Amnesty Journal Dezember / Januar 2012

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AMNESTY JOURNAL

DIE POLITIK DES HUNGERS ÜBER DIE HUMANITÄRE KATASTROPHE AM HORN VON AFRIKA

BRIEFMARATHON Weltweite Aktion für die Menschenrechte

UGANDA Hetze gegen Homosexuelle

TÜRKEI Verhaftungswelle gegen Schriftsteller und Journalisten

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2012 DEZEMBER/ JANUAR


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EDITORIAL

Foto: Amnesty

Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals

MANCHMAL MACHEN MENSCHEN SELTSAME DINGE, wie eine Schülerin aus Warschau. Sie schreibt einen Brief an den Präsidenten eines fernen Landes, in dem sie die Freilassung eines politischen Gefangenen fordert. Ein aussichtsloses Unterfangen, könnte man denken. Warum sollte eine banale Postkarte ein Schicksal verändern können? Weil auch in Stockholm und in São Paulo, in Berlin und Tokio zeitgleich Tausende Menschen eine Karte verschicken. Darin besteht die einfache, aber wirksame Idee des Briefmarathons, der wieder rund um den Tag der Menschenrechte am 10. Dezember stattfindet. Eine genaue Beschreibung der Fälle und Postkarten zum Versenden finden Sie ab Seite 58. Gewöhnliche Menschen können Außergewöhnliches bewirken, lautete das Motto von Peter Benenson, als er vor 50 Jahren Amnesty gründete. Der Briefmarathon greift dieses Vorhaben auf. Zugleich werden weltweit, darunter auch in mehreren deutschen Großstädten, am Tag der Menschenrechte Lichtinstallationen gezeigt, die an das Schicksal von politischen Gefangenen erinnern. In dieser Ausgabe erinnern wir auch an einen anderen, wenig erfreulichen Jahrestag: Am 11. Januar 2002, wurden die ersten Gefangenen in das USCamp Guantánamo Bay auf Kuba gebracht. Der dänischen Reporterin Camilla Fuhr ist es gelungen, eine der seltenen Besuchsgenehmigungen zu erhalten. Inner- und außerhalb des Camps sprach sie mit Wärtern und ehemaligen Gefangenen (S. 39). Dass die Europäer keinen Grund haben, sich moralisch überlegen zu fühlen, beschreibt die norwegische Journalistin Marianne Alfsen in ihrem Beitrag über »Europas kleines schmutziges Geheimnis« (S. 44). In dieser Ausgabe erscheinen zwei eher ungewöhnliche Aufrufe. Auf Seite 47 finden Sie eine Anzeige der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ), die eine Umfrage zum ehrenamtlichen Engagement durchführt. Die Ergebnisse der Studie helfen auch Amnesty, die eigene Arbeit weiterzuentwickeln. Der zweite Aufruf ist in eigener Sache: Seit fast 40 Jahren erscheint das Amnesty Journal. Anlass genug, um endlich eine vollständige Sammlung aller Ausgaben zu erstellen. Doch dazu fehlen uns noch einige alte Exemplare. Wie Sie uns weiterhelfen können, erfahren Sie auf S. 83. Unsere nächste Ausgabe ist bereits in Planung – für 2012 sind wichtige Aktionen und Kampagnen in Vorbereitung. Bis dahin wünscht die Redaktion des Amnesty Journals Ihnen eine schöne Weihnachtszeit und einen angenehmen Jahreswechsel.

EDITORIAL

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INHALT

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Titelbild: Die 18-jährige Suroro Mohamed Ali aus Somalia im kenianischen Flüchtlingslager Dadaab. Foto: Sven Torfinn / laif (siehe auch Seite 18/19)

THEMA 21 Recht auf Nahrung Von Franziska Ulm

22 Die Jungs aus Mogadischu In Somalia verhindert die islamistische al-ShabaabMiliz, dass die internationale Nahrungsmittelhilfe die Dürreregionen erreicht. Der Aufstieg der Fundamentalisten ist auch eine Folge militärischer Interventionen. Von Johannes Dieterich

26 Clans, Warlords und Rebellen

RUBRIKEN 06 Reaktionen 07 Erfolge 10 Panorama 12 Nachrichten 13 Interview: Michael Anti 15 Porträt: Hartmut Hopp 17 Kolumne: Citha D. Maaß 75 Rezensionen: Bücher 76 Rezensionen: Film & Musik 78 Briefe gegen das Vergessen 80 Nachruf: Helmut Frenz 81 Wolfgang Grenz über falsche Zahlenspiele

Seit über zwei Jahrzehnten existiert in Somalia keine Zentralregierung mehr. Ein kurzer Überblick über die Geschichte des gescheiterten Staates.

28 »Die Politik verursacht den Hunger« Die Dürre in Somalia hatte unter anderem deshalb so dramatische Folgen, weil die nomadisierenden Viehzüchter ihre traditionellen Wanderungen nicht mehr machen können. Ein Interview mit dem Berner Geografieprofessor Hans Hurni.

30 Auf der Flucht Dürre und steigende Lebensmittelpreise haben am Horn von Afrika zu einer dramatischen Hungerkatastrophe geführt. Von Franziska Ulm und Kristina Schmidt

35 »Hunger ist kein Schicksal« Ein Gespräch mit Roman Herre, Agrarexperte von FIAN.

Fotos oben: Martina Bacigalupo / Agence VU laif | Tim Dirven / Panos | Petterick Wiggers | picture alliance

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BERICHTE

KULTUR

38 An der Kette

66 Wortgewalt

Die dänische Journalistin Camilla Fuhr hat Guantánamo Bay besucht und mit Wärtern sowie mit ehemaligen Gefangenen gesprochen.

44 Europas kleines schmutziges Geheimnis Die europäischen Regierungen ermöglichten im »Krieg gegen den Terror« schwerste Menschenrechtsverletzungen. Bis heute ist dafür niemand umfassend zur Rechenschaft gezogen worden. Von Marianne Alfsen

48 Der Hass auf die Liebe In Uganda fürchten Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender-Personen um ihr Leben. Von Philipp Hedemann

56 »Ein Maßstab für Gerechtigkeit« Im Juni 2010 musste der Ägypter Khaled Said sterben, weil zwei Polizisten ihn zu Tode prügelten. Nun standen sie vor Gericht. Ein Gespräch mit seiner Schwester Zahraa Kassem.

58 Dein Brief kann Leben retten Zum Internationalen Tag der Menschenrechte startet Amnesty International auch in diesem Jahr den weltweiten Briefmarathon für Menschen in Gefahr. Von Daniel Kreuz

INHALT

Die Situation von Autoren in der Türkei ist alarmierend. Anfang Oktober erschütterte eine erneute Verhaftungswelle das Land. Von Sabine Küper-Busch

70 Abends Folter Die »Asyl-Monologe« der Bühne für Menschenrechte geben den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Von Georg Kasch

72 Eine Kindheit am Nil Zum ersten Mal ist ein Roman der ägyptischen Journalistin und Schriftstellerin Mansura Eseddin auf Deutsch erschienen. Von Wera Reusch

74 Endlich mal Widersprüche »Schrecklich schönes Afrika«, ein Reportageband von Margit Maximilian, zeigt nicht nur das Elend des Kontinents, sondern auch seine Hoffnungsträger(innen). Von Maik Söhler

77 Posthume Party Buraka Som Sistema, ein Elektro-Quartett aus Lissabon mit angolanischen Wurzeln, revolutioniert derzeit die Techno-Szene mit seinem traditionellen Kuduro-Rhythmus. Von Daniel Bax

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GROSSBRITANNIEN

SERBIEN

UKRAINE

Es ist ein Schlag ins Gesicht der Überlebenden des Chemieunfalls im indischen Bhopal. Dow Chemical, dessen Tochterunternehmen für den Unfall verantwortlich ist, soll für die Olympischen Spiele 2012 eine dekorative Umhüllung des Stadions in London herstellen. Amnesty hat das Olympische Komitee aufgefordert, zu prüfen, ob der Auftrag an Dow Chemical mit den ethischen und sozialen Richtlinien zu vereinbaren ist, die für die Organisation der Spiele gelten. Das Unternehmen hat bisher weder die Opfer des Chemieunfalls im Jahr 1984 angemessen entschädigt, noch das verseuchte Gebiet gereinigt.

Die serbischen Behörden haben den diesjährigen »Pride-March«, eine Demonstration für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen in Belgrad, abgesagt. In der Begründung hieß es, man könne die Sicherheit der Parade, die für den 2. Oktober geplant war, nicht garantieren. Vorausgegangen waren gewalttätige Drohungen von Rechtsextremisten. Amnesty hat die Entscheidung der Behörden kritisiert und sie als »großen Rückschritt für die Menschenrechte« bezeichnet. Bereits 2009 hatten die serbischen Behörden die Parade auf Druck von rechten Gruppierungen abgesagt.

Im Oktober wurde die ehemalige ukrainische Premierministerin Julia Timoschenko wegen angeblichen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt. »Das Verfahren ist politisch motiviert«, sagte John Dalhuisen, stellvertretender Direktor des Programms für Europa und Zentralasien bei Amnesty. »Die Vorwürfe gegen Timoschenko sind keine international anerkannten Vergehen, sondern Versuche, bestimmte Entscheidungen, die sie während ihrer Amtszeit getroffen hat, zu kriminalisieren. Sie muss umgehend entlassen und die Anklage gegen sie fallengelassen werden.«

Ausgewählte Ereignisse vom 2. Oktober bis 14. November 2011.

PERU Die peruanischen Behörden haben angekündigt, die in den neunziger Jahren vorgenommenen Zwangssterilisationen an mehr als 200.000 Frauen erneut zu untersuchen. »Alle, die damals gezwungen wurden, diese Prozedur zu erdulden, haben nach internationalem Recht einen Anspruch auf eine vollständige Entschädigung«, sagte Guadalupe Marengo, stellvertretende Direktorin des Americas-Programms bei Amnesty. Im Zuge eines staatlichen Programms zur Familienplanung unter dem damaligen peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori wurden vor allem indigene Frauen und Frauen aus ärmeren Gebieten zur Sterilisation gezwungen.

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SPANIEN Zeit für eine Aufarbeitung: Die baskische Untergrundorganisation ETA hat angekündigt, auf bewaffnete Aktivitäten endgültig zu verzichten. Amnesty hat die Organisation aufgefordert, sich an dieses Versprechen zu halten und keine weiteren Menschenrechtsverletzungen zu begehen. »Alle Verantwortlichen vergangener Anschläge müssen zur Verantwortung gezogen werden«, sagte Nicola Duckworth, Direktorin des Programms für Europa und Zentralasien bei Amnesty. Die spanische Regierung solle die Chance nutzen, um Antiterrorgesetze zu reformieren, durch die ebenfalls Menschenrechte verletzt wurden.

IRAN Der 17-jährige Alireza Molla-Soltani wurde öffentlich gehängt, weil er den Sportler Ruhollah Dadashi, bekannt unter dem Namen »Irans stärkster Mann«, erstochen hat. Laut Medienberichten soll der Jugendliche bei dem Versuch, sich selbst zu verteidigen, Dadashi getötet haben. »Die Hinrichtung eines 17-Jährigen ist außerordentlich schockierend, vor allem, wenn sie öffentlich durchgeführt wird«, sagte Hassiba Hadj Sahraoui, stellvertretende Direktorin für die Region Mittlerer Osten und Nordafrika bei Amnesty. Die Hinrichtung von minderjährigen Tätern ist nach internationalen Verträgen, die auch der Iran unterzeichnet hat, verboten.

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Foto: Karen Veldkamp / Amnesty

ERFOLGE

»Ein starkes Signal.« Kasha Jacqueline Nabagesera.

AKTIVISTIN ERHÄLT MARTIN ENNALS AWARD Die ugandische Aktivistin Kasha Jacqueline Nabagesera ist mit dem diesjährigen »Martin Ennals Award for Human Rights Defenders« geehrt worden. Sie erhielt die Auszeichnung für ihren furchtlosen Einsatz für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen (LGBT) in Uganda. »Der Preis sendet nicht nur ein starkes Signal an meine Regierung und die anderen 38 afrikanischen Staaten, die Homosexualität kriminalisieren«, sagte Nabagesera bei der Preisverleihung, »er sendet auch ein starkes Signal an die Menschenrechtsverteidiger auf der ganzen Welt«. Der Martin Ennals Award wird seit 1994 von den zehn führenden Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International, verliehen. Nabagesera ist die erste LGBT-Aktivistin, die mit dem Menschenrechtspreis ausgezeichnet wird. Sie ist

UGANDA

LEBENSLÄNGLICH FÜR JUNTA-OFFIZIERE

Der frühere Offizier Alfredo Astiz ist in Argentinien zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Er wurde für schuldig befunden, Entführungen, Folter und Morde während der Militärdiktatur begangen zu haben. Gemeinsam mit Astiz standen 17 weitere ehemalige Armeeangehörige vor Gericht. Insgesamt wurden ihnen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in fast hundert Fällen vorgeworfen. Zwölf frühere Offiziere erhielten ebenfalls jeweils lebenslänglich, vier wurden zu Haftstrafen zwischen 18 und 25 Jahren verurteilt und zwei freigesprochen. Auch der frühere Außenminister Oscar Montes wurde zu lebenslänglich verurteilt.

ARGENTINIEN

ERFOLGE

die Gründerin und Direktorin der Organisation »Freedom and Roam Uganda«, die zu den größten LGBT-Organisationen in Uganda zählt. Als eine von wenigen homosexuellen Aktivisten tritt sie öffentlich in Fernseh- und Radiosendungen auf und geht damit das Risiko ein, diskriminiert und angegriffen zu werden. In Uganda ist Homosexualität eine Straftat, die mit lebenslanger Haft geahndet werden kann. Anfang des Jahres wurde der LGBT-Aktivist David Kato ermordet, nachdem eine ugandische Zeitung dazu aufgerufen hatte, Homosexuelle zu hängen. Die Preisverleihung an Nabagesera kam zum richtigen Zeitpunkt: Ende Oktober hat das Parlament in Uganda entschieden, sich erneut mit einem Gesetz zu befassen, das die Todesstrafe für homosexuelle Handlungen vorsieht. Siehe auch Seite 48.

Als einen »eindrucksvollen Sieg im Kampf gegen die Straflosigkeit« bezeichnete Guadalupe Marengo, stellvertretende Amnesty-Direktorin für Nord- und Südamerika, die Urteile. Damit würden »frühere Militärangehörige für ihre ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen während Argentiniens ›Schmutzigem Krieg‹ in den siebziger und achtziger Jahren zur Rechenschaft gezogen«, sagte sie. Während der Militärdiktatur in Argentinien zwischen 1976 und 1983 wurden rund 30.000 Personen von den Sicherheitskräften ermordet. Viele sind bis heute vermisst. Menschenrechtsverletzungen waren weit verbreitet und systematisch.

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Foto: Khin Maung Win / AP

Lautsprecher der Menschen. Zarganar bei seiner Ankunft in Rangun am 12. Oktober 2011.

EIN LÄCHELN GEGEN DIE REPRESSION Die Regierung in Myanmar hat über 200 politische Gefangene freigelassen. Darunter auch Zarganar – den bekannten Comedian, Blogger und Regierungskritiker. Zarganar steht in der Eingangshalle des Flughafens von Rangun und schüttelt Hände. Es ist Mittwoch, der 12. Oktober 2011, und für Zarganar der erste Tag in Freiheit nach über drei Jahren Haft. Dutzende Freunde, Unterstützer und Journalisten erwarten ihn bereits, klopfen ihm auf die Schulter, machen Fotos. Der 50-Jährige ist es gewohnt, in der Öffentlichkeit zu stehen. Zarganar ist Comedian, Schauspieler und Filmemacher. In Myanmar kennt man ihn aus Fernsehserien und Theaterstücken. Zarganars Humor ist bissig. Wenn er Witze erzählt, sollen seine Zuhörer nicht nur lachen, sondern auch nachdenken. Er sei der »Lautsprecher« der Menschen, sagt Zarganar in dem vor kurzem erschienenen Dokumentarfilm »This Prison Where I Live«. Ein Lautsprecher, der auch Kritik übe. Regierungskritik war auch der Grund für seine jüngste Verhaftung: Im Mai 2008 zerstörte der Wirbelsturm »Nargis« weite Teile des Irrawaddy-Deltas im Süden Myanmars. Schätzungsweise 138.000 Menschen starben oder sind bis heute vermisst. Die Umweltkatastrophe wurde zur humanitären Tragödie, weil die Behörden verhinderten, dass Hilfsgüter in die betroffenen Gebiete gelangten. Zarganar sammelte mit einigen Helfern Spenden, machte Video- und Fotoaufnahmen. Während die Regierung das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe zu verschleiern versuchte, gab er ausländischen Medien Interviews. Im Juni 2008 nahmen Sicherheitskräfte Zarganar und mindestens 21 seiner Helfer fest. Ihm wurde vorgeworfen, Angst geschürt und die öffentliche Ordnung gestört zu haben. Außerdem

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habe er gegen den »Electronics Act« verstoßen, der hohe Haftstrafen für den nicht genehmigten Gebrauch elektronischer Medien vorsieht. Zarganar wurde zu 35 Jahren Haft verurteilt. Trotz der jüngsten Freilassungen sitzen weiterhin rund 1.800 politische Gefangene im Gefängnis, teilweise mit unzureichender oder überhaupt keiner medizinischen Versorgung. »Ich bin nicht zufrieden. Wie man sieht, werden die politischen Gefangenen nur schrittweise entlassen«, sagte Zarganar dem Nachrichtensender Mizzima nach seiner Freilassung. Sam Zarifi, Experte für den asiatisch-pazifischen Raum bei Amnesty, begrüßte die Entscheidung der Regierung, fügte aber hinzu: »Diese Amnestie sollte die internationale Gemeinschaft ermutigen, den Druck auf die Behörden aufrechtzuerhalten, damit alle politischen Gefangenen freikommen.« Myanmar hat im November 2010 die ersten Parlamentswahlen seit 20 Jahren durchgeführt. Die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit bleiben jedoch eingeschränkt. Repressive Sicherheitsgesetze wie der »Electronics Act« sorgen dafür, dass öffentliche Kritik an der Regierung unterdrückt wird. Zarganar will den Menschen die Angst nehmen, sich kritisch zu äußern. In der Dokumentation »This Prison Where I Live«, an der auch der deutsche Comedian Michael Mittermeier mitgewirkt hat, erzählt Zarganar, wie er zu seinem Namen kam. In Myanmar gebe es das Sprichwort: »Wenn du Angst hast und dir die Haare zu Berge stehen, dann zieh sie mit einer Pinzette.« Die burmesische Übersetzung für Pinzette lautet Zarganar. Die Dokumentation »This Prison Where I Live« ist im Handel erhältlich. Text: Ralf Rebmann

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EINSATZ MIT ERFOLG Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.

REPRESSIVES SICHERHEITSGESETZ WIRD ABGESCHAFFT

MALAYSIA Malaysias Premierminister Najib Razal hat im September angekündigt, ein umstrittenes Sicherheitsgesetz außer Kraft zu setzen. Der »Internal Security Act« (ISA) diente den Behörden in der Vergangenheit vor allem dazu, Dissidenten und Blogger einzuschüchtern und zu inhaftieren. Personen können auf Grundlage dieses Gesetzes für eine unbegrenzte Zeit ohne Anklage festgehalten werden. »Die Entscheidung des Premierministers Najib, den Internal Security Act aufzuheben, ist ein bedeutender Schritt für die Menschenrechte in Malaysia«, sagte Sam Zarifi, Direktor des Asien-Pazifik-Programms von Amnesty. »Tausende Menschen sitzen jedoch weiterhin aufgrund dieses präventiven Sicherheitsgesetzes im Gefängnis. Sie müssen entweder wegen eines kriminellen Vergehens angeklagt oder sofort frei gelassen werden.«

WOZA-AKTIVISTINNEN FREIGELASSEN

FREIHEIT FÜR UGANDISCHEN MENSCHENRECHTLER

Er saß wegen Terrorismusvorwürfen und angeblichen Mordes mehr als ein Jahr im Gefängnis. Nun wurde die Klage gegen den kenianischen Menschenrechtsaktivisten Al-Amin Kimathi fallengelassen. Kimathi war vor über einem Jahr nach Uganda gereist, um den Prozess gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen für den Bombenanschlag in Kampala im Juli 2010 zu beobachten. Nach seiner Ankunft wurde er festgenommen und wenige Tage später angeklagt. »Es ist eine Erleichterung, dass Al-Amin Kimathi entlassen wurde. Dies war lange überfällig«, sagte Michelle Kagari, stellvertretende Leiterin des Afrika-Programms von Amnesty. »Er war ein Jahr in Haft, ohne dass die Behörden Beweise gegen ihn vorbringen konnten. Die Vermutung liegt nahe, dass der Terrorismusvorwurf lediglich ein Vorwand war, um ihn für seine Menschenrechtsarbeit zu inhaftieren.« UGANDA

guayischen Behörden haben sich verpflichtet, ein 14.404 Hektar großes Gebiet in der Region Presidente Hayes von dort ansässigen Unternehmen zurückzukaufen. Das Abkommen lege den Grundstein für die Rückgabe des Landes an die Indigenen, sagte Ireneo Téllez, Jurist bei der lokalen NGO »Tierraviva«. Seit 1991 führen die Sawhoyamaxa einen Prozess gegen private Landbesitzer, die sich das Gebiet angeeignet hatten. Rund 90 Familien wurden gezwungen, auf Rinderfarmen oder in behelfsmäßigen Siedlungen zu leben. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung ist dort kaum gewährleistet. Amnesty begrüßte den Schritt der Behörden, forderte sie aber gleichzeitig auf, die Rückkehr der Familien ohne Verzögerung sicherzustellen.

DOPPELTE AUSZEICHNUNG FÜR SYRISCHE ANWÄLTIN

PARAGUAY In einem jahrzehntelangen Rechtstreit um das Land ihrer Vorfahren hat die indigene Gemeinschaft der Sawhoyamaxa einen Erfolg erzielt. Die para-

SYRIEN Razan Zaitouneh ist Anwältin und Journalistin. Trotz großer Gefahren für ihr eigenes Leben berichtet die 34-Jährige über die blutige Niederschlagung der Proteste in Syrien. Dafür wurde sie mit dem »Anna Politkovskaya Award 2011« der Frauenrechtsorganisation RAW (Reach all Women in War) sowie mit dem »Sacharow-Preis für geistige Freiheit 2011« des Europäischen Parlaments ausgezeichnet. »Wir alle wissen, dass der Preis, den ich bezahlen muss, im Vergleich zu anderen sehr bescheiden ist«, sagte sie gegenüber Amnesty International. »Andere haben mit ihrem Leben bezahlt oder mussten Haft, Folter und Misshandlung erleiden.« Aus Sicherheitsgründen hält sich Razan Zaitouneh an einem geheimen Ort auf. Ihre Website »SHRIL« ist eine der wichtigsten Informationsquellen für Menschenrechtsverletzungen in Syrien.

Ohne Beweise angeklagt. Al-Amin Kimathi.

Ausgezeichnet für ihren Mut. Razan Zaitouneh.

ERFOLG FÜR INDIGENE IM LANDRECHTSSTREIT

Fotos: Amnesty, AP, privat

SIMBABWE Die beiden Sprecherinnen der Menschenrechtsorganisation WOZA (Women and Men of Zimbabwe Arise) sind gegen Kaution freigelassen worden. Jenni Williams und Magodonga Mahlangu waren im September mit zehn weiteren Aktivisten festgenommen worden, nachdem die Polizei einen friedlichen Protestmarsch anlässlich des Internationalen

Tags des Friedens gewaltsam aufgelöst hatte. Jenni Williams und Magodonga Mahlangu wurden wegen »Entführung und Diebstahl« angeklagt und befanden sich anschließend fast zwei Wochen in Untersuchungshaft. In der Vergangenheit wurden die beiden WOZA-Sprecherinnen schon zahlreiche Male wegen ihrer Menschenrechtsarbeit inhaftiert. Mit rund 30.000 Mitgliedern ist WOZA die größte Menschenrechtsorganisation Simbabwes.

WOZA in Freiheit. Mahlangu und Williams.

ERFOLGE

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Foto: Scott Langley

NACHRICHTEN

»Nicht in meinem Namen.« Unterstützer von Troy Davis versuchen die Hinrichtung im letzten Moment zu verhindern. Atlanta, 20. September 2011.

IM ZWEIFEL GEGEN DEN ANGEKLAGTEN 20 Jahre saß der US-Amerikaner Troy Davis in der Todeszelle für einen Mord, den er wahrscheinlich nie begangen hat. Amnesty International forderte seine Begnadigung. Doch trotz massiver weltweiter Proteste wurde Davis am 21. September 2011 hingerichtet. Kurz bevor Troy Davis das Gift in die Armvenen gespritzt wird, hebt der 42-jährige Afroamerikaner, festgeschnallt auf der Liege in der Exekutionskammer, noch einmal seinen Kopf, seine Blicke wandern durch den Raum. Ein letztes Mal will er seine Unschuld beteuern, den anwesenden Angehörigen sagen, dass nicht er den Polizisten Mark Allen MacPhail erschossen hat: »Ihr sollt wissen, trotz der Situation, in der ihr seid, dass ich nicht derjenige bin, der euren Sohn, euren Vater, euren Bruder getötet hat. Ich bin unschuldig. Der Vorfall in jener Nacht ist nicht meine Schuld. Ich hatte keine Waffe.« Wenig später wirkt das Schlafmittel, dann das Gift. Um 23.08 Uhr Ortszeit am 21. September 2011 ist Troy Davis im Gefängnis von Jackson im US-Bundesstaat Georgia hingerichtet. Zwei Jahrzehnte hatte Davis im Todestrakt auf sei-

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ne Exekution gewartet. Warten müssen. Seine Hinrichtung ist eine der umstrittensten in der US-Justizgeschichte. Nur aufgrund von Zeugenaussagen hatte ihn ein Geschworenengericht 1991 wegen des Mordes an dem weißen Polizisten zum Tode verurteilt. Eine Tatwaffe, DNA-Spuren oder konkrete Beweise wurden nie gefunden. Drei Mal stand das Datum für die Vollstreckung fest. Drei Mal gelang es Davis’ Anwälten, einen Aufschub zu erwirken. Schließlich zogen sieben der neun Hauptbelastungszeugen ihre Aussagen zurück und erklärten, den Angeklagten nur auf Druck der Polizei belastet zu haben. Der achte Zeuge war psychisch krank und der neunte und somit einzig verbleibende Zeuge war der zweite Hauptverdächtige für den Mord. Trotzdem bestätigte Richter William Moore im August 2010 das Todesurteil: »Der Fall ist zwar nicht vollkommen wasserdicht, die meisten Mitglieder einer Jury würden jedoch Mister Davis wieder wegen Mordes an Officer MacPhail verurteilen. Ein Bundesgericht kann sich nicht anmaßen, das Urteil einer Jury zu missachten, wenn die Unschuld des Angeklagten nicht zweifellos bewiesen ist.« Amnesty kritisierte das Urteil scharf.

Jahrelang hatte sich die Organisation für Davis’ Begnadigung eingesetzt. Weltweit unterzeichneten fast eine Million Menschen eine Petition gegen die drohende Hinrichtung. Auch die EU, der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter und Papst Benedikt XVI. richteten Gnadenappelle an die US-Behörden. Am Tag der Hinrichtung demonstrierten in Jackson Hunderte Menschen. Auf ihren Plakaten stand: »Befreit Troy Davis!« und »Legalisiertes Lynchen? Nicht in meinem Namen!« Doch die Proteste blieben ungehört. »Wir sind traurig und wütend über die Hinrichtung von Troy Davis«, erklärte der USA-Experte der deutschen AmnestySektion, Sumit Bhattacharyya. Doch sie werde für die Amnesty-Aktivisten weltweit ein Ansporn sein, sich weiter für eine Welt ohne Todesstrafe einzusetzen. Genau das hatte sich Troy Davis auch gewünscht. Einen Tag vor seiner Hinrichtung bat er die US-amerikanische Amnesty-Sektion eine Botschaft zu veröffentlichen: »Der Kampf um Gerechtigkeit endet nicht mit mir. Dieser Kampf ist für alle Troy Davis, die vor mir kamen, und für alle, die nach mir kommen werden.« Text: Daniel Kreuz

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Michael Anti wurde 1975 in Nanjing geboren. Sein bürgerlicher Name ist Zhao Jing. Der Journalist ist einer der meistgelesenen Blogger Chinas und setzt sich für die Presse- und Meinungsfreiheit ein. In der Vergangenheit arbeitete er als Korrespondent für die »New York Times«. Er erhielt zahlreiche Stipendien, unter anderem von den Universitäten Harvard und Cambridge. Michael Anti lebt derzeit in Peking.

INTERVIEW

MICHAEL ANTI

Die chinesische Regierung versucht alles, um das Internet unter Kontrolle zu bringen. Ein Gespräch mit dem chinesischen Blogger und Journalisten Michael Anti. Können Sie die Amnesty-Website von China aus aufrufen? Nein, die Amnesty-Seite ist gesperrt. Aber es gibt Mittel, um geblockte Internetseiten zu erreichen. Zum Beispiel? Ich benutze die Technologie VPN. Damit kann ich die Blockade umgehen, um beispielsweise über die Suchmaschine Google zu recherchieren. Der Dienst wird vor allem von Journalisten, Wissenschaftlern und in der Werbebranche genutzt. Im Vergleich zur Gesamtzahl der Internetnutzer in China, über 400 Millionen Menschen, ist VPN jedoch nicht sehr verbreitet. Wie kontrolliert man die Internetaktivitäten von über 400 Millionen Menschen? Es gibt verschiedene Stufen der Kontrolle. Ein wesentlicher Punkt betrifft den kommerziellen Bereich: China blockiert internationale Internetdienste und setzt an deren Stelle eine chinesische Alternative: So haben wir statt Youtube Toudu, statt Google Baidu und statt Facebook Renren. Um wirtschaftlich bestehen zu können, müssen sich diese Dienste den Kontrollkriterien der Behörden anpassen. Weitere Formen der Zensur reichen von der Indizierung von Schlagwörtern in Suchmaschinen bis hin zu tatsächlicher »Manpower« – also Menschen, die Inhalte in Blogs aufspüren und löschen, wenn man sie für problematisch hält. Was für Inhalte sind das? Es betrifft alle Themen, die sich mit dem politischen Wandel in China befassen. Zwar ist es möglich, über Entscheidungen und Nachrichten aus den Ministerien zu berichten. Aber die Frage

NACHRICHTEN

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INTERVIEW

Foto: Ralf Rebmann / Amnesty

»POLITISCHE THEMEN SIND TABU« nach den Mechanismen, die hinter diesen Prozessen stehen, ist sehr sensibel. Politische Themen sind für chinesische Journalisten tabu. Es gibt zwar investigative Journalisten, aber diese leben sehr gefährlich. Aus diesem Grund ist auch die politische Blogger-Szene in China sehr klein und hat nur wenig Einfluss. Ansonsten würde der Blog von den Behörden sofort gesperrt werden. Dennoch gibt es eine Blog-Plattform, die überaus erfolgreich ist – »Weibo«. Ja, diese Plattform hat über 100 Millionen aktive Nutzer, die eigene Inhalte ins Internet stellen und sehr einfach miteinander kommunizieren können. Man darf den Einfluss dieser Plattform nicht unterschätzen. Durch die große Verbreitung entsteht in China erstmals eine landesweite öffentliche Sphäre, in der bestimmte Themen besprochen werden können. Jeder Nutzer kann dadurch journalistisch tätig werden. Diese Möglichkeit bereitet den Behörden Sorgen. Dennoch handelt es sich dabei mehr um ein Medienphänomen als um eine Bewegung, die einen politischen Wandel auslösen könnte. Welchen Einfluss haben die Umbrüche in Nordafrika auf einen politischen Wandel in China? Die Umstürze haben die chinesischen Behörden vorsichtiger gemacht, vor allem was die Blog-Plattformen betrifft. Diese werden stärker kontrolliert. Die chinesische Politik und ein möglicher politischer Umbruch sind jedoch nicht allein vom Internet abhängig. Auch der »Arabische Frühling« wurde nicht durch das Internet ausgelöst, sondern durch soziale Aspekte wie die hohe Arbeitslosigkeit. Maßgeblich ist deshalb die wirtschaftliche Situation eines Landes. Einen politischen Umbruch, wie wir ihn in Nordafrika erlebt haben, sehe ich für China derzeit nicht. Fragen: Ralf Rebmann

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Clans, Warlords und Rebellen Seit über zwei Jahrzehnten existiert in Somalia keine Zentralregierung mehr. Ein kurzer Überblick über die Geschichte des gescheiterten Staates.

Jemen: 16.098

Dschibuti: 3.817

Athiopien: 90.172

Dollo Ado (120.000 Einwohner)

Kenia: 162.969 Dadaab (460.000 Einwohner) Zahl der Flüchtlinge aus Somalia seit Anfang 2011 nach Zielländern.

IN DIESEM JAHR SIND

BEREITS MEHR ALS

273.000 MENSCHEN AUS SOMALIA GEFLOHEN. 26

Somalia entstand 1960 als unabhängiger Staat aus den ehemaligen Kolonialgebieten Britisch- und ItalienischSomaliland. 1969 übernahm die Armee unter Mohamed Siad Barre die Macht in dem Staat am Horn von Afrika. Das ursprünglich pro-sowjetische Regime führte 1977 einen Eroberungskrieg gegen Äthiopien, um dessen östliche Region Ogaden, die mehrheitlich von Somalis besiedelt war, einem Groß-Somalia einzuverleiben. Mit Unterstützung der Sowjetunion und kubanischer Truppen konnte Äthiopien die somalischen Streitkräfte 1978 zurückschlagen. Barre wandte sich in der Folge von der Sowjetunion ab und fand in den USA einen neuen Verbündeten. In den ACHTZIGER JAHREN verstärkte sich der Widerstand gegen die Regierung Siad Barres durch bewaffnete Gruppen, die verschiedenen Clans angehörten und die von Äthiopien unterstützt wurden. 1991 wurde Siad Barre schließlich gestürzt. Nachdem sich die siegreichen Rebellengruppen nicht auf eine gemeinsame Regierung einigen konnten, glitt das Land in einen Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Clans und Milizen ab, der bis heute anhält. Der Norden des Landes erklärte sich 1991 als Somaliland einseitig für unabhängig. Diese Unabhängigkeit wurde bislang international nicht anerkannt, seit Mitte der neunziger Jahre ist es in Somaliland jedoch verhältnismäßig friedlich. Im Jahr 1992 begann die UN-Mission UNOSOM unter USFührung die Operation und den Frieden wieder herzustellen. Nach schweren Angriffen auf die UNO-Friedenstruppen durch somalische Milizen in der Hauptstadt Mogadischu 1993 zogen sich die USA im folgenden Jahr aus Somalia zurück, wenig später beendete auch die UNO ihre Mission. 1998 erklärte sich die Region Puntland im Nordosten Somalias für autonom, ohne aber die Unabhängigkeit anzustreben. Zwei Jahre später wurde nach Friedensverhandlungen in Dschibuti eine nationale Übergangsregierung für Somalia unter Präsident Abdiqasim Salad Hassan gebildet, die sich aber gegen die verschiedenen Warlords nicht durchsetzen konnte.

2006 erlangte die Rebellenorganisation »Union islamischer Gerichte« die Kontrolle über weite Teile Süd- und

AMNESTY JOURNAL | 01/2012


Hungersnot: 750.000 Somalia Gesamtbevölkerung: 7,5 Millionen

Humanitäre Notsituation: 3,3 Millionen Nahrungskrise: 4 Millionen

750.000 AKUTER LEBENSGEFAHR. MENSCHEN BEFINDEN SICH IN

Zentralsomalias und etablierte insbesondere in Mogadischu erstmals seit Kriegsbeginn eine gewisse Stabilität. Ende des Jahres marschierten äthiopische Truppen in Somalia ein und entmachteten die »Union islamischer Gerichte«. Die föderale Übergangsregierung versuchte mit Unterstützung Äthiopiens, die Kontrolle zu übernehmen, stieß aber auf erbitterten Widerstand von Clans und islamistischen Milizen, die die äthiopische Militärpräsenz ablehnten. Im März 2007 kamen die ersten Schutztruppen der Friedensmission der Afrikanischen Union (AMISOM) zur Unterstützung der Übergangsregierung ins Land. 2009 zogen sich die äthiopischen Truppen aus Somalia zurück. Der gemäßigte Islamist Sheikh Sharif Sheikh Ahmed wurde neuer Präsident der Übergangsregierung, die von der extremistischen al-Shabaab-Miliz bekämpft wurde. AlShabaab war zwar als Jugendorganisation der »Union islamischer Gerichte« tätig, wurde aber nach deren Zerschlagung durch die äthiopischen Truppen eine eigenständige Organisation. Bis Ende 2010 übernahm al-Shabaab in weiten Teilen Süd- und Zentralsomalias wieder die Kontrolle. Die Übergangsregierung wurde unter dem Schutz der AMISOM-Mission auf Teile Mogadischus zurückgedrängt. Ab Februar 2011 intensivierten die Truppen der Übergangsregierung und AMISOM-Truppen den Kampf gegen die al-Shabaab-Miliz, die sich im August 2011 aus Mogadischu zurückziehen mussten und im Sommer auch in anderen Teilen des Landes unter Druck gerieten. Nach mehreren Überfällen und Entführungen von ausländischen Staatsbürgern aus Kenia durch somalische Milizen marschierten im Oktober 2011 kenianische Truppen im Süden Somalias ein. Mit dem Verschwinden der Zentralregierung 1991 hat die Piraterie vor der Küste Somalias kontinuierlich zugenommen. Seit 2005 wurden in den Gewässern vor Mogadischu und im Golf von Aden Hunderte von Schiffen gekapert. 2008 verabschiedete die UNO eine Resolution, mit der alle Staaten in der Region dazu aufgefordert werden, militärisch gegen die Piraten vorzugehen.

Dschibuti

Äthiopien

Somalia

Kenia

allgemeine Nahrungssicherheit Nahrungssituation gemäß Integrated Food Security Phase Classification (IPC) vom 20. September 2011.

teilweise Nahrungsmangel akute Nahrungskrise Humanitäre Notsituation Hungersnot / Humanitäre Katastrophe

SEIT 2010 SIND DIE

GETREIDEPREISE

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IN MOGADISCHU UM PROZENT GESTIEGEN.

Quelle für alle Zahlen auf dieser Seite: UNO-Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA)

Text: Jürg Keller

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DIE POLITIK DES HUNGERS

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»Die Politik verursacht den Hunger« »Die diesjährige Hungersnot hat viel stärker mit Politik als mit dem Klima zu tun«, erklärt der Berner Geografieprofessor Hans Hurni. Die Dürre in Somalia hatte unter anderem deshalb so dramatische Folgen, weil die nomadisierenden Viehzüchter ihre traditionellen Wanderungen nicht mehr machen können. Die Medien sprechen von der größten Hungerkatastrophe am Horn von Afrika seit 60 Jahren. Dürreperioden sind in dieser Region normal, was war denn dieses Jahr anders? Das mit den 60 Jahren stimmt wohl nur für ein beschränktes Gebiet. Das ist eine Dürre, die sich dieses Mal im Länderdreieck von Äthiopien, Somalia und Kenia abspielt. Obschon drei Länder betroffen sind, ist das Dürregebiet nicht sehr groß. Im Verhältnis zu früheren Dürren, die viel stärker das Ackerbaugebiet am Horn von Afrika getroffen haben, sind weniger Menschen betroffen. Im Tiefland, das von Pastoralisten, also von viehzüchtenden Nomaden bewohnt wird, leben maximal zehn bis 15 Menschen pro Quadratkilometer, im Hochland, wo die sesshaften Ackerbauern leben, sind es bis zu 400 Menschen pro Quadratkilometer. Wenn also im Hochland eine Dürre auftritt, kann das sofort 20 oder 30 Millionen Menschen betreffen. Die Dürre in diesem Jahr ist im Tiefland aufgetreten, deshalb sind weniger Menschen betroffen. Ich würde dies auf keinen Fall als die größte Hungerkatastrophe der letzten 60 Jahre bezeichnen. Ich erinnere mich noch an die Hungersnot von 1972/73 und an diejenige von 1984/85, die um Vieles stärker waren als die diesjährige. Auch die Anzahl der Betroffenen war höher als in diesem Jahr. Die Übertreibung in den Medien hat viel mit der Mobilisierung von Spendengeldern zu tun. Klimatisch gesehen war es eine mittelstarke Dürre, wie sie fast jedes Jahr irgendwo in der Region vorkommt. Was hingegen die Situation in Somalia so schlimm macht, ist die politische Konstellation. Die diesjährige Hungersnot hat deshalb viel stärker mit Politik als mit dem Klima zu tun. Die Menschen in diesen Regionen haben ja normalerweise Strategien gegen wiederkehrende Dürrephasen. Das haben sie, wobei wir unterscheiden müssen zwischen Hochland- und Tieflandbewohnern. Von der diesjährigen Dürre sind hauptsächlich Pastoralisten im Tiefland betroffen. Sie bewegen

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sich mit ihren Herden in einem großen Gebiet. Sie wandern mit den Niederschlägen, die im Frühjahr langsam von Süden nach Norden gehen und sich nach einer kurzen Trockenperiode im Herbst wieder Richtung Süden bewegen. Es gibt zwei kleine Regenzeiten von vielleicht 50 bis 150 Millimeter Niederschlag pro Regenzeit, und die Strategie dieser Pastoralisten ist es, dass sie den Niederschlägen folgen. Mit dieser Wanderbewegung haben sie bis jetzt gut überleben können. Und hier kommt eben die Politik ins Spiel: Das geht nur, wenn keine nationalen Grenzen da sind, die gesperrt sind und keine Clans, die die Wanderbewegungen verhindern. Die Ursache der diesjährigen Hungerkatastrophe liegt in der gegenwärtigen politischen Blockade in Somalia. Können die Pastoralisten diese Wanderungen vor allem wegen der al-Shabaab-Miliz nicht mehr machen? Ich glaube, da geht es mehr darum, dass die somalischen Clans und Untergruppen die Macht über ihr Einflussgebiet behalten wollen. Sie dulden nicht, dass Bevölkerungsgruppen ihre Gebiete durchqueren, oder aus ihnen hinaus- und später wieder hineingehen. Deshalb verhindern sie diese Wanderungsbewegungen. Das hat zur Folge, dass die nomadisierenden Familien stationär bleiben müssen, und damit sind sie mitten in die Dürre geraten, sodass sowohl die Menschen als auch das Vieh extrem belastet worden sind. Das hat sehr viel mit der Politik von Somalia zu tun, das als Staat nicht mehr funktioniert und sich in Einzelteile aufgelöst hat. Die sesshaften Bauern in den höher gelegenen Gebieten, vor allem in Äthiopien, haben andere Strategien gegen Dürren. Sie versuchen, mit Vorratshaltung für mehr als ein Jahr Reserven aufzubauen, um durchzuhalten. Wenn die Regenfälle während eines ganzen Jahres ausfallen, sind auch sesshafte Bauern gezwungen, wegzugehen. Sie ziehen dann in die Städte und an die Straßen, wo sie vom Staat versorgt werden können, von Äthiopien her, von Kenia her. Das funktioniert heute recht gut, das war vor vierzig Jahren noch nicht so.

AMNESTY JOURNAL | 01/2012


»Es kommt schneller zu Gewittern, aber auch zu längeren Trockenperioden. Das Wetter ist weniger berechenbar und extremer. Das ist vielleicht ein Zeichen des Klimawandels.«

Hat das damit zu tun, dass in den vergangenen zehn Jahren Infrastruktur und Straßennetz in Äthiopien stark ausgebaut worden sind, während sie in Somalia zunehmend zusammenbrechen? Ja, Äthiopien hat gelernt aus den großen Dürren des 20. Jahrhunderts. Es ist wichtig, dass an wichtigen Knotenpunkten Lebensmittelvorräte gelagert werden und dass sie über funktionierende Straßennetze verteilt werden können. Es muss auch berücksichtigt werden, dass im Süden Äthiopiens etwa eine Million Menschen Nahrungsmittelhilfe brauchen. Das ist für einen Staat mit 80 Millionen Einwohnern kein sehr gravierendes Problem, denn es können mit ausländischer Hilfe genügend Vorräte für Bedürftige mobilisiert werden. Haben die Dürreperioden wegen des Klimawandels zugenommen? Dazu gibt es in Afrika noch viel zu wenig verlässliche Daten. Wir können deshalb statistisch und wissenschaftlich keine signifikanten Aussagen über die Auswirkungen des Temperaturanstiegs in der Region am Horn von Afrika machen. Was aber ernst zu nehmen ist, ist die Wahrnehmung der Pastoralisten selbst. Sie machen eine komplexere, ganzheitliche Analyse: Sie sagen nicht, der Niederschlag hat abgenommen, sie sagen, die Situation ist problematischer geworden. Damit meinen sie eine Mischung aus Niederschlag, Bewegungsunfreiheit und den fehlenden Möglichkeiten auszuweichen. Die Niederschläge kommen gemäß den Pastoralisten nicht mehr so regelmäßig wie früher. Sie setzen manchmal früher, manchmal später ein, als sie erwartet haben. Das sind jahrzehntelange Erfahrungen, die ernst genommen werden müssen. Sie merken, wenn das Überleben mit den Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, schwieriger wird. Wir wissen bis jetzt, dass die Temperaturen um rund

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drei Viertel Grad gestiegen sind im Durchschnitt und dass die Extreme zugenommen haben. Die Erhöhung der Temperaturen bedeutet, dass das Klima etwas dynamischer wird, es kommt schneller zu Gewittern und Niederschlägen, aber auch zu längeren Trockenperioden. Das Wetter ist weniger berechenbar und extremer. Das ist vielleicht ein Zeichen des Klimawandels. Was muss getan werden, damit Hungersituationen wie in diesem Jahr in diesen Dürregebieten verhindert werden können? Zum einen muss sich der Staat auf Hungersituationen vorbereiten, er muss Vorräte anlegen, damit er im Notfall Unterstützung leisten kann. Aber es geht zum andern auch darum, diesen Menschen mehr Optionen zum Überleben zu geben. Neben der Selbstversorgung mit Vieh, Milch und manchmal etwas Hirse, sollten sie die Möglichkeit haben, Vieh zu verkaufen, um die Güter einkaufen zu können, die sie benötigen. Dazu braucht es zugängliche Märkte und bessere Voraussetzungen für den Kauf und Verkauf von Waren. Daneben gibt es die traditionelle lokale Strategie, die besagt, dass den Pastoralisten ihre Mobilität gelassen werden sollte. Sie sollten sich zwischen den Staaten bewegen können, ohne dass sie aufgehalten werden. Sie müssten die Freiheit erhalten, zu entscheiden, wo sie hinwandern wollen. Aber damit haben die Staaten gerade in Ostafrika extrem Mühe, die wollen alle Pastoralisten sesshaft machen. Das ist eine schon seit Jahrzehnten verfolgte Politik, ähnlich wie in Europa mit den Roma. Da will auch kein Staat, dass sie sich bewegen. Fragen: Jürg Keller

INTERVIEW HANS HURNI Foto: Amnesty

Funktionieren Nahrungsmittellieferungen nach Somalia? Oder gehen die Menschen in die Nachbarländer? Von der Hungerkatastrophe sind heute Menschen in Äthiopien, Kenia und Somalia betroffen. Die Somalier sind hauptsächlich nach Kenia gezogen. Die Äthiopier mussten nicht wegziehen; sie werden von der staatlichen Hilfe und von NGOs in Äthiopien versorgt. Dort sind die Verhältnisse nicht so gravierend. Als ich im August in Addis Abeba gewesen bin, habe ich während sechs Wochen nie etwas gehört von einer Hungersituation, obschon natürlich auch dort Versorgungsprobleme bestanden haben.

Hans Hurni ist Professor für Geografie und Nachhaltige Entwicklung am Geografischen Institut der Universität Bern und Direktor des Nationalen Forschungsschwerpunkts Nord-Süd am Zentrum für Entwicklung und Umwelt (Centre for Development and Environment, CDE). Hans Hurni hat neben anderen Ländern langjährige Felderfahrung in Äthiopien, Eritrea und Madagaskar.

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Auf der Flucht Dürre und steigende Lebensmittelpreise haben am Horn von Afrika zu einer dramatischen Hungerkatastrophe geführt. In Kenia sind die Flüchtlingslager hoffnungslos überfüllt, während Somalia wegen des Bürgerkriegs von Hilfslieferungen abgeschnitten ist. Von Franziska Ulm und Kristina Schmidt

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ie Nahrungsmittelknappheit am Horn von Afrika hat in den vergangenen Monaten dramatische Ausmaße angenommen. Eine lang anhaltende Dürre und Missernten bei gleichzeitig steigenden Lebensmittelpreisen haben laut den Vereinten Nationen zur größten Hungerkatastrophe in der Region seit 20 Jahren geführt. Der bewaffnete Konflikt in Somalia trägt zusätzlich zur Verschärfung der Lage bei. Die andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Rebellengruppen, Warlords, Clanchefs und Truppen der somalischen Übergangsregierung sowie der Afrikanischen Union machen insbesondere die Gegend in Süd- und Zentralsomalia unsicher und erschweren die Arbeit von Hilfsorganisationen. Hilfslieferungen von humanitären Organisationen müssen wegen der prekären Sicherheitslage immer wieder eingestellt werden. Zudem verhindert die Piraterie vor der Küste Somalias, dass die hungerleidende Bevölkerung über den Seeweg mit Hilfsgütern versorgt werden kann. Allein innerhalb Somalias befinden sich rund 1,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Mehr als 900.000 Somalier wurden inzwischen vom UNHCR als Flüchtlinge in den angrenzenden Nachbarstaaten registriert. Hinzu kommen jene, die unregistriert in den Nachbarländern leben. Von dieser Entwicklung ist vor allem Kenia betroffen, das im Vergleich zu den anderen Nachbarländern Somalias die meisten Menschen aufgenommen hat – eine halbe Million Flüchtlinge wurden dort inzwischen registriert. In dem ursprünglich für 90.000 Personen ausgelegten Lager Dadaab, im Nordosten Kenias, leben mittlerweile mehr als 460.000 Flüchtlinge. Und täglich kommen im Schnitt rund tausend neue Hilfesuchende dazu. Das Camp, das schon seit über zwei Jahrzehnten existiert, besteht eigentlich aus den drei Lagern Ifo, Dagahaley und Hagadera. Um der ständig wachsenden Zahl von Flüchtlingen zu begegnen, wurde inzwischen eine Erweiterung des Ifo-Lagers eröffnet. Dorthin werden vor allem jene gebracht, die nur noch außerhalb der Flüchtlingslager Platz fanden. Bis Ende November soll ein viertes Lager, Kambioos, fertiggestellt sein, das 90.000 Flüchtlingen Platz bietet und die anderen Camps entlasten soll. Das UNHCR hat bereits mit der Verlegung von Flüchtlingen nach Kambioos begonnen. Einige Flüchtlinge warten seit mehreren Monaten auf ihre Aufnahme in das Camp. Neuankömmlinge werden im besten Fall notdürftig unter Plastikplanen und Moskitonetzen untergebracht, in denen sie kaum vor der heißen Sonne oder vor schlechtem Wetter geschützt sind. Die Situation ist angespannt, Nahrungsmittel sind knapp, die sanitären Einrichtungen sowie die Infrastruktur sind angesichts der Überfüllung unzureichend. Die medizinischen Einrichtungen haben ihre Kapazitätsgrenze

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längst erreicht. Das Angebot an psychosozialer Betreuung und Beratung ist angesichts der Schwere der Traumata, die die große Mehrheit der aus Somalia kommenden Flüchtlinge erlitten hat, verschwindend gering. Wegen der Überfüllung haben auch Unsicherheit und Kriminalität zugenommen. Somalische Flüchtlinge und humanitäre Organisationen melden Diebstähle, sexuelle Gewalt und Zwangsverheiratungen von Minderjährigen. Es gibt in den Lagern nicht genügend Polizisten, die die Sicherheit der Bewohner garantieren könnten. Daneben berichten Flüchtlinge auch von Übergriffen durch kenianische Sicherheitskräfte in den Lagern und in deren Umgebung, die weitgehend ungeahndet bleiben. Manche Flüchtlinge leben schon seit ihrer Geburt im Camp. Das Leben außerhalb der Lager ist vielen von ihnen fremd. Dies liegt zum Teil daran, dass es ohne besondere Genehmigung nicht erlaubt ist, Dadaab zu verlassen. Wollen Flüchtlinge das Lager verlassen, so müssen sie einen Passierschein beantragen. Diesen erhalten zum Beispiel Schüler und Studenten, die nachweislich über ein Stipendium oder einen Platz in einer schulischen Einrichtung außerhalb des Lagers verfügen, oder Personen, die eine medizinische Versorgung benötigen, die in den Camps nicht verfügbar ist. Zudem kann aus familiären Gründen ein Passierschein beantragt werden. Flüchtlingen, die das Lager ohne Erlaubnis verlassen, droht die Inhaftierung oder Abschiebung durch die kenianischen Behörden. Trotz der anhaltenden Krise im Nachbarland entschied sich die kenianische Regierung im Jahr 2007, die Grenze zu Somalia zu schließen. Daraufhin wurde auch das vom UNHCR verwaltete Transitzentrum für Flüchtlinge in Liboi geschlossen, einer Stadt im Norden Kenias, die 15 Kilometer von der somalischen Grenze entfernt liegt. Das Transitzentrum diente dazu, ankommende Flüchtlinge aus Somalia zu registrieren und ihnen eine Erstversorgung zu bieten, um der Verbreitung von Krankheiten vorzubeugen. Seit der Schließung des Transitzentrums müssen somalische Flüchtlinge aus eigener Kraft das rund 80 Kilometer entfernte Lager in Dadaab erreichen. Auf ihrem beschwerlichen Weg sind sie auf offener Straße nicht selten Übergriffen von Kriminellen, aber auch von kenianischen Sicherheitskräften ausgesetzt. Insgesamt gelang es der kenianischen Regierung nicht, durch die Grenzschließung den Flüchtlingsstrom aus Somalia einzudämmen. Es hat sich für die kenianischen Behörden als unmöglich erwiesen, die 682 Kilometer lange Grenze effektiv zu überwachen. Im Oktober 2009 erhielt Amnesty International Berichte, dass kenianische Sicherheitskräfte somalische Flüchtlinge für die Ausbildung zu Soldaten der somalischen Übergangsregierung rekrutieren würden. Der Verteidigungsminister in Nairobi

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gab zwar zu, dass Kenia die Übergangsregierung in Somalia durch die Ausbildung von somalischen Staatsbürgern für eine »paramilitärische Polizei« unterstützt habe, widersprach jedoch Berichten, dass Flüchtlinge unter den Rekruten gewesen seien. Aber auch außerhalb der Lager ist das Leben für somalische Flüchtlinge nicht einfach. Somalische Asylbewerber müssen in Nairobi mit langwierigen Verfahren rechnen. Die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft erfolgt durch das UNHCR, das hierfür ein eigenes Verfahren anwendet. Wegen der großen Anzahl von Flüchtlingen, die auf ihre Registrierung warten, kommt es zu teilweise langwierigen Verzögerungen des Registrierungsverfahrens, das bis zu einem Jahr dauern kann. Viele Somalier lassen sich jedoch gar nicht beim UNHCR registrieren. Einige sind sich ihres Rechts auf Asyl gar nicht bewusst. Andere befürchten, auf dem Weg zum UNHCR-Büro von der Polizei verhaftet und abgeschoben zu werden. Die kenianischen Nichtregierungsorganisationen, die kostenlose juristische Hilfe anbieten, erreichen die Flüchtlinge, die in der Illegalität leben, kaum. Hinzu kommt die Befürchtung vieler Kenianer, dass mit den Flüchtlingen auch die Konflikte aus dem Nachbarland sowie Kriminelle ins Land gelangen könnten. Dennoch ist die Hilfsbereitschaft für die somalischen Flüchtlinge in der kenianischen Bevölkerung sehr groß. Nach dem Ausbruch der Hungerkrise in Somalia spendeten Kenianer binnen zwei Wochen über drei Millionen Dollar für ihre Unterstützung. Wegen der anhaltend schlechten Sicherheitslage in Somalia empfiehlt das UNHCR allen Ländern, in denen somalische Flüchtlinge Asyl suchen, einen gruppenorientierten Schutzansatz zu verfolgen. Das bedeutet, dass Abschiebungen nach Südund Zentralsomalia grundsätzlich unterlassen werden sollten, davon ausgehend, dass alle Personen, die sich in diesen Regionen aufhalten, bedroht sind. Die verheerende, lebensbedrohliche Situation in Somalia scheint bei Teilen der internationalen Gemeinschaft in den vergangenen Jahren in Vergessenheit geraten zu sein. Denn trotz der Empfehlungen für einen Abschiebestopp nach Süd- und Zentralsomalia vom UNHCR und von Amnesty International wurden immer wieder somalische Flüchtlinge in ihre Heimat abgeschoben. Kenianische Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass die Sicherheitskräfte des Landes in der Grenzregion Tausenden von somalischen Flüchtlingen die Einreise verweigern, bzw. sie zurückschicken. Im Jahr 2009 wurden mindestens 93 Asylsuchende nach Somalia abgeschoben. Im November vergangenen Jahres wurden über 3.000 Somalier von kenianischen Sicherheitskräften nach Somalia zurückgedrängt, obwohl die Flüchtlinge bereits vom UNHCR registriert wurden. Sie waren vor gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der regierungskritischen al-Shabaab-Miliz und der regierungsnahen Ahlu Sunna Wal Jamaa-Miliz geflohen. Die kenianischen Behörden verweigern somalischen Flüchtlingen damit immer wieder das Recht auf Asyl. Doch Kenia ist nicht das einzige Land, das gegen das internationale Prinzip des »Non-Refoulement« verstößt. Auch Länder wie Schweden, Kanada, Großbritannien oder die Niederlande haben in der Vergangenheit versucht, Flüchtlinge nach Somalia abzuschieben. Erst im Juni diesen Jahres urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Verfahren zweier somalischer Asylsuchender gegen Großbritannien, dass die britischen Behörden die Somalier nicht abschieben dürfen. Der Gerichtshof begründete seine Entscheidung damit, dass jeder Flüchtling, der

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in die Bürgerkriegsgebiete Somalias abgeschoben werde, allein wegen der Unsicherheit vor Ort permanent dem Risiko von Misshandlung oder Lebensgefahr ausgesetzt sei und es ohne enge familiäre Beziehungen auch keine Möglichkeit zur Flucht innerhalb Somalias gebe. Die große Zahl an Flüchtlingen, die Kenia, aber auch Äthiopien und Jemen in den vergangenen 20 Jahren aufgenommen haben, stellt für die genannten Länder eine große finanzielle, personelle und gesellschaftliche Herausforderung dar. Länder wie Deutschland, Australien oder die USA könnten Verantwortung übernehmen und die Erstaufnahmeländer entlasten, indem sie sich an dem Resettlemt-Programm des UNHCR beteiligten. Bislang nehmen jedoch lediglich Australien, Neuseeland, Schweden und die USA somalische Flüchtlinge über Resettlement-Programme auf. In den vergangenen Jahren konnte dadurch lediglich ein Drittel der somalischen Flüchtlinge aus dem Resettlement-Programm an Drittstaaten vermittelt werden. Darüber hinaus ist die internationale Gemeinschaft gefordert, die langfristige Finanzierung der Flüchtlingslager des UNHCR sicherzustellen und den Flüchtlingen eine Perspektive aufzuzeigen. Einige Flüchtlinge leben seit zwei Jahrzehnten in Dadaab und könnten auch die nächsten 20 Lebensjahre dort verbringen. Denn eine Lösung der Konflikte in Somalia ist nicht in Sicht. Damit diese Menschen nicht wieder vergessen werden, bis die nächste Katastrophe die Schlaglichter auf die Region am Horn von Afrika lenkt, muss die internationale Gemeinschaft jetzt die Weichen für ein Leben in Würde in den Flüchtlingslagern stellen. Franziska Ulm ist Afrika-Expertin der deutschen Amnesty-Sektion. Kristina Schmidt war mehrere Jahre für Amnesty tätig und hat einige Zeit in Kenia gelebt.

NON-REFOULMENT Das Prinzip des Non-Refoulement verbietet die Ausweisung, Auslieferung, Abschiebung, Zurückweisung oder andere Art der Rückführung einer Person in ein Land oder Territorium, in dem für die Person ein reales Risiko besteht, verfolgt zu werden oder ernsthaft zu Schaden zu kommen. Dieses Prinzip wird im Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingkonvention) von 1951 und einer Vielzahl anderer internationaler Instrumente beschrieben. Außerdem wird das Prinzip des Non-Refoulement weithin als eine Norm des Völkergewohnheitsrechts angesehen.

44 MILLIONEN Weltweit sind fast 44 Millionen Menschen auf der Flucht. Das UNHCR betreut Flüchtlinge und stellt dabei fest, dass einige Flüchtlinge besonders schutzbedürftig sind. Dazu gehören z.B. Kinder, kranke oder alte Menschen. Sie haben nicht die Perspektive, in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Bei ihnen greift das sogenannte ResettlementProgramm. Das UNHCR vermittelt bei diesem Programm besonders schutzbedürftige Flüchtlinge unmittelbar aus ihrer Herkunftsregion in sichere Staaten, wo sie dauerhaft Aufnahme finden.

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»Ein Maßstab für Gerechtigkeit« Im Juni 2010 musste der Ägypter Khaled Said sterben, weil zwei Polizisten ihn zu Tode prügelten. Der 28-Jährige ist die Symbolfigur der Protestbewegung, die den langjährigen Präsidenten Hosni Mubarak stürzte. Im Oktober wurden die Polizisten wegen Totschlags zu sieben Jahren Haft verurteilt. Das Gespräch mit Khaled Saids Schwester Zahraa Kassem wurde vor der Urteilsverkündung geführt.

Foto: Amnesty

Ikone der Protestbewegung. Porträt von Khaled Said auf einem Rest der Berliner Mauer.

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Sie haben auch etwas auf die Mauerstücke geschrieben … Ja. »Khaleds Rechte sind Ägyptens Rechte.« Damit soll ausgedrückt werden, dass es bei der Einforderung von Khaleds Rechten auch um die Rechte Ägyptens geht. Der aktuelle Prozess gegen die beiden Polizisten ist für die Bevölkerung von großer Bedeutung – er ist ein Maßstab für Gerechtigkeit. Zwar darf man nicht verallgemeinern, aber es gibt Korruption in der ägyptischen Justiz. Wird in diesem Prozess fair verhandelt, werden die Menschen Vertrauen in die Justiz gewinnen. Falls das nicht passiert, kann man vom Justizsystem nicht mehr viel erwarten. Wie beurteilen Sie das Verfahren gegen die mutmaßlichen Täter? Es geht sehr langsam voran. Der Prozess wurde schon mehrmals mit der Begründung vertagt, man befürchte Ausschreitungen und könne den Schutz des anwesenden Sicherheitspersonals nicht garantieren. Die Hauptsache ist, dass die Verteidigung kein Schlupfloch findet, um die Anklage abzuwehren. Derzeit werden verschiedene Gutachten zum Tod Khaleds geprüft. Wir hoffen, dass nach der Prüfung nicht mehr wegen Gewaltanwendung, sondern wegen Mordes ermittelt wird. Wir sind jedoch zuversichtlich, dass die Angeklagten zur Verantwortung gezogen werden. Kurz nach dem Tod Ihres Bruders wurde die Facebook-Seite »Wir sind alle Khaled Said« gegründet. Welche Rolle spielte sie bei den Protesten? Viele Menschen schlossen sich dieser Seite an, weil sie befürchteten, ihnen könne dasselbe wie Khaled passieren. Die erste große Demonstration gegen Mubarak, am 25. Januar 2011, wurde über diese Seite organisiert. Obwohl die Proteste brutal niedergeschlagen wurden, waren danach immer mehr Menschen bereit, weiter auf die Straße zu gehen. Wie haben Sie Ihren Bruder in Erinnerung? Khaled war ein bescheidener Mensch. Er war nicht so oft mit Freunden unterwegs, hat sich aber sehr für das Internet und Musik interessiert. Er hat auch eigene Lieder geschrieben, arabischen Rap mit sehr politischen Inhalten. Vor uns hat er das versteckt und seine Lieder auch selbst nicht veröffentlicht. Das Internet nutzte er im Prinzip 24 Stunden am Tag. Als wir ihm gesagt haben, er solle doch eine Pause einlegen, entgegnete er, dass das Internet-Café immer geöffnet sei. Was er im Netz genau gemacht hat, wussten wir nicht. Von ihm hat man nur etwas erfahren, wenn er es von sich aus mitgeteilt hat. Bevor Khaled Said getötet wurde, wollte er angeblich ein Video über eine Polizeistation in Alexandria veröffentlichen, das deren Verbindungen in den Drogenhandel zeigt. Wussten Sie davon? Dieses Video war tatsächlich das einzige, das ich vorher gesehen hatte. Er sagte, er wolle den Leuten vor Augen führen, was auf dieser Polizeistation wirklich vor sich gehe und dass dort mit

INTERVIEW

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ZAHRAA KASSEM

Drogen, zum Beispiel Haschisch, gehandelt werde. Ich habe ihn gefragt, wozu er es denn publik machen wolle. Die Leute wüssten doch bereits, was dort passiert. Aber er bestand darauf, es zu veröffentlichen. Wie haben Sie reagiert, als Sie von den Aktivitäten Ihres Bruders erfuhren? Wir konnten es zunächst gar nicht glauben. Ich selbst hatte gar kein Interesse an Politik und verfügte weder über einen Facebook-Account, noch habe ich mich mit Computern beschäftigt. In der Familie lasen wir höchstens die staatliche ägyptische Zeitung Al-Ahram und haben dadurch praktisch nur Regierungsinformationen aufgenommen. Khaled war es, der auf uns zukam und sagte: »Schaut mal hier, was ich im Internet gefunden habe. Glaubt nicht, was die Leute im Fernsehen und in den offiziellen Zeitungen sagen.« Mittlerweile haben sogar meine beiden Töchter, sie sind sieben und zehn Jahre alt, Interesse an solchen Dingen. Sie haben einen Verein im Namen Khaled Saids ins Leben gerufen. Wen möchten Sie damit unterstützen? Es geht um Hilfe für Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind wie wir und die beispielsweise zu Opfern von Polizeigewalt wurden. Weil wir mit unserem Gerichtsverfahren schon sehr weit gekommen sind, haben sich viele Menschen bei uns gemeldet. Wir wollen unser Wissen zur Verfügung stellen. Den Verein haben wir auch initiiert, weil der Name meines Bruders für politische Zwecke missbraucht wurde. Eine Partei hat ein Foto von ihm und meiner Mutter abgedruckt. Darunter stand: »Wenn ihr wollt, dass ich nicht mehr um mein Kind trauere, dann stimmt mit Ja.« Gegner der Partei haben das Foto zerrissen. Wir hatten jedoch weder mit der einen noch mit der anderen Gruppierung etwas zu tun. Deshalb haben wir uns dafür entschieden, klarzustellen, wofür Khaled Said steht und dass es um seine Rechte geht. Was muss sich in Ägypten ändern, damit die Bevölkerung die Rechte, die sie einfordert, auch bekommt? Die Staatsorgane und Institutionen müssen reformiert werden. Außerdem gibt es Korruption in vielen Bereichen. Wir brauchen eine zivile Regierung, die Wahlen transparent und fair durchführt – selbst wenn dadurch die Muslimbruderschaft zum Zuge kommt. Dem Militär vertraue ich nicht. Ich bezweifle, dass es im Moment die Sicherheitslage in Ägypten und damit auch die Sicherheit der Wahlen gewährleisten kann. Fragen: Ralf Rebmann

INTERVIEW ZAHRAA KASSEM Foto: Amnesty

In Berlin hat ein Künstler auf einem Teil der ehemaligen Mauer ein Porträt von Khaled Said angebracht. Was empfinden Sie, wenn Sie Ihren Bruder so sehen? Darauf bin ich sehr stolz. Aber natürlich bleibt die Trauer, weil der eigene Bruder getötet wurde. Ich will die Gelegenheit nutzen, um Khaleds Bild und seine Bedeutung für die Protestbewegung weiter bekannt zu machen.

ist die Schwester von Khaled Said, einem Internetaktivisten, der im Juni 2010 in Alexandria von zwei Polizisten getötet wurde. Auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung war Zahraa Kassem im September 2011 in Berlin und nahm stellvertretend für ihren Bruder den Menschenrechtspreis der Stiftung entgegen. Sie ist Mutter von zwei Kindern und lebt in Kairo.

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Dein Brief kann Leben retten Zum Internationalen Tag der Menschenrechte startet Amnesty International auch in diesem Jahr den weltweiten Briefmarathon für Menschen in Gefahr. Von Daniel Kreuz Weltweit werden täglich Menschen verhaftet, bedroht, gefoltert oder getötet, weil sie ihre Meinung sagen, sich mit friedlichen Mitteln gegen ihre Regierung auflehnen oder der »falschen« Religion oder ethnischen Gruppe angehören. Amnesty International setzt sich für diese Menschen ein – mit Briefen, Faxen und E-Mails. Wenn Tausende Menschen überall auf der Welt aktiv werden und die zuständigen Behörden mit Briefen überhäufen, zeigt das Wirkung. Denn eine Unterschrift ist mächtiger als viele glauben. Je mehr Menschen bei den Petitionen und Appellschreiben von Amnesty International mitmachen, umso größer wird der Druck auf die Behörden, einen politischen Gefangenen freizulassen, eine zum Tode Verurteilte zu begnadigen oder die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen. Dies beweist auch Jahr für Jahr der weltweite Amnesty-Briefmarathon. Dabei setzen sich Menschen in vielen verschiedenen Ländern mit Appellschreiben für bestimmte Einzelfälle zu einem bestimmten Zeitpunkt ein. Dieser massive Protest hat stets einen großen Effekt auf die Behörden in den Ländern, in denen Menschenrechte verletzt werden. Zudem zeigt er den Betroffenen, dass sie nicht allein sind und nicht vergessen werden. Der Briefmarathon findet immer in den Tagen rund um den 10. Dezember statt, dem Internationalen Tag der Menschenrechte. Anlässlich des Jubiläums von Amnesty wird der Briefmarathon 2011 mit Licht-Aktionen verbunden sein unter dem Motto

Jabbar Savalan Aserbaidschan Seite 61

»Shine a light«. Denn seit inzwischen fünf Jahrzehnten bringt Amnesty Menschenrechtsverletzungen ans Licht der Öffentlichkeit und gibt damit vielen Menschen in schwierigsten Situationen neue Hoffnung auf eine bessere Zukunft. International wurden 15 Fälle für den Briefmarathon ausgewählt, von denen die deutsche Amnesty-Sektion fünf besonders unterstützt: Jabbar Savalan aus Aserbaidschan, Filep Karma aus Indonesien, Fatima Hussein Badi aus dem Jemen, Jean-Claude Roger Mbede aus Kamerun und Natalja Estemirowa aus Russland. Amnesty hofft auf ein ähnlich gutes Ergebnis wie im vergangenen Dezember. In nur zehn Tagen schrieben Amnesty-Mitglieder und Unterstützer aus über 50 Ländern 636.139 Appelle. Und noch bevor der Briefmarathon vorbei war, erreichte sie am 14. Dezember die erste Erfolgsmeldung: Der gambische Oppositionspolitiker Femi Peters wurde vorzeitig aus der Haft entlassen. Insgesamt hatte Amnesty im vergangenen Jahr zehn Fälle für den Briefmarathon ausgesucht. In sieben Fällen konnte die Organisation später positive Entwicklungen vermelden, von Guatemala und Mexiko über Senegal und Tunesien bis hin zu Rumänien und Russland. Dieser Erfolg war nur möglich, weil sich Tausende gewöhnliche Menschen auf der ganzen Welt mit Appellschreiben am Briefmarathon beteiligt hatten. Auch Sie können dabei sein und einen ganz konkreten Unterschied für einen Menschen in Gefahr machen: Nehmen Sie unter www.amnesty.de/briefmarathon ganz einfach online teil oder versenden Sie die beigelegten Appellpostkarten. Der Autor ist freier Journalist.

Natalja Estemirowa Russland, Seite 62

Jean-Claude Roger Mbede Kamerun, Seite 63

Fatima Hussein Badi Jemen, Seite 59

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Filep Karma Indonesien, Seite 60

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Fatima Hussein Badi wurde im Jemen wegen Mord zum Tod verurteilt. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs hat sie die Tat nicht begangen. Dennoch droht der 48-Jährigen die Hinrichtung. Fünf Stunden lang hielt Fatima Hussein Badi durch. Fünf Stunden lang beteuerte sie im Verhör immer wieder ihre Unschuld, ohne anwaltlichen Beistand, ganz auf sich allein gestellt, die gesamte Nacht hindurch. Fünf Stunden lang weigerte sie sich, den Mord an ihrem Ehemann zu gestehen. Dann brachten die Polizisten ihren Bruder Abdullah in den Verhörraum. Sein Gesicht war blutüberströmt. Aber die vierfache Mutter gestand immer noch nicht. Daraufhin drohten die Polizisten, sie vor den Augen des Bruders zu vergewaltigen. Vermutlich, um seiner Schwester dieses Martyrium zu ersparen, gab Abdullah die Tat schließlich zu. Fatima Hussein Badi und ihr Bruder Abdullah Hussein Badi waren am 13. Juli 2000 festgenommen und verhört worden. Sie wurden verdächtigt, Fatimas Ehemann Hamoud Ali al-Jalal gemeinsam ermordet zu haben. Er war Anfang des Monats verschwunden, und seine Familie hatte erfolglos nach ihm gesucht. Eine Woche später fand die Polizei seine Leiche. Weil es zuvor offenbar Eheprobleme gegeben hatte, nahmen die Polizisten seine Frau und ihren Bruder fest. Fatima betonte, es habe sich um gewöhnliche Konflikte gehandelt, »wie man sie in jeder Familie sieht«. Im Februar 2001 wurden Fatima und Abdullah zum Tode verurteilt. Bei mehreren gerichtlichen Anhörungen wurde ihnen ein rechtlicher Beistand verweigert. Wann immer sie versuchten, eine Aussage zu machen, wurden sie zum Schweigen gebracht. Ein Berufungsgericht bestätigte das Urteil 2002. Im September 2003 befand jedoch der Oberste Gerichtshof, Fatima

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BRIEFMARATHON

Foto: Amnesty

Allein gegen alle Hussein Badi habe sich zwar schuldig gemacht, indem sie den Leichnam versteckt habe, sie sei aber nicht des Mordes schuldig. Der Gerichtshof reduzierte die Strafe gegen sie daher auf vier Jahre Haft. Im Januar 2004 griffen Staatspräsident Ali Abdullah Saleh und der Parlamentssprecher Sheikh Abdullah al-Ahmar in den Fall ein, und wenig später wurde die Strafminderung wieder rückgängig gemacht. Verwandte des Ehemanns hatten gegen die Umwandlung des Urteils protestiert. Durch das Berufungsurteil hätte Fatima wieder den Status als Erbin ihres Ehemanns erhalten. Nach dem Qisas-Prinzip der Scharia hätte sie dann das Recht gehabt, ihren Bruder, den vermeintlichen Mörder ihres Mannes, zu begnadigen. Doch dazu kam es nicht: Ihr Bruder Abdullah wurde im Mai 2005 hingerichtet. Fatima droht weiterhin die Todesstrafe. Amnesty fordert ihre Begnadigung und die Wiederaufnahme des Verfahrens. Die heute 48-Jährige ist eine von Hunderten, die im Jemen in der Todeszelle sitzen. Seit vielen Jahren kritisiert Amnesty die Anwendung der Todesstrafe in dem Land. Sie ist für viele verschiedene Vergehen vorgesehen. Die Bandbreite reicht von Mord bis zu gewaltlosen Taten, wie z.B. »Ablehnung des Islam«. Der Jemen gehört zu den Staaten mit den meisten Todesurteilen weltweit. 2010 wurden mindestens 27 Menschen zum Tode verurteilt und 53 hingerichtet. Fatima Hussein Badi beteuert nach wie vor ihre Unschuld. Sie kann jederzeit hingerichtet werden. Schon nach der Exekution ihres Bruders sagte sie: »Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden kann. Ich habe niemanden.« Auch auf die Hilfe ihrer Familie kann sie nicht zählen. Ihr ältester Sohn hat es bereits abgelehnt, seine Mutter nach dem Qisas-Prinzip zu begnadigen. Er fordert ihre sofortige Hinrichtung.

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Filep Karma demonstrierte in Indonesien friedlich für die Unabhängigkeit der Region Papua. Dafür wurde er 2005 zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Für viele Menschen ist die Flagge ihres Landes nur ein Stück Stoff. Für Filep Karma symbolisiert sie jedoch die Hoffnung auf Unabhängigkeit und Freiheit. Wenngleich sie ihn selbst die Freiheit gekostet hat. Der ehemalige Regierungsbeamte hatte am 1. Dezember 2004 mit etwa 200 weiteren Personen in Abepura in der Provinz Papua an einer friedlichen politischen Zeremonie teilgenommen: Sie wollten an diesem Tag der Unabhängigkeitserklärung Papuas von 1962 gedenken. Während der Zeremonie hisste Filep Karma die Morgensternflagge, ein Symbol der Unabhängigkeit Papuas. Doch das Banner mit dem weißen Stern auf rotem Grund und den blauen und weißen Streifen ist verboten. Indonesien hat die Autonomie Papuas nie anerkannt. Gegen Separatisten gehen die Sicherheitskräfte mit exzessiver Gewalt vor, was immer wieder zu Opfern unter der Zivilbevölkerung führt. Amnesty International dokumentiert regelmäßig Fälle von Folter, außergerichtlichen Hinrichtungen und willkürlichen Verhaftungen. Auch am 1. Dezember 2004 gingen die Sicherheitskräfte mit aller Härte vor. Die Polizisten gaben Warnschüsse ab und gingen mit Schlagstöcken auf die versammelten Menschen los. Filep Karma wurde festgenommen. Berichten zufolge soll er auf dem Weg zur Polizeistation misshandelt worden sein. Im Mai 2005 wurde Karma wegen »Rebellion und Hochverrat« sowie »Verbreitung von Feindschaft und Hass gegen den Staat« zu 15 Jahren Haft verurteilt. Mehrfach trat Karma in den Hungerstreik, um gegen seine Inhaftierung und die schlechte Behandlung der Häftlinge im

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Foto: Amnesty

Flagge zeigen Gefängnis von Abepura zu protestieren. Schon vor seiner Inhaftierung litt der heute 52-Jährige an gesundheitlichen Problemen. Diese verschlimmerten sich durch die schlechten Bedingungen in den kalten, feuchten und dunklen Zellen. Ab August 2009 wurde sein Zustand kritisch: Untersuchungen ergaben, dass er unter anderem an einer Lungenentzündung und einer Harnwegsinfektion litt und sich zudem Wasser in seiner Lunge befand. Ein Arzt empfahl, Karma in der indonesischen Hauptstadt Jakarta weiterzubehandeln. Die Gefängnisbehörden lehnten dies jedoch mit der Begründung ab, man habe dafür kein Geld. Erst als Amnesty und andere Nichtregierungsorganisationen mit Appellschreiben den Druck auf die Behörden erhöhten, wurde Karma im Juni 2010 für mehrere Tage zur Behandlung nach Jakarta gebracht. Wenige Wochen später bot man ihm eine Verkürzung seiner Haftstrafe an. Doch Karma lehnte das Angebot ab, in seinen Augen wäre dies ein Schuldeingeständnis gewesen. Stattdessen betonte er, dass er niemals hätte festgenommen werden dürfen, nur weil er friedlich sein Recht auf freie Meinungsäußerung ausübte. Amnesty International fordert die indonesischen Behörden auf, Filep Karma unverzüglich und bedingungslos freizulassen, da er nur wegen seiner Teilnahme an einer friedlichen Demonstration festgenommen wurde. In einer Videobotschaft bedankte sich Karma im Juni 2010 auch im Namen anderer Gefangener von seinem Krankenbett aus für die weltweite Unterstützung durch Amnesty: »Wir haben viele Postkarten, Briefe und Nachrichten bekommen, die uns neue Hoffnung gaben.«

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Jabbar Savalan verbüßt in Aserbaidschan eine Haftstrafe von zweieinhalb Jahren – offiziell wegen Drogenbesitzes. Wahrscheinlicher ist, dass er wegen regierungskritischer Äußerungen ins Gefängnis musste. Mit ein paar Mausklicks wollte Jabbar Savalan den »arabischen Frühling« nach Aserbaidschan holen. Auch in seiner Heimat sollte sich endlich etwas ändern. Deswegen forderte der damals 19-jährige Geschichtsstudent am 4. Februar 2011 über Facebook zu friedlichen Protesten gegen die Regierung in der Hauptstadt Baku auf. Zu diesem Zeitpunkt war der tunesische Präsident bereits gestürzt, in Ägypten und im Jemen gingen Zehntausende Menschen auf die Straße. Ähnliche Proteste erhoffte sich Savalan, der Mitglied der oppositionellen Volksfront-Partei ist, auch in seinem Heimatland, das seit 2003 von Präsident Ilham Alijew autoritär regiert wird. Immer wieder werden Journalisten und Oppositionelle bedroht, eingeschüchtert und angegriffen, die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit werden systematisch verletzt. Kritik wird nicht geduldet. Das bekam auch Savalan schnell zu spüren. Schon wenige Stunden, nachdem er auf Facebook zu Protesten aufgerufen und einen regierungskritischen Zeitungsartikel verbreitet hatte, sagte er seiner Familie, dass er verfolgt werde. Am nächsten Tag wurde er auf dem Heimweg von einem Parteitreffen in der Stadt Sumgayit von Polizisten festgenommen und auf eine Wache gebracht. Dort wurde in seiner Manteltasche angeblich ein Päckchen mit 0,74 Gramm Marihuana gefunden. Savalan wurde zwei Tage lang intensiv verhört, ohne dass ein Rechtsbeistand anwesend war. Nach seinen Angaben wurde er von den Beamten so lange bedroht und geschlagen, bis er ein »Geständnis« unterschrieb.

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Eiszeit in Baku Savalan beteuert jedoch, dass er keine Drogen konsumiere und ihm das Marihuana bei seiner Verhaftung untergeschoben worden sei. Seine Familie, Freunde und Klassenkameraden haben Amnesty International gegenüber bekräftigt, dass Savalan weder raucht noch Alkohol trinkt und keinerlei Drogen nimmt. Dies bestätigte auch der nach der Festnahme vorgenommene Bluttest, der keine Spuren von Drogen aufwies. Trotzdem wurde der junge Mann am 4. Mai 2011 wegen illegalen Drogenbesitzes zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Eine Gruppe von Demonstranten, die vor dem Gerichtsgebäude gegen das Urteil protestierte, wurde von der Polizei brutal auseinandergetrieben. Selbst Savalans Rechtsanwalt Anar Gasimov wurde Opfer der Polizeischikanen, wie er Amnesty International berichtete. Nach dem Gerichtsverfahren sei er von dem Beamten, der Savalan verhört hatte, bedroht worden. Der Polizist habe gesagt, dass ihm Gasimovs Schlussplädoyer nicht gefallen habe und er wisse, dass der Anwalt in Sumgayit wohne, und er nun sehen werde, »was er für ihn tun könne«. Amnesty geht davon aus, dass die Anklage gegen Jabbar Savalan konstruiert ist und dass er nur wegen seines politischen Engagements in Haft ist. Die Organisation betrachtet ihn als gewaltlosen politischen Gefangenen und fordert seine sofortige Freilassung. Falls die Regierung dieser Forderung nicht nachkommt, wird Savalan 30 Monate in Haft verbringen. Seinen 20. Geburtstag musste er bereits hinter Gittern feiern. Statt einem »arabischen Frühling« erleben die Menschen in Aserbaidschan eine politische Eiszeit.

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Vor mehr als zwei Jahren wurde die russische Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa entführt und ermordet. Die Täter und ihre Hintermänner wurden bis heute nicht zur Verantwortung gezogen. Es geschah in aller Öffentlichkeit: Am 15. Juli 2009 verließ Natalja Estemirowa gegen 8.30 Uhr ihr Haus im tschetschenischen Grosny, als sich vier Männer auf sie stürzten. Die 50-Jährige schrie noch laut: »Ich werde entführt!«, dann zerrten die Männer Estemirowa in einen weißen Lada und fuhren davon. Noch am selben Tag fand man ihre Leiche in einem Waldgebiet in der Nachbarrepublik Inguschetien. Sie wies mehrere Schusswunden in Kopf und Brust auf. Auf tragische Weise erlitt Natalja Estemirowa somit dasselbe Schicksal wie diejenigen Menschen, für die sie sich jahrelang mutig und aufopferungsvoll eingesetzt hatte. Seit dem Jahr 2000 hatte sie als führende Mitarbeiterin der russischen Bürger- und Menschenrechtsorganisation »Memorial« in Fällen von schweren Menschenrechtsverletzungen, wie Folter, Verschleppung und Mord, in Tschetschenien und anderen Ländern des Kaukasus ermittelt. Die Organisation stellte fest, dass dort im Zuge der Bekämpfung islamistischer Gruppen seit den neunziger Jahren mehrere Tausend Menschen spurlos verschwunden sind. Die Journalistin und ehemalige Lehrerin half Familien bei der Suche nach ihren entführten Angehörigen und berichtete über Verbrechen an Zivilisten durch Militärs und Sicherheitskräfte. Damit machte sie sich mächtige Feinde, unter anderem den kremeltreuen tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow. Nach Angaben von »Memorial« soll er sie öffentlich bedroht und mehrmals beleidigt haben. In einem ihrer letzten Interviews hatte die kritische Journalisten gesagt, sie träume

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Foto: Amnesty

Das lange Warten auf Gerechtigkeit davon, dass Kadyrow vor einem Gericht stehen muss und alle seine Verbrechen untersucht werden. Estemirowa wusste, dass ihre Arbeit gefährlich war: »Wenn du ein wahrer Menschenrechtsaktivist bist, verstößt du permanent gegen die ungeschriebenen Gesetze der russischen Regierung«, sagte sie. Trotzdem machte die Mutter einer Tochter unbeirrt weiter. Amnesty verlor mit ihr eine enge Freundin und Verbündete, mit der nicht zuletzt die deutsche Sektion jahrelang vertrauensvoll zusammengearbeitet hatte. Die Ermordung Estemirowas ist ein weiteres trauriges Beispiel dafür, dass diejenigen, die sich in Russland und im Kaukasus für die Menschenrechte einsetzen, selbst nicht genügend geschützt sind. Zwar versprach der russische Präsident Dimitrij Medwedew, das Verbrechen werde schnell aufgeklärt. Lange Zeit geschah allerdings nichts. Im Juli 2011 verkündeten russische Ermittler dann, dass Islamisten Estemirowa ermordet hätten. Die Recherchen von Amnesty und »Memorial« widersprechen dieser Behauptung. Die Organisationen kritisieren, dass die Behörden einseitig ermittelten und Spuren, die auf die Beteiligung örtlicher Polizeikräfte hindeuten, nicht nachgegangen sind. Sie fordern, dass die wahren Täter und ihre Hintermänner endlich vor Gericht gestellt werden. Dass die russische Justiz schnell ermitteln kann, wenn sie will, zeigte sich im Fall von Oleg Orlow. Als der »Memorial«-Vorsitzende den tschetschenischen Präsidenten Kadyrow für den Mord an Estemirowa verantwortlich machte, wurde er von Kadyrow auf Schadensersatz verklagt, weil er angeblich »die Ehre und Würde« des tschetschenischen Präsidenten verletzt hätte. Ein Moskauer Gericht verurteilte Orlow daraufhin zur Zahlung von 70.000 Rubel. Erst in der nächsten Instanz wurde Orlow freigesprochen.

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Der Kameruner Jean-Claude Roger Mbede wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er angeblich homosexuelle Handlungen begehen wollte. Lieben, wen man möchte. Für Homosexuelle in Kamerun ist dies ein unerfüllbarer Wunsch. Wie in vielen afrikanischen Ländern ist der Hass gegen Homosexuelle auch in Kamerun weit verbreitet. Die kamerunische Justiz bietet keinen Schutz, im Gegenteil. Sie verfolgt und bestraft Personen, von denen auch nur vermutet wird, dass sie homosexuell sind – wie im Falle des Studenten Jean-Claude Roger Mbede. Am 2. März 2011 traf sich der 32-Jährige mit einem Bekannten, dem er zuvor mehrere SMS geschickt hatte. Doch das Treffen war eine Falle: Der Bekannte kam nicht allein, sondern brachte Angehörige eines Sicherheitsdienstes des Verteidigungsministeriums mit. Er hatte sie über das anstehende Treffen informiert und ihnen die SMS-Nachrichten gezeigt. Die Sicherheitskräfte nahmen Mbede fest und verlegten ihn nach sieben Tagen ins Kondengui-Zentralgefängnis in der Hauptstadt Yaoundé. Am 28. April 2011 befand ihn ein Gericht für schuldig und verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von drei Jahren wegen »Homosexualität und versuchter homosexueller Handlungen«. Nach Abschnitt 347a des kamerunischen Strafgesetzbuchs stellt Homosexualität eine Straftat dar, für die bis zu fünf Jahre Gefängnis verhängt werden können. Dabei werden nicht nur homosexuelle Handlungen, sondern auch die homosexuelle Identität der Angeklagten sowie der Versuch homosexuelle Handlungen zu begehen, bestraft. Von der Gesellschaft werden Schwule und Lesben geächtet und nicht selten Opfer tätlicher Angriffe. Sogar die Nationale Menschenrechtskommission lehnt es ab, die Rechte von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender-Personen anzuerken-

BERICHTE

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BRIEFMARATHON

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Hetze gegen Homosexuelle nen und zu verteidigen. In den Medien finden regelrechte Hetzkampagnen statt, in denen Homosexuelle – oder diejenigen, die man für solche hält – gegen ihren Willen geoutet werden. Mbede verbüßt seine Haft im Kondengui-Gefängnis, dessen Gefangene unter schlechten sanitären Verhältnissen, unzureichender Nahrung und medizinischer Versorgung sowie Überbelegung leiden. Nach Informationen von Amnesty wurde das Gefängnis für 700 Häftlinge gebaut. Im August 2010 waren dort jedoch 3.852 Menschen inhaftiert. Seither hat sich die Situation nicht verbessert. Mbede berichtete, dass er seit seiner Einlieferung auf dem Fußboden schlafen muss. In den Augen von Amnesty International ist Mbede ein gewaltloser politischer Gefangener, der nur wegen seiner mutmaßlichen sexuellen Orientierung verurteilt worden ist. Amnesty fordert seine sofortige Freilassung und ein Ende der Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen. »In Kamerun wird Homophobie von der Regierung geduldet«, kritisiert Erwin van der Borght, der Direktor des AfrikaProgramms von Amnesty. »Diejenigen, die wegen Homosexualität verhaftet wurden, sind der Gefahr ausgesetzt, von anderen Häftlingen oder Wärtern wegen ihrer vermuteten sexuellen Orientierung tätlich angegriffen zu werden.« Dieses Schicksal droht auch Mbede. Wie Amnesty erfuhr, wurde er bis jetzt nur deswegen nicht angegriffen, weil ihm eine lokale Organisation Geld zukommen ließ, damit er Schutzgeld bezahlen konnte. Doch sobald das Geld aufgebraucht ist, wird Mbede wieder in Gefahr sein, misshandelt zu werden. Denn, so Sébastien Mandeng von der Menschenrechtsorganisation »Association pour la défense des droits des homosexuels«: »Lesben, Schwule und Bisexuelle sind in Kamerun weniger wert als Hunde.«

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert, ermordet, verschleppt oder man lässt sie »verschwinden«. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht regelmäßig an dieser Stelle drei Einzelschicksale, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie bitte eine Kopie an AMNESTY INTERNATIONAL.

AMNESTY INTERNATIONAL Postfach, 53108 Bonn Tel.: 0228 - 98 37 30, Fax: 0228 - 63 00 36 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de Spendenkonto Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00 oder Postbank Köln Konto: 22 40 46 - 502, BLZ: 370 100 50

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Foto: privat

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

CHINA LIU XIAOBO UND LIU XIA Der prominente chinesische Akademiker und Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo verbüßt zurzeit eine Gefängnisstrafe wegen »Anstiftung zur Untergrabung der Staatsmacht«. Seine Frau, die Dichterin und Künstlerin Liu Xia, steht in Peking rechtswidrig unter Hausarrest. Amnesty betrachtet beide als gewaltlose politische Gefangene und fordert ihre Freilassung. Liu Xiaobo wurde am 25. Dezember 2009 zu elf Jahren Haft verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, zwischen 2005 und 2007 sechs strafrechtlich relevante Artikel geschrieben sowie die sogenannte Charta 08 aufgesetzt und diese im Internet veröffentlicht zu haben. Die Charta 08 ruft zum Schutz der Menschenrechte und zu demokratischen Reformen in China auf. Das Gericht beurteilte sie als »verleumderisch« und als einen Versuch, einen Umsturz anzuzetteln. In den sechs Artikeln, die zu seiner Verurteilung herangezogen wurden, hatte sich Liu Xiaobo gegen Korruption, Zensur und die Ein-Parteien-Herrschaft gewandt. Das Gericht sah darin ein »Schüren von Gerüchten, Verleumdung und üble Nachrede«, die die Grenzen der Meinungsfreiheit überschreiten und Straftaten darstellen. Liu Xiaobo wird im Jinzhou-Gefängnis in der Provinz Liaoning im Nordosten Chinas festgehalten. Nach Verbüßung seiner Strafe wird er weitere zwei Jahre seine politischen Rechte nicht wahrnehmen dürfen. Seine Frau Liu Xia wurde nach der Bekanntgabe des Friedensnobelpreises für ihren Mann im Oktober 2010 rechtswidrig unter Hausarrest gestellt. Das letzte Lebenszeichen von Liu Xia gab es im Februar 2011, als sie kurzzeitig im Internet Kontakt mit einer Freundin aufnehmen konnte. Sie sagte, sie fühle sich schlecht, könne das Haus nicht verlassen und ihre ganze Familie würde als Geisel gehalten. Berichten zufolge konnten sich Liu Xia und Liu Xiaobo seit Januar 2011 zweimal sehen. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao und fordern Sie die sofortige und bedingungslose Freilassung von Liu Xiaobo. Dringen Sie außerdem auf die Aufhebung des Hausarrests und der Einschränkungen der Meinungsfreiheit von Liu Xia. Schreiben Sie in gutem Chinesisch, Englisch oder auf Deutsch an: Premier Wen Jiabao The State Council General Office 2 Fuyoujie, Xichengqu Beijingshi 100017 VOLKSREPUBLIK CHINA (korrekte Anrede: Dear Premier / Sehr geehrter Herr Ministerpräsident) Fax: 00 86 - 10 - 65 96 11 09 (c/o Ministry of Foreign Affairs) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Volksrepublik China S.E. Herrn Hongbo Wu Märkisches Ufer 54, 10179 Berlin Fax: 030 - 27 58 82 21 E-Mail: de@mofcom.gov.cn

AMNESTY JOURNAL | 01/2012


Im Jahr 1994 wurde Christi Cheramie zu lebenslanger Haft ohne Bewährung verurteilt. Damals war sie 16 Jahre alt. Die heute 33-Jährige hat bereits mehr als die Hälfte ihres Lebens im Gefängnis verbracht. Die Verhängung einer lebenslangen Haft ohne Bewährung gegen eine Minderjährige verstößt gegen das Völkerrecht. Christi Cheramie wurde schuldig befunden, die Großtante ihres 18-jährigen Freundes getötet zu haben. Sie bekannte sich schuldig, kurz bevor ihr Verfahren vor einem Gericht für erwachsene Straftäter begann. Sie fürchtete, man könne sie ansonsten vor diesem Gericht zum Tode verurteilen. 2001 versuchte sie erfolglos, ihr Schuldgeständnis zu widerrufen. Sie gab an, das damalige Verfahren nicht begriffen und sich deshalb selbst belastet zu haben. Eigenen Angaben zufolge soll ihr Freund die Tat begangen haben. Die Gefängniswärter beschreiben sie als »vorbildliche Gefangene, der man eine zweite Chance einräumen sollte«. In Haft hat sie eine weiterführende Schule besucht und anschließend ein Studium in Agrarwissenschaften abgeschlossen. Sie unterrichtet dieses Fach im Gefängnis. Selbst die engsten Angehörigen des Opfers meinen heute, dass Christi Cheramie eine zweite Chance verdient habe. Die USA sind neben Somalia das einzige Land, das die UNO-Kinderrechtskonvention nicht ratifiziert hat. Die Konvention verbietet eine lebenslange Haftstrafe ohne Möglichkeit der Bewährung für minderjährige Straftäter. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Gouverneur von Louisiana und bitten Sie ihn um die Begnadigung von Christi Cheramie. Dringen Sie darauf, dass ein Gesetz erlassen wird, das die Verhängung lebenslanger Haftstrafen ohne Bewährung für Menschen unter 18 Jahren rückwirkend untersagt. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch an: Bobby Jindal Governor of Louisiana Post Office Box 94004 Baton Rouge, LA 70804-9004 USA (korrekte Anrede: Dear Governor / Sehr geehrter Herr Gouverneur) Fax: 001 - 225 - 342 70 99 E-Mail über das Kontaktformular auf der Website: http://www.gov.la.gov/index.cfm?md=form&tmp=email_governor (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika S.E. Herrn Philip Dunton Murphy Pariser Platz 2, 10117 Berlin Fax: 030 - 83 05 10 50 E-Mail: über http://germany.usembassy.de/email/feedback.htm

BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN

Foto: Athens Press Agency

Foto: privat

USA CHRISTI CHERAMIE

GRIECHENLAND MANOLIS KYPREOS Der Journalist Manolis Kypreos ist seit dem 15. Juni 2011 auf beiden Ohren taub. Er hatte in Athen über die Proteste gegen die Sparmaßnahmen der griechischen Regierung berichtet, als eine Blendgranate der griechischen Polizei in unmittelbarer Nähe explodierte. Als er auf dem Weg ins Krankenhaus einem jungen Demonstranten helfen wollte, haben Polizeibeamte seinen Angaben zufolge zudem mehrmals auf ihn eingeschlagen. Auch sei die Polizei gegen friedliche Demonstrierende mit Gewalt vorgegangen, habe chemische Substanzen in die Menge gesprüht, Blendgranaten geworfen und Schlagstöcke eingesetzt. Aufgrund seiner Gehörlosigkeit und des psychischen Traumas, unter dem er nach wie vor leidet, kann Manolis Kypreos nicht mehr als Journalist arbeiten. Er erzählte Amnesty International: »Wenn ich aus Konfliktgebieten berichtet habe und zwischen die Fronten geriet, habe ich mir immer gesagt. ›Heute ist ein guter Tag, um zu sterben.‹ Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, wenn ich hier aus Athen berichte.« Die griechischen Behörden haben ein Ermittlungsverfahren im Fall Manolis Kypreos eingeleitet. Der Journalist hat zudem eine Zivilklage eingereicht, um eine Entschädigung vom griechischen Staat zu erhalten. Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den griechischen Minister für Bürgerschutz, in denen Sie eine umfassende und unparteiische Untersuchung im Fall Manolis Kypreos fordern. Bitten Sie den Minister dafür einzutreten, dass strafrechtliche und disziplinarische Maßnahmen gegen die Verantwortlichen eingeleitet werden. Die Regierung muss sicherstellen, dass das Verhalten der Polizei bei Demonstrationen internationalen Standards für das Verhalten von Beamten mit Polizeibefugnissen entspricht. Schreiben Sie in gutem Griechisch, Englisch oder auf Deutsch an: Mr. Christos Papoutsis Ministry of Citizens’ Protection 4 P. Kanellopoulou Street 10177 Athens GRIECHENLAND (korrekte Anrede: Dear Minister / Sehr geehrter Herr Minister) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: € 0,75) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Hellenischen Republik S.E. Herrn Dimitris Rallis Jägerstraße 54/55, 10117 Berlin Fax: 030 - 20 62 64 44 E-Mail: info@griechische-botschaft.de

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AKTIV FÜR AMNESTY

Gemeinsame Botschaft. Aktion von Amnesty und Pro Asyl vor dem Innenministerium in Berlin.

LEINEN LOS FÜR DEN FLÜCHTLINGSSCHUTZ! geschlossen. Obwohl das UNO-Flüchtlingshilfswerk viele von ihnen als schutzbedürftig eingestuft hat, weigern sich die meisten EU-Staaten, darunter auch Deutschland, Aufnahmeplätze für sie zu schaffen. Viele Flüchtlinge sehen daher keinen anderen Ausweg, als die riskante Überfahrt über das Mittelmeer zu wagen. Allein in diesem Jahr sind dabei schätzungsweise 2.000 Menschen ums Leben gekommen. Die gemeinsame Aktion von Amnesty und Pro Asyl war ein voller Erfolg: Zahlreiche Medienvertreter waren mit Kamerateams vor Ort, auch in der Tagesschau wurde darüber berichtet. Eine offizielle Stellungnahme des Bundesinnenministeriums blieb jedoch aus. Dennoch scheinen Mitarbeiter der Behörde auf das Boot aufmerksam geworden zu sein: Kurz nach Ende der Aktion rückte die Wasserschutzpolizei an, um nach dem Rechten zu sehen. Ein Video der Aktion steht auf dem deutschen »YouTube«-Kanal von Amnesty zur Verfügung. Text: Christopher Schwarzkopf

Fotos: Christian Jungeblodt / Amnesty

»SOS für Flüchtlinge!« – Diese Botschaft war am 28. September von Aktivisten der Organisationen Amnesty International und Pro Asyl zu hören, die auf einem Boot auf der Spree vor dem Bundesinnenministerium in Berlin kreuzten. Ihr Anliegen: auf das Schicksal der Flüchtlinge in Nordafrika aufmerksam zu machen und an die Bundesregierung zu appellieren, diesen endlich zu helfen. Mit an Bord war auch Benno Fürmann. »Ich finde es ganz wichtig, Amnesty und Pro Asyl dabei zu unterstützen, Druck auf unsere Regierung auszuüben, damit sie ihrer Verantwortung gerecht wird«, so der Schauspieler. »Man redet zu viel über den Schutz vor Flüchtlingen und zu wenig über den Schutz von Flüchtlingen.« Die politischen Umbrüche in Nordafrika haben zu einer gravierenden Flüchtlingskrise geführt. Tausende Menschen harren derzeit unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern in Ägypten und Tunesien aus. Dort können sie nicht bleiben, die Rückkehr in ihre unsicheren Heimatländer ist jedoch auch aus-

Voller Erfolg. Aktionsboot, Benno Fürmann und Amnesty-Generalsekretär Wolfgang Grenz, Aktivisten.

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AUFRUF: JOURNALE GESUCHT

WOLFGANG GRENZ ÜBER

Vor fast 40 Jahren erschien die erste Ausgabe des Amnesty Journals, damals noch unter dem Titel »Informationen«. Viel hat sich seither getan: Aus dem Informationsblatt hat sich ein preisgekröntes Fachmagazin für Menschenrechte entwickelt – dem ersten und bisher einzigen in Deutschland. Mehr als 400 Ausgaben wurden seither publiziert. Sie dokumentieren nicht nur die Bandbreite der Themen, mit denen sich Amnesty in den vergangenen Jahrzehnten beschäftigt hat. Sie liefern auch einen Einblick über die Entwicklung der Organisation. Um diese wichtigen Informationen archivieren zu können, möchten wir gerne eine vollständige Sammlung aller Amnesty-Ausgaben erstellen. Wir suchen vor allem Amnesty Journale aus den Jahren 1973 bis 1979. Falls Sie entsprechende Ausgaben besitzen und zur Verfügung stellen möchten, schreiben Sie eine E-Mail an: journal@amnesty.de. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Redaktion Amnesty Journal

Zeichnung: Oliver Grajewski

FALSCHE ZAHLENSPIELE

Foto: Amnesty

Wo finden die meisten Menschenrechtsverletzungen statt? Welche Gruppe wird am meisten verfolgt? Solche Fragen werden Amnesty immer wieder gestellt, aber wir können sie nicht eindeutig beantworten. Amnesty dokumentiert Folter oder staatlichen Mord weltweit, aber Vollständigkeit können auch wir nicht beanspruchen. Es gibt Länder, wie aktuell Syrien, in denen Oppositionelle besonders brutal verfolgt werden. Entsprechend setzen wir Schwerpunkte in unserer Arbeit. Aber eine Rangfolge der »schlimmsten Staaten« oder der am meisten verfolgten Gruppen zu erstellen, wäre unseriös und irreführend. Zu leicht entsteht der Eindruck, andere Menschenrechtsverletzungen seien nur halb so schlimm.

Reif fürs Archiv. Die erste Ausgabe der ai-Informationen.

AKTIV FÜR AMNESTY

Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International. Mehr Informationen darüber finden Sie auf www.amnesty.de/aktiv-vor-ort und www.amnesty.de/kalender

So ging es mir bei einer Aussage von Volker Kauder, dem Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag. Die Zeitschrift »Chrismon« hatte uns zu einem Gespräch geladen und Herr Kauder stellte in den Raum, die Christen seien »die am stärksten verfolgte Religionsgruppe weltweit«. Wenn sich Herr Kauder gegen die Verfolgung von Christen einsetzt, wie Amnesty zum Beispiel in Ägypten, dem Iran oder in Malaysia, dann bin ich ganz auf seiner Seite. Aber von Zahlenspielen halte ich in dem Fall wenig. Nach der Gründung von Amnesty adoptierte jede Gruppe je einen gewaltlosen politischen Gefangenen aus dem Ostblock, dem Westen und der sogenannten Dritten Welt. Seither hat sich die Welt stark verändert und mit ihr unsere Arbeit. Aber das Prinzip bleibt: Wir können für die Menschenrechte nur dann glaubwürdig eintreten, wenn wir uns auf die Seite der Verfolgten stellen, unabhängig davon, welcher Gruppe sie angehören. Wolfgang Grenz ist amtierender Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

IMPRESSUM Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn, Tel.: 0228 - 98 37 30, E-Mail: Info@amnesty.de, Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal, Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: journal@amnesty.de (für Nachrichten an die Redaktion) Redaktion: Bernd Ackehurst, Markus N. Beeko, Anton Landgraf (V.i.S.d.P.), Larissa Probst, Ralf Rebmann Mitarbeit an dieser Ausgabe: Marianne Alfsen, Birgit Albrecht, Daniel Bax, Johannes Dieterich, Camilla Fuhr, Wolfgang Grenz, Philipp Hedemann, Georg Kasch, Jürg Keller, Jürgen Kiontke, Daniel Kreuz, Sabine Küper-Busch, Citha D. Maaß, Wera Reusch, Kristina Schmidt, Uta von Schrenk, Christopher Schwarzkopf, Maik Söhler, Franziska Ulm, Wolf-Dieter Vogel, Sarah Wildeisen Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck: Hofmann Druck, Nürnberg

AKTIV FÜR AMNESTY

Vertrieb: Carnivora Verlagsservice, Berlin Bankverbindung: Amnesty International, Kontonr. 80 90 100, Bank für Sozialwirtschaft (BfS), Köln, BLZ 370 205 00 Das Amnesty Journal ist die Zeitschrift der deutschen Sektion von Amnesty International und erscheint sechs Mal im Jahr. Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Nichtmitglieder können das Amnesty Journal für 30 Euro pro Jahr abonnieren. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

ISSN: 1433-4356

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