mit Hundekot beworfen und ihr wurde gesagt, sie solle nach Deutschland zurückgehen. Im Oktober wurde ein muslimisches Mädchen in einem Londoner Bus von einem Mann angegriffen, der »Brexit« gerufen haben soll. Eine Umfrage hat ergeben, dass zwölf Prozent der in Großbritannien lebenden polnischen Staatsangehörigen nach dem Brexit-Votum mit feindseligen Haltungen konfrontiert wurden. Der Hass scheint sich gegen alle möglichen Migrantengruppen zu richten.

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Foto: Oliver Ellrodt / Reuters

Entzweite Zweisamkeit. Polnischer Minimarkt im ostenglischen Boston, britisch beflaggt.

Wie reagieren Polizei, Justiz und Medien auf solche Taten? In den Zeitungen geht es hauptsächlich um Rowdys, die Migranten auf der Straße angreifen; um Jugendliche, die Personen mit ausländischem Akzent oder ausländischer Erscheinung anpöbeln. Fremdenfeindlichkeit beschränkt sich jedoch nicht nur auf öffentliche Plätze und sichtbare Vorfälle. Der gutbürgerliche Geschäftsinhaber, der keine polnischen Arbeiterinnen oder Arbeiter anstellen möchte, oder die Cafébesitzerin, die sich weigert, einen indischen Kunden zu bedienen, tauchen in der Statistik nicht auf. Und doch gibt es viele Einzelbeispiele, die darauf hindeuten, dass sich solche Vorfälle täglich ereignen. Gab es auch britische Staatsangehörige mit Migrationshintergrund, die für den Brexit gestimmt haben? Eine der Eigentümlichkeiten des EU-Referendums war die hohe Zahl an schwarzen und asiatischen Briten, die für den Austritt aus der EU gestimmt haben. Manche befürchten, von den osteuropäischen Migranten verdrängt zu werden, die sich in jüngster Zeit niedergelassen haben. Vor dem Referendum wurden an die Besucher der East-London-Moschee in Whitechapel Flyer verteilt und E-Mails verschickt, in denen Muslime aufgefordert wurden, für den Austritt aus der EU zu stimmen, um »sicherzustellen, dass die örtlichen osteuropäischen Gemeinschaften von Christen und Katholiken nicht noch stärker werden«. Viele bereuen nun, dieser spalterischen Rhetorik nachgegeben zu haben. Wie steht die Regierung zu den Menschenrechten? Den Behörden scheint die Zunahme von Rassismus ernsthaft Kopfzerbrechen zu bereiten. Der neue muslimische Bürgermeister von London, Sadiq Khan, hat eine Nulltoleranzpolitik gegen jeden Versuch der gesellschaftlichen Spaltung angekündigt, und nach Angaben der Polizeibehörde des Großraums London hat sich die Zahl der Festnahmen wegen Hassverbrechen

INTERVIEW

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ZACK ADESINA

seit dem Referendum um 75 Prozent erhöht. Doch letztlich basiert der Schutz vor Hassverbrechen in Großbritannien auf dem gültigen Menschenrechtsrahmen: dem Schutz der Menschenwürde und der Gleichbehandlung aller. Mit dem Austritt aus der Europäischen Union ist der Schutz dieser Rechte jedoch möglicherweise gefährdet. Denn einige Politiker, die den Brexit befürworten, haben vorgeschlagen, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte den Rücken zu kehren. Allerdings wäre ein solcher Schritt mit sehr komplexen Prozessen verbunden und würde bei dem Teil der Bevölkerung, der diese Schutzgarantien für nicht verhandelbar hält, auf heftigen Widerstand stoßen. Gibt es Bewegungen zum Schutz von Migranten? In den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Demonstrationen gegen den Brexit und die damit einhergehende fremdenfeindliche Rhetorik. Dieser Widerstand wird hauptsächlich von den »Millennials« angeführt, der jungen Generation. Junge Leute engagieren sich jetzt stärker politisch. Wie haben Sie abgestimmt: für oder gegen den Brexit? Ich habe für den Verbleib in der EU gestimmt, weil mein geliebtes Großbritannien ein weltoffenes Land ist. Ich bin hier geboren und afrikanischer Abstammung. Meine Adoptiveltern sind weiß und britisch. Ich war mit Kindern aus Frankreich, Schweden, Deutschland und Indien in der Schule. Jetzt, als Erwachsener, habe ich Freunde in London, die aus aller Welt kommen. Das ist das Großbritannien, mit dem ich mich identifiziere, denn ich bin der Überzeugung, dass Diversität unser Land besser, stärker, sicherer und reicher macht.

INTERVIEW ZACK ADESINA Foto: privat

Sind auch andere Gruppen betroffen? Es gibt keine offiziellen Angaben zu Hasskriminalität in Verbindung mit dem Brexit gegen Personen, die keine Migranten sind. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es in dieser Hinsicht kein Problem gibt. So berichten zum Beispiel Angehörige von LGBTI-Gruppen über mehr Angstgefühle und Angriffe seit dem Brexit-Votum. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass Fremdenfeindlichkeit leicht außer Kontrolle gerät: Heute werden Migranten verfolgt, morgen wendet man sich gegen eine andere Gruppe – und was kommt dann?

Der 39-jährige britische Journalist arbeitet für die BBC als Regisseur und Produzent von Dokumentar filmen. Ehrenamtlich engagiert er sich für den »Albert Kennedy Trust«, der lesbische, schwule, bisexuelle und transgeschlechtliche Jugendliche und junge Erwachsene unterstützt. Adesinas Bericht über osteuropäische Migranten findet sich im BBC-Archiv  unter: www.bbc.co.uk/programmes/p046x5vl

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Hunde und Katzen in der Kosmopolis In »Redefreiheit« rückt der britische Historiker Timothy Garton Ash das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung in den Mittelpunkt – angepasst an die Bedingungen des 21. Jahrhunderts. Von Maik Söhler

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Foto: istockphoto.com

ur wenige Klicks voneinander entfernt finden sich im Internet die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und der Hasskommentar eines Youtube-Nutzers, der die Shoah leugnet. Nur wenige Klicks nebeneinander liegen die Webseiten von Amnesty International und die der »Traditional American Knights of the Ku Klux Klan«. Und es sind wieder nur wenige Klicks, die von der offiziellen Website des nordkoreanischen Regimes, das kein Recht auf freie Meinungsäußerung kennt, zur Homepage des britischen Historikers und Journalisten Timothy Garton Ash führen, auf der er sich für Meinungsfreiheit einsetzt und für sein neues Buch wirbt: »Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt«. Diese Nähe zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Humanität und Hass und dem Recht des einen, zu sprechen, und dem Recht eines anderen, von Hass unbehelligt zu bleiben – all das hat Garton Ash veranlasst, zusammen mit Studierenden die experimentelle Website »freespeechdebate.com« zu entwickeln. Im Vorwort führt er aus: »Sie enthält Fallstudien, Audio- und Videointerviews, Analysen und persönliche Kommentare aus der ganzen Welt und lädt zu einer Online-Debatte ein.« Die in viele Sprachen übersetzten Diskussionen und Anregungen auf »freespeechdebate.com« sind wiederum die Grundlage des Buchs, das zehn Prinzipien formuliert, die das in die Jahre gekommene Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung an

die Bedingungen der global vernetzten Welt des frühen 21. Jahrhunderts anpassen sollen. Herausgekommen ist ein Buch, das liberale Ansätze zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Redefreiheit vorstellt, bündelt, diskutiert und in den Kontext diverser Mächte stellt, die an ihrer Einschränkung, Abwandlung und Ausweitung interessiert sind. In Garton Ashs Worten sind es die großen Hunde, die großen Katzen und die vielen Mäuse, die die Sprache und das kommunikative Leben in der »Kosmopolis« prägen – der globalisierten und digital vernetzten Welt von heute. Als große Hunde bezeichnet er Staaten, Staatenbünde und transnationale Organisationen, die Einfluss darauf nehmen, was gesagt wird – und was gesagt werden kann. Die großen Katzen sind die Unternehmen, die derzeit das Internet dominieren – Google, Facebook, Amazon und Apple in der westlichen Welt, aber auch Vkontakte, heute vk.com, aus Russland, Baidu oder Sina Weibo in China. Die vielen Mäuse wiederum sind wir, die Nutzer, die oft nur zwischen den Hunden und Katzen lavieren, aber gemeinsam auch agieren können, um von Staaten und Unternehmen Gesetzesänderungen und modifizierte Nutzungsbedingungen zu erzwingen. Die Stärke von Garton Ashs liberalem Kosmopolis-Ansatz zur Redefreiheit besteht darin, dass er seine eigene Beschränktheit kennt und zu überwinden sucht: Längst nicht jeder indische Kleinbauer oder jede afrikanische Arbeiterin ist Teil der digitalen Weltgesellschaft; dies zu ändern, fordert der Autor vehement. Nicht zu wissen, wie das geschehen soll und stattdessen im Nachwort nebulös von »realistischem Idealismus und idealistischem Realismus« zu sprechen, gehört zu den Schwächen des Buchs. Dennoch: »Redefreiheit« sollte zu den Standardwerken über Menschenrechte gehören. Timothy Garton Ash: Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm  und Thomas Pfeiffer. Hanser, München 2016. 688 Seiten, 28 Euro.

Wir sind die Mäuse. Die Kommunikation der digital vernetzten Welt wird laut Ash auch durch jede einzelne Maus, also jeden Internetnutzer geprägt.

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Die Kraft der Ameisen

Mit Poesie gegen die Todesstrafe

1992 im Tumen-Gefängnis im Norden der chinesischen Provinz Sichuan begonnen und erst 2014 beendet, liegt Liao Yiwus Roman »Die Wiedergeburt der Ameisen« nun auf Deutsch vor. Es waren viele kleine, »ameisenartige« Zeichen, die der Autor einst heimlich im Knast notierte und die dem Buch heute den Titel geben. Vier Jahre saß Liao Yiwu in Haft – wegen des Gedichtes »Massaker«, das er nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz im Juni 1989 geschrieben hatte. Auf Deutsch erschien zuletzt vor fünf Jahren seine Autobiografie »Für ein Lied und hundert Lieder«, seither lebt er in Berlin. Auch »Die Wiedergeburt der Ameisen« hat autobiografische Züge. Der Protagonist Lao Wei ist Dichter, landet wegen »konterrevolutionärer Umtriebe« im Gefängnis, wird misshandelt und steht auch nach seiner Freilassung als »Geächteter« immer wieder unter der Aufsicht des chinesischen Staates. Dabei lässt sich Lao Wei vor allem treiben – durch ein riesiges Land, seine Geschichte, Gegensätze, Religion und Kultur. Vom Kampf Chinas gegen die japanischen Invasoren im Zweiten Weltkrieg und die Auseinandersetzung der Kommunisten mit den nationalchinesischen Guomindang über die Kulturrevolution Maos, die Repression nach dem Tiananmen-Massaker bis zur gegenwärtigen staatlich gesteuerten Bereicherung von Funktionären reicht die Handlung. Liao Yiwu erzählt wild aus dem Alltag seiner Romanfiguren, teils nahezu wirr.

Die gute Nachricht zuerst: 103 Staaten haben die Todesstrafe vollständig abgeschafft. Die schlechte: Amnesty International registrierte 2015 die höchste Zahl an Hinrichtungen in den vergangenen 25 Jahren. Mindestens 1.634 Menschen wurden in 25 Staaten exekutiert. Geheim und damit ungezählt bleiben Chinas Opfer in diesem »Krieg, den die Nation gegen einen Bürger führt«. Mit diesen Worten bezeichnete der italienische Philosoph Cesare Beccaria bereits im Jahr 1764 die Todesstrafe. »Der Weg zum Schafott« heißt ein neuer Band, in dem sich neben dem Beitrag Beccarias auch Texte von Victor Hugo, Charles Dickens, William Thackeray, Fjodor Dostojewski und Leo Tolstoi finden. Sie alle schrieben im 19. Jahrhundert über die Todesstrafe. Vor allem die Beiträge von Hugo, Dickens und Thackeray wenden sich explizit gegen die Hinrichtung, mal in Form eines Briefes (Dickens), mal als Protokoll (»Der letzte Tag eines Verurteilten«, Hugo), mal als Reportage vom Ort einer Exekution (Thackeray). Die Beiträge von Thackeray und Dickens wurden für den Band erstmals ins Deutsche übersetzt. »Gibt es etwas Schöneres und Heiligeres, als nach diesem Ziele zu streben, nach der Abschaffung der Todesstrafe?«, fragte Victor Hugo bereits im Jahr 1829. Fast 200 Jahre später ist diese Frage immer noch aktuell.

Liao Yiwu: Die Wiedergeburt der Ameisen. Aus dem  Chinesischen von Karin Betz. S. Fischer, Frankfurt/M. 2016. 576 Seiten, 28 Euro.

Der Weg zum Schafott. Dichter gegen die Todesstrafe. Victor Hugo, Charles Dickens, William Thackeray, Cesare Beccaria, Fjodor Dostojewski, Leo Tolstoi. Ripperger & Kremers, Berlin 2016. 200 Seiten, 18,90 Euro.

Verletzliche Würde Malen mit Qualen »Wohin das müde Auge schweift, die Menschheit hat sich an der Kehle«, heißt es im Vorwort des jüngst erschienenen Comic-Sammelbandes »Comic Culture Clash«. 40 Comic-Zeichner aus Deutschland arbeiten sich »in 20 Konflikten um die Welt«. Um nur einige zu nennen: Syrien, Ukraine, Israel/Palästina, der Kurdenkonflikt in der Türkei, Sudan und Südsudan, Schiiten gegen Sunniten, Flüchtlinge und die »Festung Europa«, aber auch Pegida und AfD in Deutschland, »Lügenpresse« und Öffentlichkeit, Demokratie und Ökonomie, sowie Alltagskonflikte wie Berliner gegen Schwaben oder Mieter gegen Vermieter. Mal wird aufwändig, mal schlicht gezeichnet, mal mit Worten und mal ohne, feine Striche und grobe Raster wechseln sich ab, abstrakte Zugänge stehen neben konkreten. So unterschiedlich die Konflikte, so different sind auch die Comics. »Wo sind die politischen Comics?«, fragt der Medienwissenschaftler Stephan Packard im Nachwort und gibt auch gleich eine Antwort: hier, in diesem Band. Es gehe um »die Bereitschaft, den gewohnten Blick zu wiederholen und mit ihm zu brechen. Weil Comics nicht fotografiert, sondern gezeichnet werden, ist jeder Strich am Körper einer Politikerin, eines Geflüchteten, einer Soldatin und eines Demonstranten eine bewusste Entscheidung.« Kurzweilig und interessant. Moga Mobo & Epidermophytie: Comic Culture Clash. In 20 Konflikten um die Welt. Berlin 2016. 260 Seiten, abrufbar unter https://issuu.com/comiccultureclash/

Die Würde des Menschen ist unantastbar – heißt es im Grundgesetz. Aber was bedeutet das für unseren Alltag? Was ist ein respektvoller Umgang miteinander, und vor allem, in welchen Situationen ist die Würde eben doch nicht mehr unantastbar? Anhand von ganz alltäglichen Situationen führen Autorin Karin Gruß und Illustrator Tobias Krejtschi vor Augen, dass bereits kleine Hänseleien oder arglose Unachtsamkeiten die Würde der Mitmenschen verletzen können. Etwa dann, wenn Mädchen im Sportunterricht als Letzte in eine Mannschaft gewählt werden, einem dunkelhäutigen Jungen in der Umkleide seine Jeans weggenommen oder im Internet über Bikinifotos gelästert wird. Aber auch, wenn man seinen Lebensunterhalt von dem Leergut bestreiten muss, das andere wegwerfen, oder das Mobiltelefon des anderen mal wieder wichtiger ist als man selbst. All das kränkt. Aber so einfach und einseitig ist die Geschichte nicht. Auch das machen Gruß und Krejtschi klar, indem sie ihre Figuren immer wieder auftreten lassen und in unterschiedlichen Perspektiven zeigen. Hier ist niemand einfach nur Opfer oder Täter. Alle, egal ob das gemobbte Mädchen, der Flaschensammler oder der Rollstuhlfahrer, sind mal das eine, dann das andere. Auch diese bewusst gesetzte Ambivalenz macht das schmale Buch so besonders. Es regt zum Nachdenken und Hinterfragen des eigenen Handelns an: »Was WÜRDEst du tun?«. Karin Gruß und Tobias Krejtschi: Was WÜRDEst du tun? Michael Neugebauer Edition, Richtenberg 2016.  32 Seiten, 10 Euro. Ab 5 Jahren.

Bücher: Maik Söhler, Marlene Zöhrer BÜCHER

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Die Stimme Angolas

Chile im Jahr 1948: Der Senator Pablo Neruda, seines Zeichens weltbekannter Dichter und Kommunist, beschuldigt die Regierung von Präsident Gabriel González Videla des Verrats. Das Staatsoberhaupt hat sich angesichts des Kalten Krieges USA-freundlich positioniert, ganz anders als seine zum Teil kommunistischen Kabinettsmitglieder. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: Neruda fliegt aus dem Amt, einer Verhaftung kann er sich nur durch Flucht entziehen. Auf seine Fersen heftet sich der Polizist Peluchoneau. Es folgt eine Tour de Force durch Wüste, Schnee und Eis, angereichert mit Szenen der Ausschweifung, des Ehelebens Nerudas und seiner Literaturproduktion. Wer eine herkömmliche Filmbiografie über einen außergewöhnlichen Künstler erwartet, ist mit Pablo Larraíns »Neruda« nicht gut bedient. Der Regisseur vermittelt in seiner Auseinandersetzung mit der chilenischen Geschichte wenig vom realen Leben seines Protagonisten, des Schriftstellers und antifaschistischen Politikers Pablo Neruda. Dieser Film ist als hochartifizielle Privatgeschichtsschreibung eines eitlen Polizisten angelegt, der sich in der Rolle des Verfolgers selbst als Held eines (Kriminal-)Romans sieht. Ganz im Gegensatz zum Rest der Welt, der – angeführt von Pablo Picasso – auf der Seite Nerudas steht. Nicht Daten und lineare Erzählung sind hier Thema und Stil, sondern Anmutung durch szenenhafte Einblicke.

Bonga, 74, ist eine Legende der angolanischen Musikszene. Weil er einst gegen die portugiesische Kolonialmacht seine Stimme erhob, lebte er 30 Jahre im Exil. Nach Diktatur und Bürgerkrieg kehrte er nach Angola zurück, aber bis heute fremdelt er mit den Machthabern dort. Auf seinem neuen Album »Recados de Fora« (»Botschaften von anderswo«) unternimmt er eine transatlantische Reise zwischen den Mornas der Kapverden, dem Son Kubas, dem Fado Portugals und dem Semba Angolas, einer Urform des Samba. Seine Balladen handeln vom Leben im heutigen Angola, wo die einheimischen Eliten die Kolonisatoren von einst abgelöst haben, von einer Jugend, die sich vor der Zukunft fürchtet, und einem Mangel an Solidarität auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Musikalisch wird das Album getragen von der Reibeisenstimme Bongas. Der Grundton ist melancholisch, manche Stücke lassen es gar als eine Art musikalisches Testament erscheinen. »Banza Rémy« ist einem verstorbenen Freund, dem französischen Journalisten Rémy Kolpa-Kopoul gewidmet, der ihn zu Beginn seiner Karriere unterstützte. Und »Odji Maguado« ist eine Ode an all die anderen Weggefährten, die im Laufe der Jahre verloren gingen. Leider nicht enthalten ist der Song »Président«, sein Duett mit dem jungen, franko-ruandischen Rapper Gael Fayé, das afrikanischen Machthabern ins Gewissen redet. Keine Frage, Bonga hat auch der jungen Generation noch etwas zu sagen.

»Neruda«. F/u.a. 2016. Regie: Pablo Larraín, Darsteller: Mit Gael García Bernal, Luis Gnecco. Kinostart: 23. Februar 2017

Bonga: Recados de Fora (Lusafrica)

Flucht als Panoptikum

Unbeugsamer Anadolu-Rock

In Philipp Scheffners Dokumentarfilm »Havarie« trifft Massentourismus auf Flüchtlingskrise: Am 14. September 2012 um 15 Uhr meldete die Crew des Kreuzfahrtschiffs »Adventure of the Seas« der spanischen Seenotrettung ein havariertes Schlauchboot. An Bord befinden sich 13 Menschen auf dem Weg nach Europa. Von dieser Begegnung existiert ein dreieinhalbminütiger Youtube-Clip (Terry Diamond: »refugees«, 16. September 2012). Scheffner dehnt das zufällig entstandene Video auf 90 Minuten aus – ein vorläufiger Endpunkt in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema Migration. Der statische, eher an einen Bildschirmschoner denn an herkömmliches Filmschaffen gemahnende Standbildreigen bricht mit gängigen Regeln des visuellen Konsums. Akustisch unterlegt sind die Bilder vom Funkverkehr zwischen dem Kreuzfahrtschiff, der Zentrale im Hafen von Cartagena, einem Seenotrettungskreuzer und dem Rettungshubschrauber. Aber auch andere Wortwechsel tauchen auf: Eine Frau telefoniert von Frankreich aus mit ihrem Mann in Algerien. Später berichtet er ebenfalls von einer Überfahrt. Auch der Youtube-Filmer Terry Diamond, Matrosen und Frachtarbeiter erzählen von Begegnungen mit diesem und anderen Flüchtlingsbooten. Dialogfetzen, Seekommandos, Satzbruchstücke reihen sich aneinander. So entsteht ein Panoptikum der Politik, eine stockende Weltbetrachtung der täglichen Vorgänge im Mittelmeer.

»Do NOT Obey« lautete der Titel des Albums, das die türkische Rockband Baba Zula im Spätsommer 2016 veröffentlichte. Auf dem Cover sah man die Rückseite eines knallroten Oldtimers, auf dem Dach eine Rahmentrommel mit dem Schriftzug der Band, daran eine ornamentale Electro-Saz gelehnt. Das Album war noch vor dem Putschversuch in der Türkei entstanden und versprühte Aufbruchsstimmung. Keine sechs Monate später veröffentlichten Baba Zula nun eine 2-CD-Compilation, mit der sie ihr 20-jähriges Bandjubiläum begehen. Sie stehen für psychedelischen »Anadolu Rock« der siebziger Jahre verbunden mit heutigen, ebenso hypnotischen Elementen aus Postrock, Reggae und Dub. Zu ihren Fans gehört der Regisseur Fatih Akin, der ihnen in seiner Musikdokumentation »Crossing the Bridge« huldigte. Auf »XX« verbinden Baba Zula elegische Melodien der Electro-Saz, psychedelische Gitarrenklänge, suggestive Elektronik-Rhythmen und trancehafte Beats zu einem betörenden Rausch wie aus der Wasserpfeife. Unbeugsam sind Baba Zula zweifellos, eine Protestband im engeren Sinne jedoch nicht, dazu sind ihre Botschaften zu subtil. »Aşıkların Sözü Kalır« handelt von den Poeten, deren Worte ewig währen – im Unterschied zu den Floskeln der Politiker. Und »Efkarlı Yaprak« (»Besorgtes Blatt«) ist dem vor vier Jahren verstorbenen Onkel von Bandgründer Murat Ertel gewidmet, einem bekannten Journalisten, dem mehr als einmal der Prozess gemacht wurde.

»Havarie«. D 2016. Regie: Philip Scheffner. Kinostart: 26. Januar 2017

Baba Zula: XX (Glitterbeat)

Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax 62

AMNESTY JOURNAL | 02-03/2017

Foto: W-film

Neruda in Facetten


Frauen auf Rädern Der weibliche Blick. »Where to, Miss?« ist ein Film über Emanzipation im frauenfeindlichen Indien.

Manuela Bastian hat mit ihrem Film »Where to, Miss?« über indische Taxifahrerinnen den Deutschen Menschenrechtsfilmpreis gewonnen. Von Jürgen Kiontke

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umstehen, fahren, rumstehen – Taxi fahren ist langweilig? Nicht für Devki: Sie will nicht nur endlich den Führerschein machen, sondern auch unbedingt Leute von A nach B befördern. Und das in Delhi, einer Stadt, in der sogar selbstbewusste Frauen abends oft nur in Begleitung von Männern unterwegs sind. Devkis großes Vorbild ist Chandni, die ihre Prüfung schon bestanden hat und munter durch die Straßen kutschiert. Für Leute wie Devki gibt es die Initiative »Women on Wheels«. Sie bietet eine Ausbildung zur Taxifahrerin an, mit dem Ziel, Frauen finanzielle Unabhängigkeit zu ermöglichen. Zudem können andere Frauen so nachts etwas sichererer unterwegs sein – wenn sie von einer Frau gefahren werden. Im Wagen zu sitzen, ist im Indien dieser Tage ein Kampf um Frauenrechte. Begleitet wird Devki dabei von Regisseurin Manuela Bastian. Die deutsche Filmemacherin nimmt in ihrem ersten abendfüllenden Kinofilm »Where to, Miss?« Gewalt und Unterdrückung von Frauen in Indien in den Fokus. Nicht um gewalttätige Schauwerte zu generieren, sondern um die mutigen Frauen in den Mittelpunkt zu stellen. Denn Delhi ist ein gefährliches Pflaster: Immer wieder kommt es zu Massenvergewaltigungen – wie etwa 2012, als die Studentin Jyoti Singh Pandey an der brutalen Misshandlung durch sechs Männer starb. Seither wurde es nicht besser. Die Polizeistatistik der Jahre 2012 bis 2015 wartet mit erschütternden Zahlen auf: Im Schnitt wurden in der indischen Hauptstadt jeden Tag vier Frauen vergewaltigt. Nach Informationen von Amnesty wurden 2014 indienweit 322.000 Verbrechen

FILM

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MUSIK

gegen Frauen registriert, darunter 37.000 Fälle von Vergewaltigung. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein, denn Frauen zeigen sexuelle Gewalttaten oft nicht an, weil sie Stigmatisierung und Diskriminierung durch Polizei und Behörden befürchten. Manuela Bastian gewann mit ihrem Film den Deutschen Menschenrechts-Filmpreis 2016 in der Kategorie Hochschule. »Ich möchte mehr Verständnis erzeugen für die Frauen, die dem gesellschaftlichen Druck nicht standhalten und denjenigen Mut machen, die den Kampf aufnehmen«, sagt sie. Eine große Hürde stelle die Familie dar, erklärt die Regisseurin. Sie habe im Grunde das indische Sprichwort verfilmt: »Eine Frau gehört zuerst ihrem Vater, dann ihrem Ehemann und zuletzt ihrem Sohn.« Das zeigt sich am Beispiel der Protagonistin des Films. Denn während Chandni von ihrer Familie unterstützt wird, stößt Devki mit ihren Plänen auf Widerstand. »Stell dir vor, wir bekommen dich verheiratet«, spekuliert ihr Vater. »Denkst du, dein Mann lässt dich das machen? Warum fährst du nicht nur tagsüber, das geht doch auch …« »Manche Menschen«, entgegnet die junge Frau, »brauchen auch nachts ein Taxi«. Eigene Entscheidungen zu treffen, hieße in Devkis Fall sogar, für unbestimmte Zeit aus der Familie ausgestoßen zu werden – die Frau als lebenslanger Privatbesitz. In einem Land, in dem die Familie der einzige Rückhalt ist, bedeutet selbstbestimmt leben aber auch, schutzlos zu sein: Wer als Frau allein unterwegs ist, kann schnell Opfer von Übergriffen werden. Aber Devki lässt nicht locker, sie übt mit dem Auto und macht Selbstverteidigungskurse, um aus tradierten Rollenmustern auszubrechen. »Where to, Miss?« (»Wo soll es hingehen, junge Frau?«) ist ein kleines, einfühlsames Porträt und zugleich ganz großes Kino: ein Abenteuerfilm – und Road Movie sowieso. »Where to, Miss?« D 2015. Regie: Manuela Bastian.  Seit 19. Januar 2017 im Kino

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an: info@amnesty.de

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE 233 702050 0000 8090100 BIC: BFS WDE 33XXX (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)

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Foto: privat

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

SRI LANKA PRAGEETH EKNALIGODA Das »Verschwinden« des sri-lankischen Journalisten und Karikaturisten Prageeth Eknaligoda jährte sich im Januar zum siebten Mal. Er »verschwand« am 24. Januar 2010 im Vorfeld der damaligen Präsidentschaftswahlen. Prageeth Eknaligoda war für »Lanka-e-News« in der Hauptstadt Colombo tätig und kritisierte die Regierung offen. Vor seinem Verschwinden veröffentlichte er eine Analyse über die beiden Präsidentschaftskandidaten, die zum Vorteil des Oppositionskandidaten ausfiel. Amnesty International befürchtet, dass er wegen seiner journalistischen Arbeit Opfer des Verschwindenlassens wurde. In Sri Lanka werden das Antiterrorgesetz und Notstandsbestimmungen immer wieder angewendet, um kritische Medien zum Schweigen zu bringen. Journalisten werden sowohl von Angehörigen der Sicherheitskräfte als auch von Mitgliedern bewaffneter Gruppen drangsaliert, entführt, tätlich angegriffen oder sogar getötet. Seit 2005 ist niemand im Zusammenhang mit der Tötung von Journalisten strafrechtlich verfolgt worden. Die Ehefrau von Prageeth Eknaligoda, Sandya Eknaligoda, setzt sich unermüdlich für die Aufklärung des Schicksals ihres Mannes ein. Sie wird deshalb immer wieder drangsaliert und war in jüngster Zeit einer Hetzkampagne ausgesetzt. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Generalstaatsanwalt von Sri Lanka, in denen Sie ihn bitten, umgehend eine umfassende und unparteiische Untersuchung des Verschwindenlassens von Prageeth Eknaligoda in die Wege zu leiten. Bitten Sie ihn zudem, sicherzustellen, dass alle Personen, gegen die Beweise für eine Straftat vorliegen, strafrechtlich verfolgt und in Übereinstimmung mit internationalen Standards für faire Verfahren vor Gericht gestellt werden. Fordern Sie ihn darüber hinaus auf, dafür zu sorgen, dass die Familie von Prageeth Eknaligoda vor Drangsalierungen und Repressalien geschützt wird. Schreiben Sie in gutem Singhalesisch, Tamil, Englisch oder auf Deutsch an: Hon. Jayantha Jayasuriya President’s Counsel Attorney General P. O. Box 502 Hulfsdorp Colombo 12, SRI LANKA (Anrede: Dear Attorney General / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Demokratischen Sozialistischen Republik Sri Lanka S. E. Herrn Karunatilaka Amunugama Niklasstraße 19, 14163 Berlin Fax: 030 - 80 90 97 57 E-Mail: info@srilanka-botschaft.de (Standardbrief: 0,70 €)

AMNESTY JOURNAL | 02-03/2017


Im Juni 2013 wurden 43 ägyptische und ausländische Mitarbeiter von NGOs im Rahmen eines Verfahrens, das unter der Bezeichnung »Verfahren 173« bekannt ist, zu Haftstrafen zwischen einem und fünf Jahren verurteilt. Zudem wurden mehrere ausländische Nichtregierungsorganisationen geschlossen. Im vergangenen Jahr haben Untersuchungsrichter den Druck auf ägyptische Menschenrechtsorganisationen noch weiter verstärkt: Sie verhängten willkürliche Reiseverbote, ordneten Festnahmen von Mitarbeitern an und ließen Finanzmittel von Organisationen einfrieren. Durch massive Einschränkungen der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit soll die Menschenrechtsbewegung des Landes zerschlagen und jegliche abweichende Meinungsäußerung im Keim erstickt werden. Führende Menschenrechtler sind in Gefahr, wegen politisch motivierter Anklagen zu lebenslanger Haft verurteilt zu werden. Zudem liegt Präsident Abdel Fattah al-Sisi ein Entwurf für ein restriktives Gesetz über Vereinigungen zur Unterschrift vor. Durch das neue Gesetz würden sich die staatlichen Eingriffe in die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen noch weiter verstärken. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Staatspräsidenten Ägyptens, in denen Sie ihn bitten, dafür zu sorgen, dass das politisch motivierte »Verfahren 173« eingestellt und die Drangsalierung und Einschüchterung von Menschenrechtsverteidigern, darunter willkürliche Festnahmen, Verhöre, Reiseverbote, Einfrieren von Geldmitteln, konstruierte Anklagen und Schließungen von Organisationen, beendet werden. Bitten Sie den Präsidenten außerdem, dafür einzutreten, dass das neue Gesetz über Vereinigungen nicht in Kraft tritt, weil es gegen die ägyptische Verfassung von 2014 sowie das Völkerrecht und internationale Standards zum Recht auf Vereinigungsfreiheit verstößt.

Fotos: privat

ÄGYPTEN MITARBEITER VON MENSCHENRECHTSORGANISATIONEN

USBEKISTAN MUHAMMAD BEKZHANOV Muhammad Bekzhanov ist einer der am längsten inhaftierten Journalisten der Welt. Er befindet sich seit über 17 Jahren im Gefängnis – aufgrund eines »Geständnisses«, das unter Folter erpresst wurde. Muhammad Bekzhanov müsste im Januar 2017 endlich freigelassen werden, doch hat man ihn im Dezember 2016 in eine Strafzelle verlegt, weil er angeblich gegen Gefängnisvorschriften verstoßen hat. Dies ist eine in Usbekistan übliche Praxis, um die Haftstrafe von Gefangenen willkürlich zu verlängern. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine angebliche Verletzung der Gefängnisvorschriften dazu benutzt wird, um Muhammad Bekzhanov weiter zu bestrafen. Im Januar 2012, nur einen Monat vor seiner geplanten Entlassung, wurde er zu zusätzlicher Haft verurteilt, weil er angeblich gegen die Gefängnisvorschriften verstoßen hatte. Muhammad Bekzhanov hat die vergangenen 17 Jahre im Gefängnis verbracht. In seinem Strafverfahren im Jahr 1999 gab er an, durch Folter dazu gebracht worden zu sein, die konstruierten Anklagen gegen ihn »zu gestehen«. Er beschrieb, dass man ihn mit Gummiknüppeln geschlagen, ihm die Luft genommen und mit Elektroschocks gefoltert habe. Das Gericht wies die Foltervorwürfe zurück. Bis heute sind seine Vorwürfe weder untersucht worden, noch sind die Verantwortlichen ermittelt und zur Rechenschaft gezogen worden. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Staatspräsidenten von Usbekistan, in denen Sie ihn auffordern, Muhammad Bekzhanov zum festgesetzten Zeitpunkt freizulassen. Zeigen Sie sich außerdem besorgt über die in Usbekistan weit verbreitete Praxis, Gefängnisstrafen aufgrund angeblicher Verstöße gegen die Gefängnisvorschriften willkürlich zu verlängern, so wie es bei Muhammad Bekzhanov 2012 der Fall war.

Schreiben Sie in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: Abdel Fattah al-Sisi Office of the President Al Ittihadia Palace Cairo, ÄGYPTEN (Anrede: Excellency / Exzellenz) Fax: 00 202 - 23 91 14 41 E-Mail: p.spokesman@op.gov.eg (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Schreiben Sie in gutem Usbekisch, Russisch, Englisch oder auf Deutsch an: President Shavkat Mirziyoyev Rezidentsia prezidenta ul. Uzbekistanskaia, 43 Tashkent 700163, USBEKISTAN (Anrede: Dear President / Sehr geehrter Herr Präsident) Fax: 00 998 - 71 139 53 25 E-Mail: presidents_office@pressservice.uz (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,90 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Arabischen Republik Ägypten S. E. Herrn Badr Ahmed Mohamed Abdelatty Stauffenbergstraße 6–7, 10785 Berlin Fax: 030 - 477 10 49 E-Mail: embassy@egyptian-embassy.de (Standardbrief: 0,70 €)

Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Usbekistan S. E. Herrn Durbek Amanov Perleberger Str. 62, 10559 Berlin Fax: 030 - 39 40 98 62 E-Mail: botschaft@uzbekistan.de (Standardbrief: 0,70 €)

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

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Briefmarathon an Schulen. Schülerinnen und Schüler des Leo-Statz-Berufskollegs in Düsseldorf und des Städtischen Gymnasiums Erwitte.

»SCHREIB FÜR FREIHEIT!« Von den Niederlanden bis Neuseeland, von Togo bis Thailand, von Polen bis Peru: Weltweit haben sich im Dezember Hunderttausende Amnesty-Mitglieder und Unterstützerinnen und Unterstützer beim Briefmarathon 2016 für Einzelpersonen und Gruppen eingesetzt, die schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. In mehr als 2,6 Millionen Briefen zeigten sie sich solidarisch mit Menschen in Not und Gefahr und forderten Regierungen auf, die Menschenrechte zu achten. Allein in Deutschland kamen rund um den Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember mehr als 330.000 Briefe zusammen – ein neuer Rekord! Amnesty-Mitglieder machten auf Weihnachtsmärkten und in Jugendgottesdiensten auf den Briefmarathon aufmerksam und betreuten Infostände in Bibliothe-

BRIEFMARATHON IN DIE PARLAMENTE

Mitglieder der deutschen Amnesty-Sektion brachten den Briefmarathon 2016 erstmals ins Europaparlament nach Straßburg. In Kooperation mit ihren französischen Kollegen stellten sie fünf Fälle vor, darunter den des in China inhaftierten uigurischen Wirtschaftsprofessors Ilham Tohti. Vertreter der AmnestyJugend kamen unter anderem mit dem deutschen Satiriker und Politiker Martin Sonneborn ins Gespräch und konnten ihn als Unterstützer gewinnen. Auch die Grünen-Abgeordnete und frühere Generalsekretärin von Amnesty Deutschland, Barbara Lochbihler, stattete den ehemaligen Kollegen einen Besuch ab. Insgesamt kamen am 13. und 14. Dezember im EU-Parlament 800 Briefe und Unterschriften zusammen. Zeitgleich öffneten mehrere deutsche Landtage dem Briefmarathon ihre Türen: In Baden-Württemberg, Bayern und in der Bremischen Bürgerschaft riefen die ehrenamtlichen Landeslobbybe-

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ken und Fußgängerzonen. Seit 2014 nehmen in Deutschland auch Schulen an der weltweit größten Amnesty-Aktion teil. 2016 waren es 546 – fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Schülerinnen und Schüler veranstalteten ganze Projektwochen zum Thema Menschenrechte und schrieben knapp 70.000 Briefe. »Wir müssen diese Menschen unterstützen, indem wir ihnen Mut machen und das Gefühl geben, dass sie nicht vergessen sind«, sagten Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse der Berliner Sophie-Scholl-Schule. Die meisten Appelle steuerte die Staatliche Realschule Schonungen in Unterfranken bei, die 5.256 Briefe verschickte. Weitere Informationen auf www.amnesty.de/briefmarathon

auftragten von Amnesty dazu auf, sich für Máxima Acuña aus Peru, Johan Teterissa aus Indonesien und Mahmoud Abu Zeid aus Ägypten zu engagieren. »Viele Menschen werden verfolgt, weil sie für Menschenrechte oder Religionsfreiheit kämpfen. Es ist die Pflicht von Demokratinnen und Demokraten, sich für diese Menschen zu engagieren«, sagte die Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg, Muhterem Aras, in der Landtagssitzung vom 14. Dezember. In Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt haben die Beauftragten von Amnesty Abgeordnete angeschrieben, um sie auf Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen und als Mitstreiter zu gewinnen. Gudula Dinkelbach, Amnesty-Bezirkssprecherin RheinNeckar, freut sich über die gelungenen Aktionen: »Wir hoffen, dass wir im kommenden Jahr den Briefmarathon in noch mehr Parlamente bringen können.«

AMNESTY JOURNAL | 02-03/2017


Fotos: Leo-Statz-Berufskolleg, Amnesty

Das Bundestreffen der Jugend- und Hochschulgruppen hat vom 25. bis 27. November 2016 in Wuppertal stattgefunden. Die rund 150 jungen Amnesty-Mitglieder demonstrierten für ein bundesweites Schutzkonzept für Flüchtlingsunterkünfte und gegen jede Form von rassistischer Gewalt. In einem Sensibilisierungstraining mit Lorenz Narku Laing von der Schwarzen Jugend in Deutschland sprachen sie insbesondere über strukturellen Rassismus – ein Thema, mit dem die jungen Mitglieder auch vereinsintern bewusster umgehen wollen. Zwischen Workshops, Diskussionsrunden und Vorträgen von Amnesty-Vertretern aus Ghana, Rumänien und Spanien fanden außerdem die Wahlen der Jugendvertretung statt. Diese acht jungen Menschen werden die Perspektiven der Jugend künftig in den Verein tragen: Marie Wienröder und Lea Josepha Fried (Sprecherinnen), Veronika Kolitz (Mitgliedschaftsunterstützung), Benedikt Wissing (Kommunikation), Lena Wiggers (Aktionen), Maike Voigt (Jugendtreffen), Maike Wohlfarth (Länderund Themenarbeit), Charalampos Pavlidis (Internationales).

TAG DER MENSCHENRECHTE MIT ENSAF HAIDAR

Foto: Amnesty

Fünf Jahre ist es her, dass Amnesty International sich das erste Mal für den saudiarabischen Blogger Raif Badawi einsetzte. Weil er eine Online-Plattform für politische und soziale Themen ins Leben gerufen hatte, wurde er zu zehn Jahren Gefängnis und 1.000 Peitschenhieben ver-

Foto:Tahir Vanya Püschel / Amnesty

AMNESTY-JUGEND THEMATISIERT RASSISMUS

Neue Jugendvertretung. Hat Rassismus im Blick.

urteilt. Und immer noch schreiben Amnesty-Mitglieder Briefe oder planen Veranstaltungen, um seine Freilassung zu fordern. So wie die Amnesty-Gruppe im Bezirk Pfalz: Sie organisierte zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember einen Besuch von Badawis Frau Ensaf Haidar an der Berufsbildenden Schule in Rockenhausen. Sie berichtete vor etwa 80 Schülerinnen und Schülern über den friedlichen Aktivismus ihres Mannes und die Lage der Menschenrechte in Saudi-Arabien. Am Abend nahm sie bei den Kirchheimbolander Friedenstagen stellvertretend für Badawi den FriedenstageAktivisten in der Staatskanzlei. Bei Ministerpräsidentin Dreyer. preis entgegen. Die im

kanadischen Exil lebende Haidar reist um die Welt, um auf das Schicksal ihres Mannes aufmerksam zu machen. Bei einem Besuch der Staatskanzlei in Mainz traf sie sich mit Ministerpräsidentin Malu Dreyer, die ihre Unterstützung für Badawi zusagte.

AKTIV FÜR AMNESTY

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben AmnestyMitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender

IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.,  Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin,  Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal,  Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin,  E-Mail: journal@amnesty.de  Adressänderungen bitte an:  info@amnesty.de Redaktion: Markus N. Beeko, Markus Bickel (V.i.S.d.P.), Jessica Böhner,  Hannah El-Hitami, Anton Landgraf,  Katrin Schwarz

AKTIV FÜR AMNESTY

Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit  Albrecht, Daniel Bax, Markus N. Beeko, Dimitrios Charistes, Alexandra FöderlSchmid, Georg Kasch, Jürgen Kiontke, Andreas Koob, Michaela Ludwig, Arndt Peltner, Wera Reusch, Simon Riesche, Andrzej Rybak, Uta von Schrenk, Anne Schulze, Maik Söhler, Birgit Svensson,  Marlene Zöhrer Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: hofmann infocom GmbH,  Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice,   erlin B

Bankverbindung: Amnesty International, Bank für Sozialwirtschaft  IBAN: DE 233 702050 0000 8090100, BIC: BFS WDE 33XXX  (Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00) Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und  erscheint sechs Mal im Jahr.  Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.

und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die  Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

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