Amnesty Journal Juni/Juli 2012: "Der lange Weg"

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AMNESTY JOURNAL

DER LANGE WEG HOFFNUNG UND ERNÜCHTERUNG NACH DEM ARABISCHEN FRÜHLING

UKRAINE IM ABSEITS Kurz vor der Fußball-Europameisterschaft häuft sich die Kritik an den ukrainischen Behörden: Folter auf Polizeistationen, Straflosigkeit für die Täter. Und der Schriftsteller Juri Andruchowytsch sieht die Meinungsfreiheit bedroht.

06/07

2012 JUNI/ JULI


Illustration: André Gottschalk

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Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals

Foto: Mark Bollhorst / Amnesty

EDITORIAL

DIE HOFFNUNGEN WAREN GROSS, … … als vor mehr als einem Jahr in mehreren arabischen Ländern despotische Regierungen durch Massenproteste gestürzt wurden. Mittlerweile sind die Revolutionäre der ersten Stunde ernüchtert. Die alten Machthaber sind zwar verschwunden, die zugrunde liegenden Strukturen sind jedoch in vielen Fällen geblieben. In Syrien herrscht de facto sogar ein Bürgerkrieg, weil Präsident Assad mit aller Gewalt seine Herrschaft verteidigt. Gefahr droht jedoch nicht nur von alten Seilschaften, sondern auch von fundamentalistischen Gruppen, die nun ihre Chance gekommen sehen. Wir stellen in dieser Ausgabe verschiedene Protagonisten des Arabischen Frühlings vor, die von ihren Erfahrungen berichten, Erwartungen und Illusionen schildern. Nur soviel scheint sicher: Für substanzielle Reformen braucht es einen langen Atem. Zahlreiche politische Veränderungen hat in den vergangenen Jahren auch die Ukraine erlebt, ohne dass die Verhältnisse tatsächlich demokratischer geworden wären. Von der Fußball-Europameisterschaft erhoffte sich die Regierung in Kiew einen großen Image-Gewinn. Diese Erwartung wird sich wohl nicht erfüllen. Zu offensichtlich wird gegen menschenrechtliche Standards verstoßen. Nicht nur die Behandlung der inhaftierten Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko stößt auf massive internationale Kritik. Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch weist in seinem Beitrag darauf hin, dass in dem zunehmend repressiven politischen Klima auch die Meinungsfreiheit gefährdet ist (S. 52). Und Amnesty hat erst kürzlich in einem Bericht dokumentiert, dass in der Ukraine Amtsmissbrauch und Gewaltanwendung durch Polizeibeamte alltäglich sind – ohne dass die Täter sich dafür verantworten müssen (S. 36). Dennoch spricht sich Amnesty nicht für einen politischen Boykott der Spiele aus. Eine ähnliche Debatte gab es bereits um die Teilnahme am Eurovision Song Contest Ende Mai in Baku. Schließlich werden in Aserbaidschan kritische Journalisten und Blogger drangsaliert, geht die Regierung rigoros gegen Oppositionelle vor. Anstatt diesen Großereignissen fernzubleiben, sollen Sportler und Künstler »die Gelegenheit nutzen, um auf die Situation der Menschen im Land aufmerksam zu machen«, schreibt Wolfgang Grenz, Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion, in seiner Kolumne (S. 67). Das gleiche gilt für Fans und Politiker. »Hinfahren ja, aber mit einer Botschaft im Gepäck«: Fairplay gilt auch jenseits der großen Bühnen.

EDITORIAL

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INHALT

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Titelbild: Die ägyptische Aktivistin Mariam Kirollos bei einer Demonstration in Kairo am 12. Februar 2012. Foto: Hossam el-Hamalawy

THEMA 19 Fluch und Segen Von Ruth Jüttner

20 Gesichter der Revolution Lina Ben Mhenni und Moemen Jlassi, Miftah Saeid und Mariam Kirollos – vier junge Aktivisten aus Tunesien, Libyen und Ägypten berichten, wie sie ein Jahr nach den Revolutionen in ihren Ländern die politische Situation empfinden. Von Hannah Wettig

RUBRIKEN 06 Reaktionen 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: Ivan Sigal 15 Kolumne: Stefan Wirner 61 Rezensionen: Bücher

26 Operation Freiheit Syrische Flüchtlinge im Libanon berichten über Folter, Hinrichtungen und Scharfschützen in ihrem Heimatland. Dem Terror in Syrien sind sie entkommen, aber im Libanon sind sie nicht willkommen. Von Carsten Stormer

32 »Eine Revolution verläuft nicht nach dem Lehrbuch« Ein Gespräch mit der grünen Europaabgeordneten Barbara Lochbihler. Sie ist Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Europäischen Parlament.

62 Rezensionen: Film & Musik 64 Briefe gegen das Vergessen 66 Aktiv für Amnesty 67 Wolfgang Grenz über Großveranstaltungen

Fotos oben: Jeroen van Loon / Hollandse Hoogte / laif | Carsten Stormer | Sergei Svetlitsky / Demotix | Iva Zimova / Panos

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BERICHTE

KULTUR

36 Ein zu kurzes Leben

52 Keine Angst!

Der Fall Julia Timoschenko ist inzwischen zum internationalen Politikum geworden. Doch Folter durch den Polizeiapparat ist in der Ukraine ein alltägliches Verbrechen. Von Barbara Oertel

42 »Wandelbare Ungeheuer« In kaum einem anderen Land sitzen so viele Journalisten und Verleger hinter Gittern wie in der Türkei. Daran hat auch die Entlassung einiger bekannter Publizisten nicht viel geändert. Von Sabine Küper-Büsch

44 Die Stadt der toten Töchter Seitdem der »Krieg gegen die Drogen« eskaliert, steigt auch die Zahl der Frauenmorde in der nordmexikanischen Stadt Ciudad Juárez rapide an. Trotz weltweiter Proteste bemühen sich Behörden und Politiker bislang kaum, die Verbrechen endlich aufzuklären. Von Kathrin Zeiske

48 Bevormundung und kein Ende In Australien werden Aborigines und Torres-StraitInsulaner nach wie vor diskriminiert. Eine von der Labour-Regierung für kommendes Jahr geplante Verfassungsänderung zur Anerkennung ihrer Rechte gilt als nur schwer durchsetzbar. Von Christoph Behrends

Die Machthaber in der Ukraine engen den Raum bürgerlicher Freiheiten Schritt für Schritt ein. Darunter haben gerade auch Schriftsteller zu leiden. Doch sie können etwas dagegen tun. Ein Essay von Juri Andruchowytsch

54 Mohammed Superman Das türkische Religionsministerium warf dem Schriftsteller Nedim Gürsel 2008 vor, er habe mit seinem Roman »Allahs Töchter« die religiösen Gefühle des Volkes verunglimpft. Von Zonya Dengi

56 Edle Motive Die Lage afrikanischer Bootsflüchtlinge ist Thema in der aktuellen Jugendliteratur. Eine Leseprobe von Sarah Wildeisen

58 Metall im Blut Ägypten hat eine vielseitige Heavy Metal-Szene, die bislang im Untergrund spielen musste. Nach dem Sturz von Hosni Mubarak hoffen Musiker und Fans auf ein Ende der Repression. Von André Epp

60 Die Feinde im Inneren Marc Thörner schaut sich »Die arabische Revolution und ihre Feinde« genauer an und entdeckt Ähnlichkeiten zwischen den islamistischen Gegnern der Moderne und ihren Widersachern. Von Maik Söhler

63 HipHop und Koran Maryam Keshavarz analysiert in ihrem Film »Sharayet – Eine Liebe in Teheran« die gesellschaftlichen Verhältnisse im Iran aus der Sicht von Jugendlichen. Von Jürgen Kiontke

INHALT

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GROSSBRITANNIEN

SERBIEN

CHINA

Abdel Hakim Belhaj, der derzeitige Führer des Militärrats in Tripolis, hat gegen den ehemaligen britischen Außenminister Jack Straw eine Zivilklage wegen Folter und Amtsmissbrauchs eingereicht. Belhaj war 2004 mit mutmaßlicher Unterstützung des britischen Geheimdienstes MI6 unter dem Verdacht des Terrorismus festgenommen worden. Danach wurde er nach Tripolis gebracht, wo er fast sieben Jahre im Gefängnis verbrachte und nach eigenen Angaben gefoltert wurde. Die Zivilklage sei ein wichtiger Schritt, um Gerechtigkeit herzustellen, sagte John Dalhuisen, Leiter des AmnestyProgramms für Europa und Zentralasien. Außerdem sei sie eine Erinnerung daran, dass britische Behörden es bisher nicht geschafft hätten, die Vorwürfe über Beteiligung an Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen auszuräumen.

Die Behörden in der serbischen Hauptstadt Belgrad haben trotz internationaler Kritik die Räumung der Roma-Siedlung Belvil fortgesetzt. Rund 250 Familien sind davon betroffen. Die Bewohner erhielten keine Informationen darüber, was nach der Räumung mit ihnen geschehen soll. »Die serbische Regierung verstößt gegen internationales Recht, weil sie die Räumung durch die Behörden in Belgrad zulässt«, sagte John Dalhuisen, Leiter des Amnesty-Programms für Europa und Zentralasien. Viele Familien wurden willkürlich auf andere Lager aufgeteilt. Manche wurden bei der Räumung getrennt, andere sind jetzt obdachlos.

Weil sie angeblich Unruhe gestiftet haben soll, muss die bekannte Menschenrechtsaktivistin Ni Yulan eine Haftstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verbüßen. Die Anwältin setzt sich für das Recht auf Wohnen und gegen Zwangsräumungen ein. Der Aktivistin, die seit 2002 im Rollstuhl sitzt und gesundheitlich angeschlagen ist, wird außerdem Betrug vorgeworfen. Ihr Mann, Dong Jiqin, erhielt wegen ähnlicher Vorwürfe eine Haftstrafe von zwei Jahren. »Die Behörden müssen sie und ihren Ehemann unverzüglich und bedingungslos freilassen«, sagte Catherine Baber, Leiterin des Asien-Pazifik-Programms von Amnesty International.

Ausgewählte Ereignisse vom 29. März 2012 bis 12. Mai 2012.

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USA

BANGLADESCH

Albert Woodfox und Herman Wallace sind bereits seit mehr als 40 Jahren inhaftiert. Abgesehen von einigen kurzen Unterbrechungen befanden sie sich seit ihrer Verurteilung im April 1972 immer in Isolationshaft. »Es gibt keine legitime Begründung dafür, dass diese Männer so lange in Einzelhaft gehalten werden. Die Behörden in Louisiana müssen dieser Inhumanität sofort Einhalt gebieten«, sagte Everette Harvey Thompson von Amnesty International USA. Im April hat Amnesty International dem Gouverneur von Louisiana eine Petition mit mehr als 65.000 Unterschriften überreicht und gefordert, die Isolationshaft für Albert Woodfox und Herman Wallace zu beenden.

Amnesty International hat die Behörden in Bangladesch aufgerufen, den Tod zweier Männer unabhängig und gründlich zu untersuchen, die bei einer Demonstration Ende April in der Stadt Sylhet getötet wurden. Bei beiden Männern stellte man Schussverletzungen fest. Die Proteste richteten sich gegen das »Verschwindenlassen« von Ilias Ali, einem Oppositionspolitiker der Bangladesh Nationalist Party (BNP) in der Region Sylhet, und dessen Fahrer Ansar Ali. Amnesty International hat kritisiert, dass allein in diesem Jahr 20 weitere Oppositionelle »verschwunden« sind, und die Behörden aufgefordert, diese Fälle unverzüglich zu untersuchen.

JAPAN Japan hat Ende März drei zum Tode verurteilte Männer gehängt. Damit fanden in dem Land erstmals seit zwei Jahren wieder Hinrichtungen statt. Justizminister Toshio Ogawa sagte, er betrachte es als seine »Pflicht«, an der Todesstrafe festzuhalten. »Menschenrechtsverletzende Praktiken als ›Pflicht eines Ministers‹ zu rechtfertigen, ist inakzeptabel«, sagte Catherine Baber, Leiterin des Asien-Pazifik-Programms von Amnesty International. Die Hinrichtungen seien ein deutlicher Rückschritt für Japan. Aktuell haben weltweit mehr als zwei Drittel aller Staaten die Todesstrafe praktisch oder per Gesetz abgeschafft.

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Foto: Spencer Platt / Getty Images

ERFOLGE

»Töte nicht für mich.« Demonstration gegen die Hinrichtung von Michael Ross am 13. Mai 2005 in Enfield, Connecticut.

CONNECTICUT SCHAFFT TODESSTRAFE AB Connecticut hat als 17. Bundesstaat der USA die Todesstrafe abgeschafft. Der Gouverneur des Bundesstaates, Dannel Malloy, hat im April ein entsprechendes Gesetz unterzeichnet. Zuvor hatten der Senat und das Repräsentantenhaus dem Gesetzentwurf zur Abschaffung der Todesstrafe zugestimmt. Amnesty International begrüßte die Entscheidung: »Der Gesetzgeber von Connecticut hat mit dieser Entscheidung das Richtige getan und starken politischen Willen bewiesen. Wir sind zuversichtlich, dass weitere Bundesstaaten diesem Beispiel folgen werden«, sagte Suzanne Nossel, Direktorin von Amnesty International in den USA. Seit der Wiedereinführung der Todesstrafe in Connecticut im Jahr 1973 wurde dort bislang

USA

KRIEGSDIENSTVERWEIGERER UNTER AUFLAGEN ENTLASSEN

TÜRKEI Der bekannte türkische Menschenrechtler und Kriegsdienstverweigerer Halil Savda wurde im April 2012 vorzeitig aus der Haft entlassen. Er war knapp zwei Monate zuvor festgenommen worden, um eine 100-tägige Freiheitsstrafe zu verbüßen, die wegen »Entfremdung der Bevölkerung vom Militärdienst« gegen ihn verhängt worden war. Halil Savda hatte sich 2006 an einer Solidaritätsaktion mit Kriegsdienstverweigerern in Israel beteiligt. »Wir begrüßen die Freilassung von Halil Savda. Bedauerlich ist aber, dass die Türkei das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nach wie vor nicht zugesteht und allein die Forderung nach Einführung dieses Rechts unter Strafe stellt«, sagte Amke Dietert, Türkei-Expertin bei Amnesty International. »Auch Halil

ERFOLGE

eine Person hingerichtet: Michael Ross starb am 13. Mai 2005. Elf Gefangene sind in dem Bundesstaat weiterhin von der Hinrichtung bedroht, da das neue Gesetz nicht rückwirkend gilt. Gegen künftige Straftäter soll anstatt der Todesstrafe eine lebenslange Haftstrafe verhängt werden. In den USA saßen 2011 insgesamt 3.199 Personen im Todesstrakt, 43 Menschen wurden hingerichtet. Der Trend ist jedoch rückläufig: In den vergangenen fünf Jahren haben Illinois, New Jersey, New Mexico und New York die Todesstrafe abgeschafft. Im November 2012 steht auch in Kalifornien eine entsprechende Abstimmung an. In dem Bundesstaat sind derzeit die meisten Todeskandidaten inhaftiert.

Savda kann jederzeit erneut inhaftiert werden, wenn er sich weiterhin für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einsetzt.« Seine Entlassung erfolgte unter Auflagen: So darf er bis zum Ablauf seiner Freiheitsstrafe im Juni seine Heimatprovinz Diyarbakır nicht verlassen und muss sich täglich auf der örtlichen Polizeiwache melden. Wegen seiner Weigerung, den Kriegsdienst abzuleisten, hat Halil Savda in den vergangenen Jahren insgesamt rund 17 Monate im Militärgefängnis verbracht. Er berichtete Amnesty International, dass er während seines letzten Gefängnisaufenthalts schätzungsweise 500 Postkarten und Briefe von Amnesty-Aktivisten und Unterstützern aus der Türkei erhalten habe. Für diese Unterstützung wolle er sich bedanken, sie habe ihm großen moralischen Halt gegeben.

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Foto: Issouf Sanogo / AFP / Getty Images

»Betteln, um überleben zu können.« Jusu Jarka fordert Entschädigungen für die Opfer des Konflikts.

»EIN GEWISSES MASS AN GERECHTIGKEIT« Ende April wurde Charles Taylor wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Bürgerkriegs in Sierra Leone schuldig gesprochen. Das Urteil ist ein Meilenstein für die internationale Strafgerichtsbarkeit. Viele Opfer warten jedoch immer noch auf eine angemessene Entschädigung. Als im Januar 1999 die Kämpfer der Rebellenarmee »Revolutionary United Front« (RUF) große Teile der sierra-leonischen Hauptstadt Freetown einnahmen, standen sie bald auch vor der Tür von Jusu Jarka. »Die Rebellen sagten mir, dass ich sofort öffnen solle. Ansonsten würden sie das Feuer eröffnen.« Der 49-Jährige konnte seiner Tochter gerade noch zur Flucht verhelfen, wie er einer Amnesty-Researcherin erzählte. Er selbst wurde jedoch gefangen genommen. Weil er nicht auf der Seite der Rebellen kämpfen wollte, hackten sie ihm beide Hände ab. Dennoch hatte er Glück und wurde am Leben gelassen. Im Bürgerkrieg von Sierra Leone, der von 1991 bis 2002 dauerte, wurden schätzungsweise 200.000 Menschen getötet. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung wurde vertrieben. Eine wichtige Rolle in dem Konflikt spielte der damalige Präsident des Nachbarlandes Liberia: Charles Taylor. Ein von den Vereinten Nationen unterstützter Sondergerichtshof hat ihn am 26. April in elf Anklagepunkten wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen – darunter Vergewaltigung, Verstümmelung sowie Einsatz und Rekrutierung von Kindersoldaten. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass Taylor an der Planung der Straftaten beteiligt war, die von der sierra-leonischen Rebellenarmee RUF und dem »Armed Forces Revolutionary Council« (AFRC) begangen wurden. Der Konflikt wurde durch illegalen Waffenhandel am Leben er-

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halten, finanziert durch Diamanten, die aus den von Rebellen besetzten Gebieten stammten. Charles Taylor ist seit den Nürnberger Prozessen das erste Ex-Staatsoberhaupt, das vor einem internationalen Strafgericht verurteilt wurde. Die Verkündung des Strafmaßes steht noch aus. Taylor droht eine lebenslange Haftstrafe. »Die Verurteilung sendet zweifellos eine wichtige Botschaft an hochrangige Staatsvertreter: Wie hoch eure Stellung auch immer sein mag, wenn ihr Verbrechen begeht, kommt ihr vor Gericht«, sagte Brima Abdulai Sheriff, Direktor von Amnesty International in Sierra Leone. »Das Gerichtsurteil verschafft den Menschen in Sierra Leone ein gewisses Maß an Gerechtigkeit.« Seit der Sondergerichtshof im Jahr 2002 seine Arbeit aufgenommen hat, wurden neben Charles Taylor acht der insgesamt zwölf angeklagten Rebellen- und Milizenführer verurteilt. Tausende andere mutmaßliche Täter kamen jedoch nie vor Gericht. Viele Überlebende fordern deshalb, dass auch diese Personen zur Verantwortung gezogen werden. Jusu Jarka ist der Meinung, dass mit der Verurteilung Charles Taylors der Sondergerichtshof seinen Zweck erfüllt hat. Er ist heute der Vorsitzende der »Amputees Association«. Der Verband setzt sich für jene Menschen ein, die während des Bürgerkriegs in Sierra Leone verstümmelt wurden. Bis heute haben sie kaum eine Entschädigung für die erlittenen Gräueltaten erhalten. »Wir haben während des Gerichtsverfahrens jahrelang gefordert, Mittel und Wege zu finden, um uns zu entschädigen«, sagt Jusu Jarka. »Stattdessen fristen die Opfer ein Dasein auf der Straße und müssen betteln, um überleben zu können.« Text: Ralf Rebmann

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EINSATZ MIT ERFOLG

INDIEN Dr. V. Pugazhendhi ist ein im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu praktizierender Arzt. Seit mehr als zwei Jahrzehnten warnt er vor den gesundheitlichen Risiken, die von einem Kernkraftwerk in der Region ausgehen und wurde deshalb von der Polizei mit dem Tode bedroht. Im Dezember 2011 wurde er auf einer örtlichen Polizeiwache verhört. Man sagte ihm, dass er entweder in einem inszenierten Schusswechsel mit der Polizei getötet oder auf der Grundlage des Nationalen Sicherheitsgesetzes (NSA) für ein Jahr in Haft genommen werden könne, sollte er seine Aktivitäten nicht beenden. Amnesty startete daraufhin eine Aktion für Dr. V. Pugazhendhi. Der Arzt erklärte nun, dass er sich nicht mehr in Gefahr befinde und seine Arbeit weiterführen könne. Er bedankte sich bei Amnesty International und all seinen Unterstützern für ihren Einsatz.

PARAMILITÄRS WEGEN MASSAKER VERURTEILT

GUATEMALA Ein guatemaltekischer Strafge-

richtshof hat fünf ehemalige Paramilitärs wegen ihrer Beteiligung an einem Massaker an der indigenen Bevölkerung im Jahr 1982 zu Haftstrafen von insgesamt 7.710 Jahren verurteilt. Die Männer waren Mitglieder der paramilitärischen Einheit »Patrullas de Autodefensa Civil« (PAC), die im Juli 1982 insgesamt 268 Bewohner des Dorfes Plan de Sánchez tötete. Mit dem Strafmaß von 7.710 Jahren soll auf die Schwere der Tat verwiesen werden. Die guatemaltekische Justiz hat in den vergangenen Monaten mehrere Urteile gegen ehemalige Soldaten und Paramilitärs gefällt, die in dem 36-jährigen Konflikt Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Ehemalige hochrangige Generäle sowie das damalige Staatsoberhaupt José Efraín Ríos Montt müssen sich gegenwärtig wegen Völkermord vor Gericht verantworten.

ERFOLGE

walt gegen friedliche Demonstranten vorging. Nach Ansicht von Amnesty International wurde Sannikau nur deshalb zur Zielscheibe der Behörden, weil er seine Rechte auf Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit ausgeübt hat. Ebenfalls entlassen wurde Zmitser Bandarenka, Koordinator der oppositionellen Bewegung Europäisches Weißrussland und Mitglied des Wahlkampfteams von Andrei Sannikau. Vier gewaltlose politische Gefangene befinden sich weiterhin in Haft.

Im Januar wurden 670 Menschen aus Sabangali, einem Stadtteil der tschadischen Hauptstadt N’Djamena, Opfer einer Zwangsräumung. Einige der Familien haben nun eine finanzielle Entschädigung erhalten, wie sie bei einem Treffen mit einer Delegation von Amnesty International bestätigten. Im März teilte der zuständige Minister mit, dass ein Ausschuss gebildet worden sei, um eine Lösung für die vertriebenen Personen zu finden. So sollen die Bewohner neben der finanziellen Entschädigung Landparzellen in einem anderen Teil der Stadt erhalten, damit sie dort ihre Häuser wieder aufbauen können. Manche Bewohner lebten seit mehr als 30 Jahren in Sabangali. Bei der Zwangsräumung wurde außerdem eine örtliche Schule zerstört, an der rund 140 Schüler unterrichtet wurden. Auf dem Gelände soll eine moderne Hotelanlage entstehen. TSCHAD

PALÄSTINENSER AUS VERWALTUNGSHAFT ENTLASSEN ISRAEL UND BESETZTE PALÄSTINENSISCHE GEBIETE

Der Palästinenser Khader Adnan verbrachte vier Monate in einem israelischen Gefängnis ohne Anklage oder Gerichtsverfahren. 66 Tage lang protestierte er mit einem Hungerstreik gegen seine Verwaltungshaft und die ihm zugefügten Misshandlungen, die er nach eigenen Angaben erlitten hat. Am 17. April kam er schließlich frei. Khader Adnan wird mit der Organisation »Islamischer Dschihad« in Verbindung gebracht. Sein Fall hatte zu internationaler Kritik an der Verwaltungshaft in Israel geführt. Dabei können Personen für bis zu sechs Monate ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in staatlichem Gewahrsam gehalten werden. Verwaltungshäftlinge bleiben oftmals aufgrund »geheimer Beweise« inhaftiert, die israelischen Behörden zufolge aus Sicherheitsgründen nicht offengelegt werden können.

OPPOSITIONSPOLITIKER ENTLASSEN

Der bekannte belarussische Oppositionspolitiker und Präsidentschaftskandidat Andrei Sannikau wurde am 14. April vorzeitig aus der Haft entlassen. Bereits im November 2011 hatte Sannikau ein Gnadengesuch an Präsident Lukaschenko gerichtet. Grund für seine Festnahme war die friedliche Teilnahme an den Demonstrationen nach den Wahlen in Minsk im Dezember 2010, bei der die Polizei mit unverhältnismäßiger GeBELARUS

Foto: Saif Dahlah / AFP / Getty Images

ARZT AUSSER GEFAHR

ZWANGSVERTRIEBENE ERHALTEN ENTSCHÄDIGUNG

Foto: Sergei Grits / AP / ddp Images

Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

In Freiheit. Bandarenka und Sannikau.

Nach dem Hungerstreik. Khader Adnan.

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Foto: Jennifer S. Altman / The New York Times / Redux / laif

NACHRICHTEN

Riskanter Einsatz. Der Blogger Hua Ge unterstützt die chinesische »Jasmin-Revolution« von New York aus, 27. April 2011.

REPRESSION IM DIGITALEN ZEITALTER Blockierte Suchmaschinen, horrende Preise für einen Internet-Zugang, Folter von Aktivisten, damit sie ihre Facebookoder Twitter-Passwörter preisgeben, Gesetze, die Meinungsäußerungen im Netz zensieren: Das sind nur einige der Methoden, die in Ländern wie China oder Syrien, Kuba oder Aserbaidschan Anwendung finden, um Journalisten, Blogger und Aktivisten daran zu hindern, über Menschenrechtsverletzungen zu sprechen. Laut »Reporter ohne Grenzen« war

ENDE DER STRAFFREIHEIT

Mehr als zwei Jahrzehnte lang regierte das Militär in Brasilien und war während dieser Zeit für zahlreiche schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Bis vor kurzem konnten die Täter damit rechnen, nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. Ein AmnestieGesetz aus dem Jahr 1979 sicherte ihnen Straffreiheit zu und verhinderte die Aufarbeitung vergangener Verbrechen. Im März dieses Jahres haben nun Bundesstaatsanwälte einen ehemaligen

BRASILIEN

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2011 das bislang tödlichste Jahr für Online-Aktivisten: In Bahrein, Mexiko, Indien und Syrien bezahlten Blogger, die Informationen ins Netz stellten, ihr Engagement mit dem Leben. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 19 Journalisten getötet. 162 Journalisten, zehn MedienAssistenten sowie 161 Online-Dissidenten wurden inhaftiert. Doch die Blogger finden immer wieder neue Wege, um die Internet-Kontrollen zu umgehen und ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. »Die Öffnung des di-

gitalen Raums hat Aktivistinnen und Aktivisten ermöglicht, sich gegenseitig in ihrem Kampf für Menschenrechte, Freiheit und Gerechtigkeit zu unterstützen«, sagt Widney Brown, Leiterin der Rechtsabteilung von Amnesty International in London. »Staaten attackieren Online-Journalisten, weil ihnen bewusst ist, wie effizient diese mutigen Einzelpersonen sie via Internet herausfordern können. Wir müssen uns dezidiert jedem Versuch von Regierungen entgegenstellen, die Meinungsfreiheit einzuschränken.«

Offizier sowie einen Polizeibeamten wegen der Entführung des Gewerkschaftsführers Aluízio Palhano Pedreira Ferreira angeklagt. Pedreira wurde 1971 von Sicherheitskräften festgenommen und »verschwand« anschließend. Seine Familie hat ihn seither nicht mehr gesehen. Nach einem Urteil, das der Oberste Bundesgerichtshof in Brasilia kürzlich getroffen hat, sind Fälle von Entführungen und »Verschwindenlassen« von der Amnestie-Regelung ausgenommen.

»Nach Jahrzehnten der Straflosigkeit gibt es nun die Hoffnung, dass Brasilien seiner Verantwortung gegenüber dem internationalen Recht nachkommt, wie dies auch andere Länder Lateinamerikas getan haben«, erklärte Atila Roque, Direktor von Amnesty International Brasilien. »Es ist vor allem wichtig, dass die Opfer und die Angehörigen, die Folter, Verschwindenlassen und Morde seitens des Militärs erlitten haben, Gerechtigkeit erfahren.«

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Ivan Sigal ist seit 2008 verantwortlicher Direktor des Bloggernetzwerks »Global Voices«. Zuvor war er für das U.S. Institute of Peace und die Nichtregierungsorganisation Internews Network tätig. Mehr als zehn Jahre lange untersuchte Sigal, wie die Förderung der Medien- und Informationsfreiheit zur gewaltfreien Lösung von Konflikten in Krisengebieten beitragen kann. Er betreute zahlreiche Projekte zur Ausbildung und Stärkung lokaler Medien in Ländern der ehemaligen Sowjetunion sowie in Afghanistan und anderen asiatischen Ländern.

INTERVIEW

IVAN SIGAL

Weltweit nutzen Blogger und Bürgerjournalisten das Internet, um sich Gehör zu verschaffen. Damit ihre Botschaft nicht an Sprachgrenzen scheitert, wird sie von dem internationalen Netzwerk »Global Voices« übersetzt. Ein Gespräch mit dessen Leiter Ivan Sigal. Wie entstand die Idee, Internetblogs zu übersetzen? Global Voices wurde 2005 als Forschungsprojekt an der amerikanischen Harvard-Universität gegründet. Das Wissen lokaler Blogger und Bürgerjournalisten ist sehr wertvoll. Um diese Informationen universell verfügbar zu machen, müssen sie übersetzt werden. Global Voices dient dazu, Meinungen und Informationen Raum zu geben, die sonst nie gehört werden würden. Das Netzwerk soll auch dazu beitragen, bestimmte Ereignisse, die an einem bestimmten Ort der Welt passieren, besser zu verstehen. Die Blogger sind in gewisser Weise Kulturvermittler zwischen verschiedenen Ländern. Wie genau funktioniert Global Voices? Das Netzwerk arbeitet global und besteht aus mehr als 500 Bloggern, Übersetzern und Autoren. Wir beobachten, welche Themen in der Blogosphäre eine Rolle spielen. Falls ein Thema, wie zum Beispiel die Umbrüche in der arabischen Welt, von potenziellem Interesse für die Leser weltweit ist, sammeln wir Beiträge aus unterschiedlichen Blogs und fassen sie zusammen. Danach werden diese Artikel in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Alle, die an diesem Projekt beteiligt sind, machen die Arbeit ehrenamtlich. Werden die Informationen vor der Veröffentlichung überprüft? Informationen zu überprüfen, indem man bestimmte Themen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, ist das Grundprinzip von Global Voices. Ein Team aus nebenberuflichen Redakteuren arbeitet mit den Autoren und Bloggern zusammen,

NACHRICHTEN

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INTERVIEW

Foto: Ralf Rebmann / Amnesty

»BLOGGER SIND KULTURVERMITTLER« um sicherzustellen, dass die Informationen korrekt sind. Dieser Prozess hat sich mittlerweile etabliert, und wir wissen, welchen Quellen man vertrauen kann. Wie aktiv sind die einzelnen Blogger-Szenen? Innerhalb von Global Voices gibt es keine Länder, die dominieren, wobei einige Blogger-Szenen sicherlich aktiver sind als andere. Derzeit haben wir weniger Beiträge aus China und den französischsprachigen Ländern Afrikas. Aktiver ist die Szene hingegen in Ägypten, Brasilien und Pakistan. Auch die russische Blogosphäre war in den vergangenen drei Jahren sehr aktiv. Die Menschen haben gemerkt, welchen Nutzen diese Netzwerke für den Austausch von Informationen haben können. Was in Russland in den vergangenen Monaten stark zugenommen hat, ist das Wissen um den Einfluss sozialer Netzwerke und Blogs auf den politischen Raum. Das haben auch die Umbrüche in der arabischen Welt bewirkt. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine Internetbewegung tatsächlich auf die Straße geht und demonstriert? Revolutionen, Proteste und Reformprozesse sind komplexe Ereignisse, die unterschiedliche Gründe haben. Damit wir diese Entwicklungen besser verstehen, muss noch mehr Forschung auf diesem Gebiet betrieben werden. Es war zu erwarten, dass die Menschen in Russland demonstrieren. Dort gibt es eine sehr aktive Kultur der Diskussion und Debatte. Die Bedingungen haben gestimmt. Das gilt aber auch für Länder wie Iran, China oder Vietnam. Ausschlaggebend ist der Moment, an dem eine größere Gruppe von Personen entscheidet, eine Idee gemeinsam umzusetzen. In Myanmar war das 2007 bei der sogenannten Safran-Revolution der Fall – obwohl nur ein geringer Teil der Bevölkerung Zugang zum Internet hatte. Fragen: Ralf Rebmann

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Thema: Arabischer Frühling

Massenproteste haben in einigen arabischen Ländern in kurzer Zeit die korrupten Regierungen hinweggefegt. Die grundlegenden Machtstrukturen lassen sich jedoch nur langsam verändern. Über ein Jahr nach dem Aufbruch sind viele Revolutionäre der ersten Stunde ernüchtert. Aber der Arabische Frühling ist noch lange nicht vorbei. Denn die Hoffnung auf ein besseres Leben lässt sich nicht mehr vertreiben.

Der Stern des Aufstands. Demonstranten haben ihre Finger in den Farben der Flaggen von Jemen, Tunesien, Libyen, Syrien und Ägypten bemalt. Sanaa, November 2011. Foto: Louafi Larbi / Reuters

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Ern端chterung. Jahrestag des Aufstandes am Tahrir-Platz in Kairo, 25. Januar 2012.

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Foto: Scout Tufankjian / Polaris / laif

Fluch und Segen

THEMA

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ARABISCHER FRÜHLING

Er kam mit einem blauen Auge davon: Der koptische Geschäftsmann Naguib Sawiris wurde in Ägypten wegen »Geringschätzung der Religion« angeklagt, weil er auf Twitter ein Foto einer bärtigen Mickey Mouse und einer verschleierten Minni veröffentlicht hat. Die Anklage wurde wegen Formfehler abgewiesen. Ganz anders erging es dem jungen saudischen Dichter Hamsa Kashgari. Er veröffentlichte ein Zwiegespräch mit dem Propheten Mohammed auf Twitter, welches von Konservativen als Gotteslästerung bezeichnet wurde. Innerhalb kurzer Zeit fanden sich auf einer Facebook-Seite 13.000 Unterstützer, die die Hinrichtung des jungen Dichters forderten. In Saudi-Arabien steht auf Gotteslästerung die Todesstrafe. Die viel gepriesenen neuen Medien wie Twitter, Facebook oder YouTube sind für die Demokratiebewegungen in Nordafrika und im Nahen Osten Fluch und Segen gleichermaßen. Lange vor den Revolten und Umbrüchen in Tunesien und Ägypten Anfang 2011 waren Blogs im Internet die einzigen Foren, in denen sich arabische und iranische Aktivistinnen und Aktivisten fernab von staatlicher Zensur zu gesellschaftlichen und politischen Themen äußern und austauschen konnten. In Ägypten zählte die Facebook-Seite »Wir sind alle Khaled Said« mit Hunderttausenden Unterstützern zu einer wichtigen Mobilisierungsplattform für die Massendemonstrationen im Januar und Februar 2011. In Tunesien hat die Berichterstattung über die Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi durch die tunesischen Blogger maßgeblich dazu beigetragen, dass die Proteste im ganzen Land Widerhall fanden. In Syrien sind es die unter Lebensgefahr aufgenommenen Handy-Videos, die die brutale Gewalt der Sicherheitskräfte dokumentieren. Auf YouTube veröffentlicht tragen diese Videos dazu bei, die staatliche Zensur zu umgehen und ein Bild der grausamen Realität in den von der Armee belagerten Oppositionshochburgen zu liefern. Nicht nur durch unbedachte Äußerungen auf Twitter haben sich die neuen Medien als Fluch erwiesen. In Syrien wurde die Blockade von Facebook und YouTube kurz vor Beginn der Proteste aufgehoben. Viele Beobachter fürchten, dass die syrischen Geheimdienste durch die Überwachung der sozialen Netzwerke Erkenntnisse über die Aktivitäten der Opposition gewonnen haben. Ein bahrainischer Aktivist berichtete, dass er während der Verhöre mit Abschriften seiner SMS-Nachrichten konfrontiert wurde. Und aus dem Iran ist bekannt, dass die Geheimdienste die im Internet verbreiteten Video-Aufnahmen von den Demonstrationen des Jahres 2009 ausgewertet haben, um Aktivisten der Demokratiebewegung zu identifizieren. Unzählige verschwanden in den Foltergefängnissen des Geheimdienstes und des Innenministeriums. Für Amnesty bleibt deshalb der kompromisslose Einsatz für die Meinungsfreiheit eine zentrale Aufgabe, um den bedrängten Aktivistinnen und Aktivisten in Nordafrika und dem Nahen Osten im Kampf für Menschenrechte und einen grundlegenden Wandel in ihren Heimatländern beizustehen. Ruth Jüttner ist Expertin für den Nahen und Mittleren Osten der deutschen Sektion von Amnesty International.

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Foto: Jeroen van Loon / Hollandse Hoogte / laif

Desillusioniert. Die Bloggerin und Linguistik-Dozentin Lina Ben Mhenni, Tunesien.

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Gesichter der Revolution Lina Ben Mhenni und Moemen Jlassi, Miftah Saeid und Mariam Kirollos – vier junge Aktivisten aus Tunesien, Libyen und Ägypten berichten, wie sie ein Jahr nach den Revolutionen in ihren Ländern die politische Situation empfinden. Von Hannah Wettig

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ina Ben Mhenni sagt, sie sei müde. Es ist Sonntag, in Tunesien ist dies seit der französischen Kolonialzeit ein freier Tag. Sie hat zu Hause die Arbeiten ihrer Studenten korrigiert und an ihrem Blog geschrieben. Übermorgen fliegt sie nach Beirut zu einer Frauenkonferenz, von dort weiter nach Europa. Die wohl bekannteste tunesische Bloggerin kann die Konferenzen, auf denen sie eingeladen war, nicht mehr zählen. Zahlreiche Blogger- und Menschenrechtspreise hat die 28-Jährige gewonnen. Sogar für den Friedensnobelpreis wurde sie vorgeschlagen. Vor fünf Jahren, die Blogosphäre steckte noch in den Kinderschuhen, beschloss Mhenni während eines USA-Aufenthalts, sich einen Blog einzurichten. »A Tunisian Girl« nannte sie ihre Seite, die Persönliches und viele Gedichte enthielt. Zurück in Tunesien, begann sie, über soziale Alltagsprobleme zu berichteten. Prompt schaltete das Regime ihren Blog ab und sorgte so dafür, dass Lina Ben Mhenni den Kampf für die Meinungsfreiheit aufnahm. Trotzdem scheint Ben Mhenni »das tunesische Mädchen« geblieben zu sein. Kaum 1,60 groß wartet sie vor einer der wenigen Bars in Tunis, in der sich auch Frauen treffen: Im zehnten Stock des Hana International Hotels. »Es ist kein Tisch frei, vielleicht gehen wir besser in die Hotel-Lobby«, schlägt sie vor. Sie trägt ein enges, orange-braun gestreiftes Kleid im Stil der siebziger Jahre, dazu braune Lederstiefel. Glamourös wirkt sie jedoch

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nicht, eher ein wenig schüchtern. Ihre Antworten sind kurz, manchmal genuschelt, ab und an tuschelt sie mit einem Freund, den sie mitgebracht hat. Es stimme nicht, dass sie aus wohlhabenden Verhältnissen stamme, wie es bei Wikipedia heißt. Ihre Mutter sei Lehrerin, ihr Vater ein einfacher Angestellter. Sie selber unterrichtet als Dozentin für Linguistik an der Universität Tunis. Zuhause wurde nie über Politik geredet, obwohl ihr Vater einer der Gründer der tunesischen Sektion von Amnesty International war. In den siebziger Jahren saß er wegen seiner politischen Überzeugungen im Gefängnis. »Seine Erfahrungen haben mich sehr beeinflusst«, sagt Mhenni. Allerdings nur mittelbar. »Ich habe darüber gelesen.« Dunkel erinnert sie sich an Treffen von Oppositionellen in der elterlichen Wohnung. »Da wurde ein Konzert organisiert. Ich habe noch Bilder im Kopf von brennenden Autoreifen, als wir zu dem Konzert gehen wollten.« Das war Ende der achtziger Jahre. »Die ersten Jahre war Ben Ali moderat, es gab einige Freiheiten«, sagt sie. Als sie selber aktiv wurde, ahndete das Regime jedes Aufbegehren sofort. Im Mai 2010 bereitete sie mit einem befreundeten Blogger eine Demonstration für Internetfreiheit vor. Der Marsch wurde verboten, in Ben Mhennis Zimmer eingebrochen, Computer und Kamera gestohlen. Doch sie ließ sich nicht einschüchtern. Als sich in dem Städtchen Sidi Bouzid ein Gemüsehändler selbst verbrannte und daraufhin Proteste ausbrachen,

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»Die Arbeiter sind die wahren Revolutionäre. Die Blogger waren doch gar nicht da, vor der Revolution. Die sind ständig in Europa.« fuhr sie dorthin, filmte und berichtete auf Arabisch, Französisch und Englisch. Ein lokales Ereignis wurde zum Ausgangspunkt für eine Revolution, die schließlich die halbe arabische Welt erfassen sollte. Gemacht haben Blogger wie Lina Ben Mhenni diese Revolution jedoch nicht. Das ist ihr wichtig: »Das Volk hat die Revolution gemacht. Ich habe nur darüber berichtet«, betont sie. Aber mit ihren Berichten hat sie eine Weltöffentlichkeit geschaffen. Der tunesische Präsident Zine Al Abidine Ben Ali war einst ein gern gesehener Gast in Europa und den USA – auch weil er für Marktwirtschaft und gegen Islamismus eintrat. Eine Brotrevolte hätte er niederschlagen können, dafür hätte er womöglich sogar Unterstützung aus dem Westen erhalten. Doch als junge arabische Aktivsten im Internet deutlich machten, dass es um Menschenrechte ging, standen Diktatoren wie er auf verlorenem Posten. Ben Ali konnte nur noch nach Saudi-Arabien fliehen, Frankreich hatte ihm die Aufnahme verweigert. Dass es ursprünglich auch um Brot ging, ist dabei in Vergessenheit geraten. »Die ersten Forderungen waren sozialer Art. Deshalb gibt es auch noch Sit-Ins. Die an der Macht haben den Menschen Jobs, Elektrizität und Trinkwasser versprochen«, sagt Mhenni. »Ich sehe nicht, dass die Islamisten daran arbeiten.« Die gemäßigt islamistische Nahda-Partei hat in Tunesien die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung gewonnen. Sie stellt nun mit zwei säkularen Parteien die Regierung. Mhenni traut ihnen nicht über den Weg. »Mal reden sie davon, die Polygamie einzuführen. Mal sagen sie, sie werden die Rechte von Frauen nicht beschneiden. Man kann ihnen nichts glauben.« Desillusioniert sei sie. Aber sie macht weiter, prangert weiter die Missstände im Land an und kämpft für Freiheiten. Damit macht sie sich viele Feinde. Die radikal-islamistischen Salafisten haben sie auf eine schwarze Liste gesetzt. Im März forderte eine Anwältin, man solle Lina Ben Mhenni verklagen: Ihre negativen Berichte seien Schuld an der wirtschaftlichen Misere des Landes.

Moemen Jlassi Moemen Jlassi findet das absurd. »Ich finde Lina Ben Mhenni okay. Aber was wollen alle von der? Warum ist sie so wichtig?« Der 25-jährige Jurastudent ist Mitglied der »Union général des étudiants de Tunisie«. Seit Jahren, sagt er, hätten sie unter der Studentenschaft den Widerstand organisiert. Jedes Jahr im Fe-

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bruar veranstalteten sie ein Musikfestival und Diskussionen in Erinnerung an die Studenten-Wahlen vom 5. Februar 1972. Damals hatten linke Studentenparteien gegen die Regimepartei Neo-Dustur gewonnen. Doch die Wahlen wurden annulliert. »Wir haben uns zu Diskussionen in Arbeiter-Cafés getroffen, weil in den schicken Cafés auf der Avenue Habib Bourguiba die Geheimpolizei war. Wir haben Codenamen am Telefon genutzt.« Nun sitzt er in einem Café auf der Avenue Habib Bourguiba. Benannt ist die Prachtstraße nach dem ersten Präsidenten des unabhängigen Tunesiens: Ein Despot wie Ben Ali, aber immer noch ein Volksheld. Es ist kalt. Aber Jlassi will draußen sitzen. »Angewohnheit«, sagt er. »Ich bin seit einem Jahr immer draußen.« Eine Stunde fährt er mit dem Bus aus einem der ärmeren Vororte in die Innenstadt von Tunis. »Hier treffe ich immer jemanden«, sagt er. Die Revolution ist für ihn nicht zu Ende. Man müsse Bündnisse schmieden. Gleich ist er mit einem Gewerkschaftsfunktionär verabredet. »Die Arbeiter sind die wahren Revolutionäre«, sagt er. »Die Blogger waren doch gar nicht da, vor der Revolution. Das ist die

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Foto: Hannah Wettig

Für ihn ist die Revolution nicht zu Ende. Der Jurastudent Moemen Jlassi, Tunesien.

Elite, die ständig in Europa ist.« Klassengegensätze werden in Tunesien deutlich empfunden. Sie haben auch das Ergebnis der ersten freien Wahlen geprägt. Die Islamisten gewannen im Landesinneren. Die säkularen Parteien konnten nur in den reichen Küstenstädten Sitze holen. Doch Jlassi warnt vor einfachen Schlüssen. »Es sind nicht nur die Armen, die Nahda gewählt haben. Man sieht auch viele Frauen mit Kopftuch in den Villenvierteln. Das haben die früher nicht getragen. Dann gibt es die Traditionellen: Nicht jedes Kopftuch bedeutet, dass die Leute für die Nahda sind. Meine Mutter trägt auch Kopftuch, aber sie ist Sozialistin.« Der Gewerkschaftsfunktionär wartet in einem Restaurant in der Rue Marseille in einem Hinterzimmer auf Jlassi. An der gläsernen Flügeltür hängt ein Rauchverbotsschild. Der Funktionär raucht Kette. Sein struppiges graues Haar quillt unter einem dunkelblauen Chapeau hervor. Im Tempo Pariser Intellektueller sprudelt er von seinen Plänen. Jlassi reicht ein Kärtchen weiter mit dem Konterfei von Che Guevara. Es ist die Ankündigung einer unabhängigen Gewerkschaft. »Es ist eine Chance!«, sagt

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Jlassi. »Die Gewerkschaft überlegt, bei den nächsten Wahlen als Partei anzutreten, um Nahda die Arbeiterstimmen streitig zu machen.« Mehr Sorgen als die Islamisten machen ihm allerdings die Unterstützer des alten Regimes. Es ist eine diffuse Angst. Das weiß er. Die Ben Alisten haben bei den Wahlen kaum fünf Prozent der Stimmen geholt. Doch auch Lina Ben Mhenni hat davon erzählt: Parteigänger Ben Alis würden sich unter die Salafisten mischen, um Unfrieden zu stiften. »Es fällt doch auf, wie viele von denen nur kurze Stoppelbärte tragen!« hatte sie gesagt. »Außerdem kenne ich einige Gesichter.« »Sie hat absolut recht!«, sagt Jlassi. Anders als Ben Mhenni ist er nicht unzufrieden mit dem Stand der Revolution. »Es war eine echte Revolution, auch wenn wir die sozialen Fragen noch klären müssen. In Ägypten ist es jetzt schlimmer als unter Mubarak, weil das Militär zu stark ist.« Das Nachbarland Libyen sieht er kritisch. »War das überhaupt eine Revolution? Mit der Nato? Ich würde sagen, auch ohne Nato war es eher eine separatistische Bewegung.«

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Foto: Hannah Wettig

»Ohne Tunesien hätte es in Libyen keine Revolution gegeben. Gaddafi war wie ein altes Gebäude, das man nicht bewegen kann.«

Ist begeistert. Der Wirtschaftsstudent Miftah Saeid, Libyen.

Miftah Saeid »Ohne Tunesien hätte es in Libyen keine Revolution gegeben.« Da ist sich Miftah Saeid aus Bengasi sicher. »Gaddafi war wie ein altes Gebäude, das man nicht bewegen kann.« Saeid ist Protagonist der Dokumentation »Win or Die« von Nic Nagel. In dem Film erklärt der 26-jährige Student der Wirtschaftswissenschaften die politische Lage Libyens, weil Saeid klar zu sagen weiß, was er für sein Land will: Eine Verfassung, Menschenrechte, ein faires Wahlgesetz, Dezentralisierung der Verwaltung. Während der libyschen Revolution war er mit praktischen Aufgaben betraut. Als Gaddafi das Internet abstellte, baute er eine Satellitenverbindung auf. So konnten während der Belagerung Bengasis Videos hochgeladen werden, ein Rebellenführer gab CNN Interviews über die Verbindung. Später brachte Saeid Waffen nach Misrata. Nun ist er nach Berlin gekommen, um der Regisseurin beim Schnitt zu helfen. Fast zwei Monate weilt er schon in der Stadt, und sie gefällt ihm. Fragt man nach seinen Aktivitäten vor der Revolution, blickt er düster und stochert in seinem Kaffee. Ja, er habe versucht, etwas zu tun. »Ich war beim Roten Halbmond. Ich wollte etwas für Obdachlose und Flüchtlinge tun«, sagt er. »Aber der Halbmond war auch voller Gaddafi-Leute.« Libyen war nicht wie Ägypten oder Tunesien, selbst das unschuldigste Engagement konnte einen ins Gefängnis bringen. »Wenn du die Straße gefegt hast, haben die Gaddafi-Leute gefragt: Glaubst du,

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die Regierung fegt die Straßen nicht ordentlich genug?«, erläutert Saeid. Mit leuchtenden Augen beschreibt er das heutige Libyen. »Wenn ich jetzt in ein Café gehe, dann unterhalten sich die Leute. Früher haben sie einen beobachtet.« Er sagt, eine Umfrage habe ergeben, dass heute 93 Prozent der Libyer glücklicher seien als vor der Revolution. Anders als in Tunesien und Ägypten hätten sie in Libyen ihr Ziel erreicht. »In Ägypten ist das Regime bestehen geblieben. In Tunesien ging es um die Wirtschaft. Die Menschen haben aber nicht das Gefühl, dass es ihnen jetzt besser geht.« Gewiss, in Libyen bleibe viel zu tun. »Wir haben noch keinen Staat. Wir fangen bei Null an.« Er lächelt über die Regisseurin Nic Nagel, die ihn damit aufzieht, dass er schon vor dem Frühstück auf Facebook geht. »Ich muss!«, sagt er. Er versuche gerade ein Aktivisten-Netzwerk aufzubauen. Viele wüssten nicht recht, was sie jetzt anfangen sollten. Bei vielen Helfern der Revolution mache sich Frust breit. »Wir könnten Kultur- und Bildungsveranstaltungen machen, Aktivisten aus den Nachbarländern einladen.« Das sei notwendig, weil der Übergangsrat die Kämpfer nicht integriert habe. »Das können wir besser.«

Mariam Kirollos Am Tahrir-Platz in Kairo steigt Mariam Kirollos entnervt aus dem Taxi. »Ich stand eine Stunde im Stau, weil dieser idiotische Scheich Ismail eine Wahlkampfkundgebung abhalten musste!«, schimpft sie. »Mitten auf der Hauptstraße! Wieso bekommt der dafür überhaupt eine Genehmigung?« Scheich Abu Ismail wollte Präsident Ägyptens werden. Inzwischen hat die Wahlkommission den Salafisten disqualifiziert, weil seine verstorbene Mutter einen amerikanischen Pass hatte. Ob ein Salafist kandidiert oder nicht, interessiert Kirollos weniger. Die 22-jährige Politikstudentin begreift ihren Aktivismus nicht im engeren Sinne als (partei-) politisch. »Was ich mache, ist menschlich. Es ist mir egal, wer der nächste Präsident wird, solange er uns wie Menschen behandelt.« Das ist alles andere als sicher. Als linke Aktivistin, als Christin und als Frau müsste sich Kirollos eigentlich vor einem überwältigenden Wahlerfolg der Islamisten in Ägypten fürchten. Sie ist jedoch zuversichtlich: »Wir haben ein abschreckendes Beispiel: Iran. Das will niemand!«, ist sie sich sicher. Islamisches Recht in der Verfassung, Alkohol- oder Bikiniverbot – das alles

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Die Autorin ist freie Journalistin und berichtet regelmäßig über die arabische Welt. Sie lebt in Berlin.

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Foto: Hannah Wettig

bewirkt bei ihr nur ein unwilliges Kopfschütteln. »Ehrlich gesagt, habe ich keine Lust, über die Scharia nachzudenken. Wir befinden uns noch im Stadium der Revolution«, sagt sie im Café Hurriya in der Nähe des Tahrir-Platzes und nippt an ihrem Bier. Kirollos ist womöglich die hoffnungsvollste Aktivistin, der man dieser Tage in Kairo begegnen kann. »Während der achtzehn Tage Revolution auf dem Tahrir-Platz gab es keine Unterschiede zwischen den Klassen oder zwischen Männern und Frauen. Wir haben eine Utopie gelebt«, schwärmt sie. »Seitdem glaube ich, dass man die Utopie verwirklichen kann. Darum sage ich: Die Revolution geht weiter.« Irgendwann werde die Revolution in den Köpfen ankommen. Davon ist sie überzeugt. »Ich weiß, wir sind eine Minderheit. Aber es waren immer Minderheiten, die die Welt verändert haben. In Ägypten haben wir mit fünf Millionen Bürgern eine Revolution gemacht – von 80 Millionen. Dann haben wir mit tausend Leuten gegen die Militärtribunale protestiert und hatten Erfolg.« Dabei ist Kirollos Anfeindungen von allen Seiten ausgesetzt. Denn ihr Aktivismus ist in dieser Gesellschaft anstößig: Sie haut bei Demonstrationen auf eine Pauke. »Ich habe keine Ahnung, warum eine Frau sich keine Pauke vor den Bauch binden soll«, sagt sie. »Aber die Leute sagen: Sie ist wahrscheinlich eine Ausländerin, eine Zionistin.« Auch pro-westliche Ägypterinnen kritisieren sie. »Sie sagen, es sei nicht elegant, ich sei gegen Schönheit und Feminität«, sagt Kirollos. »Ich nenne diese Frauen Zamalek Madames.« – Zamalek ist eine Insel im Nil, mitten zwischen Kairos Innenstadtbezirken. Dort sind die Mieten am höchsten. Für sie ist das Schlagen der Pauke ein feministisches Statement. »Wie Frauen in diesem Land behandelt werden, ist irrwitzig!«, sagt sie und zählt ein Beispiel nach dem anderen auf. Eine Frau wollte für die Präsidentschaftswahlen kandidieren: »Buthaina Kamel konnte die 30.000 Stimmen für ihre Kandidatur nicht zusammenbekommen. In einem Land von 80 Millionen gibt es nicht einmal 30.000 Menschen, die einer Frau ihre Stimme geben würden!« Ein weiteres Beispiel sind die Fußballfans: In der Revolution gegen Mubarak standen sie an vorderster Front. »Jetzt protestieren sie gegen das Militärregime und stellen irrwitzige Regeln auf. Frauen dürfen auf ihren Sitzstreiks nicht rauchen und werden um Mitternacht nach Hause geschickt!« Aber gerade als Christin will sie sich auch gegen manche Art des Feminismus abgrenzen. »Es gibt Frauen, die haben wirklich Angst, dass die Scharia eingeführt wird und dass sie bald ein Kopftuch tragen müssen. Aber es gibt auch Feminismus, der aus Islamophobie entsteht.« Das Bild im Westen sei falsch. »Es waren Frauen mit Kopftuch, die die Demonstration am internationalen Frauentag angeführt haben. Frauen aus einfachen Verhältnissen haben Gleichheit gefordert und ein Verbot der Genitalverstümmelung.« Kirollos selbst wohnt in einem schicken Villenvorort und besucht die Amerikanische Universität in Kairo. Ihre Eltern wollten nicht, dass sie an den Demonstrationen teilnimmt. »Während des Generalstreiks am 6. April 2008 haben sie mich eingesperrt. Auch als die Revolution ausbrach, haben sie das versucht.« Doch sie schlich sich immer wieder aus dem Haus. »Aber an dem Tag, als Mubarak zurückgetreten ist, hat mich meine Mutter geweckt und gesagt: Komm, wir gehen zusammen zum Tahrir.«

Ist zuversichtlich. Die Politikstudentin Mariam Kirollos, Ägypten.

HALBHERZIGE REFORMEN In Bahrain ist die Menschenrechtslage weiterhin besorgniserregend. Das dokumentiert ein aktueller Bericht von Amnesty International mit dem Titel: »Flawed Reforms: Bahrain fails to achieve justice for protesters.« Die Verantwortlichen für die brutale Niederschlagung der Proteste im Februar und März 2011 wurden bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. Der Bericht kritisiert zudem die halbherzige Durchsetzung von demokratischen Reformen, die nach wie vor existierende Einschränkung der Meinungsund Versammlungsfreiheit sowie die Diskriminierung der schiitischen Bevölkerungsmehrheit. Bei den Protesten im vergangenen Jahr kamen mindestens 60 Menschen ums Leben. Mindestens fünf Personen starben in Gewahrsam an den Folgen von Folter und Misshandlung. 14 gewaltlose politische Gefangene sitzen weiterhin in Haft. Einer von ihnen, Abdulhadi Al-Khawaja, befindet sich seit mehreren Wochen im Hungerstreik. Eine vom bahrainischen König Hamad bin ’Issa Al-Khalifa eingesetzte unabhängige Untersuchungskommission bestätigte die massiven Menschenrechtsverletzungen während der Proteste. Dennoch warten die Opfer staatlicher Übergriffe bis heute darauf, dass die Regierung Verantwortung dafür übernimmt.

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Keine Angst! Die Machthaber in der Ukraine engen den Raum bürgerlicher Freiheiten Schritt für Schritt ein. Darunter haben gerade auch Schriftsteller zu leiden. Doch sie können etwas dagegen tun. Ein Essay von Juri Andruchowytsch

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it den Gerichtsurteilen vom 11. Oktober 2011 gegen die ehemalige Premierministerin Julia Timoschenko und vom 27. Februar 2012 gegen den ehemaligen Innenminister Juri Lutschenko wurde die rote Linie überschritten. Jetzt kann man endgültig von der Existenz politischer Gefangener in der Ukraine sprechen. Das Schlimmste an dieser Situation ist wohl, dass man uns, der ukrainischen Gesellschaft, damit vor Augen führt: Wir haben nicht innegehalten, sogar die haben wir fertiggemacht. Und das Motiv dafür ist nicht nur persönliche Rache, sondern auch die Einschüchterung der Gesellschaft. Die erwähnten Personen, die sogenannten VIP-Häftlinge, sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Tatsächlich kann man von Dutzenden, wenn nicht Hunderten der Welt und der ukrainischen Öffentlichkeit unbekannten Menschen sprechen, die heute de facto aus politischen Gründen in ukrainischen Gefängnissen sitzen. So schwer es auch fällt, das zu glauben – es stimmt. Lange haben wir versucht, uns etwas vorzumachen, haben alle möglichen mildernden Umstände erfunden. »Sie« (die Machthaber) würden sich nur ein bisschen austoben, ein bisschen die Zähne blecken – und dann aufhören. Denn »sie« (die Regierung, die Opposition und überhaupt alle unsere Politiker) sind doch eigentlich alle gleich und eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Wir glaubten nicht, dass man Timoschenko und Lutschenko verhaften würde – aber sie wurden verhaftet. Wir glaubten nicht, dass sie vor Gericht gestellt würden – aber die Prozesse fanden statt. Wir glaubten nicht, dass sie zu Haftstrafen verurteilt werden würden – aber sie wurden verurteilt. Was sollen wir jetzt noch nicht glauben? Die Machthaber in der Ukraine engen den Raum der bürgerlichen Freiheiten Schritt für Schritt ein. Und wenn das Parlament jetzt das neue Gesetz über öffentliche Massenversammlungen annimmt, dann bleibt den Bürgern keine Möglichkeit mehr, legal Protest zu üben. Denn die schon jetzt außer Rand und Band geratenen Rechtsschutz- (tatsächlich: Straf-)organe werden dann gesetzlich verpflichtet sein, gewaltsam gegen für die Machthaber inakzeptable Demonstranten vorzugehen.

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Eine andere Erscheinungsform dieser Realität sind die ersten politischen Flüchtlinge aus der Ukraine in EU-Ländern (Tschechien, Österreich, Litauen). Das ist besonders deswegen ein Schlag ins Gesicht, weil man schon seit vielen Jahren nicht mehr vor uns, sondern zu uns geflohen ist, aus Belarus, dem russischen Kaukasus und aus Russland selbst. Diese beiden konkreten Anzeichen, mit konkretem menschlichem Antlitz, erlauben es, vom endgültigen Austritt der Ukraine aus dem Kreis der freien oder auch nur »teilweise freien« Länder zu sprechen. Das Land, das Ende 2004 so einen blitzartigen Durchbruch zur europäischen Hoffnung erfuhr, erlebt nun sieben Jahre später einen schlimmen Anfall totalitärer Restauration – und das könnte sich als tödlich erweisen. Was wir derzeit erleben, stellt eine ganz neue Erfahrung dar – und ein Schriftsteller sollte dies nutzen. Die Rolle des Schriftstellers innerhalb der Gesellschaft gewinnt erneut an Bedeutung. Nicht mehr nur seine traditionellen Leser, der relativ kleine Kreis sogenannter Literaturliebhaber, sondern viel breitere Schichten von Mitbürgern hören ihm zu. Und selbst wenn diese nie einen seiner Romane in Händen hielten, so verfolgen sie doch aufmerksam seine politischen Äußerungen. Unglücklicherweise haben dies auch die Machthaber bemerkt, die bei uns heute überhaupt alles kontrollieren wollen, unter anderem den »intellektuellen Markt«. Früher einmal, Mitte der neunziger Jahre, hat mein etwas älterer Kollege Mykola Rjabtschuk auf die Frage eines polnischen Journalisten, was denn der ukrainische Staat für die Entwicklung der ukrainischen Literatur tue, geantwortet, der Staat tue so einiges: Er interessiere sich überhaupt nicht für die Literatur, vor allem erschieße er, im Gegensatz zu seinem sowjetischen Vorgänger, keine ukrainischen Schriftsteller und bringe sie auch nicht hinter Gitter. Heute scheint es, als seien diese von Rjabtschuk nicht ohne Ironie gepriesenen Zeiten vorüber. Obwohl sich der heutige ukrainische Staat, wie damals, nicht sehr für Literatur interessiert, so versucht er doch, sie zu kontrollieren. Wie funktioniert das staatliche System gegen den Schriftsteller? Und was kann es anrichten? Hier einige typische Methoden, wie sie in der heutigen Ukraine aktiv angewendet werden. Erstens: Das Trollen, das vor allem im Internet stattfindet. Was dahinter steckt, erläutert Wikipedia: Der Begriff Troll bezeichnet im Netzjargon eine Person, die Kommunikation im Internet fortgesetzt und auf destruktive Weise dadurch behindert, dass sie Beiträge postet, die sich a) auf die Provokation anderer Gesprächsteilnehmer beschränken und b) keinen sachbezogenen und konstruktiven Beitrag zur Diskussion darstellen. Die zugehörige Tätigkeit wird to troll (»trollen«) genannt. Im ukrainischen Internet arbeiten ganze Troll-Gruppen, im Slang

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Foto: Susanne Schleyer / Suhrkamp Verlag

Schriftsteller. Juri Andruchowytsch.

»Brigaden« genannt; ihre Beiträge bestehen aus abwertendniederträchtigen Aussagen über einen oder mehrere Schriftsteller (»Das sind überhaupt keine Schriftsteller, keiner liest oder kennt sie auch nur«) oder über die ganze ukrainische Literatur (»Wer braucht dieses Geschreibsel in Schweinesprache?!«). Ich habe im vorletzten Satz ganz bewusst das Wort »arbeiten« verwendet. Tatsächlich ist in der Ukraine das Trollen zu einem Beruf geworden, und zwar zu einem, der von den Strukturen der Macht nicht schlecht bezahlt wird. Zusammen produzieren die Brigaden ein Internet-Geräusch, eine Art vox populi, mit dem sie jegliche Erfolge ukrainischer Schriftsteller verneinen und verhöhnen, ihnen »Pornographie« und »Zerstörung der gesellschaftlichen Moral« vorwerfen, fordern, »unsere Kinder vor ihrem zersetzenden Einfluss zu schützen« und auf diese Weise mögliche Repressalien vorbereiten. Die nächsthöhere, zweite Stufe besteht nicht im anonymen Trollen, sondern in der offenen Anprangerung und Diskreditierung von Schriftstellern in Medienbeiträgen, die von Vertretern der Staatsmacht unterzeichnet sind. So findet man im ausufernden Artikel irgendeines Bildungsministers oder im »subjektiven« Blog irgendeines Gouverneurs plötzlich den eigenen Namen in einer beiläufig-abfälligen Liste derjenigen, denen auch das geringste literarische Talent fehlt, »sogenannte Schriftsteller, diese ganzen Zhadans, Vynnytschuks, Andruchowytschs«. Solche Publikationen signalisieren, von der Drohung zum Angriff überzugehen.

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Dann gibt es plötzlich Beschwerden von »gesellschaftlich und politisch relevanten Persönlichkeiten« bei den Rechtsschutzorganen, die ihrer Meinung nach verbrecherische Textstellen in diesem oder jenem veröffentlichten literarischen Werk betreffen. Die Schriftstellerin Maria Matios wurde mehrere Wochen lang von der Staatsanwaltschaft und der Miliz verfolgt, weil sie das entsetzliche Kiewer Denkmal für den »Großen Sieg« in ihrem Roman als Phallus bezeichnet. Der Schriftsteller Juri Vynnytschuk wurde verfolgt, weil er im vergangenen Herbst auf einer Lesung sein parodistisches Gedicht »Tod dem Wichser« vortrug. Aus der Überschrift hatten die emsigen »gesellschaftlich bedeutenden Persönlichkeiten« eine unzweideutige Anspielung auf den gegenwärtigen Präsidenten des Landes herausgelesen. Als Reaktion darauf führen, viertens, Miliz und Staatanwaltschaft bei den Schriftstellern und ihren Familien sogenannte »Überprüfungen« durch. Zum Beispiel stattete die Miliz im Falle von Maria Matios ihren alten Eltern regelmäßig Besuche ab, bei denen sie sie auf alle erdenkliche Weise einschüchterte. Unnötig zu sagen, dass es sich dabei um Terror handelt – bewusst, systematisch und sadistisch. Aber es gibt auch noch ein fünftens. Nämlich die unerwartete Hilfe von einflussreicher Seite als Element der moralischen Bestechung. Im Falle des Dichters und Verlegers Iwan Malkowytsch sah das so aus, dass eines Tages unbekannte Schläger in sein Büro eindrangen, verkündeten, dass die Räumlichkeiten ihnen gehörten und begannen, alles kurz und klein zu schlagen unter dem Vorwand von »Renovierungsarbeiten«. Die Beraterin des Präsidenten in humanitären Fragen »stoppte die Willkür und rettete« den entsetzten Dichter mit nur einem Telefonat. Wir werden sehen, wie er jetzt der Staatsmacht zu danken hat. Das ist für den Moment alles. Mit Stand vom April 2012 sitzt keiner der ukrainischen Schriftsteller im Gefängnis oder ist verschollen. Unsere »Regierung der Reformatoren« steht erst am Anfang ihres langen ruhmreichen Weges. Nun möchte ich aber kurz die Angelegenheit von der anderen Seite beleuchten: Was kann in dieser Situation der Schriftsteller gegen die Machthaber ausrichten? Er kann gar nicht so wenig. Erstens: seine Autonomie und persönliche Unabhängigkeit bewahren und deutlich seine Ablehnung des Regimes demonstrieren, d.h. ganz konsequent scharfe Kritik daran äußern. Zweitens: überall dort, wo es noch möglich ist, publizieren. Drittens: mit der freien Menschheit nicht nur in Form von ausländischen Kollegen und Politikern kommunizieren, sondern – über die Medien – mit der gesamten Zivilgesellschaft und dabei immer wieder auf die Situation der Ukraine verweisen. Viertens: einen neuen »ukrainischen Frühling« vorbereiten, indem er neue positive Gründe für den Widerstand formuliert, die die Mitbürger zu neuen Massenprotesten vereinen können. Und fünftens: keine Angst haben. Zusätzlich wäre es auch nicht schlecht, noch ein, zwei geniale Romane oder wenigstens ein paar bahnbrechende Gedichte zu verfassen. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr Der Autor ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Ukraine. Für seinen Roman »Zwölf Ringe« wurde er 2006 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Völkerverständigung ausgezeichnet. Andruchowytsch lebt in Iwano-Frankiwsk.

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Metall im Blut Ägypten hat eine ausgesprochen vielseitige Heavy Metal-Szene, die bislang im Untergrund spielen musste. Nach dem Sturz des ehemaligen Präsidenten Hosni Mubarak hoffen Musiker und Fans auf ein Ende der Repression. Von André Epp

Harter Auftritt. Die ägyptische Heavy Metal-Band »Your Prince Harming« bei einem Gig.

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ls sich die Bevölkerung Ägyptens Ende Januar vergangenen Jahres zu Tausenden gegen den Diktator Hosni Mubarak auflehnte, wurde der zentral gelegene TahrirPlatz zu einem Ort verschiedenster musikalischer Geschmäcker. Unter den Demonstranten, die ihre Grundrechte einforderten, waren viele Künstler. Ägyptens ehemalige Machthaber kontrollierten das Kulturschaffen in Ägypten seit Jahrzehnten und zensierten Musik, Filme oder Literatur, die nicht systemkonform waren. Bei den Protesten auf dem Tahrir-Platz wurden vom Folk-Rock der Gruppe »Black Theama«, über HipHop bis hin zu traditionellen Stücken des verstorbenen Urvaters des ägyptischen Protestliedes, Sayyed Darwish, zahlreiche Musikrichtungen dargeboten – außer Heavy Metal.

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Dabei hat sich in den vergangenen Jahrzehnten im Nahen Osten und in Nordafrika eine lebendige und vielseitige Heavy Metal-Szene mit diversen Bands und einer Vielzahl von Fans etabliert. Hilfestellung bot dabei vor allem die Verbreitung des Internets in den Städten seit dem Jahr 2000. Dadurch konnte die Szene sich nach außen darstellen, aber auch die interne Kommunikation und Vernetzung ausbauen. In den meisten Ländern der Region haben die Heavy Metal-Anhänger, je nach politischem System, mit unterschiedlichen Formen von Repression und Zensur ihrer Musik zu kämpfen. Diese reichen von einfachen Auftrittsverboten bis hin zu Gefängnisstrafen und Folter. In Ägypten hat sich der 22. Januar 1997 in das Gedächtnis der Metal-Szene eingebrannt. Damals wurden nach einem Konzert

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»Die Behörden wissen genau, dass Metal Widerstand gegen jede Form von Korruption bedeutet. Aus diesem Grund wollen sie die Metal-Kultur verbieten.«

Foto: radioscreamer.com

in Kairo über hundert Metal-Fans festgenommen und ohne Anklage zum Teil wochenlang festgehalten. Die Sicherheitspolizei drang nachts in die Wohnungen von Musikern und Jugendlichen ein, die vorwiegend mit der oppositionellen intellektuellen Elite in Verbindung gebracht wurden. Auslöser des Konflikts war das Foto eines Metal-Konzerts in der Boulevardpresse, auf dem ein umgedrehtes Kreuz zu sehen war. Die ägyptischen Medien verbreiteten daraufhin weitere Bilder und streuten Gerüchte: MetalFans wurden als tätowierte Satansanbeter dargestellt, die angeblich Orgien abhielten, Katzen und Ratten häuteten und zu guter Letzt deren Blut tränken. Islamische sowie christliche Gruppen waren entsetzt. Geistliche beider Glaubensrichtungen forderten für die Metal-Anhänger sogar die Todesstrafe. Aus Angst vor weiteren Razzien und harten Strafen, zerstörte die Mehrheit der Musiker ihre Instrumente und schnitt sich die langen Haare ab. Obwohl es nie eine weitere vergleichbare Razzia gegeben hat, lebten die Anhänger der ägyptischen Heavy Metal-Szene fortan mit der Drohung, jederzeit verhaftet und eingesperrt werden zu können. Bekannte ägyptische Metal-Bands wie »Worm«, »Your Prince Harming«, »Scarab« oder die Frauenband »Massive Scar Era« äußern sich daher selten direkt politisch, sondern verbergen und verschlüsseln ihre Aussagen hinter Anspielungen und Metaphern. In vertraulichen Interviews bekräftigen einige Protagonisten ihre kritischen Aussagen und legen offen, dass sie die herrschenden Regime hinterfragen. »Wenn wir über Widerstand reden, kannst du dir sicher sein, dass es gegen die Regierung und ihr System ist«, sagt ein Bandmitglied, das anonym bleiben möchte. »Ich bin mir sicher, dass sie [die ägyptischen Behörden, Red.] genau wissen, dass wir keine Satanisten sind, denn sie wissen genau, dass Metal Widerstand gegen jede Form von Korruption bedeutet. Aus diesem Grund wollen sie die Metal-Kultur verbieten und unterdrücken.« Nur ein kleiner Teil der Szene äußert sich derart

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konkret. Die meisten Protagonisten möchten nicht über ihre Texte oder die politische Situation im Allgemeinen sprechen – aus Angst vor möglicher Verfolgung und Repression. Zu Beginn des neuen Jahrtausends lockerten die ägyptischen Behörden die Auflagen für fremde Kulturprodukte und genehmigten die Öffnung verschiedener Kultur- und Konzerthäuser. Metal-Anhänger hatten von Seiten der Autoritäten jedoch weiterhin Repressionen zu befürchten. Tatsächlich blieben sie aufgrund ihrer langen Haare, den zum Teil kritischen Texten gegenüber dem herrschenden System und ihrem Outfit weiterhin Ziel von Belästigung und Schikane seitens der Polizei. Unter Mubarak kam es auch nach dieser kulturellen »Öffnung« weiterhin vor, dass Metal-Anhängern die Haare unter Gewalt abgeschnitten und sogar ihre Familien bedroht wurden, wenn die Musiker ihr Erscheinungsbild nicht änderten. Der Protagonist einer ägyptischen Band, der ebenfalls nicht genannt werden möchte, berichtete, dass er und seine Freunde lediglich aufgrund von »Headbanging«, einer Tanzform des Heavy Metals, verhaftet wurden: »Ich und drei weitere Freunde wurden eingesperrt, weil wir schwarze T-Shirts trugen und zu einem Song der Band ›System of a Down‹ headbangten. Du siehst, wie kriminell und gefährlich wir sind.« Wie sich die kulturellen Bedingungen nach dem Ende des Mubarak-Regimes entwickeln werden und ob die Protagonisten immer noch Repression, Zensur und Einschränkungen zu befürchten haben, bleibt abzuwarten. Im Moment ist es zumindest einfacher, Heavy Metal-Konzerte zu veranstalten und in der Öffentlichkeit zu bewerben. So wurde kurz nach dem Fall des Despoten das Heavy Metal-Festival »Metalblast« in Kairo organisiert, bei dem ägyptische Metal-Bands diverser Subgenres vertreten waren. Seit dem Sturz Mubaraks finden alle zwei Monate Heavy Metal-Konzerte und kleinere Festivals statt. Im Mai 2011 ist die Dokumentation »Egyptian Metalhead Diary« über die ägyptische Metal-Szene erschienen. Im Augenblick habe die Revolution durchaus einen Effekt auf die Szene, sagt ein Bandmitglied: »Sie hat vor allem das Organisieren und Veranstalten von Metal-Konzerten vereinfacht, so dass die Metal-Kultur verbreitet werden kann. Das Bewerben der Konzerte ist nun neben dem Internet auch in der Öffentlichkeit möglich.« Gerade arbeitet der Musiker an einer Dokumentation über die Heavy Metal-Geschichte im Nahen Osten und in Ägypten. An solche Werke war vor der Revolution gar nicht zu denken. Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Hildesheim. Er hat mehrere wissenschaftliche Artikel zur Heavy Metal-Szene im Nahen Osten und Nordafrika veröffentlicht.

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine digitale Kopie an AMNESTY INTERNATIONAL.

AMNESTY INTERNATIONAL Postfach, 53108 Bonn Tel.: 0228 - 98 37 30, Fax: 0228 - 63 00 36 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank Köln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50

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Foto: privat

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

GUATEMALA CLAUDINA VELÁSQUEZ 2005 wurde die 19-jährige Studentin Claudina Velásquez erschossen. Claudinas Vater, Jorge Velásquez, kämpft schon seit Jahren dafür, dass der Mord an seiner Tochter gründlich untersucht wird, da es offenbar erhebliche Mängel bei den Ermittlungen gab. Im Dezember 2010 nahm sich auf eine Eingabe des Vaters hin die Interamerikanische Menschenrechtskommission der Prüfung des Falles mit der Begründung an, die guatemaltekischen Behörden ließen keine Anstrengungen erkennen, den Fall zu untersuchen. Die Hauptverdächtigen der Tat wurden damals nicht auf Schmauchspuren untersucht, um festzustellen, ob sie eine Schusswaffe abgefeuert hatten. Wahrscheinlich sind dadurch entscheidende Beweise verloren gegangen. Auch mögliche Zeugen wurden bislang nicht befragt. Eine Vielzahl ähnlicher Fälle ist in Guatemala aufgrund oberflächlicher Ermittlungen zu den Akten gelegt worden. Familien der Opfer werden von den Behörden oftmals mit Gleichgültigkeit und Diskriminierung behandelt. Jorge Velásquez bedankte sich 2009 bei den Mitgliedern von Amnesty International für ihre Unterstützung: »Danke, vielen Dank für Ihre Großherzigkeit … und für Ihre anhaltende und uneingeschränkte Unterstützung unserer Forderung nach Gerechtigkeit für Claudina, für uns und für Guatemala.« Und fügte damals hinzu: »Bitte lassen Sie nicht nach und vergessen Sie uns nicht. Behalten Sie uns immer in Ihren Herzen, Köpfen und Stiften, denn ohne Sie, ohne Ihre Hilfe, könnten wir den endlos scheinenden Kampf nicht führen.« Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von Guatemala, in denen Sie ihn bitten, Ihnen die bisherigen Ergebnisse der Morduntersuchung im Fall Claudina Velásquez mitzuteilen und darauf dringen, dass er die zuständigen Behörden auffordert, die Verantwortlichen ohne weitere Verzögerungen zu ermitteln. Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Otto Fernández Pérez Molina Presidente de la República de Guatemala Casa Presidencial, 6a. Avenida, 4–41 Zona 1. Ciudad de Guatemala, GUATEMALA (korrekte Anrede: Estimado Sr. Presidente / Dear President / Sehr geehrter Herr Präsident) Fax: 005 02-222-144 23 E-Mail: über Kontaktformular www.guatemala.gob.gt/index.php/contacto (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Guatemala S.E. Herrn Carlos Jiménez Licona Aguilera Peralta Joachim-Karnatz-Allee 45–47, 2. OG. 10557 Berlin Fax: 030 - 20 64 36 59 E-Mail: embaguate.alemania@t-online.de

AMNESTY JOURNAL | 06-07/2012


Thao Moua und Pa Fue Khang, die der ethnischen Minderheit der Hmong in Laos angehören, verbüßen eine Haftstrafe von zwölf beziehungsweise 15 Jahren, weil sie zwei europäische Journalisten und deren Dolmetscher unterstützt hatten. Thao Moua, Pa Fue Khang und ein dritter Mann namens Char Yang arbeiteten als Dschungelführer für die Journalisten, die über die Situation der Hmong berichten wollten. Alle wurden am 4. Juni 2003 festgenommen. Thao Moua und Pa Fue Khang sind bis heute inhaftiert. Die Regierung von Laos, die im April 2011 neu gewählt wurde, hat immer noch keine Anstrengungen unternommen, um ihnen ein faires Gerichtsverfahren zu gewähren. Nach der Festnahme wurden Thao Moua und Pa Fue Khang gemeinsam mit den beiden Journalisten und deren Dolmetscher am 30. Juni 2003 in der Provinz Xieng Khouang vor Gericht gestellt. Char Yang konnte aus der Haft entkommen und wurde in Abwesenheit verurteilt. Das Gerichtsverfahren für die restlichen Inhaftierten dauerte weniger als drei Stunden. Thao Moua und Pa Fue Khang hatten keinen Rechtsbeistand. Die Journalisten und ihr Dolmetscher kamen später frei und wurden am 9. Juli 2003 aus Laos ausgewiesen. Thao Moua und Pa Fue Khang hingegen wurden in das Samkhe-Gefängnis von Vientiane verlegt. Die Behörden haben seitdem nichts über ihren Verbleib bekannt gegeben. Nach Einschätzung von Amnesty International war das unfaire Gerichtsverfahren politisch motiviert. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Ministerpräsidenten von Laos und fordern Sie ihn auf, Thao Moua und Pa Fue Khang freizulassen und alle Anklagen gegen sie fallenzulassen, sofern sie keiner erkennbar strafbaren Handlung angeklagt werden und man ihnen keinen Prozess gemäß internationalen Standards für ein faires Gerichtsverfahren gewährt. Fordern Sie außerdem, dass die Behörden Informationen über den Verbleib und Gesundheitszustand von Thao Moua und Pa Fue Khang bekannt geben. Schreiben Sie in gutem Laotisch, Französisch, Englisch oder auf Deutsch an: Thongsing Thammavong Prime Minister Prime Minister‘s Office Lane Xang Avenue Vientiane, LAOS Fax: 008 56 - 21 21 35 60 (korrekte Anrede: Dear Prime Minister / Sehr geehrter Herr Ministerpräsident) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Demokratischen Volksrepublik Laos S.E. Herrn Khamvone Phanouvong Bismarckallee 2a 14193 Berlin Fax: 030 - 89 06 06 48 E-Mail: hong@laos-botschaft.de

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

Foto: Amnesty

Fotos: privat

LAOS THAO MOUA UND PA FUE KHANG

UKRAINE ALEKSANDR RAFALSKY Aleksandr Rafalsky wurde 2001 in Kiew verhaftet, da man ihn verdächtigte, an der Tötung von vier Menschen beteiligt gewesen zu sein. Nach einem fehlerhaften Verfahren wurde er 2004 zu lebenslanger Haft verurteilt. Bis heute befindet er sich in der ukrainischen Stadt Winnyzja im Gefängnis. Nach eigenen Angaben wurde Rafalsky in der Haft gefoltert. Am 24. Oktober 2011 hat die Staatsanwaltschaft in Kiew angekündigt, die Foltervorwürfe untersuchen zu wollen. Anfang Mai 2012 berichtete die Mutter von Aleksandr Rafalsky, Tamara Rafalskaya, dass trotz der Ankündigung der Staatsanwaltschaft bis heute keine Untersuchung stattgefunden habe. Aleksandr Rafalsky gab an, er sei zwischen der Festnahme am 13. Juni 2001 und der Anklageerhebung am 26. Juni 2001 wiederholt Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt gewesen – unter anderem einer Scheinhinrichtung. Das »Geständnis« sei erzwungen worden. Er beteuert bis heute seine Unschuld. Amnesty International beobachtet mit Besorgnis, dass in der Ukraine Folter und andere Misshandlungen in Hafteinrichtungen der Polizei weit verbreitet sind. Die ukrainische Öffentlichkeit wurde durch das Engagement von Tamara Rafalskaya sowie durch den Einsatz der Mütter anderer Gefangener und verschiedener Menschenrechtsorganisationen auf Folterungen in Polizeigewahrsam aufmerksam. Amnesty International geht davon aus, dass die strafrechtliche Untersuchung der Foltervorwürfe von großer Bedeutung ist und dazu beitragen würde, der Straffreiheit bei Folter und anderen Misshandlungen in der Ukraine ein Ende zu setzen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den ukrainischen Generalstaatsanwalt, in denen Sie eine unparteiische Untersuchung der von Aleksandr Rafalsky erhobenen Folterund Misshandlungsvorwürfe fordern. Dringen Sie auf eine Wiederaufnahme seines Verfahrens, da dies offenbar nicht geltenden Standards für ein faires Gerichtsverfahren entsprach. Schreiben Sie in gutem Ukrainisch, Englisch oder auf Deutsch an: Viktor Pavlovich Pshonka General Prosecutor of Ukraine Riznitska Str. 13/15 01601 Kyiv, UKRAINE (korrekte Anrede: Dear General Prosecutor / Sehr geehrter Herr Generalstaatsanwalt) Fax: 003 80 - 442 80 26 03 (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Ukraine Herr Khymynets Vasyl, Geschäftsträger a.i., Gesandter-Botschaftsrat Albrechtstraße 26, 10117 Berlin Fax: 030 - 28 88 71 63 E-Mail: ukremb@t-online.de

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Foto: Ralf Rebmann / Amnesty

AKTIV FÜR AMNESTY

»Für Menschenrechte im Niger-Delta.« Shell-Tankstelle in Berlin-Kreuzberg, 28. April 2012.

»SHELL, MACHT EUREN DRECK WEG!« Doch Shell kann etwas tun. Die Umweltkatastrophe im Niger-Delta existiert schon seit Jahren. Nur eine Minderheit hat von der jahrzehntelangen Ölförderung profitiert. Viele Pipelines wurden nicht ordnungsgemäß gewartet, wodurch unzählige Lecks entstanden sind, aus denen Öl austrat. 2008 strömten Zehntausende Tonnen Öl aus einer maroden Pipeline in das Niger-Delta. Eine neue Studie bestätigt, dass Shell das tatsächliche Ausmaß dieser Ölkatastrophe massiv unterschätzt hat. Die Lebensgrundlage vieler Menschen im Delta ist mittlerweile zerstört. Viele mussten ihre Dörfer verlassen, weil das Trinkwasser verseucht und der Boden vergiftet ist. Die gesellschaftlichen und gesundheitlichen Folgen sind unabsehbar. Amnesty fordert deshalb von Shell, die Lecks zu schließen und das ausgelaufene Öl und die dadurch entstandenen Verunreinigungen zu beseitigen. Text: Ulrike Rauthenstrauch, Amnesty-Mitglied

Foto: Vojta Gabriel, Amnesty, Djagbassou Beker

Mit Besen, Mop und Staubwedel gegen Shell: Am 28. April rückten Aktivisten von Amnesty International vor zwei Berliner Shell-Tankstellen an, um das Ölunternehmen an seine Verantwortung im Niger-Delta zu erinnern: Bis heute hat Shell keine effektiven Maßnahmen ergriffen, um die Verschmutzung des Gebiets zu beheben und den Menschen ihre Lebensgrundlage zurückzugeben. Die Putzaktion in Berlin fand im Rahmen einer globalen Aktionswoche zu diesem Thema statt. Die »Reinigungsmannschaft« aus dem Bezirk Berlin-Brandenburg war mit Vlies-Overalls, Masken und Gummihandschuhen ausgerüstet. Leuchtend gelbe Banner, auf denen »Shell-Öl vergiftet das Niger-Delta« und »Shell, macht euren Dreck weg« zu lesen war, machten auf die Aktion aufmerksam. Von Fußgängern und Shell-Kunden an den Zapfsäulen kamen interessierte Fragen wie: »Was hat Amnesty denn mit Öl zu tun?« und »Ist Amnesty grün geworden?«. Ein Passant bemerkte, dass in Nigeria alles kompliziert sei und Shell sowieso nichts tun könne.

Aktiv gegen Shell. Weltweite Amnesty-Aktionen in Prag, Reykjavík und Lomé.

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AMNESTY JOURNAL | 06-07/2012


Anlässlich des diesjährigen Eurovision Song Contest in Aserbaidschan und des 50. Geburtstags von Amnesty International hat die Organisation in Kooperation mit vielen internationalen Künstlern den Song »Toast to Freedom« veröffentlicht. Die Regierung in Aserbaidschan soll damit aufgefordert werden, die Menschenrechte der eigenen Bürger zu respektieren. Vor einem Jahr nahm die Polizei in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku Dutzende friedliche Demonstranten fest, die sich über Facebook zu Protesten verabredet hatten. Geschrieben wurde »Toast to Freedom« von dem Gitarristen und Produzenten Carl Carlton und dem amerikanischen Musiker Larry Campbell. Mitwirkende sind unter anderem Jane Birkin, Ewan McGregor, Marianne Faithfull, Kris Kristofferson, Levon Helm und Eric Burdon. Aus Deutschland nahmen Gentlemen und Max Buskohl teil. Der Erlös aus dem Verkauf des Songs geht an Amnesty International. Weitere Informationen: www.amnesty.de/toasttofreedom

AKTIV FÜR AMNESTY

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf www.amnesty.de/aktiv-vor-ort und www.amnesty.de/kalender

IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn, Tel.: 0228 - 98 37 30, E-Mail: Info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Larissa Probst, Ralf Rebmann Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Juri Andruchowytsch, Daniel Bax, Christoph Behrends, Zonya Dengi, André Epp, Wolfgang Grenz, Ruth Jüttner, Jürgen Kiontke, Sabine Küper-Büsch, Barbara Oertel, Ulrike Rauthenstrauch, Wera Reusch, Uta von Schrenk, Maik Söhler, Sabine Stöhr, Carsten Stormer, Hannah Wettig, Sarah Wildeisen, Stefan Wirner, Kathrin Zeiske Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: Hofmann Druck, Nürnberg Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln, BLZ 370 205 00 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 1433-4356

AKTIV FÜR AMNESTY

WOLFGANG GRENZ ÜBER

GROSSVERANSTALTUNGEN

Zeichnung: Oliver Grajewski

EINE HYMNE AN DIE FREIHEIT

»Diese Menschenrechtler gibt es überall auf der Welt. Die werden bezahlt, das sind doch auch Geschäftsunternehmen«, knurrte Bernie Ecclestone, der Chef der Formel 1, als er kurz vor dem Rennen in Bahrain auf die Kritik von Amnesty International zur Menschenrechtslage im Land angesprochen wurde. Dass in Bahrain im vergangenen Jahr mindestens 47 Menschen getötet wurden, die Polizei mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen friedliche Demonstranten vorging, dass Menschen in Haft gefoltert werden, all das ließ Bernie Ecclestone unerwähnt. Auch die Proteste der Bevölkerung rund um das Rennen interessierten ihn nicht. Ein schlechtes Vorbild, das der Formel 1-Chef da abgeliefert hat. Amnesty International fordert generell nicht zum Boykott sportlicher Großveranstaltungen in Ländern mit übler Menschenrechtsbilanz auf – aber wir sagen: Sportler sollten die Gelegenheit nutzen, um auf die Situation der Menschen im Land aufmerksam zu machen. Das Gleiche gilt für die Teilnehmer und Besucher des Eurovision Song Contest Ende Mai in Aserbaidschan. Hinfahren ja, aber mit einer Botschaft im Gepäck: Jeder sollte singen dürfen, was er will – auch die Menschen in Aserbaidschan. Und die Fußballspieler, die Fans, die Politiker, die zur EM in die Ukraine reisen? Auch für sie gilt: Auf Fairness achten – nicht nur auf dem Platz, sondern auch am Spielfeldrand, denn die Ukraine foult kräftig in Sachen Menschenrechte. Festgenommene werden regelmäßig von der Polizei geschlagen, es gibt Berichte über Folter zur Erpressung von Geständnissen. All das sollten Politiker und Sportfunktionäre klar und deutlich ansprechen. Populistische Boykottaufrufe kurz vor einem Großereignis bringen da wenig. Und auch die Fokussierung auf den prominenten Fall Julia Timoschenko wird der Situation im Land nicht gerecht. Europa schaut auf die Ukraine – eine gute Gelegenheit, mit wenig Aufwand Druck zu machen auf die Verantwortlichen im Land. Wichtig dabei ist: Dieser Druck muss auch bestehen bleiben, wenn die EM vorüber ist. Nur dann besteht die Hoffnung, dass sich in der Ukraine die Menschenrechtslage grundlegend und dauerhaft verbessert. Wolfgang Grenz ist amtierender Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

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WER DIE WELT VERÄNDERN WILL, MUSS SIE KENNEN AMNESTY INTERNATIONAL REPORT 2012 ZUR WELTWEITEN LAGE DER MENSCHENRECHTE Am 24. Mai 2012 erscheint der Amnesty Report 2012. Er enthält Berichte über die aktuelle Menschenrechtssituation in 155 Ländern. Außerdem ein Vorwort, das sich in diesem Jahr mit Protest und Repression beschäftigt. Im Mittelpunkt stehen dabei die Meinungsfreiheit, die Kontrolle des internationalen Waffenhandels und die Notwendigkeit, staatliche Unterdrückungsmaßnahmen zu beenden. Broschur mit Länderkarten, ca. 560 Seiten. S. Fischer Verlag und Amnesty International Deutschland, ISBN-Nr.: 978-3-10-000836-7, Art.-Nr. 03012, Preis: 14,99 Euro

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