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AMNESTY JOURNAL
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2013 DEZEMBER/ JANUAR
LAND UND FREIHEIT INDIGENE UND BODENSCHÄTZE
MYANMAR Der Kampf der Karen um Anerkennung
BRIEFMARATHON Fünf Fälle aus fünf Ländern
COMPUTERSPIELE Mit »Serious Games« die Welt verändern
DAS AMNESTY JOURNAL – JETZT AUCH ALS APP! Mobil und multimedial, mit ausführlichen Bildstrecken und Videos, Podcasts und Online-Aktionen. Die neue Amnesty Journal App ist kostenlos. Sie finden sie im App Store unter »Amnesty Mag«.
Zeichnung: Mareike Engelke
Weitere Informationen: www.amnesty.de/app
Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals
Foto: Mark Bollhorst / Amnesty
EDITORIAL
WIR HABEN LANGE DARAN GEARBEITET … … bis wir mit dem Ergebnis zufrieden waren: Parallel zur Printausgabe erscheint ab sofort die Amnesty App, die digitale Version des Amnesty Journals. Dort stehen Ihnen nicht nur die Texte und Bilder der gedruckten Ausgabe zur Verfügung. Darüber hinaus bietet die App neue Möglichkeiten: So können wir zusätzliche Bilder und Fotostrecken präsentieren. Hinzu kommen Videos, die einen weiteren visuellen Eindruck vermitteln. Grafiken und zahlreiche Links erweitern das Informationsangebot, wie es in dieser Form in der Printausgabe nicht möglich ist. Und selbst wenn Sie gerade keine Hand frei haben, um ein Gerät zu bedienen, dann können Sie die App zumindest hören. Entsprechend ausgewiesene Texte können Sie sich einfach vorlesen lassen. Eine Eigenschaft ist uns besonders wichtig: Sie können sofort aktiv werden – die App enthält viele Möglichkeiten, um sich an unseren Online-Aktionen zu beteiligen. Wie zum Beispiel am diesjährigen Briefmarathon (siehe Seite 54). Anlässlich des Tags der Menschenrechte am 10. Dezember startet Amnesty erneut eine konzertierte Aktion für Menschen in Gefahr – dabei werden sich Personen aus vielen verschiedenen Ländern gleichzeitig mit Appellschreiben für sie einsetzen. Je mehr Menschen bei dieser Aktion mitmachen, umso größer wird der Druck auf die Behörden, einen politischen Gefangenen freizulassen oder einer Menschenrechtsverletzung nachzugehen. Mit der App wird dies noch einfacher: Mit einem Klick sind Sie auf der Amnesty-Website und können Appellschreiben versenden. Die kostenlose App erhalten Sie im App-Store unter dem Stichwort »Amnesty Mag«. Wir wollen dieses Angebot so bald wie möglich auch auf andere Plattformen ausdehnen. Weitere Informationen finden Sie unter www.amnesty.de/app. Dass es Interesse an diesem digitalen Angebot gibt, haben wir den Ergebnissen unserer Umfrage in der vorigen Ausgabe des Journals entnommen. Über die Details informieren wir Sie in der nächsten Ausgabe. Bereits jetzt haben wir unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern als Dank für die Mühe mehrere Exemplare des Fotobuchs »Über Grenzen« verlost. Darin sind Bildreportagen der Agentur Ostkreuz dokumentiert, die derzeit auch in einer Ausstellung in Berlin zu sehen sind (siehe Seite 70). Einige dieser Geschichten waren auch im Amnesty Journal zu lesen – in dieser Ausgabe findet sich eine Reportage über eine indigene Gemeinde in Kanada (siehe Seite 20). Unsere nächsten Ausgaben sind bereits in Planung: Für 2013 bereitet Amnesty wichtige Aktionen und Kampagnen vor. Bis dahin wünscht Ihnen die Redaktion des Amnesty Journals schöne Feiertage und einen guten Start ins neue Jahr!
EDITORIAL
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INHALT
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Titelbild: Troy Laboucan, Mitglied der Lubicon Cree in Little Buffalo, Kanada. Foto: Dawin Meckel
THEMA 20 Besondere Beziehung Von Alexia Knappmann
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RUBRIKEN 06 Reaktionen 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Porträt: Nasrin Sotudeh und Jafar Panahi 15 Interview: Gilardo López Arcila 17 Kolumne: Kurt Stukenberg 77 Rezensionen: Bücher 78 Rezensionen: Film & Musik 80 Briefe gegen das Vergessen 82 Aktiv für Amnesty 83 Wolfgang Grenz über den Friedensnobelpreis
Im traditionellen Siedlungsgebiet der Lubicon Cree im Norden der kanadischen Provinz Alberta wird Erdöl gefördert, das Milliarden Dollar wert ist. Während die Regierung den Indigenen Landrechte und Entschädigungszahlungen verweigert, verschimmeln ihre Häuser, gibt es kein fließendes Wasser und keine Kanalisation. Von Gerd Braune
30 Das Land der anderen In Lateinamerika nehmen Landkonflikte zu: Weil multinationale Unternehmen auf dem Gebiet indigener Gemeinden Rohstoffe ausbeuten und große Infrastrukturprojekte bauen, fürchten diese Umweltzerstörung und Vertreibung. Von Maja Liebing
34 Giftiges Gold Die Marlin-Goldmine in Guatemala ist die größte Tagebaumine Mittelamerikas. Angesichts des stark gestiegenen Goldpreises boomt der Bergbau in der Region. Rund eine Million Menschen haben sich gegen den Bergbau ausgesprochen – und der Widerstand wächst. Von Kathrin Zeiske
38 Der Preis des Fortschritts Im indischen Bundesstaat Chhattisgarh geraten indigene Gemeinden zwischen die Fronten eines Bürgerkriegs. Von Michael Gottlob
Fotos oben: Dawin Meckel | James Rodríguez | Carsten Stormer | ddp images / Sipa
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BERICHTE
KULTUR
42 Im Land ohne Übel
64 Spielend die Welt verändern
Jahrzehntelang führte das Militär in Myanmar Krieg gegen die dort lebenden ethnischen Minderheiten. Eine der größten betroffenen Bevölkerungsgruppen ist die ethnische Minderheit der Karen im Osten des Landes. Von Carsten Stormer
48 »Alle verdienen unsere Solidarität« Ein Gespräch mit Heiner Bielefeldt, UNO-Sonderbeauftragter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, über die Verfolgung von Minderheiten und falsche Alibis.
52 Keine gewöhnlichen Verbrechen In Kolumbien werden Frauen und Mädchen häufig Opfer von sexueller Gewalt. Ein neuer AmnestyBericht dokumentiert, wie systematisch die Täter dabei vorgehen, und wie wenig sie von der Justiz zu befürchten haben. Von Jessica Hübschmann und Matthias Schreiber
54 Dein Brief kann Leben retten Zum Internationalen Tag der Menschenrechte startet Amnesty International auch in diesem Jahr den weltweiten Briefmarathon für Menschen in Gefahr.
60 »Es herrscht ein militärischer Stil« Unternehmen wie Apple und Samsung lassen ihre Smartphones und Tablets kostengünstig in chinesischen Fabriken produzieren. Dort werden die Rechte der Arbeiter regelmäßig missachtet. Ein Interview mit Li Qiang, Leiter der Organisation »China Labour Watch«.
Zahlreiche Computerspiele beschäftigen sich mit humanitären und politischen Themen und versetzen Spieler dabei in die Rolle des Katastrophenhelfers oder Diplomaten. Von Ralf Rebmann
66 Ein Grußwort zuviel Kritische Meinungsäußerungen sind in der Türkei riskant. Bereits die Teilnahme an einer Demonstration kann als terroristische Straftat geahndet werden. Von Amke Dietert
68 Grauenhaft klare Botschaft Der US-amerikanische Antikriegsklassiker »Johnny got his gun« liegt nun in neuer Übersetzung vor. Von Maik Söhler
70 Offene Risse Die Ausstellung »Über Grenzen« der Berliner Fotografenagentur Ostkreuz. Von Lena Schiefler
72 Der Abgesang Mit seinem Album rechnet das »Mexican Institute of Sound« mit Drogenkrieg und Korruption in Mexiko ab. Von Daniel Bax
74 Erinnerungsarbeit Liao Yiwu hat in seinem neuen Buch Überlebende des Massakers auf dem »Platz des Himmlischen Friedens« interviewt. Von Wera Reusch
76 Der Tod aus Deutschland Hauke Friederichs neues Buch über deutsche Waffenexporte. Von Mathias John
79 Zappeln nach Noten Die tansanische Band »Jagwa Music«. Von Daniel Bax
INHALT
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DEUTSCHLAND
TSCHECHIEN
RUSSLAND
Die deutsche Polizei darf Menschen nicht allein wegen ihrer Hautfarbe kontrollieren. Dies hat das Oberverwaltungsgericht Koblenz festgestellt. Geklagt hatte ein dunkelhäutiger Student, der während einer Zugfahrt von zwei Bundespolizisten kontrolliert worden war. In erster Instanz war seine Klage abgewiesen worden. Amnesty sieht in dem Koblenzer Richterspruch ein wichtiges Signal gegen Diskriminierung und eine Genugtuung für alle, die ähnliche Erfahrungen mit der deutschen Polizei gemacht haben.
Roma-Kinder werden im tschechischen Bildungssystem weiterhin diskriminiert. Dies zeigt ein neuer Bericht von Amnesty International. Vor fünf Jahren hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den tschechischen Staat ermahnt, sich des Problems anzunehmen. Doch seither hat sich nur wenig verändert: Noch immer werden Tausende Roma auf Schulen abgeschoben, die eigentlich für Kinder mit Behinderungen gedacht sind. Obwohl die Roma maximal drei Prozent der tschechischen Bevölkerung ausmachen, stellen sie auf den Sonderschulen mehr als ein Drittel der Schüler.
Im Prozess gegen die Kreml-kritische Punkband »Pussy Riot« hat ein Moskauer Berufungsgericht am 10. Oktober sein Urteil gefällt: Eine Sängerin kommt auf Bewährung frei, die anderen beiden müssen – wie gehabt – für zwei Jahre ins Straflager. Die drei Frauen waren im August in erster Instanz zu zweijährigen Haftstrafen verurteilt worden, weil sie in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale einen Protestsong gegen Präsident Putin aufgeführt hatten. Amnesty betrachtet die beiden Inhaftierten als gewaltlose politische Gefangene und wird sich weiterhin für ihre Freilassung einsetzen.
Ausgewählte Ereignisse vom 3. Oktober 2012 bis 8. November 2012.
MEXIKO Im Bundesstaat Veracruz an der Ostküste Mexikos wurden am 3. Oktober mindestens vierzig Migranten ohne reguläre Aufenthaltsgenehmigungen aus einem Güterzug verschleppt. Ihr Verbleib ist unbekannt. In der Vergangenheit wurden in Mexiko bereits Tausende Migranten von kriminellen Banden entführt, misshandelt, vergewaltigt und oftmals getötet. Häufig geschehen diese Verbrechen mit dem Einverständnis staatlicher Behörden. Amnesty hat die mexikanischen Behörden aufgefordert, umgehend Untersuchungen einzuleiten und den Aufenthaltsort der Verschleppten ausfindig zu machen.
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CHINA ÄGYPTEN Auch nach dem Sturz von Hosni Mubarak gingen die ägyptischen Sicherheitskräfte mit großer Brutalität gegen Demonstranten vor: Auf Teilnehmer von Protestkundgebungen wurde geschossen, Festgenommene wurden gefoltert und immer wieder kam es zu sexueller Gewalt gegen Frauen. Amnesty hat den neuen Präsidenten Mohammed Mursi aufgefordert, mit dem blutigen Vermächtnis der Vergangenheit zu brechen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Soldaten und Polizisten dürfen künftig nicht mehr außerhalb des Gesetzes stehen.
Die Kommunistische Partei Chinas hat auf dem großen Parteikongress in Peking im November ihre Führungsspitze ausgewechselt. Amnesty International kritisierte, dass die Behörden im Vorfeld des Treffens versuchten, kritische Stimmen mundtot zu machen. Zwischen September und November wurden mindestens 130 Personen festgenommen oder unter Hausarrest gestellt, andere wurden gezwungen, die chinesische Hauptstadt zu verlassen. Amnesty geht davon aus, dass zahlreiche Oppositionelle in sogenannten »schwarzen Gefängnissen« verschwanden, beispielsweise in Kellern oder Hotels, die zu provisorischen Haftzentren umfunktioniert wurden.
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Foto: Julie Strupp / Amnesty
ERFOLGE
Neue Hoffnung auf UNO-Abkommen. Aktivistinnen demonstrieren vor dem Weißen Haus für einen starken Waffenkontrollvertrag, Juli 2012.
UNO VERHANDELT ÜBER WAFFENKONTROLLE Noch immer wird der weltweite Waffenhandel nicht kontrolliert. Ein historisches Vertragswerk ist jedoch wieder in greifbare Nähe gerückt: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat sich am 8. November mit überwältigender Mehrheit dafür ausgesprochen, die Verhandlungen über ein internationales Waffenhandelsabkommen im März 2013 auf Basis des bereits bestehenden Vertragsentwurfes wieder aufzunehmen. Der Waffenhandelskontrollvertrag soll unter anderem dazu führen, dass Staaten die Lieferung von Waffen und anderen Rüstungsgütern nicht genehmigen dürfen, wenn damit schwere Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des humanitä-
VEREINTE NATIONEN
US-JUSTIZ HEBT TODESURTEIL AUF
USA Die meiste Zeit seines Lebens wartete er auf seinen Tod, nun darf er wieder hoffen: Terrance (»Terry«) Williams saß 24 Jahre in einem US-amerikanischen Todestrakt. Am 3. Oktober sollte der heute 44-Jährige hingerichtet werden. Doch am selben Tag wurde das Todesurteil überraschend aufgehoben. Der Grund: Die Staatsanwaltschaft hatte im Prozess in den achtziger Jahren wichtige Beweise unterschlagen. Williams wurde 1986 zum Tode verurteilt, weil er als Teenager zwei Männer ermordet haben soll. Aber die Staatsanwaltschaft hatte den Geschworenen das Tatmotiv verschwiegen: Er war von seinen späteren Opfern als Kind sexuell missbraucht worden. Das oberste Gericht des Bundesstaates Pennsylvania ordnete nun an, dass über seinen Fall neu verhandelt werden müsse. Mehr als 380.000 Menschen hatten in einer Petition Williams’ Be-
ERFOLGE
ren Völkerrechts begangen werden könnten. Amnesty setzt sich seit Jahren für ein entsprechendes Regelwerk ein. Ende Juli war eine erste UNO-Konferenz nach vierwöchigen Verhandlungen ohne Ergebnis zu Ende gegangen. Viele Beobachter machten vor allem die USA für das Scheitern verantwortlich. Von den 193 Staaten, die in der UNO-Generalversammlung vertreten sind, votierten nun 157 dafür, die Gespräche im kommenden März wieder aufzunehmen. Die restlichen Staaten enthielten sich ihrer Stimmen. Mit Ausnahme Russlands wurde die Resolution auch von den sechs größten waffenexportierenden Ländern unterstützt.
gnadigung gefordert, darunter auch die Witwe eines der beiden Opfer. Auch Amnesty International hatte die US-Justiz aufgefordert, das Todesurteil gegen Williams aufzuheben. Seit Jahrzehnten setzt sich Amnesty für die weltweite Ächtung der Todesstrafe ein – mit Erfolg: Allein in den vergangenen zehn Jahren haben 17 Staaten die Todesstrafe aus ihren Gesetzbüchern gestrichen. »Eine Welt ohne staatliche Exekutionen rückt näher«, sagt Amnesty-Experte Oliver Hendrich. »Der Trend ist eindeutig: Immer mehr Länder sprechen dem Staat das Recht ab, seine eigenen Bürger vorsätzlich zu töten.« Bis heute haben mehr als 140 Staaten die Todesstrafe abgeschafft oder ein Moratorium ausgerufen. Zuletzt hat sich im Januar 2012 Lettland endgültig von der Todesstrafe verabschiedet. Doch noch immer werden in 58 Staaten Todesurteile verhängt und vollstreckt.
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Foto: Amnesty
Für seine Rückkehr gekämpft. Protestaktion im Herbst 2008 vor dem kanadischen Regierungssitz für Omar Khadr.
MICKY MAUS IN GUANTÁNAMO Omar Khadr war der jüngste Gefangene im US-Lager Guantánamo. Nach mehr als zehn Jahren Haft ist der mittlerweile 26-jährige Kanadier nun in seine Heimat zurückgekehrt. »Helft mir!«, winselt der schmächtige Junge. Was er erzählt, klingt unglaublich: Er werde gefoltert, man lasse ihn wochenlang nicht schlafen, verwehre ihm medizinische Hilfe. Der Teenager reißt sich das Hemd von der Brust, will seine Narben zeigen. Dann ist er in dem düsteren Zimmer wieder allein. Das Video ging 2008 um die Welt. Es zeigt den Guantánamo-Häftling Omar Khadr im Jahr 2003, während er vom kanadischen Geheimdienst verhört wird. Der gebürtige Kanadier war der jüngste Gefangene, den die USA nach Guantánamo verschleppt hatten. Ein Jahrzehnt später ist er jetzt der letzte westliche Häftling, der das Lager verlassen durfte. Amnesty hat lange für Khadrs Rückkehr gekämpft. Die USA haben in den vergangenen Jahren fast 800 Menschen in Guantánamo inhaftiert. Insasse Nummer 766 gehörte zu den bekanntesten. Nicht etwa, weil er ein besonders blutrünstiger Terrorist gewesen wäre. Sondern wegen seines Alters. Mit 15 Jahren wurde Khadr vom US-Militär aufgegriffen. Geboren wurde Omar Khadr 1986 in Toronto. Er begeistert sich früh für Basketball, liebt die Abenteuer von »Tim und Struppi«. Doch seine Eltern sehen ein anderes Leben für ihn vor: Immer wieder reisen sie mit ihm nach Afghanistan und Pakistan. Sein Vater, der aus Ägypten stammt, ist glühender Islamist und gilt als enger Weggefährte Osama bin Ladens. Nach der US-Invasion in Afghanistan wird der junge Omar im Juli 2002 bei einem Gefecht schwer verletzt. Zwei Kugeln durchbohren seinen Rücken, er verliert das linke Augenlicht. US-Sol-
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daten nehmen den blutüberströmten Jungen in Gewahrsam. Die USA behandeln ihn fortan als »ungesetzlichen Kombattanten«. De facto ist er damit vogelfrei. Khadr wird zunächst auf dem US-Militärstützpunkt Bagram inhaftiert und schließlich nach Guantánamo verfrachtet. Als er dort ankommt, ist er noch ein halbes Kind. Nachts umklammert er ein Micky-Maus-Heft, das ihm ein Verhörspezialist geschenkt hat. Acht Jahre lang wird er ohne Anklage festgehalten – mehr als ein Drittel seines Lebens. Im Jahr 2010 wird ihm schließlich vor einem Militärtribunal der Prozess gemacht. Er wird angeklagt, Al-Qaida-Kämpfer gewesen zu sein und während des Gefechts im Juli 2002 einen US-Soldaten mit einer Handgranate getötet zu haben. Rechtsexperten betrachten das Verfahren als Skandal: Khadr ist der jüngste Mensch, der je vor Gericht eines Kriegsverbrechens bezichtigt wurde. Beobachter gehen zudem davon aus, dass seine Geständnisse unter Folter erpresst wurden. Khadr bekennt sich schuldig, bittet die Witwe des getöteten Soldaten um Verzeihung – in der Hoffnung auf eine milde Strafe. Er wird symbolisch zu 40 Jahren Haft verurteilt, von denen er noch acht Jahre verbüßen soll. Seither waren die USA bereit, den Häftling in seine Heimat zu überstellen, sollte Kanada dies wünschen. Doch die kanadische Regierung weigerte sich, da sie Omar Khadr als Sicherheitsrisiko betrachtet. Nun haben ihn die USA eigenmächtig ausgewiesen – und Kanada blieb keine rechtliche Handhabe, ihn abzuweisen. Im September 2012 wurde er in ein kanadisches Hochsicherheitsgefängnis überstellt. Dort wird er vermutlich weitere sieben Jahre seiner Haftstrafe absitzen müssen. Text: Ramin M. Nowzad
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EINSATZ MIT ERFOLG Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.
TODESURTEIL AUFGEHOBEN
Er sollte am Galgen sterben, weil er seinem Glauben nicht abschwor. Doch am 8. September wurde der 35-jährige Youcef Nadarkhani überraschend aus der Haft entlassen. Der Iraner war vor drei Jahren in seiner Heimat verhaftet worden. Sein Delikt: Er war als Teenager zum Christentum konvertiert und leitete später als Hauspastor eine klandestine Pfingstgemeinde. Im September 2010 folgte das Todesurteil wegen »Apostasie« (Abfall vom Glauben). Im Herbst 2012 kam die unerwartete Wende: Der Vater zweier Kinder wurde vom Vorwurf der »Apostasie« freigesprochen. »Natürlich begrüßen wir den Freispruch Nadarkhanis«, sagt Ann Harrison, Nahost-Expertin von Amnesty International. »Aber es ist ein Skandal, dass es überhaupt zu einer Anklage gegen ihn kommen konnte.«
IRAN
tienne«, war am 27. Juni auf dem Weg zur Kathedrale »Notre Dame du Congo« in Kinshasa verschwunden, wo er ein Mehrparteienbündnis ins Leben rufen wollte. Einige Wochen später bestätigten mehrere Quellen, dass der kongolesische Geheimdienst ihn ohne Kontakt zur Außenwelt festhalte. Mehr als hundert Tage nach seinem Verschwinden wurde Ndongala in Kinshasa nachts auf offener Straße ausgesetzt. Sein Gesundheitszustand ist kritisch, er befindet sich in medizinischer Behandlung. Seine Familie dankte Amnesty dafür, dass sich die Menschenrechtsorganisation für Ndongalas Freilassung stark gemacht hatte.
»FÜR EIN ENDE DER DIKTATUR«
politiker Eugène Diomi Ndongala ist seit dem 11. Oktober wieder in Freiheit. Ndongala, Parlamentsabgeordneter und Vorsitzender der Partei »Démocratie Chré-
GAMBIA Ein T-Shirt brachte ihn ins Gefängnis, nun ist er wieder in Freiheit: Amadou Scattred Janneh, ehemals gambischer Minister für Information und Kommunikation, war im Juni 2011 gemeinsam mit drei weiteren Personen verhaftet worden, weil er T-Shirts mit dem Aufdruck »Für ein sofortiges Ende der Diktatur!« besessen hatte. Janneh wurde wochenlang an einem unbekannten Ort festgehalten und im Januar 2012 wegen Landesverrats zu lebenslanger Haft mit Zwangsarbeit verurteilt. Am 17. September wurde er vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Janneh, der die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, ist inzwischen in die USA zurückgekehrt, wo er mit seiner Familie lebt. »Ich bin Amnesty dankbar«, sagte er nach seiner Entlassung: »Eure Arbeit hat uns Gefangenen
Dem Tode entgangen. Youcef Nadarkhani.
Ist Amnesty dankbar. Amadou Scattred Janneh.
ENTFÜHRTER POLITIKER IN FREIHEIT
Fotos: privat, Terrence Jennings / Polaris / laif
DR KONGO Der kongolesische Oppositions-
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die Stärke gegeben, diese Tortur zu überstehen. Immer wenn wir Berichte über Amnesty im Radio gehört haben, wussten wir, dass man uns nicht vergessen wird.«
ANWALT WIEDER AUFGETAUCHT
ÄQUATORIALGUINEA Drei Tage lang fehlte von ihm jede Spur, dann tauchte er wieder auf. Der äquatorialguineische Rechtsanwalt Fabián Nsue Nguema war am 22. Oktober »verschwunden«, als er einen Mandanten im berüchtigten »BlackBeach-Gefängnis« in Malabo, der Hauptstadt des kleinen afrikanischen Staates, besuchen wollte. Obwohl das Auto des Anwalts auf dem Gefängnisgelände gesichtet wurde, bestritten die Behörden seine Inhaftierung. Tatsächlich wurde Nsue drei Tage lang ohne Kontakt zur Außenwelt in einer dunklen Zelle im »Black-Beach-Gefängnis« festgehalten. Anschließend musste er weitere drei Tage in einer Gemeinschaftszelle auf der zentralen Polizeiwache Malabos verbringen. Nsue hat sich als Menschenrechtsverteidiger einen Namen gemacht. Im Juli 2002 war er wegen »Beleidigung des Staatspräsidenten« zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Amnesty betrachtete ihn damals als gewaltlosen politischen Häftling.
NACH HUNGERSTREIK ENTLASSEN
ISRAEL Mehr als zwölf Wochen war er im Hungerstreik, um gegen seine Inhaftierung zu protestieren. Am 29. Oktober wurde er nach sechzehn Monaten Haft endlich freigelassen. Der 33-jährige Palästinenser Hassan Safadi war Ende Juni 2011 von den israelischen Behörden in sogenannte »Verwaltungshaft« genommen worden. Die Praxis der Verwaltungshaft wird von Amnesty seit Jahren scharf kritisiert. Sie ermöglicht es, Verdächtige ohne Anklage oder Prozess festzuhalten – aufgrund von Beweisen, die weder den Gefangenen noch ihren Anwälten mitgeteilt werden müssen. Safadi hat während seines Hungerstreiks rund ein Viertel seines Körpergewichts verloren, sein Gesundheitszustand ist noch immer kritisch. Er gibt an, während seiner Haft vom Gefängnispersonal wiederholt geschlagen und beschimpft worden zu sein. Inzwischen befindet er sich wieder in seiner Heimatstadt Nablus.
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PANORAMA
Foto: Buda Mendes / Getty Images
EUROPÄISCHE UNION: POLIZEIGEWALT GEGEN DEMONSTRANTEN
In einem aktuellen Bericht zur Polizeigewalt in der Europäischen Union dokumentiert Amnesty International schwere Verstöße der Einsatzkräfte bei Demonstrationen. So wurden in Griechenland und Spanien Personen, die friedlich gegen Sparmaßnahmen protestierten, geschlagen und getreten sowie durch Gummigeschosse und Tränengas verletzt. Die unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt bei Polizeieinsätzen wurde bislang weder untersucht noch bestraft. Der Bericht dokumentiert außerdem willkürliche Festnahmen und belegt, dass in Einzelfällen sogar medizinische Hilfe verweigert wurde. Grundlage des Berichts sind Gespräche mit Betroffenen aus Griechenland, Spanien und Rumänien. Amnesty International fordert die Regierungen der Länder auf, derartige Verstöße künftig zu verhindern und die Verfehlungen der vergangenen Monate zu untersuchen. Die Regierungen sollen dafür sorgen, dass Menschenrechtsverletzungen seitens der Polizei nicht geduldet und Verstöße geahndet werden.
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BRASILIEN: FRIEDE DEN FAVELAS!
»Wir sind aus Maré und wir haben Rechte« heißt die Kampagne, die Amnesty zusammen mit anderen NGOs im November in der größten Favela von Rio de Janeiro initiierte. In Maré kam es in den vergangenen Monaten immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen bei Polizeiaktionen, die sich gegen Bandenkriminalität richtete. Bis zur Fußballweltmeisterschaft 2014 sollen in Rio 40 sogenannte Risikogebiete mit einer eigens dafür geschaffenen Polizeieinheit »befriedet« werden. »Wir wollen mit der Vorstellung aufräumen, dass jede Art von Vorgehen legitim ist, weil ein ›Krieg‹ gegen die organisierte Kriminalität geführt wird«, sagte Atila Roque, Amnesty-Direktor in Brasilien. »Dazu gehört, dass die Rechte der Favela-Bewohner garantiert werden.« Zum Auftakt der Kampagne wurden rund 50.000 Informationspakete in Maré verteilt, um die Bewohner über ihre Rechte aufzuklären.
Foto: Gerasimos Koilakos / Invision / laif
PANORAMA
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Thema: Landrechte und Indigene
Ihr Land ist reich an Bodenschätzen, während sie selbst in armseligen Verhältnissen leben. Die Rechte indigener Gemeinden stehen häufig im Widerspruch zu wirtschaftlichen Interessen. Gewalttätige Konflikte sind die Folge. Doch Indigene haben sich mittlerweile international gut organisiert und klagen erfolgreich ihre Rechte ein. Denn sie verbindet eine besondere Beziehung zu dem Land, auf dem sie leben.
Traditionelles Leben in Gefahr. Ein kanadischer Indigener auf der Jagd. Foto: Dawin Meckel / Ostkreuz
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»Nein zur Mine.« Protestplakat in der Bergbauregion.
Giftiges Gold Die Marlin-Goldmine in Guatemala ist die größte Tagebaumine Mittelamerikas. Angesichts des stark gestiegenen Goldpreises boomt der Bergbau in der Region. Ein Drittel der Fläche Guatemalas ist bereits von Minenunternehmen konzessioniert. Rund eine Million Menschen haben sich gegen den Bergbau ausgesprochen – und der Widerstand wächst. Von Kathrin Zeiske (Text) und James Rodríguez (Fotos)
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Monatelang vor der Polizei versteckt. Gregoria Crisanta Pérez (Mitte).
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inienbewaldete Bergketten erstrecken sich bis zum Horizont. Die Sonne steht hoch am Himmel. Doch hier, am höchsten Punkt der Landstraße nach San Miguel Ixtahuacán, zerrt ein eisiger Wind am buntgewebten Rock von Reina Jerónimo. Sie zieht sich ihre dunkle Wolljacke fest um die Schultern, während sie in die Tiefe zu ihren Füßen starrt. Für die Marlin-Mine wurde ein gesamter Berg abgetragen und ausgehöhlt. Die Lastwagen, die auf einer Schotterpiste an den steilen grauen Hängen entlang zum Grund hinunterfahren, scheinen klein wie Miniaturautos. »Früher kamen unsere Großeltern hierher, um für Regen zu beten«, sagt die Frau mit den roten Wangen und dem welligen schwarzen Haar. Sie schüttelt den Kopf: »Wir hatten ja keine Ahnung, was auf uns zukommt. Was eine Mine ist, wussten wir damals nicht. Jetzt allerdings können wir voller Überzeugung sagen, dass wir sie hier nicht haben wollen.« »Lass uns gehen, Schwester«, sagt schließlich ihr Begleiter Augustín Bamaca, Aktivist der indigenen Basisbewegung gegen die Mine in San Miguel Ixtahuácan (FREDEMI). Jeronimo und Bamaca sind nicht verwandt, doch sie vereint der jahrelange Kampf gegen ein Monster. Das kanadische Unternehmen Goldcorp zählt zu den weltweit größten Minenunternehmen. 2006 kaufte es die Konkurrenzfirma Glamis Gold auf und übernahm
THEMA
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LANDRECHTE UND INDIGENE
damit auch die ein Jahr zuvor eröffnete Marlin-Mine im Südwesten Guatemalas. Heute betreibt die guatemaltekische Tochtergesellschaft von Goldcorps, Montana Exploradora, den Tagebau und spült mit hochgiftiger Zyanidlösung Gold aus dem Erdreich. »In Kanada ist der Abbau mit Zyanid verboten«, erklärt Bamaca. »Hier haben wir alltäglich mit den Folgen zu kämpfen.« Doch die Marlin-Mine entlässt nicht nur Giftstoffe ungesichert in die Umwelt, sie verbraucht auch 18 Liter Wasser pro Sekunde. Ein Rohstoff, der vormals im Bezirk San Marcos reichlich vorhanden war, wird jetzt zum knappen Gut. »Die Quellen versiegen, Felder verdorren, die Bäume tragen kaum noch Früchte«, berichtet Reina Jerónimo. »Und das wenige, was wir ernten, kauft uns niemand mehr ab. Wenn die Leute hören, wo meine Pfirsiche und Avocados herkommen, sagen sie: Da, wo die Mine ist, ist doch alles verseucht.« Untersuchungen der Pastoralen Kommission für Frieden und Ökologie (COPAE) haben in den vergangenen Jahren eine hohe Konzentration an Schwermetallen und Giftstoffen in den umliegenden Flüssen festgestellt. Eine Studie der Universität Michigan von 2010 hat die Kontaminierung von Trinkwasserbrunnen nachgewiesen: Im Blut und im Urin der Anwohner der Marlin-Mine wurden Blei, Quecksilber und Arsen gefunden, die
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Landesweite Bewegung. Gregoria Crisanta Pérez bei einer Demonstation (links). Kundgebung einer indigenen Gemeinde, Juli 2012 (rechts).
das Gehirn, das Nervensystem und andere Organe schwer schädigen können. Ein Zeichen für die Verseuchung mit Giftstoffen ist der Ausschlag, den mittlerweile ganze Dorfgemeinschaften auf der Haut tragen. Auch der Körper der kleinen Gregoria ist mit juckenden roten Pusteln bedeckt. Kein Arzt weiß, wie man das quirlige Mädchen behandeln kann. »Immer weiter weg von der Mine werden die Leute jetzt krank«, erzählt ihre Mutter Gregoria Crisanta Pérez. Sie sitzt in einem Lichtkegel, der durch das Wellblechdach ihres Lehmhauses fällt. Hühner und ein schmaler Hund inspizieren abwechselnd die Küche, in der das Mittagessen über dem offenen Feuer kocht. An der Wand hängt ein Plakat der indigenen Friedensnobelpreisträgerin und Präsidentschaftskandidatin Rigoberta Menchu neben Schulurkunden der Kinder und Auszeichnungen der Mutter durch Umweltorganisationen. Als Aktivistin gegen die Marlin-Mine hat Gregoria Pérez einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht. Überhaupt sind es vielfach indigene Frauen, die – meist ohne Schulbildung und finanzielle Mittel – um ihr Land kämpfen. »Wenn meine Kinder keine Möglichkeit mehr haben, Mais und Bohnen anzubauen, dann bleibt ihnen nur die Abwanderung in die Städte, wo Kriminalität und Armut herrschen – oder aber in die USA.« Die friedlichen Proteste gegen das Minenunternehmen wurden in der Vergangenheit jedoch mit unverhältnismäßiger Gewalt beantwortet. Aktivistinnen und Aktivisten wurden kriminalisiert, mit dem Tode bedroht und mit Schusswaffen attackiert. Im Jahr 2006 musste sich Gregoria Pérez monatelang vor der Polizei verstecken. Zwei Jahre später wurde sie gemeinsam mit sieben weiteren Mitgliedern des »Frauenkomitees zur Verteidigung der Mutter Erde« angeklagt, die Stromzufuhr zur Mine sabotiert zu haben. Die Anklagen wurden im Mai 2012 endlich zurückgezogen. »Eigentlich müsste ich die Mine auf Schadenersatz verklagen, bei all dem Leid, das sie mir zugefügt haben.« Gregoria streicht sich müde eine Strähne aus der Stirn. Manchmal denkt sie daran, aufzugeben und wegzuziehen. Den Scheck anzunehmen, der ihr schon mehrfach angeboten wurde, um sie zum
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Schweigen zu bringen. »Goldcorp hat nicht nur die Erde mit Gift getränkt, sondern auch die Herzen der Menschen, die hier wohnen.« Dies bestätigt auch Stephanie Boyd, eine kanadische Filmemacherin und langjährige Aktivistin gegen den Bergbau, die Workshops im guatemaltekischen Hochland anbietet. »Minenkonzerne scheinen in ganz Lateinamerika einem perfiden Leitfaden zu folgen«, stellt sie fest. »Da sie angesichts der ökologischen Zerstörung durch den Goldabbau mit dem Widerstand der Anwohner rechnen müssen, versuchen sie, die indigenen Gemeinschaften zu spalten.« Sie schließen Verträge mit korrupten Gemeindevorständen und versprechen der Bevölkerung den Bau von Schulen und Straßen. »Wer sich gegen die Mine stellt, wird ausgegrenzt und bedroht.« Doch die Machenschaften der Unternehmen bleiben nicht unbemerkt. »Goldcorp genießt mittlerweile einen sehr schlechten Ruf in Kanada«, sagt Stephanie Boyd. Auf Druck von Amnesty International und kritischen Aktionären veranschlagt das Unternehmen nun 26,7 Millionen US-Dollar zur Behebung von Umweltschäden nach der geplanten Schließung der Marlin-Mine im Jahr 2018. Ursprünglich war dafür gerade mal eine Million USDollar vorgesehen. »Dieser Erfolg könnte zu einer stärkeren Anerkennung der Rechte der betroffenen Gemeinden in Guatemala führen.« Unabhängige Experten schätzen die tatsächlichen Kosten für eine langfristige Wasseraufbereitung rund um die Mine jedoch auf mindestens 49 Millionen US-Dollar. »Noch ist Marlin eine tickende Zeitbombe«, sagt Álvaro Pérez, Mitglied des Gemeinderats von San Miguel Ixtahuacán. Auf der Fahrt in die Nachbargemeinde Sipakapa macht er an einer staubigen Straßenkreuzung halt. Zwischen den Pinien schimmert das unwirkliche Türkis des riesigen Stausees unterhalb der Minenanlage. »In diesen See werden toxische Abwässer geleitet. Er stellt ein hohes Sicherheitsrisiko für die gesamte Gegend dar. Was wird mit ihm geschehen, wenn die Mine geschlossen wird? Das haben wir auch den kanadischen Botschafter gefragt, aber keine Antwort erhalten.« Guatemala ist immerhin ein Land mit aktiven Vulkanen und hoher seismischer Aktivität. Abgesehen davon wird die Umge-
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Marlin Mine
Immer wieder Morddrohungen. Carmen Mejía.
bung der Mine zweimal am Tag von Detonationen erschüttert. Mittlerweile ist der Widerstand in der Bevölkerung so stark, dass die Mine nur noch unterirdisch erweitert wird. Wo genau die Tunnelanlagen verlaufen, weiß jedoch niemand. »Ein Riss in der Staumauer könnte eine Katastrophe auslösen«, sagt Pérez. Ein Riss, wie ihn viele Häuser der umliegenden Gemeinden aufgrund der permanenten Erschütterungen in Fundament und Mauern aufweisen. Bereits im Mai 2010 hatte die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) den vorübergehenden Stopp des Bergbaus in der Marlin-Mine gefordert. Das empfahl auch der UNO-Sonderberichterstatter über die Situation der Menschenrechte und Grundfreiheiten der Angehörigen indigener Bevölkerungsgruppen, James Anaya, nachdem er das Gebiet besucht hatte. Im Dezember 2011 zog die CIDH ihre Empfehlung zwar teilweise zurück. Maßgeblich bleibt jedoch, dass die lokale Bevölkerung keine freiwillige, vorab und in Kenntnis der Sachlage erfolgte Zustimmung zu den Bergbauaktivitäten gegeben hat. Die von Guatemala 1996 ratifizierte ILO-Konvention 169 verlangt, dass indigene Gemeinschaften bei Angelegenheiten, die sie betreffen, konsultiert und einbezogen werden. Auch die Erklärung der UNO über die Rechte indigener Völker (UNDRIP 2007) fordert dies ein. »Das Minenunternehmen hat uns nie um Erlaubnis gebeten«, erklärt Carmen Mejía von der Vereinigung für eine integrale Entwicklung in San Miguel Ixtahuacán (ADISMI). »Weil wir Indigene sind, behandeln sie uns wie Menschen zweiter Klasse. Doch wir kennen unsere Rechte.« Carmen Mejía war eine der ersten, die sich gegen die Marlin-Mine erhob. Die Jurastudentin zeigte in der Kirche von San Miguel Ixtahuacán Dokumentarfilme über die fatalen Folgen des Bergbaus in Peru, bis die Gemeindemitglieder sich zu organisieren begannen. Vor zwei Jahren erhielt sie immer wieder Morddrohungen und entkam nur knapp einem Entführungsversuch. Wenig später wurde die Aktivistin Deodora Hernández angeschossen; sie überlebte schwer verletzt. »Heute scheint es ruhiger um die Mine geworden zu sein. Wir kämpfen jedoch auf
THEMA
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LANDRECHTE UND INDIGENE
Guatemala
»Goldcorp hat nicht nur die Erde mit Gift getränkt, sondern auch die Herzen der Menschen.« juristischer Ebene weiter um Schadenersatz für die Gemeinden.« Mit schnellen Schritten überquert die junge Frau den Hof der Kirche von San Miguel Ixtahuacán, in dem sich Bürger aus 18 Dörfern an langen Holztischen versammelt haben. Üppige Kletterpflanzen mit rosafarbenen Blüten wachsen an aufgehängter Wäsche entlang in Richtung Morgenhimmel. Frauen kochen für die Angereisten, Männer schneiden Gemüse und stapeln Feuerholz. Versammlungen wie diese tagen mittlerweile in ganz Guatemala. Der Widerstand gegen die Marlin-Mine hat landesweit eine ganze Bewegung gegen Bergbau angestoßen. Aldo Tobar Gramajo, Agrarökonom an der Universität San Carlos, glaubt, dass diese Bewegung ein hohes politisches Potenzial hat: »Noch sind es vor allem die Menschen auf dem Land, die von Minenprojekten betroffen sind und sich dagegen auflehnen. Doch die Bewegung wächst stark an.« In einem polarisierten Land wie Guatemala habe sie darüber hinaus eine integrative Funktion. »Es herrscht eine tiefe Kluft zwischen Familien, die einst die Guerilla oder aber die paramilitärischen Milizen unterstützten. Eine weitere Spaltung verläuft zwischen Katholiken und Mitgliedern charismatischer Sekten. Ebenso zwischen den Kleinbauern im Hochgebirge, die für den Eigenbedarf produzieren, und den reichen Gemüsehändlern im Tiefland.« Letzlich seien jedoch alle vom Bergbau und seinen enormen ökologischen Schäden betroffen. Guatemala werde damit allein gelassen, kritisiert auch Bischof Álvaro Ramazzini, der prominenteste Bergbaugegner des Landes. »Die ausländischen Unternehmen hinterlassen außer einer zerstörten Umwelt nur ein paar Brotkrumen.« Pläne der Regierung, die vorsahen, statt freiwilliger Lizenzgebühren zwischen ein und fünf Prozent in Zukunft 40 Prozent Gewinnabgaben einzufordern, wurden im Juli auf Druck der Konzerne fallengelassen. Und in der aktuellen Gesetzesreform zum Bergbau sind keine Volksbefragungen indigener Gemeinschaften vorgesehen. Diese haben sich in mehr als über 60 Referenden nahezu einstimmig gegen den Bergbau ausgesprochen. Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Mittelamerika.
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Berichte
42 Myanmar: Im Land der Karen 48 Interview: Heiner Bielefeldt über Religionsfreiheit 52 Kolumbien: Sexuelle Gewalt gegen Frauen 54 Briefmarathon: Fünf Fälle aus fünf Ländern 60 China: Arbeitsbedingungen bei Foxconn
»Free Burma Rangers« im Karen-Gebiet. In der schwer zugänglichen Region führte das Militär jahrezehntelang einen brutalen Krieg gegen ethnische Minderheiten. Foto: Carsten Stormer
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Foto: Katherine Kiviat / Redux / laif
Klima der Angst. Christliche Kirche in Islamabad, Pakistan.
»Alle verdienen unsere Solidarität« Ein Gespräch mit Heiner Bielefeldt, UNO-Sonderbeauftragter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, über die Verfolgung von Minderheiten und falsche Alibis. Brennende Kirchen in Kairo, Bombenanschläge auf christliche Gemeinden im Irak: Die Nachrichten vermitteln den Eindruck, als wären Christen die am meisten verfolgte Religionsgruppe auf der Welt. Zweifellos sind viele Christen in aller Welt von Verletzungen der Religionsfreiheit massiv betroffen, so etwa in Nigeria, Iran, Irak, Ägypten, China oder Eritrea. Die Gründe für die Verfolgung sind dabei so unterschiedlich wie die Länder, in denen sie stattfindet. Aber wo Christen bedrängt werden, werden typischerweise auch andere Religionsgruppen bedrängt. Im Irak stehen nicht nur Christen, sondern beispielsweise auch Jesiden massiv unter Druck. In Ägypten denken wir zu Recht an die Diskriminierung der Kopten, vergessen aber oft, dass dort beispielsweise die Bahai ebenfalls einen sehr schweren Stand haben. Erst recht gilt das für den Iran. Dort sind die Bahai wohl die am massivsten verfolgte Gruppe. Aber auch viele Christen, insbesondere Konvertiten, werden dort diskriminiert und teils verfolgt. Dabei ist
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es sinnvoll, innerhalb der Christen zu differenzieren: Es trifft oft besonders stark protestantische Gruppen, weil diese im Nahen Osten als westliche Missionskirchen gelten und oft mit dem verhassten Amerika assoziiert werden. Das heißt, ein Schlagwort wie Christenverfolgung steht für sehr komplexe Phänomene. Wir sollten grundsätzlich von der Perspektive der Menschenrechte ausgehen: Solidarität verdienen alle verfolgten Menschen. Es fällt auf, dass religiöse Verfolgung besonders häufig in islamisch geprägten Ländern vorkommt. Tatsächlich zeigen sich in vielen islamischen Staaten in Sachen Religionsfreiheit schwere Defizite. Allerdings sollte man daraus nicht falsche Schlussfolgerungen ziehen und das Thema Religionsfreiheit in einen Kampf zwischen Kulturen umdeuten, wonach Christen grundsätzlich die Opfer und Muslime die Verfolger sind. Das führt in die Irre. In islamisch geprägten Gesellschaften werden auch viele Muslime wegen ihrer Religionsausübung verfolgt, wie im Iran beispielsweise. In den Gefängnissen sitzen nicht nur Bahais und Christen, sondern auch viele kritische Muslime.
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Länder wie Pakistan verfolgen religiöse Abweichung besonders rigoros, unter anderem durch sogenannte Blasphemie-Gesetze. Es gibt Blasphemie-Gesetze in vielen Staaten der Welt, insbesondere in islamisch geprägten Regionen. Pakistan ist ein drastisches Beispiel, weil so genannte Blasphemie sogar mit dem Tod bestraft werden kann. Der vermeintliche Tatbestand ist völlig vage definiert und gibt oft Anlass für Verdächtigungen jedweder Art. Gerade im Falle von Pakistan sollte man jedoch nicht vergessen, dass das Land einmal ganz anders war. Als 1948 über die Erklärung der Menschenrechte in der UNO diskutiert wurde, sprach sich der pakistanische Außenminister für eine dezidiert liberale Auslegung der Religionsfreiheit aus, einschließlich des Religionswechsels. Das wäre heute undenkbar. In den sechziger Jahren war Pakistan bei familienrechtlichen Reformen zugunsten von Frauen tonangebend. Auch heute gibt es in Pakistan Kreise, die sehr menschenrechtlich orientiert sind. Meine Vorgängerin, Asma Jahangir, die von 2004 bis 2010 UNO-Sonderberichterstatterin für Religionsfreiheit war, kam aus Pakistan. Auf der anderen Seite steht die brutale Wirklichkeit der Blasphemiegesetzgebung, die ein Klima der Angst schafft – insbesondere natürlich bei Dissidenten und bei religiösen Minderheiten. Es gibt Politiker, die mit der Angst spielen, weil Ressentiments und Paranoia Mittel der politischen Mobilisierung sind. In Staaten mit schwachen öffentlichen Institutionen wird ein Spiel getrieben, das auf Kosten der Religionsfreiheit geht. Und autoritäre Regime haben immer Angst, dass sich soziale Gruppen, die jenseits ihrer Kontrolle sind, selbstständig organisieren. Die Verfolgung von Andersgläubigen wird meistens religiös legitimiert. Ist Toleranz eine Auslegungssache? Sicher ist es ein Unterschied, ob man religiöse Grundlagentexte offen oder ganz eng interpretiert, als sei jedes Komma heilig. Interpretatorische Spielräume innerhalb der Theologie zu verschaffen, ist ein sinnvolles Projekt. Theologische Faktoren spielen bei der Verfolgung Andersgläubiger daher sicher eine Rolle, aber sie spielen nicht die Hauptrolle.
islamische Gruppen unter Druck zu setzen und die eigene Gefolgschaft zu mobilisieren. Unverzeihlich sind natürlich die Akte der Gewalt, die da begangen worden sind, oder auch das Kopfgeld, das ein Mitglied des pakistanischen Kabinetts ausgesetzt hat. Ich möchte denjenigen Muslimen ein Kompliment aussprechen, die friedlich – teils mit Nicht-Muslimen zusammen – gegen das Video und zugleich auch gegen die Gewalt demonstriert haben. Diese Gruppen brauchen Unterstützung und öffentliche Anerkennung, an der es leider oft mangelt. In Europa verkehren sich scheinbar die Rollen: Hier fühlen sich Muslime oft unterdrückt und diskriminiert. Die Berufung auf das Christentum, die man bei islamophoben Bewegungen in Europa gelegentlich findet, bleibt meistens extrem oberflächlich. Auf den einschlägigen Websites werden oft einschlägige Koranverse sehr freundlichen Bibelversen gegenübergestellt, sodass der gewünschte Kontrasteffekt entsteht. Häufig werden Koranverse aber auch mit dem Grundgesetz und manchmal sogar mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verglichen, was unsinnig ist, weil es sich um völlig unterschiedliche Textgattungen handelt. Die Skepsis gegenüber dem Islam, die zur Islamophobie führen kann, verläuft heute primär nach dem Muster: Wir sind modern und die anderen sind Modernitätsverweigerer. Es geht mittlerweile nicht mehr so sehr nach dem alten Muster Abendland versus Morgenland, sondern Moderne versus Vormoderne, Aufklärung versus Aufklärungsverweigerung. Das erkennt man übrigens daran, dass diese Frage sehr stark an der Frauenthematik exemplifiziert wird: Wie hältst du es mit dem Kopftuch? Wie hältst du es mit der Burka, mit der Zwangsverheiratung? Beim Gender-Thema bilden wir uns ein, dass wir auf dem Stand der Post-Aufklärung angelangt sind, während die anderen angeblich auf Ewig in der Phase der Prä-Aufklärung verharren. Damit wurde zum Beispiel das Burka-Verbot in Frankreich und in Belgien begründet.
Kürzlich hat ein Mohammed-Video extreme Reaktionen hervorgerufen. Welche Interessen spielen dabei eine Rolle? Der Film will provozieren; er ist im Duktus kränkend und primitiv. Diejenigen, die ihn produziert haben, sollten sich bloß nicht als heldenhafte Vorkämpfer der Meinungsfreiheit gerieren; sie tragen dazu bei, die Meinungsfreiheit, die wir ja – einschließlich von Religionskritik, Satire und Karikaturen! – verteidigen müssen, in Misskredit zu bringen. Auf der anderen Seite gibt es empörungsbereite Gruppen innerhalb des Islams, die jeden Anlass zur Polarisierung gern aufgreifen – sei es, um sich an kollektiven Akten der Erregung zu berauschen, sei es um gemäßigte und liberale
INTERVIEW
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HEINER BIELFELDT
Foto: Noah Friedman-Rudovsky / Polaris / laif
Religion dient also eher als Alibi, um andere Motive zu verschleiern? Das wird oft so sein. Religion wird vielfach von außen machtpolitisch instrumentalisiert, kann auch von innen her einen Machtanspruch produzieren, der für einen anderen Glauben keinen Raum lässt. Ich glaube, beides kommt vor.
Formen religiöser Bevormundung. Mennonitische Gemeinde in Paraguay.
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Ich teile das Unbehagen gegenüber der Burka, ich finde es auch furchtbar, wenn ich Frauen sehe, die den Gesichtsschleier tragen. Dennoch muss ich sagen: Eine Gesetzgebung, wie sie in Frankreich erlassen worden ist, kann keine Abhilfe schaffen. Sie wird die Frauen noch mehr in die Isolation treiben. Sie ist in sich nicht glaubwürdig, weil sie einerseits die Frauen als Opfer definiert und die Strafdrohungen theoretisch an die Männer richtet, aber ersatzweise doch wieder die Frauen bestraft. Ich glaube nicht, dass das Strafrecht das richtige Mittel ist, um hier Emanzipation zu befördern. Trifft das auch die Beschneidungsdebatte zu? Werden damit die religiösen Rechte eingeschränkt? Das Thema Knabenbeschneidung ist schwierig. Auch in Menschenrechtskreisen treffen unterschiedliche Positionen aufeinander, weil wir es hier mit einem Geflecht partiell konkurrierender menschenrechtlicher Gesichtspunkte zu tun haben, das sich nicht ganz befriedigend auflösen lässt. Ich will hier nur einen Punkt aufgreifen: Der ätzend-verächtliche Ton, der in der Debatte vielfach gegen die Religionsgemeinschaften angeschlagen worden ist, hat mich entsetzt. Viele Juden und Muslime, mit denen ich in den vergangenen Wochen gesprochen habe, äußersten sich fassungslos und verbittert. Wir werden die Debatte fortsetzen müssen – aber hoffentlich auf der Grundlage von Fairness und Respekt. Wie sieht die Praxis aus? Mit welchen Ländern haben Sie sich bereits beschäftigt? Wichtig sind die sogenannten Fact-Finding-Missionen, also die offiziellen Länderinspektionsreisen. Sie erfordern einen langen Vorlauf und diplomatische Vorbereitung, die Staaten müssen ja mitspielen. Diese Reisen dauern zehn bis 20 Tage und münden anschließend in einen Bericht, der dem UNO-Menschenrechtsrat vorgetragen wird. Das schaffe ich nur zweimal im Jahr. Mehr könnte die UNO aber auch gar nicht finanzieren. Sie besuchten im vergangenen Jahr unter anderem die Republik Moldau in Osteuropa. Was haben Sie dort untersucht? Zum Beispiel, ob protestantische Minderheiten in dem sehr stark orthodox geprägten Land Zugang zu Friedhöfen haben. Wie ist es, wenn diese Minderheiten ihre Toten beerdigen wollen? Da gibt es manchmal Schwierigkeiten. Hinzu kamen Fragen
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zur Registrierung von religiösen Minderheiten. Ein Rechtsstatus ist entscheidend, um zum Beispiel Personal anzustellen oder Schulen zu unterhalten. Wir sind durch das Land gefahren, haben lutherische Gemeinden und muslimische Splittergruppen besucht und uns mit jüdischen Vertretern getroffen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem alten Juden, der noch unter dem faschistischen Diktator Antonescu in einem Konzentrationslager einsaß. Die Menschen dort haben Unglaubliches mitgemacht: Den Faschismus, die Naziherrschaft, den Krieg, dann Stalin und den Realsozialismus, dann die Wende. Wegen Ihrer Kritik wurden Sie von der orthodoxen Kirche heftig angegriffen. Das Machtgebaren der moldawisch-orthodoxen Kirche liegt nicht darin begründet, dass orthodoxe Kirchen generell so auftreten. Vieles hängt an historischen Traumatisierungen aus der jüngsten Vergangenheit. Öffentliche Institutionen gelten außerdem als wenig vertrauenswürdig, sodass ein von staatlichen Institutionen geschaffener öffentlicher Raum, in dem sich Pluralismus angstfrei entfalten kann, noch schwach entwickelt ist. Ein Staat, in dem Korruption weit verbreitet ist, birgt zudem die Gefahr, dass auch Religionsgemeinschaften mafiöse Züge annehmen und sich in einer pluralistischen Gesellschaft nicht zurechtfinden können. Sie besuchten auch Paraguay … Das spannendste Thema dort war der Besuch einer MennonitenSiedlung. Für mich als Deutschen bot sich eine geradezu surreale Situation: Alle Mennoniten sprachen ein gepflegtes Deutsch, das in den Schulen unterrichtet wird. Deutsch ist in diesen Siedlungen die dominante Sprache, obwohl die Menschen vor vielen Generationen aus Deutschland ausgewandert sind. Zunächst nach Russland und dann, als sie von Stalin verfolgt wurden, nach Paraguay. Dort haben sie schließlich ein florierendes AgroBusiness aufgebaut. Die Schattenseite ist, dass eine Gruppe, die selber massive Verfolgung erleben musste, jetzt ihrerseits die indigene Bevölkerung unterdrückt. Ich verwende hier nicht den Begriff der Verfolgung, aber vieles läuft auf Formen religiöser Bevormundung hinaus. So gibt es faktisch wenig Alternativen zu den Bibelschulen der Mennoniten. Hier findet eine religiöse Bevormundung durch eine Gruppe statt, die meint, etwas Gutes zu tun. Sie hat aber nicht gelernt, auch religiöse Differenz, in diesem Fall die religiösen Ausdrucksformen der Indigenen, in angemessener Weise zu respektieren. Fragen: Anton Landgraf
INTERVIEW HEINER BIELEFELDT Foto: Amnesty
»Es geht mittlerweile nicht mehr nach dem alten Muster Abendland versus Morgenland, sondern Aufklärung versus Vormoderne.«
Heiner Bielefeldt ist Professor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg und seit Juni 2010 Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UNO-Menschenrechtsrats. Zuvor war er von 2003 bis 2009 Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte in Berlin.
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GREIFEN SIE EIN. MIT IHRER UNTERSCHRIFT. Jede dritte Frau wird Opfer von Gewalt – unabhängig von ihrer Herkunft, Religion und Kultur. Frauen werden misshandelt, weil sie Frauen sind. Gegen solche Menschenrechtsverletzungen setzt sich Amnesty International ein. Häusliche Gewalt darf nicht ungeahndet bleiben. Unterstützen Sie uns dabei, öffentlichen Druck aufzubauen und Unrecht anzuprangern. Mit Ihrer Unterschrift können Sie etwas verändern. www.amnesty.de/aktionen
Zum Internationalen Tag der Menschenrechte startet Amnesty International auch in diesem Jahr den weltweiten Briefmarathon für Menschen in Gefahr. Weltweit werden täglich Menschen verhaftet, bedroht, gefoltert oder getötet, weil sie ihre Meinung sagen, sich mit friedlichen Mitteln gegen ihre Regierung auflehnen oder der »falschen« Religion oder ethnischen Gruppe angehören. Seit mehr als fünf Jahrzehnten bringt Amnesty Menschenrechtsverletzungen ans Licht der Öffentlichkeit und gibt damit vielen Menschen in schwierigsten Situationen neue Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Organisation setzt sich unter anderem mit Briefen, Faxen und E-Mails für sie ein. Denn wenn Tausende Menschen überall auf der Welt aktiv werden und die zuständigen Behörden mit Briefen überhäufen, zeigt das Wirkung: Eine Unterschrift ist mächtiger als viele glauben. Je mehr Menschen bei den Petitionen und Appellschreiben von Amnesty International mitmachen, umso größer wird der Druck auf die Behörden, einen politischen Gefangenen freizulassen, eine zum Tode Verurteilte zu begnadigen oder die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen. Dies beweist auch Jahr für Jahr der weltweite Amnesty-Briefmarathon. Dabei setzen sich Menschen in vielen verschiedenen Ländern mit Appellschreiben für bestimmte Einzelfälle zu einem bestimmten Zeitpunkt ein. Dieser massive Protest hat stets einen großen Effekt auf die Behörden in den Ländern, in denen Menschenrechte verletzt werden. Zudem zeigt er den Betroffenen, dass sie nicht allein sind und nicht vergessen werden. Der
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Briefmarathon findet immer in den Tagen rund um den 10. Dezember statt, dem Internationalen Tag der Menschenrechte. Für den diesjährigen Briefmarathon hat die deutsche Sektion von Amnesty International fünf Fälle ausgewählt: Hussain Almerfedi aus dem Jemen, die Jugendbewegung Girifna aus dem Sudan, Azza Suleiman aus Ägypten, die Journalistin Narges Mohammadi aus dem Iran und den Rechtsanwalt Gao Zhisheng aus China. Amnesty hofft auf ein ähnlich gutes Ergebnis wie im vergangenen Dezember. Im Rahmen des Briefmarathons 2011 schrieben Amnesty-Mitglieder und Unterstützer aus 78 verschiedenen Ländern fast 1,4 Millionen Appellschreiben und Solidaritätsbotschaften. Amnesty hatte im vergangenen Jahr sechs Fälle für den Briefmarathon ausgewählt und in einigen Fällen gab es später positive Entwicklungen zu vermelden. So zum Beispiel im Fall von Inés Fernandéz und Valentina Rosendo Cantú. Die beiden indigenen Frauen aus dem mexikanischen Bundesstaat Guerrero waren 2002 von Soldaten misshandelt und vergewaltigt worden. In den Folgejahren hatten die Frauen vergeblich versucht, bei der mexikanischen Justiz Gehör zu finden. Nach dem Briefmarathon hat die mexikanische Regierung schließlich die Verantwortung für die Vergewaltigungen und nachfolgende Menschenrechtsverletzungen anerkannt. Es ist ein wichtiger Schritt, um Inés Fernandéz und Valentina Rosendo Cantú zu Gerechtigkeit zu verhelfen und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Auch Sie können dabei sein: Setzen Sie sich für Menschen in Gefahr ein. Nehmen Sie online teil unter www.amnesty.de/briefmarathon.
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alle Fotos: Amnesty
Dein Brief kann Leben retten
Ägypten: Gerechtigkeit für Azza Suleiman! Azza Suleiman wurde bei einer Protestaktion in Kairo von Soldaten brutal zusammengeschlagen. Sie wollten die 49Jährige davon abhalten, einer anderen Frau zu helfen, die verletzt und entblößt am Boden lag. Azza Suleiman erlitt einen Schädelbruch und kämpft immer noch mit Gedächtnisstörungen. Doch sie wehrt sich gegen das Unrecht. Am 17. Dezember 2011 nahm Azza Hilal Ahmad Suleiman mit einem Freund an einer großen Protestkundgebung in der Nähe des Tahrir-Platzes in Kairo teil. Die Demonstrierenden wurden von Soldaten angegriffen und flohen. Beim Weglaufen sah Azza Suleiman, wie Soldaten eine junge Frau schlugen und ihr die Kleider vom Leib rissen. Gemeinsam mit ihrem Freund und anderen Protestierenden versuchte sie, die Frau wegzutragen. Daraufhin stießen die Soldaten Azza Suleiman zu Boden und schlugen sie so lange auf den Kopf, bis sie das Bewusstsein verlor. Ein Armeeoffizier schoss ihrem Freund mit einer Pistole ins Knie. Azza Suleiman wachte erst wieder im Krankenhaus auf, wo man sie wegen eines Schädelbruchs behandelte. Sie war so schwer verletzt, dass ihre Bettwäsche mehrfach gewechselt werden musste, weil sie mit Blut durchtränkt war. Später wurde sie in eine andere Klinik verlegt, die sie erst im Januar 2012 verlassen konnte. Azza Suleiman legte offiziell Beschwerde gegen das Vorgehen der Armee ein und machte eine Zeugenaussage bei der Staatsanwaltschaft. Sie sagte zu Amnesty: »Ich bin der Über-
zeugung, dass die Militärführung und die Armee dafür zur Rechenschaft gezogen werden müssen.« Doch bisher ist noch niemand wegen des Angriffs vor Gericht gestellt worden. Außerdem hat Azza Suleiman bislang keinerlei Wiedergutmachung erhalten.
IM DEZEMBER 2011 gingen die ägyptischen Sicherheitskräfte mit exzessiver Gewalt und scharfer Munition gegen Protestierende in Kairo vor. Dabei wurden mindestens 17 Menschen getötet, Hunderte weitere erlitten Verletzungen. Die Demonstrationen richteten sich gegen den Obersten Militärrat, der nach dem Sturz von Präsident Mubarak im Februar 2011 die Macht übernommen hatte. Bei der Niederschlagung der Proteste nahmen die Soldaten gezielt Frauen ins Visier. Die Ereignisse vom 17. Dezember wurden gefilmt und ins Internet gestellt: Das Video zeigt eine Frau, die von Soldaten über den Boden geschleift und bis auf die Unterwäsche entblößt ist. Ein Soldat tritt sie und lässt sie liegen. Azza Suleiman, die eine rote Jacke trägt, und ihr Freund wollen der Frau helfen und werden direkt von Soldaten angegriffen. Das Video löste auch in Ägypten einen Aufschrei der Empörung aus.
SEHR GEEHRTER HERR PRÄSIDENT, Azza Hilal Ahmad Suleiman wurde bei einer Demonstration am 17. Dezember 2011 in Kairo von Soldaten zu Boden gestoßen und heftig auf den Kopf geschlagen. Sie hat durch die Schläge einen Schädelbruch erlitten, musste lange behandelt werden und leidet bis heute unter Gedächtnisstörungen. Obwohl sie offiziell Beschwerde gegen das Vorgehen der Armee eingelegt und eine Zeugenaussage gemacht hat, ist bisher niemand wegen des Angriffs zur Rechenschaft gezogen worden. Azza Suleiman hat bislang auch keine Unterstützung für medizinische Rehabilitationsmaßnahmen erhalten. DAHER FORDERE ICH SIE AUF, • umgehend eine unabhängige Untersuchung des Angriffs auf Azza Suleiman einzuleiten und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. • dafür zu sorgen, dass Azza Suleiman eine Unterstützung für medizinische Rehabilitationsmaßnahmen erhält. • dafür zu sorgen, dass der Oberste Militärrat Gewalt, Folter und Misshandlungen gegen Protestierende beendet und mit der Staatsanwaltschaft kooperiert, wenn gegen Angehörige des Militärs ermittelt wird.
BERICHTE
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BRIEFMARATHON
President Morsi Presidential Palace Heliopolis Cairo Ägypten
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China: Freiheit für Gao Zhisheng! Der Rechtsanwalt Gao Zhisheng zählt zu den prominentesten Menschenrechtsverteidigern Chinas. Wegen seines Engagements wurde er gefoltert, unter Hausarrest gestellt, verschleppt und monatelang an geheimen Orten festgehalten. Derzeit ist der 48-Jährige in einem abgelegenen Gefängnis im Nordwesten des Landes inhaftiert. Gao Zhisheng wurde 2001 vom chinesischen Justizministerium als einer der zehn besten Rechtsanwälte des Landes ausgezeichnet. Doch als er sich politisch heikler Rechtsfälle annahm und Menschen verteidigte, die zum Tode verurteilt wurden oder Anhänger der spirituellen Bewegung Falun Gong sind, fiel er bei den Behörden in Ungnade. Zudem vertrat er bekannte Menschenrechtler vor Gericht. 2005 schlossen die Behörden seine Anwaltspraxis. Im Dezember 2006 verurteilte ihn ein Gericht wegen »Anstiftung zur Subversion« zu einer dreijährigen Haftstrafe, die auf Bewährung ausgesetzt wurde. Gao Zhisheng wurde in dieser Zeit jedoch unter Hausarrest gestellt, gefoltert und misshandelt. Anfang Februar 2009 wurde Gao Zhisheng von Sicherheitskräften aus seinem Haus abgeführt und »verschwand« für mehr als ein Jahr. Erst Ende März 2010 konnte er ein Lebenszeichen von sich geben. In einem Interview berichtete er über die Zeit seines »Verschwindens« und die erlittene Folter. Er sagte, einmal sei er 48 Stunden lang so heftig geschlagen und gequält
worden, dass er mehr tot als lebendig gewesen war. In der Zwischenzeit waren seine Frau und seine Kinder von den Behörden so sehr unter Druck gesetzt worden, dass sie China verließen. Wenige Tage nach diesem Interview wurde der Menschenrechtsanwalt im April 2010 erneut von Polizeibeamten verschleppt. 20 Monate lang war sein Schicksal unbekannt. Im Dezember 2011 meldeten die staatlichen Medien, Gao Zhisheng sei für drei Jahre inhaftiert worden, da er wiederholt gegen Bewährungsauflagen verstoßen habe. Derzeit ist er im Gefängnis des Kreises Shaya im Nordwesten Chinas inhaftiert.
DIE CHINESISCHE REGIERUNG reagiert auf eine wachsende Zivilgesellschaft in der Volksrepublik mit harter Hand: Menschen, die ihre Meinung friedlich äußern, für demokratische Reformen und Menschenrechte eintreten oder die Rechte ihrer Mitbürger verteidigen, werden inhaftiert, schikaniert, unter Hausarrest gestellt, ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten oder zu Freiheitsstrafen verurteilt. Viele von ihnen werden in der Haft gefoltert oder misshandelt. 2011 erlebte China eine der schlimmsten Repressionswellen seit vielen Jahren. Auf der langen Liste derer, die man inhaftierte, »verschwinden« ließ oder unter Hausarrest stellte, befanden sich außer Gao Zhisheng auch die Frau des Nobelpreisträgers Liu Xiaobo, Liu Xia, der weltbekannte Künstler Ai Weiwei und viele mehr.
EXZELLENZ, der Rechtsanwalt Gao Zhisheng (高智晟) wurde 2001 vom chinesischen Justizministerium als einer der zehn besten Rechtsanwälte des Landes ausgezeichnet. Doch heute verbüßt er eine dreijährige Haftstrafe wegen »Anstiftung zur Subversion«. In den vergangenen Jahren ist Gao Zhisheng mehrfach von den Behörden verschleppt worden. Er wurde monatelang ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten und wiederholt gefoltert. Amnesty International betrachtet Gao Zhisheng als gewaltlosen politischen Gefangenen, der nur deshalb inhaftiert ist, weil er sich als Rechtsanwalt beharrlich für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen eingesetzt hat. DAHER FORDERE ICH SIE AUF, • Gao Zhisheng umgehend und bedingungslos freizulassen. • sicherzustellen, dass Gao Zhisheng weder gefoltert noch in anderer Weise misshandelt wird, solange er sich in Haft befindet.
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HU Jintao Guojia Zhuxi The State Council General Office 2 Fuyoujie Xichengqu Beijingshi 100017 CHINA
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USA: Unbegrenzte Haft von Hussain Almerfedi beenden! Hussain Almerfedi ist seit über neun Jahren in Guantánamo inhaftiert – ohne Anklage oder Gerichtsverfahren. 2010 entschied ein US-Richter, dass die Inhaftierung des jemenitischen Staatsbürgers rechtswidrig sei und er freigelassen werden müsse. Dies wurde jedoch von der US-Regierung verhindert. Hussain Salem Mohammed Almerfedi wurde im Dezember 2001 von der iranischen Polizei in Teheran festgenommen und an die US-Behörden in Afghanistan übergeben. Dort hielt man ihn zunächst auf dem US-Militärstützpunkt Bagram fest, bevor er im Mai 2003 nach Guantánamo gebracht wurde. Seither ist er ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in dem US-Gefangenenlager auf Kuba inhaftiert. Die US-Behörden werfen dem Jemeniten vor, er habe ausländischen Kämpfern dabei geholfen, über den Iran nach Afghanistan einzudringen. Hussain Almerfedi hat diese Vorwürfe zurückgewiesen und erklärt, er habe den Jemen verlassen, um in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Europa zu gehen. Im Juli 2010 entschied ein US-Bundesrichter, dass die Inhaftierung von Hussain Almerfedi und anderen Gefangenen rechtswidrig sei und er freigelassen werden müsse. Die US-Regierung unter Barack Obama legte jedoch Berufung gegen diese Entscheidung ein, 2011 hob ein Berufungsgericht das ursprüngliche Urteil auf. Der Oberste Gerichtshof der USA lehnte eine An-
hörung des Falls 2012 schließlich ab. Für Hussain Almerfedi bedeutet dies: Haft ohne Urteil, auf unbestimmte Zeit. Erst im September 2012 starb der jemenitische Gefangene Adnan Latif unter ungeklärten Umständen in Guantánamo. In einem Brief an seinen Anwalt hatte er geschrieben, aufgrund der Zustände in Guantánamo »sehne ich mich nach dem Tod, nicht mehr nach dem Leben«.
IM JANUAR 2002 brachten die US-Behörden die ersten Gefangenen in das Gefangenenlager Guantánamo. Seitdem wurden dort etwa 800 Männer inhaftiert. Nur einer von ihnen wurde vor ein Zivilgericht in den USA gestellt. In einigen Fällen verkündeten Militärkommissionen nach unfairen Verfahren ihr Urteil. Mehrere Häftlinge, darunter auch Hussain Almerfedi, haben sich selbst an US-Gerichte gewandt, um prüfen zu lassen, ob ihre Haft rechtmäßig ist. In wenigen Fällen hatten sie Erfolg und wurden entlassen. Doch die große Mehrheit der Gefangenen war oder ist weiterhin ohne Urteil inhaftiert. Derzeit befinden sich in dem Gefangenenlager rund 170 Männer. Etwa die Hälfte von ihnen stammt aus dem Jemen. Sie haben kaum Chancen auf eine Freilassung, da die US-Regierung Anfang 2010 entschied, keine jemenitischen Gefangenen mehr in ihr Heimatland zu überstellen. Die Regierung begründet dies mit der Situation in dem arabischen Land – man befürchtet, die Freigelassenen könnten sich dort militanten Kräften anschließen und wiederum zur Gefahr für die USA werden.
SEHR GEEHRTER PRÄSIDENT, der jemenitische Staatsbürger Hussain Salem Mohammed Almerfedi ist seit mehr als neun Jahren in Guantánamo inhaftiert – ohne Anklage und ohne Gerichtsverfahren. Ein Bundesrichter hat seine Haftprüfungsklage 2010 positiv beschieden. Doch legte die US-Regierung Berufung gegen dieses Urteil ein und verhinderte so seine Freilassung. Einer möglichen Freilassung von Hussain Almerfedi steht außerdem im Weg, dass die US-Regierung 2010 verfügt hat, aus Sicherheitsgründen keine jemenitischen Gefangenen in ihr Heimatland zu überstellen. Die unbegrenzte Inhaftierung von Hussain Almerfedi ohne Anklage oder Gerichtsurteil verstößt jedoch gegen international anerkannte rechtsstaatliche Prinzipien. Die USA sind dafür verantwortlich, eine Lösung für die Gefangenen von Guantánamo zu finden, die in Einklang mit dem Völkerrecht steht. DAHER FORDERE ICH SIE AUF, • Hussain Salem Mohammed Almerfedi und die übrigen Gefangenen von Guantánamo umgehend freizulassen, sofern sie nicht einer gesetzlich klar bestimmten strafbaren Handlung angeklagt werden. • dafür zu sorgen, dass die Gefangenen, die strafbarer Handlungen angeklagt werden, ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht erhalten. Die Verhängung der Todesstrafe sollte dabei ausgeschlossen sein.
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The White House Office of the President 1600 Pennsylvania Avenue NW Washington DC 20500 USA
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Sudan: Unterdrückung der Jugendbewegung stoppen! Die Kunststudentin Safia Ishaag engagiert sich in der sudanesischen Jugendbewegung »Girifna«. Im Februar 2011 wurde sie von Mitarbeitern des Geheimdienstes vergewaltigt. Nachdem sie damit an die Öffentlichkeit ging, wurde sie so unter Druck gesetzt, dass sie ins Ausland fliehen musste. Auch andere Mitglieder von »Girifna« werden immer wieder Opfer staatlicher Unterdrückung. Die Jugendbewegung »Girifna« (»Wir haben es satt«) protestiert gewaltfrei gegen die Regierung von Präsident Omar al-Bashir und der herrschenden Nationale Kongress-Partei. »Girifna« wurde 2009 von Studierenden im Vorfeld der Präsidentschaftsund Parlamentswahlen gegründet und forderte die Teilnahme von Oppositionsparteien, doch viele Parteien boykottierten die Wahlen. Danach nahm der Geheimdienst »Girifna«-Mitglieder gezielt ins Visier. Im Februar 2011 wurde Safia Ishaag von Mitarbeitern des Geheimdienstes verschleppt, bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen und brutal vergewaltigt. Nach ihrer Freilassung schilderte sie die erlittene Gewalt in einem Video und stellte es ins Internet. Die 26-Jährige wurde daraufhin so massiv bedroht, dass sie ins Ausland fliehen musste. Mehrere Journalisten, die über ihr Schicksal berichteten, wurden verhaftet. Auch andere Mitglieder der Jugendbewegung wurden Opfer staatlicher Unterdrückung. In den vergangenen Monaten wur-
den Aktivisten immer wieder wochenlang ohne Anklage inhaftiert. Einige wurden in der Haft misshandelt und gefoltert. Außerdem konfiszierten die Behörden immer wieder Laptops und Materialien und lösten friedliche Demonstrationen auf. Dennoch setzt sich »Girifna« weiterhin für freie Meinungsäußerung, Religionsfreiheit und die Rechte vom Frauen im Sudan ein.
DER »ARABISCHE FRÜHLING« hat auch im Sudan Proteste ausgelöst. Seit Anfang 2011 gingen Tausende von Menschen auf die Straße, um bessere Lebensbedingungen und demokratische Verhältnisse einzufordern. Die systematische Einschüchterung und Verfolgung von Regierungskritikern hat seither erheblich zugenommen. Die sudanesische Polizei und der Geheimdienst NISS nehmen immer wieder friedliche Demonstrierende fest und misshandeln sie. Dabei geht der Geheimdienst vor allem gegen Jugendbewegungen und Organisationen von Studierenden vor. Aber auch Journalisten werden schikaniert und verhaftet. Das Nationale Sicherheitsgesetz erlaubt es dem Geheimdienst, Menschen bis zu viereinhalb Monate festzuhalten, ohne ein Gericht einzuschalten. Außerdem garantiert es den NISS-Mitarbeitern Straffreiheit für Handlungen, die sie im Dienst begehen.
SEHR GEEHRTER HERR MINISTER, die Jugendbewegung »Girifna« setzt sich gewaltfrei für Demokratie und Menschenrechte im Sudan ein. Die Aktivisten nehmen in friedlicher Weise ihre legitimen Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit wahr, wie sie im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte garantiert sind. Dennoch werden Girifna-Mitglieder regelmäßig eingeschüchtert, willkürlich festgenommen und über lange Zeit ohne Kontakt zu Anwälten oder ihren Familien inhaftiert. Einige von ihnen wurden gefoltert, erlitten sexuelle Gewalt oder wurden in anderer Weise misshandelt. DAHER FORDERE ICH SIE AUF, • die Einschüchterung und Bedrohung der Girifna-Aktivisten sofort zu beenden und dafür zu sorgen, dass ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit respektiert werden. • sicherzustellen, dass die Aktivisten in Zukunft vor willkürlicher Verhaftung, Folter und anderen Misshandlungen geschützt werden. • dafür zu sorgen, dass die Vorwürfe von Safia Ishaag, von Mitarbeitern des Geheimdienstes NISS vergewaltigt worden zu sein, unabhängig untersucht und die Täter vor Gericht gestellt werden.
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Mr Ibrahim Mohamed Hamed Ministry of Interior PO Box 873 Khartoum SUDAN
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Iran: Freiheit für Narges Mohammadi! Narges Mohammadi ist wegen ihres mutigen Einsatzes für die Menschenrechte zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Im Gefängnis hat sich ihr Gesundheitszustand so verschlechtert, dass sie zur medizinischen Behandlung vorübergehend entlassen wurde. Doch ihr droht jederzeit die Rückkehr ins Gefängnis. Die Journalistin Narges Mohammadi war Geschäftsführerin des Zentrums für Menschenrechtsverteidiger (»Centre for Human Rights Defenders«, CHRD) in Teheran, das von den iranischen Behörden 2008 geschlossen wurde. Mehrere Mitglieder des Zentrums wurden seither festgenommen und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Im Juni 2010 wurde Narges Mohammadi inhaftiert, jedoch nach wenigen Wochen aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes gegen Zahlung einer Kaution entlassen. Das Revolutionsgericht in Teheran verurteilte sie im September 2011 wegen »Handlungen gegen die nationale Sicherheit« und »Propaganda gegen das System« zu elf Jahren Haft. Sie blieb jedoch vorerst auf freiem Fuß. In einem Berufungsverfahren wurde die Strafe auf sechs Jahre reduziert. Als sie im April 2012 zu Besuch bei ihrer Mutter in der Stadt Zanjan war, tauchten plötzlich ein Mann und eine Frau an der Tür auf, vermutlich Mitarbeiter des Geheimdienstes. Vor den Augen ihrer beiden kleinen Kinder nahmen sie Narges Mohammadi mit. Zwei Tage später konnte sie ihrer Familie in einem kurzen Telefongespräch
mitteilen, sie befinde sich in einer Abteilung des Evin-Gefängnisses in Teheran, die der Kontrolle des Geheimdienstes untersteht. Kurz zuvor hatte sie in einem Interview gesagt: »Alles was ich getan habe, habe ich mit guten Absichten für mein Land getan. Ich bin stolz darauf und ich weiß: Wenn wir im Gefängnis sitzen, gibt es andere Menschen im Iran, die nach Freiheit streben und die unseren Weg fortsetzen.« Ende Juli wurde sie vorübergehend aus der Haft entlassen, um sich in einem Krankenhaus behandeln zu lassen. Die 40-Jährige leidet an einer chronischen Muskelerkrankung. Ihr Ehemann, der ebenfalls aus politischen Gründen im Iran inhaftiert war, lebt inzwischen in Frankreich im Exil. Er hat Amnesty International gebeten, sich weiterhin für seine Frau einzusetzen.
MENSCHENRECHTSVERTEIDIGER IM IRAN sind in großer Gefahr. Dies betrifft nicht zuletzt die Mitglieder des Zentrums für Menschenrechtsverteidiger (CHRD) in Teheran, das Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi 2001 mitbegründet hat. Das CHRD hat über Menschenrechtsverletzungen im Iran berichtet, politischen Gefangenen eine unentgeltliche Verteidigung gestellt und deren Familien unterstützt. Die inhaftierten Mitglieder des Zentrums werden von Amnesty International als gewaltlose politische Gefangene angesehen. Shirin Ebadi lebt mittlerweile im Ausland, weil sie in ihrer Heimat mehrfach Todesdrohungen erhielt.
EXZELLENZ, die Journalistin und Menschenrechtsverteidigerin Narges Mohammadi ist zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands wurde sie Ende Juli 2012 vorübergehend aus der Haft entlassen – doch droht ihr jederzeit die Rückkehr ins Gefängnis. Amnesty International betrachtet Narges Mohammadi als gewaltlose politische Gefangene, die allein deshalb verurteilt wurde, weil sie sich in friedlicher Weise für Demokratie und Menschenrechte im Iran eingesetzt hat. Ich möchte Sie daran erinnern, dass der Iran Vertragsstaat des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und somit verpflichtet ist, die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsund Vereinigungsfreiheit zu achten. DAHER FORDERE ICH SIE AUF, • Narges Mohammadi umgehend und bedingungslos freizulassen. • zu gewährleisten, dass Narges Mohammadi die notwendige medizinische Versorgung sowie uneingeschränkten Zugang zu ihrer Familie und Anwälten ihrer Wahl erhält. • die Schikanen, Einschüchterungen und Festnahmen von Mitgliedern des »Centre for Human Rights Defenders« sowie anderen Menschenrechtsverteidigern zu beenden.
BERICHTE
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BRIEFMARATHON
Ayatollah Sadegh Larijani (care of) Public relations Office Number 4, 2 Azizi Street Vali Asr Ave., above Pasteur Street intersection Tehran IRAN
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»Es herrscht ein militärischer Stil« Große Unternehmen wie Apple und Samsung lassen ihre Smartphones und Tablets kostengünstig in chinesischen Fabriken produzieren. Dort werden die Rechte der Arbeiter regelmäßig missachtet. Ein Interview mit Li Qiang, Leiter der Organisation »China Labour Watch«. Im Oktober bestätigte das taiwanesische Unternehmen Foxconn, Jugendliche im Alter zwischen 14 und 16 Jahren beschäftigt zu haben. Wie lässt sich das erklären? Die Kinder und Jugendlichen wurden von den Schulen in die Fabriken geschickt, um ein Pflichtpraktikum zu machen. Die Schulen schließen mit den Unternehmen Verträge und erhalten für jeden Schüler eine Provision von 600 bis 1.500 Renminbi, das entspricht etwa 95 bis 240 US-Dollar. Sie versuchen daher, so viele Jugendliche wie möglich an die Fabriken zu vermitteln. Den Unternehmen kommt das entgegen, weil sie kurzfristig Arbeiter einstellen können – vor allem in der Hochsaison. Foxconn hat das offensichtlich ausgenutzt und gleichzeitig die Personalien der Schüler nicht richtig überprüft. Ähnliche Fälle gab es auch in anderen Fabriken. Wir haben durch unsere Recherchen bei dem Unternehmen HEG Electronics, einem wichtigen Zulieferer für Samsung, herausgefunden, dass dort ebenfalls Kinder beschäftigt waren. In dieser Branche ist das verbreitet, es gibt viele Beispiele. Das Unternehmen Foxconn, das auch für Apple und Samsung produziert, stand mehrfach in der Kritik, die Rechte von Arbeitern missachtet zu haben. Unter welchen Bedingungen wird in den Fabriken gearbeitet? Foxconn beschäftigt in ganz China rund 1,2 Millionen Arbeiter und spielt für den chinesischen Arbeitsmarkt eine wichtige Rol-
»Viele Arbeiter werden sich langsam ihrer Rechte bewusst, auch wenn es noch kein kollektives Bewusstsein gibt.« 60
le. Die Angestellten arbeiten lange, oft mehr als zwölf Stunden am Tag. Überstunden werden nicht dokumentiert. Foxconn zahlt stattdessen eine Art Bonus, um der Öffentlichkeit zu beweisen, dass die Stunden das vorgeschriebene Limit nicht überschreiten und die Arbeiter dafür entlohnt werden. Wenn sie sich jedoch weigern, Überstunden zu machen, müssen sie Sanktionen befürchten. Die Arbeiter dürfen jeden Monat höchstens einen oder zwei freie Tage nehmen. Die Löhne liegen knapp über dem Existenzminimum, das von den lokalen Behörden festgelegt wird. Hinzu kommt das Arbeitsklima bei Foxconn selbst: Es herrscht ein militärischer Stil, das Sicherheitspersonal agiert sehr streng, was zu Konflikten zwischen ihnen und den Arbeitern führt, wie bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen Ende September in Taiyuan, als Hunderte Arbeiter protestierten. Welche Auswirkungen haben diese Bedingungen für die einzelnen Arbeiter? Aufgrund der langen Arbeitszeiten sind sie extrem ausgelaugt und müde. Die Kombination aus Erschöpfung, schwierigen Arbeitsbedingungen, militärischer Unternehmensführung und strengen Kontrollen setzt die Arbeiter unter psychischen Druck. Vor der Veröffentlichung des neuen iPhone 5 und des iPad wurde von den Arbeitern noch mehr Einsatz verlangt. Zudem hatten sich einige Kunden über die Qualität des neuen iPhone-Modells beschwert. Die Konsequenz war, dass die Vorgaben verschärft und die Arbeiter noch stärker unter Stress gesetzt wurden. Wie kommt »China Labour Watch« an diese Informationen? Unsere Organisation hat ein Büro in der chinesischen Stadt Shenzhen. Wir schicken unsere Mitarbeiter »undercover« in die Fabriken, um dort zu arbeiten, Informationen zu sammeln und mit anderen Arbeitern zu sprechen. So erhalten wir Zugang zu Informationen aus erster Hand, die wir dann später in einem Bericht veröffentlichen. Es ist nicht immer einfach, mit den Arbeitern in Kontakt zu treten und mit ihnen über die Arbeitsbedingungen zu sprechen. Viele haben Angst vor Sanktionen seitens der Unternehmensführung. In manchen Situationen kommen sie jedoch auch selbst auf uns zu und suchen Hilfe und Unterstützung, um mit dem Arbeitgeber zu verhandeln. Können sich die Arbeiter selbst für ihre Rechte einsetzen und sich zum Beispiel in Gewerkschaften organisieren? Bis vor kurzem wussten viele Arbeiter gar nicht, welche Rechte ihnen überhaupt zustehen. Die Arbeiter können sich weder an unabhängige Gewerkschaften als Ansprechpartner wenden, noch haben sie selbst das Recht auf eigenständige Tarifverhandlungen. Die Situation hat sich etwas geändert, weil immer mehr Organisationen und Aktivisten anfangen, sich für sie einzusetzen. Viele Arbeiter werden sich langsam ihrer Rechte bewusst, auch wenn es noch kein kollektives Bewusstsein gibt. Die Ge-
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Alles für den Export. Foxconn-Fabrik in Shenzen. Dort sind rund 300.000 Arbeiter beschäftigt (Bild oben), die für Apple, Sony und Dell produzieren. Wegen der zahlreichen Selbstmorde wurden Netze an den Firmengebäuden angebracht.
werkschaften, die gegenwärtig existieren, stehen alle unter dem Einfluss der Kommunistischen Partei und stellen deshalb keine wirkliche Vertretung der Arbeitnehmer dar. Wieso verhindert das chinesische Arbeitsrecht nicht, dass Menschen unter solchen Bedingungen arbeiten müssen? Die chinesischen Arbeitsgesetze schützen die Rechte der Arbeiter, aber deren Anwendung wird sehr unterschiedlich gehandhabt. So verzichten lokale Behörden unter Umständen auf die Anwendung der Gesetze, um multinationale Unternehmen anzulocken, damit diese in der jeweiligen Region investieren. Wieso Foxconn und andere Unternehmen die Regeln nicht durchsetzen, ist eine schwierigere Frage. Klar ist jedoch, dass sie vor allem an niedrigen Lohnkosten interessiert sind und deshalb eher dazu tendieren, die Gesetze nicht aus eigenem Antrieb durchzusetzen. Was fordert »China Labour Watch« von großen Unternehmen wie Apple und Samsung? Diese Unternehmen stehen an der Spitze der Produktionskette. Apple und Samsung haben das Geld und die Ressourcen, um die Arbeitsbedingungen für die Arbeiter zu verbessern. Wir fordern, dass sie die Preise für die Produkte in den Zuliefererfabriken erhöhen. Dann ist es für diese Fabriken auch möglich, die Löhne der Arbeiter anzupassen. Wenn die Zulieferer nur einen marginalen Gewinn aus der Kooperation ziehen, ist es für sie schwierig, die Bedingungen dauerhaft zu verbessern. Wie reagieren Apple und Samsung auf die Kritik von »China Labour Watch«? Weder das eine noch das andere Unternehmen hat sich bisher direkt dazu geäußert.
INTERVIEW
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INTERVIEW LI QIANG Li Qiang ist in Zong City in der chinesischen Provinz Sichuan geboren. Er ist Aktivist sowie Gründer und Leiter der Organisation »China Labour Watch« mit Sitz in New York. Die Organisation setzt sich seit 2000 für die Rechte von Arbeitern in China ein. Li Qiang unterrichtete 2004 als Gastdozent am Zentrum für Menschenrechtsstudien an der Columbia University in New York und hat in der Vergangenheit viele Artikel über die Situation von Arbeitern in China veröffentlicht.
LI QIANG
Fotos: Tony Law / Redux / laif
Foto: Talk Radio News Service
Fragen: Ralf Rebmann
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Kultur
64 Computerspiele: Gutes tun und dabei Spaß haben 66 Meinungsfreiheit: Türkei 68 Neuübersetzung: Dalton Trumbo 70 Fotoausstellung: »Über Grenzen« 72 Abgesang: »Mexican Institute of Sound« 74 Tabubruch: Liao Yiwu 76 Bücher: Von »Bombengeschäfte« bis »Syrien – der schwierige Weg in die Freiheit« 78 Film & Musik: Von »Searching for Sugarman« bis »Songs for Desert Refugees«
Die Matrix lebt. Computerspielmesse in Schweden. Foto: Lars Lindqvist / Kontinent / laif
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Spielend die Welt verändern Ob Flüchtlinge in Darfur oder der Konflikt zwischen Israel und Palästina: Zahlreiche Computerspiele beschäftigen sich mit humanitären und politischen Themen und versetzen Spieler dabei in die Rolle des Katastrophenhelfers oder Diplomaten. Neuere Spiele gehen sogar noch einen Schritt weiter – und machen sich das soziale Netzwerk Facebook zunutze. Von Ralf Rebmann
W
Frauenpower. Spielfigur in »Half the Sky«.
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ieso haben sie diese geheimnisvolle Statue nur angefasst? Phoebe und Sam sind dreizehn Jahre alt und vor Neugier kaum zu bremsen. Soeben befanden sie sich noch im Arbeitszimmer von Sams Vater, der mit Begeisterung afrikanische Masken und Statuen sammelt. Doch eine dieser Statuen hat die beiden Jugendlichen auf mysteriöse Weise nach Tansania befördert. Dort beginnt das Abenteuer der Jugendlichen, zwischen Löwen und Zebras, in einem Nationalpark am Fuße des Kilimandscharo. Phoebe und Sam sind die Hauptfiguren des Computerspiels »AJABU – Das Vermächtnis der Ahnen« (2012), einem AdventureSpiel für Kinder und Jugendliche. Dieses Jahr war es für den Deutschen Computerspielpreis in der Kategorie »Serious Games« nominiert. Neben dem Spielspaß steht vor allem die Vermittlung von Wissen im Vordergrund – ein zentrales Merkmal von »Serious Games«. Über sieben Stationen führt die Reise von Phoebe und Sam – von Tansania über die Demokratische Republik Kongo bis in die Sahara. Die beiden Jugendlichen sind auf der Suche nach dem Geheimnis von AJABU und dem skrupellosen Geschäftsmann Mr. Barran, der in zahlreiche kriminelle Geschäfte verwickelt ist. Dabei werden sie mit Korruption und Umweltzerstörung, Rassismus und Ressourcenausbeutung konfrontiert. In Gesprächen mit anderen Figuren erfahren sie einiges über Geschichte, Kultur und Bevölkerung der einzelnen Länder. Die Macher haben sich bemüht, ein differenziertes Bild Afrikas zu vermitteln und zugleich ein spannendes Spiel zu gestalten. »Es kommt auf die richtige Balance an«, sagt Tobias Miller. Der Medienpädagoge ist Redakteur bei spielbar.de, der Computerspiel-Plattform der Bundeszentrale für politische Bildung. »Viele ›Serious Games‹ versuchen krampfhaft, Wissensbaustei-
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Screenshots: Amnesty
Ernste Spiele. »Darfur is Dying«, »AJABU – das Vermächtnis der Ahnen«, »Inside the Earthquake Haiti« (von links).
ne spielerisch zu verpacken. Gute Spiele zeichnen sich jedoch dadurch aus, dass sie Spaß machen. Nur diese Spiele werden freiwillig gespielt.« In den vergangenen Jahren kamen zahlreiche »Serious Games« auf den Markt, die sich mit humanitären Themen befassen. Klassiker sind »Food Force« (2005) oder »Darfur is Dying« (2007). Letzteres handelt von der Situation Tausender Flüchtlinge in der sudanesischen Krisenregion Darfur. Dort herrscht Wassermangel und die Spieler müssen versuchen, einen Brunnen zu finden, der ihnen das lebensnotwendige Element spendet. Außerdem ist Geschicklichkeit gefragt, um den bewaffneten Janjaweed-Milizen auszuweichen, die jederzeit das Flüchtlingscamp angreifen können. Mehr Handlungsmöglichkeiten bietet »Food Force«, das vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen veröffentlicht wurde. In dem Strategiespiel schlüpfen die Spieler in die Rolle des humanitären Helfers. Ziel ist die Bekämpfung einer drohenden Hungersnot auf der fiktiven Insel Sheylan. Die Spieler müssen per Hubschrauber Flüchtlinge finden, die richtigen Nahrungsmittel einkaufen und sie sinnvoll einsetzen. Doch was lernt man über diese Konflikte, wenn man virtuelle Wasserkanister schleppt oder versucht, soviel Pixel-Mais wie möglich anzubauen? »Bei ›Food Force‹ und ›Darfur is Dying‹ handelt es sich um Minispiele, die sich an Kinder und Jugendliche richten und auf etwa 30 Minuten Spielzeit angelegt sind«, sagt Miller. »Die Komplexität der dahinter stehenden Konflikte kann in diesem Rahmen natürlich nicht hinreichend erfasst werden. Das sollte auch nicht der Anspruch dieser Spiele sein. Ihre Stärke liegt vielmehr darin, für die jeweiligen Themenfelder zu sensibilisieren.« Eine komplexere Handlung bietet hingegen »Peacemaker« (2007). Hier agieren die Spieler entweder in der Rolle des palästinensischen Präsidenten oder des israelischen Premierministers. Was in der Realität weit entfernt scheint, ist im Spiel zum Greifen nah: eine Befriedung des Konflikts. Sollen die Sicherheitsvorkehrungen an den Checkpoints verschärft werden? Oder entscheidet man sich für Friedensgespräche? Aber wie reagiert dann die Bevölkerung? Einen Mittelweg zwischen diesen Optionen zu finden, ist das Ziel von »Peacemaker«. Das Besondere daran: Die Konfliktsituationen werden anhand echter Nachrichtenfotos dargestellt. Dieses Prinzip haben die Macher von »Inside the Earthquake Haiti« (2011) ebenfalls umgesetzt. Die Simulation besteht aus Videomaterial, das nach dem Erdebeben in Haiti im Januar 2010 gedreht wurde. Als Überlebender, Katastrophenhelfer oder Journalist können sich die Spieler durch verschiedene Szenarien klicken. Und sie müssen das tun, was in einer Krisensituation am schwierigsten ist: Entscheidungen treffen. Bleibe ich bei meiner
KULTUR
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SERIOUS GAMES
eingeklemmten Nachbarin, die sich inmitten von Schutt und Geröll vor der Sonne zu schützen versucht? Oder verlasse ich sie, um vielleicht irgendwo Trinkwasser für sie zu finden? Bei »Inside the Earthquake Haiti« werden keine Punkte gesammelt. Stattdessen vermittelt die Simulation wirklichkeitsnah und bewegend, mit welchen Herausforderungen Überlebende und Helfer nach dem Erdbeben konfrontiert waren. »Computerspiele vereinen verschiedene Kunstformen in einem Medium und erschaffen damit eine Erfahrungsebene, die Musik oder Film allein nicht bieten können«, sagt Jeff Ramos, Community und Content Manager bei »Games for Change«. Die NGO mit Sitz in New York fördert Computerspiele, die sich mit sozialen Themen beschäftigen. »Computerspiele haben das Potenzial, Spielern komplexe Ideen und Lebensrealitäten nahezubringen. Sie können unter Umständen sogar Empathie erzeugen. Und Empathie ist notwendig, um zu handeln und in der realen Welt etwas zu verändern.« »Games for Change« hat in Kooperation mit Unternehmen und anderen NGOs ein »Serious Game« entwickelt, das genau dies ermöglichen soll. Das Spiel »Half the Sky« basiert auf dem gleichnamigen Buch von Nicholas D. Kristof und Sheryl Wu Dunn. Die Autoren erzählen darin Geschichten von Mädchen und Frauen aus aller Welt, die sich erfolgreich gegen Bevormundung, Unterdrückung und sexuelle Gewalt gewehrt haben. Im Spiel nimmt man die Rolle der Inderin Radhika ein und begibt sich auf eine Reise von Indien über Kenia, Vietnam, Afghanistan bis in die USA. Unterwegs müssen Aufgaben aus verschiedenen Themenbereichen gelöst werden, um mehr Handlungsmöglichkeiten zu erhalten und anderen Mädchen und Frauen zu helfen. Als Spielplattform wurde das soziale Netzwerk Facebook ausgewählt. »Ein großer Vorteil von Online-Spielen ist, dass sich Spieler weltweit vernetzen und austauschen können«, so Ramos. »Darin steckt ein enormes Potenzial. Über Facebook kann die Geschichte von ›Half the Sky‹ viele andere Personen erreichen und sie für dieses wichtige Thema sensibilisieren.« Und nicht nur das: Im Spiel gibt es die Möglichkeit, die virtuell gesammelten Punkte in bares Geld umzuwandeln. Diese Spenden fließen dann direkt zu NGOs, die sich für die Rechte von Frauen und Mädchen stark machen. Anfang 2013 geht das Spiel online. Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin. www.ajabu.goodfable.com www.darfurisdying.com www.wfp.org/get-involved/ways-to-help www.peacemakergame.com www.insidedisaster.com/experience www.halftheskymovement.org/pages/facebook-game
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Ein Grußwort zuviel Kritische Meinungsäußerungen sind in den vergangenen Jahren in der Türkei immer riskanter geworden. Bereits die Teilnahme an einer Demonstration kann als terroristische Straftat gewertet und mit entsprechend hohen Strafen belegt werden. Von Amke Dietert
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esondere Aufmerksamkeit erregen in der Türkei derzeit die sogenannten KCK-Verfahren, die sich gegen Mitglieder der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) richten. Sie werden vor Sondergerichten für schwere Straftaten geführt, die in der Regel für Anklagen nach dem Antiterrorgesetz zuständig sind. Nach Angaben des Menschenrechtsvereins der Türkei sind wegen dieser Verfahren rund 8.000 Personen in Haft, einige mittlerweile seit drei Jahren. Die Zahl der Angeklagten ist noch weit höher. Die KCK gilt als ziviler Arm der PKK – der sowohl in der Türkei als auch in vielen EU-Staaten als terroristische Organisation eingestuften Arbeiterpartei Kurdistans. Juristisch und politisch
SCHÜLER UND STUDENTEN Mehr als 700 Studenten und Studentinnen sitzen derzeit in der Türkei in Untersuchungshaft. Zudem wurden nach offiziellen Angaben in den vergangenen Jahren fast 3.000 Schülerinnen und Schüler vorübergehend festgenommen. Den Schülern wie Studenten wird meistens Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vorgeworfen. Nach der türkischen Rechtsprechung genügt dafür etwa die Teilnahme an Demonstrationen, das Tragen des Palästinensertuches oder die Forderung nach dem Recht auf Unterricht in kurdischer Sprache. Viele Universitätsverwaltungen eröffnen gegen Studierende, die aus politischen Gründen angeklagt sind, zusätzlich Disziplinarverfahren, die oft zur Exmatrikulation führen. Studierende, die versuchen, vom Gefängnis aus ihr Studium fortzusetzen, sind mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert: So haben sie keinen Zugang zu Bibliotheken und können nur an Klausuren teilnehmen, wenn sie drastisch überhöhte Transportkosten vom Gefängnis zur Universität aufbringen können. Nach einer Verhaftungswelle im Rahmen der KCK-Verfahren im Oktober 2011 gründeten Wissenschaftler in Frankreich die Internationale Arbeitsgruppe »Freiheit von Forschung und Lehre in der Türkei« (GIT). Entsprechende Initiativen bildeten sich auch in anderen Ländern Europas, in Nordamerika sowie in der Türkei. Im Januar 2012 gründeten Wissenschaftler und Studierende in Berlin die »GITGermany«.
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ist umstritten, ob ein Staat eine solche politische Struktur tolerieren muss oder ob deren Verfolgung legitim ist. Zu kritisieren ist aber in jedem Fall, dass vielen Angeklagten eine Zugehörigkeit allein aufgrund legaler politischer Aktivitäten, Meinungsäußerungen oder ihrer anwaltlichen Tätigkeit unterstellt wird. Die türkische Justiz setzt Aktivitäten für die KCK einer Mitgliedschaft in der PKK gleich. Damit drohen den Angeklagten – zum größten Teil gewählte Politiker und Mitglieder der legalen pro-kurdischen Partei BDP, Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen, Gewerkschafter, Journalisten und Rechtsanwälte – Haftstrafen bis zu 15 Jahren, obwohl niemandem von ihnen Gewalttaten vorgeworfen werden. In dem KCK-Verfahren in Istanbul ist etwa der Verleger Ragip Zarakolu angeklagt, der zuvor schon mehrfach wegen »Verunglimpfung der türkischen Nation« verurteilt worden war, da er Bücher zu Tabuthemen wie dem Völkermord an den Armeniern, Antisemitismus oder zur Minderheitenpolitik in der Türkei verlegt hatte. Seine Anklage im KCK-Verfahren gründet sich darauf, dass er an zwei Veranstaltungen einer politischen Bildungsakademie der BDP teilgenommen und dort Grußworte gesprochen hat. Im November 2011 wurden in der Türkei im Rahmen der KCK-Operationen mehr als 40 Rechtsanwälte und mehr als 40 Journalisten festgenommen, die meisten von ihnen befinden sich in Untersuchungshaft. Bei den Anwälten handelt es sich um Verteidiger des seit 1999 inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten Befehle Öcalans für die PKK-Kämpfer übermittelt und seien deswegen für sämtliche Anschläge in der Zeit ihrer Mandatsausübung verantwortlich. Obwohl die Anwaltsgespräche mit Abdullah Öcalan unter staatlicher Aufsicht stattfanden und in Ton- und Bildaufzeichnungen festgehalten wurden, legte das Gericht weder diese Dokumente noch sonstige Beweise für diesen Vorwurf vor. Die Arbeit der Verteidiger generell wird dadurch erschwert, dass die Ermittlungen in Verfahren nach dem Antiterrorgesetz geheim geführt werden; das heißt, die Anwälte haben bis zur Fertigstellung der Anklageschrift – und das kann in Verfahren mit vielen Angeklagten lange dauern – keinen Einblick in die Ermittlungsakten. Darüber hinaus arbeiten die Staatsanwaltschaften mit sogenannten geheimen Zeugen, die auch in der Gerichtsverhandlung von den Verteidigern und Angeklagten nicht befragt werden können. Nach einer Rechtsauslegung des Kassationshofes können Personen, die Straftaten im Namen einer illegalen Organisation begangen haben, wegen Mitgliedschaft in dieser Organisation verurteilt werden – ausdrücklich ohne tatsächlich Mitglieder zu sein. Für eine Verurteilung reicht etwa die Teilnahme an einer (verbotenen) Demonstration oder das Rufen politischer Parolen. Betroffen hiervon sind zum größten Teil Kurden, aber auch andere Bürger der Türkei. So wurde im Mai 2012 der Student Cihan Kırmızıgül zu mehr als elf Jahren Haft verurteilt. Er war im Februar 2010 in Istanbul festgenommen worden, mehrere Stunden nach einer Demonstration, bei der auch Molotow-Cocktails geworfen wurden.
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Foto: Murad Sezer / AP / ddp images
Haft für Satire. Der britische Künstler Michael Dickinson wartet auf seinen Gerichtstermin, Istanbul.
Grund für die Festnahme war, dass er ein Palästinensertuch trug, wie es auch bei Teilnehmern der Demonstration gesehen wurde. Obwohl es keinerlei Beweise dafür gab, dass er überhaupt an der Demonstration teilgenommen hatte, wurde er wegen einer Straftat im Namen der Organisation, die für die Demonstration verantwortlich gemacht wurde, verurteilt. Der britische Karikaturist und Collagen-Künstler Michael Dickinson wurde im Januar 2010 wegen Beleidigung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan zu einem Jahr und zwei Monaten Haft verurteilt. Er hatte eine Zeichnung veröffentlicht, auf der US-Präsident Bush einem Hund, der den Kopf von Ministerpräsident Erdoğan trug, eine Auszeichnung umhängt. Damit sollte Erdoğans Unterstützung für Bush während des Irak-Krieges 2006 kritisiert werden. Das Verfahren ist jetzt vor dem Kassationshof anhängig – Dickinson lebe seit mehr als 20 Jahren in der Türkei und sei daher »mit den Sitten und Gewohnheiten« des Landes vertraut, lautet die Begründung. Der Artikel 125 des türkischen Strafgesetzes sieht für die Beleidigung oder Herabwürdigung einer Person eine Haftstrafe zwischen drei Monaten und einem Jahr vor. Der Schutz vor Beleidigung ist zwar ein legitimer Grund, um die Meinungsfreiheit einzuschränken. Problematisch ist jedoch, in welch extremem Maße dies in der Türkei angewendet wird. Ein weiterer Strafrechtsartikel, der Meinungsäußerungen sanktioniert, ist Artikel 318, der die »Distanzierung der Bevölke-
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rung vom Militärdienst« unter Strafe stellt. Nach diesem Paragraphen werden Menschen verurteilt, die sich für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einsetzen oder sich öffentlich mit angeklagten Kriegsdienstverweigerern solidarisieren. Amnesty International hat mehrfach über Halil Savda berichtet – ein Aktivist der Verweigerer-Bewegung, der am 6. Dezember 2012 einen weiteren Prozesstermin hat. Die Autorin ist Türkei-Expertin von Amnesty International Deutschland.
Cihan Kırmızıgül wurde zu mehr als elf Jahren Haft verurteilt. Grund war das Tragen eines Palästinensertuches. 67
Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an AMNESTY INTERNATIONAL.
AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank Köln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50 BIC: BFSWDE33XXX IBAN: DE23370205000008090100
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Fotos: Amnesty
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
NIGERIA BEWOHNERINNEN UND BEWOHNER VON BODO Seit Jahrhunderten lebten die Menschen in Bodo, einer Stadt im Nigerdelta, von Fischfang und Landwirtschaft. Am 28. August 2008 veränderte sich ihr Leben schlagartig, als durch ein Leck in einer Ölpipeline des Shell-Konzerns Tausende Barrel Öl in diesen Bereich des Deltas liefen. Das Wasser und das Land rund um die Stadt Bodo wurden innerhalb kürzester Zeit mit Öl verseucht. Das Austreten des Öls wurde erst am 7. November 2008 gestoppt. Im Dezember 2008 trat ein erneutes Leck auf, das dazu führte, dass zehn weitere Wochen lang Öl auslief. Beide Vorfälle wurden durch Materialversagen verursacht. Das Öl hat den Bewohnern von Bodo ihre Lebensgrundlage genommen und die Umwelt zerstört. Die Fische in der Bucht starben oder wurden durch die Verschmutzung vertrieben. Bis heute wurde der Ölteppich nicht vollständig beseitigt, sodass Land und Wasser noch immer verseucht sind und keine Erträge abwerfen. Der Schaden für die Fischerei und die Landwirtschaft hat in Bodo zu Nahrungsmittelknappheit und hohen Lebensmittelpreisen geführt. Viele Menschen in Bodo sind durch die Ölunfälle noch weiter in die Armut gedrängt worden. Außerdem stellt die Verseuchung von Boden, Wasser und Luft ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko für sie dar. Nachdem es im Juni 2012 erneut zu einem Leck gekommen ist, nehmen die Befürchtungen zu, dass die Shell-Pipeline durch ihr Alter brüchig geworden ist. Zeigen Sie sich solidarisch mit den Menschen in Bodo. Machen Sie ein Foto von sich, auf dem Sie ein Schild mit dem englischen Text: »We support the Bodo community« oder »Clean up the Bodo oil spills« halten. Veröffentlichen Sie Ihr Foto auf: www.flickr.com/photos/medianaija/ Schreiben Sie bitte höflich formulierte Briefe an den Staatspräsidenten von Nigeria und fordern Sie ihn auf, die Umweltverschmutzung in Bodo und ihre Auswirkungen auf die dort lebenden Menschen zu untersuchen und sicherzustellen, dass das Öl beseitigt wird. Fordern Sie ihn auf, sich öffentlich zu Transparenz zu verpflichten, alle Informationen zur Säuberungsaktion zugänglich zu machen und sicherzustellen, dass die betroffenen Gemeinden für ihre Verluste entschädigt werden. Bitten Sie ihn zudem, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, der prüft, ob Shell die Umweltauflagen und -gesetze im Nigerdelta erfüllt, und fordern Sie die Veröffentlichung der Ergebnisse. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: President Goodluck Jonathan President of the Federal Republic of Nigeria Office of the President Nigerian Presidential Complex, Aso Rock Abuja, Federal Capital Territory, NIGERIA (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Nigeria S.E. Herr Abdu Usman Abubakar Neue Jakobstraße 4, 10179 Berlin Fax: 030 - 21 23 01 64 E-Mail: info@nigeriaembassygermany.org
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GUATEMALA MARÍA ISABEL FRANCO María Isabel Franco wurde im Alter von 15 Jahren vergewaltigt und brutal ermordet. Seit ihrem Tod im Dezember 2001 kämpft ihre Mutter Rosa für Gerechtigkeit, obwohl sie schon mehrmals von Unbekannten Morddrohungen erhalten hat und die Behörden mit Gleichgültigkeit auf ihr Anliegen reagieren. Aus dem im Jahr 2007 veröffentlichten Bericht des Ombudsmannes für Menschenrechte in Guatemala geht hervor, dass der Fall von María Isabel Franco unzureichend untersucht wurde und die Behörden mangelndes Interesse an der Aufklärung zeigten. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat den Fall von María Isabel Franco kürzlich anerkannt und damit den Druck auf die Behörden in Guatemala erhöht, aktiv zu werden. Zeigen Sie sich solidarisch mit Rosa Franco. Schreiben Sie ihr Briefe oder Postkarten, um zu zeigen, dass Sie ihren andauernden Kampf um Gerechtigkeit für ihre Tochter María Isabel unterstützen. Schreiben Sie an: Rosa Franco c/o Central America Team Amnesty International 1 Easton Street London, WC1X 0DW UK Die Schreiben werden vom Internationalen Sekretariat an Rosa Franco weitergeleitet. Schreiben Sie bitte höflich formulierte Briefe an die Vizepräsidentin von Guatemala. Begrüßen Sie das Engagement von Frau Baldetti zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen vor ihrem Amtsantritt als Vizepräsidentin im Januar 2012. Fragen Sie, welche Schritte die Behörden in Guatemala unternehmen, um die Mörder von María Isabel Franco vor Gericht zu bringen. Erkundigen Sie sich, welche Maßnahmen ergriffen werden, um gegen das hohe Maß an Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Guatemala sowie die geringe Strafverfolgungsrate dieser Verbrechen anzugehen. Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Roxana Baldetti Vizepräsidentin der Republik Guatemala 6ta. Ave. 4–19, zona 1 Guatemala City, GUATEMALA (Anrede: Dear Vice President / Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Guatemala S.E. Herrn Carlos Jiménez Licona Joachim-Karnatz-Allee 45–47, 2. OG., 10557 Berlin Fax: 030 - 20 64 36 59 E-Mail: embaguate.alemania@t-online.de
BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN
LIBYEN BEWOHNER DER STADT TAWARGHA Im August 2011 wurde die libysche Stadt Tawargha von Milizen aus dem nahegelegenen Misrata angegriffen. Die Angreifer zwangen die 30.000 Einwohner von Tawargha zur Flucht, brannten die Stadt nieder und zerstörten die Infrastruktur. Sie wollten Rache üben, da sie glaubten, die Menschen in Tawargha hätten die Regierungstruppen während der Proteste in Libyen unterstützt und dabei Kriegsverbrechen und andere Menschenrechtsverletzungen begangen. Heute ist Tawargha eine unbewohnbare Geisterstadt. Die ehemaligen Bewohner leben verstreut in ganz Libyen in schlecht ausgestatten Lagern – in ständiger Angst vor den anhaltenden Angriffen der Milizen. Bei einem Anschlag auf ein Lager in Tripolis am 6. Februar 2012 töteten Schützen sieben der Bewohner, unter ihnen drei Kinder. Die Menschen aus Tawargha fühlen sich nirgendwo sicher. Hunderte von ihnen wurden von den Milizen aus Misrata an Kontrollpunkten abgefangen, aus Lagern, Häusern und selbst aus Krankenhäusern herausgeholt und festgenommen. Häufig werden Gefangene gefoltert – einige der Bewohner Tawarghas sind sogar durch Folter zu Tode gekommen. Die Milizen aus Misrata haben geschworen, die Einwohner von Tawargha niemals in ihre Heimat zurückkehren zu lassen. Sie sind immer wieder in die Stadt eingefallen und haben Häuser und Infrastruktur zerstört, um die Menschen an der Rückkehr zu hindern. Sie haben Sandberge aufgeschüttet, um den Zugang zur Stadt zu blockieren und den Namen der Stadt von Straßenschildern entfernt. Tawargha wird gerade von der Landkarte gestrichen. Schreiben Sie bitte höflich formulierte Briefe an den Innenminister von Libyen. Fordern Sie ihn auf, dafür zu sorgen, dass alle aus Tawargha Vertriebenen unverzüglich in ihre Häuser zurückkehren können. Drängen Sie darauf, dass die Sicherheit der Bewohner von Tawargha garantiert wird und dass die Verantwortlichen für die Angriffe gegen sie vor Gericht gestellt werden. Senden Sie ihren Brief per Fax an: Innenminister von Libyen Fax: 0021 - 82 14 80 36 45 oder 0021 - 82 14 44 29 97 Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Libysche Botschaft Herr Kamal R. M. Krista, Geschäftsträger a.i. Podbielskiallee 42, 14195 Berlin (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) Fax: 030 - 20 05 96 99 oder 030 - 20 05 96 99 E-Mail: info@libysche-botschaft.de
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Gruppenbild der Preisträger. Erstmal wurden nicht Fernsehsendungen, sondern Radiobeiträge prämiert.
KOPFKINO Mit ungeheurer Wucht prasseln Informationen auf uns ein. Der seit 2001 verliehene »Marler Medienpreis Menschenrechte« (M3) will in Zeiten schnellen Informationskonsums Medienbeiträge herausheben, die sich um das Thema Menschenrechte besonders verdient gemacht haben. Alle zwei Jahre wird der undotierte Preis vom Amnesty-Bezirk Ruhr-Mitte vergeben. In diesem Jahr wurden erstmals nicht Fernsehsendungen, sondern Radiobeiträge prämiert. Und es gab eine weitere Neuerung: Die Preisträger wurden in einem Online-Voting ermittelt. Hunderte User klickten sich auf der M3-Website durch die nominierten Beiträge und wählten ihre Favoriten. Am 6. Oktober war es schließlich soweit: Die diesjährigen Gewinner wurden im kleinen Städtchen Marl ausgezeichnet. Festredner Ulrich Spieß vom Grimme-Insti-
tut erklärte, welche Bedeutung der M3 in der Medienlandschaft hat – ein Medienpreis, der sich den Menschenrechten verschrieben hat, ist in Deutschland eine Ausnahme. Die Entscheidung, dieses Mal Radiobeiträge auszuzeichnen, erwies sich übrigens als Glücksfall. Das Medium Radio – dies hat der Abend in Marl bewiesen – bietet mehr als seichten Dudelfunk. Ausgezeichnet wurden das WDR-Hörspiel »Bogotá Blues« über illegale Kinderadoptionen, eine Kurzdokumentation des Deutschlandradio Kultur über Morde an Frauen in der mexikanischen Stadt Ciudad Juárez sowie das Feature »Verbrannt in Polizeizelle Nr. 5« über den Todesfall Oury Jalloh. Text: Tobias Simon
Sie sind groß, bunt und regen Passanten zum Nachdenken an: Drei neue Wandgemälde, die sich mit Menschenrechtsverletzungen in China beschäftigen, zieren das Kölner Stadtbild. Initiiert wurden die Kunstwerke von der Köln-Ehrenfelder Amnesty-Gruppe. Mit einem China-Jahr feiert die Stadt Köln 2012 das 25-jährige Bestehen ihrer Städtepartnerschaft mit Peking. Da die Ehrenfelder Gruppe speziell zu China arbeitet, sorgt sie mit verschiedenen Aktionen dafür, dass die Menschenrechtslage beim China-Jahr nicht vergessen wird. »Kunstwerke im öffentlichen Raum sprechen jeden an«, erklärte Silke Brachmann, Sprecherin der Ehrenfelder Amnesty-Gruppe. Die Gemälde wurden vom Künstlerkollektiv Captain Borderline realisiert.
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Foto: Amnesty
STREET ART FÜR DIE MENSCHENRECHTE
Groß und bunt. Wandgemälde zum China-Jahr in Köln.
AMNESTY JOURNAL | 01/2013
Mit einer aufrüttelnden Protestaktion forderten mehr als fünfzig Amnesty-Aktivisten in Berlin ein Ende der europäischen Abschottungspolitik am Mittelmeer. Auf der Flucht vor Unterdrückung, Gewalt und Armut sind dort bereits Tausende umgekommen. Anlässlich des bundesweiten Flüchtlingstags am 28. September 2012 inszenierten die Aktivisten vor dem Brandenburger Tor eine absurde Kulisse: Während Urlauber am Strand in der Sonne baden, sperren hinter ihnen Grenzbeamte das Meer ab, in dem die Leichen ertrunkener Flüchtlinge schwimmen. Im Hintergrund der Szenerie fordern schwarz gekleidete Demonstranten die EU-Staaten in Transparenten dazu auf, Flüchtlingsboote nicht mehr auf hoher See zurückzuschicken, sondern jedem Flüchtling ein faires Asylverfahren zu gewähren. Video und Fotos der Aktion auf http://bit.ly/Flüchtlingsaktion
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Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf www.amnesty.de/aktiv-vor-ort und www.amnesty.de/kalender
IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, E-Mail: info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Ramin M. Nowzad, Larissa Probst Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Gerd Braune, Daniel Bax, Amke Dietert, Felicia Folivora, Michael Gottlob, Wolfgang Grenz, Jessica Hübschmann, Mathias John, Jürgen Kiontke, Alexia Knappmann, Maja Liebing, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Lena Schiefler, Matthias Schreiber, Tobias Simon, Maik Söhler, Carsten Stormer, Kurt Stukenberg, Sarah Wildeisen, Kathrin Zeiske Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: Hofmann Druck, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln, BLZ 370 205 00, BIC: BFSWDE33XXX, IBAN: DE23370205000008090100 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
ISSN: 1433-4356
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WOLFGANG GRENZ ÜBER
DEN FRIEDENSNOBELPREIS
Zeichnung: Oliver Grajewski
SOS EUROPA: AKTION ZUM FLÜCHTLINGSTAG
Ich gebe zu, ich war überrascht, als die Meldung über die Ticker lief, dass die EU den Friedensnobelpreis erhält. Und noch überraschter war ich, als ich am selben Tag in einer Radiosendung mit zwei Wissenschaftlern diskutierte, die angesichts des Preisträgers geradezu euphorisiert waren. Auch ich schätze die friedensbildenden Maßnahmen der EU und anderer europäischer Staaten: Dank derer leben die Menschen auf unserem Kontinent so einträchtig zusammen wie nie zuvor. Auch ganz persönlich empfinde ich es als Bereicherung, ohne Ausweiskontrollen und ohne Schlagbäume in Europa reisen zu können. Doch womit ich mich schwer tue, ist die Begründung des Nobelkomitees, die EU habe bisher einen »erfolgreichen Kampf für die Menschenrechte« geführt. Dem kann ich nur zum Teil zustimmen. Ein schlechtes Zeugnis stelle ich der Union zum Beispiel in Sachen Flüchtlingspolitik aus: Europa ist mit seiner Abschottungsstrategie für den Tod vieler Menschen mitverantwortlich, die beim Versuch einen EU-Staat zu erreichen, im Mittelmeer ertrinken – vergangenes Jahr allein 1.500. Das ist eines Friedensnobelpreisträgers nicht würdig. Auch die Menschenrechtsprobleme in den eigenen Mitgliedstaaten sind immens. So werden zum Beispiel Roma in Ungarn oder Rumänien, in Italien und Tschechien diskriminiert: Oft müssen sie in erbärmlichen Zuständen leben, der Zugang zu Bildung, zu ärztlicher Versorgung oder zum Arbeitsmarkt wird ihnen schwer gemacht. Auch die kaum aufgearbeiteten Kriegsverbrechen des Beitrittskandidaten Kroatien oder die Bereitschaft der EU-Staaten, den Menschenrechtsschutz zugunsten von Wirtschaftsinteressen zu vernachlässigen, sind Schwachpunkte. Es ist, wie es ist: Am 10. Dezember wird nun der Nobelpreis an die EU verliehen – just am Internationalen Tag der Menschenrechte. Ich hoffe, dass die Politiker in Europa es als Verpflichtung sehen, dass beide Ereignisse auf den gleichen Tag fallen. Wenn der Preis nicht nur als Auszeichnung für vergangene Verdienste verstanden wird, sondern als Verpflichtung, den Schutz der Menschenrechte in der EU voranzutreiben, dann bin ich versöhnt mit dieser Entscheidung. Und dann werde ich mit umso mehr Freude mein persönliches Ziel verfolgen: die letzten sechs EU-Länder zu bereisen, die ich noch nicht kenne – ohne Ausweiskontrollen und ohne Schlagbäume. Wolfgang Grenz ist Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International.
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ES GIBT MENSCHEN, DIE STERBEN FÜR BÜCHER. In vielen Ländern werden Schriftsteller verfolgt, inhaftiert, gefoltert oder mit dem Tode bedroht, weil sie ihre Meinung äußern. Setzen Sie mit uns ein Zeichen für das Recht auf freie Meinungsäußerung! Mit Ihrer Spende unterstützen Sie unsere Menschenrechtsarbeit und retten Leben: Spendenkonto 80 90 100, Bank für Sozialwirtschaft, BLZ 370 205 00. www.amnesty.de