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Randnotizen 1 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden

Das Redaktionsteam

Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.

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- Lukas 18,27 -

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E VANGELISCHE K IRCHENGEMEINDE W ERDEN


Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden Inhalt Jeremia 1,4-8 Predigt über Lk 18,18-27 Beziehungskiller Nr.1 Die neuen Leinden der alten Werte Per Du mit Gott? Musik Und Glaube Predigt zu Apg. 2,14-18 Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten Ich steige aus Furcht geht tiefer Ich lebe und ihr sollt auch leben Die Lust an der Lust Wer stirbt hier eigentlich Bonhoefer - Christsein heißt Menschsein Du musst ein Schwein sein in dieser Welt Predigt zu Gen. 8,15-22 100 Jahre Otto Krüger

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Predigt über Jeremia 1, 4-8 Gottesdienst zur Einführung der Vikarin Jule Olmesdahl von Pfarrer Martin Schmerkotte Manchmal fehlt uns der Mut. Manchmal fehlen uns die Worte. Und doch sind wir es, die Zeuginnen und Zeugen der Gegenwart Gottes in dieser Welt sein sollen (und können! Es wird uns zugetraut!) Mangel an Mut - in Herz und Seele. Und gerade als solche Menschen (Zweifelnde!) finden wir uns hineingestellt * mitten in große Herausforderungen/Aufgaben * mitten in unsichere Situationen/Umbruchzeiten * mitten unter die Menschen, die scheinbar so oft nichts von dem wissen wollen, wofür wir uns einsetzen und wofür wir einstehen wollen. Das sind Jeremia-Gefühle! Egal wo wir stehen in der Welt, der Kirche oder hier in der Gemeinde! Und das, was wir heute zu hören bekommen, wir nicht nur unserer Vikarin gesagt. Der auch! Aber wahrscheinlich ist: Den Jeremia tragen wir alle in uns! Ich behaupte: nur ein Mensch, der sich überhaupt nicht engagiert - nur wer kein Feuer in sich spürt - kennt solche Gefühle, Fragen und Nöte nicht!“Ich tauge nicht!“ „Ich bin zu jung!“ Ein junger Mann hat in Jerusalem, wo die Alten, die Erfahrenen die Fäden in der Hand halten, nichts zu sagen! Oder aber (auch das sind Jeremia-Gefühle):- ich bin zu alt! - ich habe zu wenig, was ich einbringen kann es gibt solche Gedanken auch im kollektiven Sinn: - wir sind zu wenige - wir sind zu überaltert - wir haben zu wenig Geld ... Sagen wir nicht, das sei eine alte Geschichte! Wenn Aufgaben und Herausforderungen deutlich werden - das sind doch Fingerzeige und Rufe Gottes! - ist dann nicht oft die erste (innere) Reaktion: „Schicke jemand anderen! Nicht mich!“ Aber: wie soll Gottes Werk in dieser Welt weitergehen, wenn nicht durch Menschen wie uns? Wen soll Gott denn senden, wenn nicht gerade solche Menschen, deren erste Reaktion eben oft ist: „Nicht ich!“ Gerade das ist doch Gottes Wunder: Er wirkt in dieser Welt gerade durch solche Menschen! Und wirken will er auch durch uns! Betrachten wir die großen und kleinen Aufgaben, die uns

jetzt vielleicht im Herzen sind, doch einmal unter diesem Blickwinkel! Es geht nicht darum, dass wir jetzt alle in hektische, vielleicht sogar gekünstelte Missionsaktivitäten ausbrechen. Jeremia hat sowas auch nicht getan. Es geht nicht darum, dass wir uns irgendetwas abringen - im Namen Gottes - was uns abgenötigt wird - was künstlich und aufgesetzt ist - was nicht als tiefer Impuls aus unserem eigenen Herzen kommt. Sondern darum geht es - dass wir Vertrauen und Mut haben, uns selbst in das Licht einer ganz großen Verheißung zu stellen (nachzulesen z.B. Apostelgeschichte 1, 8): „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen - und Ihr werdet meine Zeuginnen und Zeugen sein - in der ganzen Welt!“

uns gehört haben, dann sollen wir manchmal vielleicht auch das andere hören, was der Prediger Wilhelm Busch kurz, konkret und fasslich so sagen konnte: „Wir brauchen keine Berufungen wir brauchen einen Tritt in den Hintern!“ Sprich nicht: „Ich tauge nicht!“ Lass Dich senden - dahin, wo Deine Aufgaben und Deine Chancen liegen. Segen und eine Fülle von Erfahrungen liegen für Dich bereit. Amen. Rainer Maria Rilke

Darum geht es: Sprich nicht: „Ich bin zu jung!“ Wende deinen Blick - weg von dem, was scheinbar gegen Dich spricht - weg von Dir -weg von dem, was klein und mutlos machen kann! Wende Deinen Blick hin zu der Quelle, aus der Du Kraft und Mut empfangen sollst! „Ihr werdet meine Zeuginnen und Zeugen sein!“ Hinter jedem Amt - Ehrenamt und Hauptamt - steht ein Mensch, der nicht gesprochen hat: „Ich nicht!“ Ämter und Aufgaben sind immer beides: Herausforderungen und: Orte, an denen ich in geheimnisvoller Weise Kraft erfahren kann; Orte, an denen ich wachsen kann. Deshalb: Sage nicht: „Ich bin zu jung!“ Wechsel die Perspektive! Und: wenn Du den Ort und die Aufgabe entdeckst, - wo Menschen Dich brauchen könnten - wo die Gemeinschaft Dich brauchen könnte - wo Gott Dich brauchen könnte - habe Mut! Gehe den Weg der Herausforderungen und des spirituellen Abenteuers. Lass Dich senden! Und dann erwarte nicht zu wenig! Egal, wo Du stehst - vielleicht noch suchend - vielleicht schon engagiert; innerlich oder auch ganz praktisch - ehrenamtlich oder hauptamtlich - das macht keinen Unterschied an dieser Stelle - oder als Vikarin Lass Dir - wie Jeremia - diese Worte ins Herz sprechen: Schon vor Deiner Geburt warst Du in Gottes Sinn. Du bist ein geliebtes und gewolltes Geschöpf; egal wie es in Deinem Leben aussieht. Du kannst Visionen und Träume von Deinem Leben haben (denn Gott hat auch Visionen für Dich und von Dir). Du bist keine Massenware, sondern ein Individuum und Original mit ganz eigenen Stärken, Fähigkeiten und Chancen. Dir ist viel mitgegeben! Finde Deinen Weg und lass dich senden! Natürlich kann es auf diesem Weg Veränderungen geben. Jeremia - Abkömmling eines Priestergeschlechts mit vorgezeichneter Tempelkarriere wird zu einem starken Kritiker des Tempelkultes. Veränderungen liegen auf dem Weg. Natürlich kann es auf diesem Weg auch Anfechtungen geben. Jeremia wird in Einsamkeit und Verzweiflung getrieben. Lesen Sie mal das 20. Kapitel des Jeremiabuches! Und doch: diese Dinge sind nie das letzte Wort. Das erste und das letzte Wort spricht Gott: „Fürchte Dich nicht! Erschrick nicht vor den Menschen, ganz egal, wie sie sich aufführen mögen! Ich bin bei Dir, um Dich zu retten! Das sagt Dir Gott, der Herr!“ Wenn wir das gehört haben - erst, wenn wir das auch für

Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht, dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht. Aber die Worte, eh jeder beginnt, diese wolkigen Worte, sind: Von deinen Sinnen hinausgesandt, geh bis an deiner Sehnsucht Rand; gieb mir Gewand. Hinter den Dingen wachse als Brand, dass ihre Schatten, ausgespannt, immer mich ganz bedecken. Lass dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken. Man muss nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste. Lass dich von mir nicht trennen. Nah ist das Land, das sie das Leben nennen. Du wirst es erkennen an seinem Ernste. Gib mir die Hand.

Predigt über Lk 18,18-27 von Pfarrerin Wenke Bartholdi Das neue Jahr ist gerade 4 Tage alt. Die Festtage sind vorüber, der Alltagstrott stellt sich so langsam wieder ein. Und doch sind die Gedanken zum neuen Jahr noch nicht ganz zu Ende gedacht. Manches beschäftigt uns noch. Wie wollen wir den Spielraum, den wir im Leben haben, gestalten? Wer oder was ist uns wichtig im Leben? Wie wollen wir unser Leben gestalten, dass es vor Gott und den Menschen sinnvoll ist? Vielleicht nehmen wir auch manche Wegzehrung mit in das neue Jahr, Wegzehrung, die wir in diesen Tagen bekommen haben. Denn an Weihnachten haben wir viel von Gottes Treue zur Welt gehört. Wir haben gehört, dass Gott seinen Sohn in diese Welt gesandt hat, aus Treue zu seinen Verheißungen, aus Treue zur Welt. Seit Neujahr geht auch eine neue Jahreslosung mit uns. Sie steht in Lk 18 und lautet: Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich. Das ist auch eine Wegzehrung für uns für das kommende Jahr. Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich. Was ist hier gemeint? Dieser Zusage geht eine gewaltige Infragestellung voraus. Der Textzusammenhang gibt darüber Auskunft. Ich lese aus dem Lk 18, die Verse 18-27: 18 Und es fragte ihn ein Oberer und sprach: Guter Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? 19 Jesus aber sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein. 20 Du kennst die Gebote: »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!« 21 Er aber sprach: Das habe ich alles gehalten von Jugend auf.

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Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden 22 Als Jesus das hörte, sprach er zu ihm: Es fehlt dir noch eines. Verkaufe alles, was du hast, und gib‘s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach! 23 Als er das aber hörte, wurde er traurig; denn er war sehr reich. 24 Als aber Jesus sah, dass er traurig geworden war, sprach er: Wie schwer kommen die Reichen in das Reich Gottes! 25 Denn es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Reich Gottes komme. 26 Da sprachen, die das hörten: Wer kann dann selig werden? 27 Er aber sprach: Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich. Vielleicht geht es Ihnen ja auch so, dass Sie sich spontan mit diesem Mann identifizieren können. Mit dem Mann, der danach fragt, wie er Seligkeit erlangen kann und der ja offenbar auch in seinem Leben sich bemüht, nach den Geboten Gottes zu leben. Aber gerade weil wir schnell Sympathie für ihn empfinden, lässt uns der Schluss der Geschichte etwas ratlos zurück. Vielleicht teilen wir auch seine Traurigkeit, die Traurigkeit über die die ungelebten Möglichkeiten in seinem Leben. Auch bei uns gibt es davon jede Menge. Es ist daher ein Text, der uns vielleicht ein wenig Unbehagen bereitet, denn er ist sehr radikal und unbequem. Deshalb gab es schön früh innerhalb der Auslegung die Strömung, die diesen Text so verstanden wissen wollte, dass man nur nicht sein Herz an den Reichtum hängen soll, dass der Text nur die innerliche Haltung zu Geld und Reichtum meint. Aber gerade im Hinblick auf den Evangelisten Lukas, der wohl das sozialkritischste der Evangelien geschrieben hat, wird man diese Deutung wohl kaum aufrecht erhalten können. Sondern bei Lukas ist das auch so radikal gemeint: „Verkaufe alles, was du hast, und gib‘s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!“ Diese Radikalität müssen wir erstmal aushalten und so stehen lassen. Aber vielleicht ergibt sich ja ein neuer Aspekt, wenn wir uns die Person des sogenannten Jüngling einmal genauer anschauen. Wer ist er und was will er? Der Mann, der gerne als „reicher Jüngling“ bezeichnet wird und der Jesus die Frage stellt: „Was soll ich tun, um das ewige Leben zu ererben?“, ist im Text nicht als jung gekennzeichnet. Der Begriff “einer der Oberen“ macht deutlich, dass es sich hier wohl um eine leitende Persönlichkeit mit Einfluss handelt, vielleicht war er auch einer der Leiter der pharisäischen Bewegung. Anders als es bei einem jungen Menschen in der Regel der Fall ist, ist er fest verwurzelt in die gesellschaftliche, wirtschaftliche und religiöse Struktur seiner Zeit. Er wird als Autorität geschildert, die dennoch Jesus um Rat fragt. Als dieser Rat Jesu dann allzu praktisch wird und außer dem Halten der Gebote auch noch das Verlassen von allem Besitz und allen sozialen Bindungen hinzu kommt, erkennt er selbst, dass er dies nicht tun kann. Er wird traurig, denn er erkennt, dass er so nicht ins Himmelreich gelangen kann. Denn es ist leichter, dass ein Kamel durchs Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in den Himmel kommt. Jesus nimmt wohlwollend zur Kenntnis, dass er die Gebote von Jugend an hält. Und er nimmt wohlwollend zur Kenntnis, dass der Mann bereits verstanden hat: Es könnte noch um mehr gehen als um das Halten der Gebote. Es könnte um mehr gehen, als ich es mir in meiner Begrenztheit ausmalen kann.

Trotzdem gibt Jesus ihm diese Antwort: Verkaufe alles, was du hast, und gib‘s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach! Als heutige Leser und Hörer stellen wir die erschreckte Zwischenfrage nach den Konsequenzen: Gilt das auch für uns? Sollen wir das auch tun? Ist das die einzige Möglichkeit, um selig zu werden? Heißt das jetzt, dass wir unsere Altersvorsorge kündigen sollen, uns das Geld auszahlen lassen und spenden sollen? Dass wir das, was wir für die Kinder oder für andere Zwecke auf die hohe Kante gelegt haben, verteilen sollen an die Bedürftigen unserer Gesellschaft? Wenn wir so fragen, dann merken wir schnell, wie sehr wir in unserer Gesellschaft gefangen sind, wie sehr wir eingeengt sind durch innere Zwänge und Notwendigkeiten, durch unser System, das uns gar nicht viel Spielraum gibt, so zu handeln. Und so bleiben wir dann vielleicht auch traurig zurück wie der Jüngling, der eigentlich weiß, was zu tun wäre, der aber zugleich genauso weiß, dass er sich aus seinen bestehenden Bindungen nicht lösen kann und will. Die Umstehenden, die das Gespräch gehört haben, nehmen diesen Gedanken auf und beziehen ihn auch auf sich selbst, wenn sie fragen: Wer kann dann selig werden? Ja, wer kann dann selig werden? Hier sind wir am Knackpunkt der Geschichte angekommen. Und es wäre uns jetzt sicherlich am liebsten, wenn wir doch wieder die etwas weichgespülte Interpretation hören würden, dass es ja letztlich nur um unsere innere Haltung zum Reichtum ginge. Aber der Evangelist Lukas will uns, denke ich, auf eine ganz andere Spur bringen. Denn die Frage des sogenannten Jüngling ist falsch gestellt: „Guter Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ Das doppelte Ich in der Frage bringt uns vielleicht auf die Spur. Zunächst: Was muss ich tun, damit ICH das ewige Leben ererbe? Es geht nicht darum, dass ein einzelner das ewige Leben ererbt und selig wird. Es geht darum, dass das Reich Gottes für alle Menschen aufgerichtet wird. Es geht darum, die Welt in Gottes Sinn, mit seiner Liebe zu verändern. Dann werden wir selig, und zwar alle, nicht nur die Reichen. Wir können nicht selig werden aufkosten unserer Mitmenschen! Das heißt: Ich muss mich also in Beziehung zur Welt setzen, und zwar mit allem, was ich habe, mit allem, was ich tue. Deshalb nun zum anderen Aspekt der Frage: Was muss ICH tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Seligkeit ist nicht die Belohnung für mein gottgefälliges Leben. Das ewige Leben ist nicht erkaufbar, wir können es uns nicht erarbeiten und es dann als Lohn für unsere Mühen ausgezahlt bekommen. Wenn wir so denken, geht es an der inneren Intention der biblischen Texte vorbei, denn die Seligkeit ist keine Paradiesinsel für den einzelnen, wo er seinen verdienten Ruhestand verbringen darf. Seligkeit aber meint die durch Liebe und Barmherzigkeit geheilte Welt. Und die Beschaffenheit der Welt mit ihrem Elend, ihrer Armut und Ungerechtigkeit ist so, dass wir dann niemals genug getan haben, denn es wird – auch wenn ich ganz viel Kraft und Zeit und Geld darauf verwende, die Welt ein Stück gerechter zu gestalten, immer noch Elend, Ungerechtigkeit und Armut auf der Welt geben. Wir können in dieser Hinsicht nicht vollkommen gut sein, wir haben dann nie genug getan. Auch ein Franz von Asissi, der nun wirklich seinen gesamten Reichtum weggegeben hat und sich ganz seinen Mitmenschen gewidmet hat, ist nicht in dem Sinn „gut“ zu nennen. Wir Menschen können nicht

wirklich „gut“ sein. Und selbst Jesus sagt von sich: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein. Es geht für uns deshalb nicht darum, die Menschen einzuteilen in „gut“ und „weniger gut“ oder in „gut“ und „schlecht“, sondern es geht um das Heil der ganzen Welt. Dabei wird uns aber immer wieder unsere eigene Hilflosigkeit bewusst, unser Angewiesensein auf die Liebe, die Hoffnung, die Gnade. Auf diese Situation hin, in die Erkenntnis des Jünglings, in die Erkenntnis der Umstehenden hinein, gibt Jesus den Menschen eine andere Wegzehrung mit. Er sagt: „Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.“ Unsere Jahreslosung. Was will sie anderes sagen als: Es liegt nicht in unserer Hand, das ewige Leben zu erkaufen. Es liegt nicht in unserer Hand, Seligkeit zu erkaufen. Aber: Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich. Es liegt in seiner Gnade, dass wir selig werden. Es liegt an seinem Geist, der uns stärkt für das, was uns aufgetragen ist und der uns aufrichtet für das Reich Gottes. Der auch unsere Herzen und Sinne aufrichtet, den je anderen Mitmenschen zu sehen, nicht nur die eigene Seligkeit. Es liegt an seinem Sohn Jesus Christus, der uns untereinander verbindet, der uns in die Nachfolge ruft, in eine Gemeinschaft, die füreinander verantwortlich ist. Die sich nicht losgelöst von den Problemen der Welt verstehen kann, sondern die sich in Beziehung setzt zur Welt. Gott macht es möglich, dass das Reich Gottes nahe herbei gekommen ist. Und den Beginn des Reiches Gottes haben wir mit der Geburt Jesu an Weihnachten gefeiert. Es ist schon mitten unter uns. Aber wir können es nicht allein erlangen, sondern wir finden in Gemeinschaft und mit der Gnade unseres Gottes Zugang zu dieser Seligkeit. Das ist eine Lebenszusage Gottes! Gott eröffnet uns Zukunft, Gott eröffnet uns unvollkommenen Wesen, die wir in den Zwängen unserer Welt gefangen sind und uns nicht von ihnen befreien können, wie der sogenannte reiche Jüngling, diesen unvollkommenen Wesen eröffnet Gott dennoch Zukunft. Ohne uns zu überfordern. Und doch fordert er uns damit. Auch Jesus fordert uns mit seiner Aussage heraus. Doch er fordert uns zum Leben heraus. Zum Leben auf Hoffnung hin, nicht zum Leben auf Lohn hin. Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich. Daran will uns die Jahreslosung erinnern und uns das als Wegzehrung mit auf den Weg ins neue Jahr geben: Vertrau auf Gott, vertrau auf seine Möglichkeiten, vertrau auf die Wege, auf die dich Gott weist. Lass dich davon anstecken, brich auf und erkunde diese Wege. Gottes Geist wird dich begleiten. Bei ihm ist nichts unmöglich. Und alles ist möglich dem, der so glaubt. So formuliert es auch das Lied von Klaus Peter Hertzsch, das diese Wegzehrung in Worte und Musik fasst: Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt! Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land. Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit. Amen.

Die Sünde Beziehungskiller Nr.1 von Pastorin Maret Schmerkotte Was ist eigentlich Sünde? Es sieht so aus, als sei das Wort „Sünde“ ein überholter Begriff. Wo man vor 100 Jahren noch in voller Überzeugung „Sünde!“ geschrien hat, wird heute oft nur noch der Kopf geschüttelt über die „Moral-

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Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden apostel“ von damals. Die Urgroßmutter pflegte noch alles mit dem Prädikat „sündig“ zu belegen, was ihr missfiel, vom abendlichen Kartenspielen bis hin zum Besuch des Freibads am Sonntag. Wer vergleichbare Erfahrungen mit dem Sündenbegriff gemacht hat, wird damit verständlicherweise vorsichtig umgehen. Missverständnisse sind vorprogrammiert, wenn „Sünde“ in solch einem moralischen Sinn verstanden wird. Wie aber dann? Ein Blick in die Bibel kann etwas Licht ins Dunkel dieses Begriffes bringen. In der Geschichte über Jesus und die Ehebrecherin (Joh 8, 2-11) tauchen Männer auf, die sich selbst zu Richtern über ihre Mitmenschen erheben. Da wird abgelenkt von dem, was bei sich selbst zu entdecken wäre und tut es, indem man mit spitzem Finger auf eine andere Person zeigt. Nicht ohne Lust tragen die selbst ernannten Richter ihr Entsetzen vor über ein Thema, das damals wie heute die Aufmerksamkeit der Menschen fesselt: Verstöße im sexuellen Bereich. Dabei berufen sie sich auf das sechste Gebot: „Du sollst nicht ehebrechen“. Ob jene Richter mit gleichem Ernst auch Verstöße gegen die anderen Gebote Gottes geahndet hätten? Man kann auch Richtiges falsch anfassen. Hier werden die Gebote missbraucht, indem sich diese Männer die Rolle des Richtens anmaßen. Jesus reißt ihnen diese falsche Maske vom Gesicht: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Das heißt: Da niemand von euch ohne Sünde ist, darum kann niemand von euch Richter über die Sünde seiner Mitmenschen sein. Jesus meint hier nicht, dass jeder irgendwann einmal straffällig wird, weil er irgendwann einmal gegen ein Gebot Gottes verstößt. Sondern diese Männer sind gerade dabei, in diesem Moment Sünde zu tun: sie erheben sich über andere und spielen sich als Richter auf. Das ist es, was im biblischen Sinne mit Sünde gemeint ist! Der Mensch begibt sich in eine Rolle, die ihm nicht zusteht. Er macht sich selbst zum Herrn über Gut und Böse und setzt sich selbst auf Gottes Thron. Hier ist die Beziehung zu Gott gestört und das Verhältnis zum Mitmenschen ohnehin. Im Grunde ist Sünde die Verletzung des Liebesgebotes, das Versagen der angemessenen Antwort auf die Liebe, in der Gott uns geschaffen hat. Der Dekalog, wie auch die Bergpredigt, gebieten ja nicht einfach allerlei Verschiedenes, das zu befolgen wäre. Sondern unter verschiedenen Perspektiven wird immer wieder das Eine gesagt: Liebe Gott und liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Am Ende unserer Geschichte sagt Jesus der Frau: „Ich verurteile dich nicht. Geh und sündige hinfort nicht mehr!“ Wenn Gott uns unsere Beziehungsunfähigkeit, unsere Lieblosigkeit vergibt, bedeutet das nicht, dass wir uns auf seiner Vergebung ausruhen dürfen. Seine Vergebung bezieht sich ja auf unsere Vergangenheit, nicht auf die Zukunft. Deshalb beinhaltet Vergebung immer auch den Willen zur Umkehr und zum Neuanfang. Zum Neuanfang mit Gottes Liebe.

Beziehungen zerstört und wie notwendig die täglichen Neuanfänge sind. Johannes 8, 2-11 Bibellese 1 Jesus verließ die Stadt und ging zum Ölberg. 2 Aber schon früh am nächsten Morgen war er wieder im Tempel. Viele Menschen drängten sich um ihn. Er setzte sich und lehrte sie. 3 Da schleppten die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Frau heran, die beim Ehebruch überrascht worden war, stießen sie in die Mitte 4 und sagten zu Jesus: „Lehrer, diese Frau wurde auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt. 5 Im Gesetz hat Mose uns befohlen, eine solche Frau zu steinigen. Was meinst du dazu?“ 6 Sie fragten dies, um Jesus auf die Probe zu stellen und ihn dann anklagen zu können. Aber Jesus bückte sich nur und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie nicht locker ließen, richtete er sich auf und sagte: „Wer von euch noch nie gesündigt hat, soll den ersten Stein auf sie werfen!“ 8 Dann bückte er sich wieder und schrieb weiter auf die Erde. 9 Als die Menschen das hörten, gingen sie einer nach dem anderen davon - die älteren zuerst. Schließlich war Jesus mit der Frau allein. 10 Da stand er auf und fragte sie: „Wo sind jetzt deine Ankläger? Hat dich denn keiner verurteilt?“ 11 „Nein, Herr“, antwortete sie. „Dann verurteile ich dich auch nicht“, entgegnete ihr Jesus. „Geh, aber sündige nun nicht mehr!“ Nach der Übersetzung: „Die Bibel – Hoffnung für alle“

Anders Werden 16 Die neuen Leiden der alten Werte von Pastorin Maret Schmerkotte Soll man, wenn man von einer heimlichen Liebschaft eines Teils eines befreundeten Paares erfährt, den anderen Teil informieren? Die Kinder werden älter – die Eltern haben sich Zeit ihres Lebens für ihre Kinder eingesetzt. Jetzt leben die Kinder in weit entfernten Städten. Sind die Kinder verpflichtet, ihre Eltern regelmäßig zu besuchen? Oder stehen die Eltern dann da wie der Juwelier in seinem Laden, wenn die Kinder sie nicht mehr besuchen, weil sie andere Werte haben?

Ist das Wort „Sünde“ nun ein überholter Begriff? Sicherlich dann, wenn Sünde weiterhin in überkommener Weise als Moralbegriff benutzt wird. Als Beziehungsbegriff ist meines Erachtens der Begriff der Sünde aber unerlässlich, um unsere menschliche Wirklichkeit zu beschreiben.

Fragen aus dem Alltag, die uns auffordern, Stellung zu beziehen. Und die zeigen, das ist gar nicht so leicht. Eindeutige Antworten in allen Lebenslagen gibt es nicht. Und gerade das macht unser Leben oft so kompliziert. Wir spüren die Sehnsucht nach Orientierung in uns, merken aber, wie oft wir schwimmen ... Unsere Werte geraten miteinander in Konflikt. Da geraten Wahrheitsliebe und Höflichkeit miteinander in Widerstreit oder Selbstbestimmung und Rücksichtnahme. Dazu kommt, dass sich Werte verändern, was gestern noch unbestritten war, ist heute fraglicher geworden. Neben traditionelle Werte wie Familienzusammenhalt, Anstand und Ehrlichkeit sind neue Werte getreten: die Gleichstellung der Geschlechter zum Beispiel, Toleranz gegenüber alternativen Lebensentwürfen. Oder auch die eigene Identität und Freiheit.

In der neueren Sündenlehre gibt es immer wieder Versuche, für den Beziehungskiller Nr.1 auch andere Worte zu finden: Entfremdung (P. Tillich/D. Sölle), Verfehlung der Liebe (W. Härle), Ichhaftigkeit (W. Pannenberg), Gefühlskälte (K. Huizing), Misstrauen (B. Krause). Beschreibungen, die eines deutlich machen: von Sünde sprechen heißt nicht, mit dem erhobenen Zeigefinger zu drohen, sondern aufzuzeigen wie sehr unser grundsätzlich ichbezogenes Denken und Handeln unsere gemeinschaftlichen

Werte lassen sich nicht mehr verordnen, sondern sie müssen überzeugen und sich als lebenstauglich erweisen. Die Frage, die heute gestellt wird, lautet nicht mehr: Was ist richtig oder falsch, gut oder schlecht, sondern: was bringt mir das, oder: was ist gut für mich? Natürlich gibt es noch gewisse Grundwerte, wie Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Fleiß oder Mitmenschlichkeit: Ich denke nicht, dass wir da von einem Werteverfall reden müssen. Der Unterschied zu früheren Zeiten ist aber der, dass sich heute der Einzelne

die Werte für sich erarbeiten muss. Er nimmt sie nicht als gesetzt hin, sondern Werte müssen in konkreten Situationen überzeugend sein. Das persönliche Gewissen kann in je nach Situation vielfältig und ganz unterschiedlich entscheiden. Was der eine für sich als wertvoll erfährt, muss für den anderen nicht den gleichen Wert haben. Das führt nicht zu schematischen und für jedermann zutreffenden Vorgaben, sondern zu einer Verantwortung des Einzelnen. Nun sind Sie aber hier einem Gottesdienst und ich vermute, dass sie darauf schon gewartet haben: was ist nun eigentlich mit den christlichen Werten? Können uns vielleicht christliche Werte mehr Orientierung geben? Gibt es da für Christen nicht doch höhere Verbindlichkeiten, die nicht infrage zu stellen sind? Bevor ich diese Fragen beantworte, möchte ich eine Geschichte erzählen, aus dem 2. Teil der Bibel, aus dem Neuen Testament: Sicher haben Sie schon einmal vom Sabbat gehört, dem Tag, der in Israel als siebenter Tag der Woche gefeiert wird . Lebt der Mensch um zu arbeiten, oder arbeitet der Mensch um zu leben? Wer lebt, um zu arbeiten, lebt in Knechtschaft. Deshalb hat das Volk Israel eben den Sabbat erfunden, einen Tag, um die Arbeit Arbeit sein zu lassen und die Freiheit zu feiern. Der Mensch muss aufhören können und genau das bedeutet das Wort Sabbat: aufhören. Deshalb: heilige diesen Tag! Halte ihn in Ehren und genieße ihn. So das Gebot, das noch heute für Juden gilt und das jüdische Volk von allen anderen Völkern abgrenzt. Jesus und die Seinen genossen natürlich auch den Sabbat, freilich nicht immer so, wie sich das die strengen jüdischen Schriftgelehrten vorstellten. Eines Tages begab es sich, es war an einem Sabbat, dass Jesus durch die Kornfelder ging. Und seine Jünger fingen an, dabei Ähren auszuraufen und die Körner zu essen. In den Augen der strengen jüdischen Schriftgelehrten war dies eine Form von Erntearbeit. Eine Provokation. Sie knabberten damit nicht nur an den Körnern, sondern auch am heiligen Glauben der Väter. „Schau nur, was deine Jünger am Sabbat tun! Ist das denn erlaubt?“ sagten sie. Vielleicht halten Sie diese Strenge für absurd und kleinlich, aber für die Juden war das Sabbatgebot sozusagen das Lieblingsgebot, nicht nur ein religiöses Symbol, sondern auch ein Symbol der Gruppenzugehörigkeit. Auch wir haben unsere deutschen Lieblingsgebote, etwas, woran man unter allen Umständen festhält... die Pünktlichkeit z.B., dass man für jede Kleinigkeit ein Formular ausfüllen oder dass man gegen alles versichert sein muss. Also kein harmloser Verstoß, was die Jünger Jesu da taten ... Jesus antwortet auf die Frage der Schriftgelehrten: „Ist das denn erlaubt?“ mit einer Gegenfrage: „Habt ihr denn nie gelesen, was David tat, als er und die Seinen in Not waren und Hunger hatten? Er ging in das Haus des Priesters und aß von den Schaubroten, die nur die Priester essen dürfen und er gab auch allen davon, die bei ihm waren.“ Es gibt also durchaus gewisse Notlagen, in denen es wenig Sinn macht, stur an einem Gebot festzuhalten. Doch damit nicht genug. Es war Sabbat und Jesus ging weiter in die Synagoge. Dort war ein Mann mit einer gelähmten Hand. Mit letzter Kraft hatte dieser versucht, mit seinem Gang in die Synagoge einen Rest von Normalität aufrecht zu erhalten. Seine Hand hielt er im Ärmel versteckt, denn er wusste, seine Lähmung konnte von den Umstehenden als Gottesstrafe gedeutet werden. Da hört er die Stimme jesu: „Ist es erlaubt, am Sabbat etwas Gutes zu tun?“ Für ihn selbst war das natürlich keine Frage. Wenn man das Gute unterlässt, entsteht Böses.

4/16 HERAUSGEBER: PRESBYTERIUM DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE WERDEN BEAUFTRAGTER DES PRESBYTERIUMS FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT CONRAD SCHLIMM REDAKTION: MEIKE KRÜGER ( 40 50 16 ANDREAS SCHÄFER ( 49 02 301 ANSCHRIFT: DER BRIEF • HECKSTRAßE 65 • 45239 ESSEN-WERDEN


Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden Jesus schaute den strengen Theologen, die um ihn herumstanden, ins Gesicht. Sie schwiegen und schauten betreten weg. Das strikte Einhalten der Gebote kümmerte sie mehr als der Mensch. Jede Form von ärztlicher Hilfeleistung ist am Sabbat untersagt, es sei denn es besteht Lebensgefahr. Und diese gelähmte Hand war nichts Lebensbedrohliches. Jesus könnte ruhig noch bis zum Abend warten. Jesus aber sprach zu dem Menschen mit der gelähmten Hand: „Steh auf und stell dich in die Mitte!“ Er, der von den Menschen zur Seite geschoben wurde, der sich nicht mehr zeigen durfte als der, der er war mit seiner kaputten Hand, wurde nun von Jesus in die Mitte, in das Herz der Gemeinschaft gestellt. Damit bekam er einen ganz besonderen Platz. Im Mittelpunkt. Ja, im Mittelpunkt. Das soll ihm an diesem Sabbat noch einmal gesagt werden, ja das soll ihm für immer gesagt sein. Es gibt keinen einzigen Grund, warum er sich gering fühlen sollte, am Rand stehend, von nichts und niemanden muss er sich lähmen lassen, es ist höchste Zeit, dass er sein eigenes Leben in die Hand nimmt. „Strecke deine Hand aus“, sagte Jesus zu ihm und „Lebe!“ Und er streckte seine Hand aus, und seine Hand wurde wieder gut, wie früher. Mag sein, dass die Umstehenden staunten und die Schriftgelehrten wüteten. Der Geheilte spürte, dass nicht nur seine Hand wieder heil war, sondern auch seine Seele. Er konnte wieder leben. Hat Jesus nun die Heiligung des Sabbats missachtet? Er hat einen Menschen gerettet. Ist das Missachtung des Sabbats? Die strengen Schriftgelehrten sehen das jedenfalls so, der lästerliche Wundertäter ist ihnen von nun an ein Dorn im Auge. Jesus befand sich genau genommen in einem Wertekonflikt. Er musste sich zwischen zwei Werten entscheiden. Dem strengen Einhalten einer religiösen Tradition, dem Sabbat, oder der Nächstenliebe. Der Liebe hat er den höheren Wert zugemessen. Damit missachtet er aber nicht das Sabbatgebot, sondern verweist auf den ursprünglichen Sinn der Gebote. „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“ Mit anderen Worten: Gebote sind gut, solange sie Gott und dem Nächsten dienen.

deren Teil informieren? Ich möchte dies Frage hier nicht beantworten, nur darauf hinweisen, in welche Richtung gedacht werden könnte, wenn wir einen christlichen Umgang damit suchen. Schonungslose Wahrheit auf der einen Seite und der Respekt vor dem Innenleben, das ein Paar pflegt, und in das ich mich nicht einzumischen habe, auf der anderen. Zu überlegen wäre, was dem Wohlergehen des Paares und dem liebevollen Umgang miteinander mehr dient ... Sind die Kinder verpflichtet, ihre Eltern regelmäßig zu besuchen? Du sollst deine Eltern ehren, dieses Gebot kennen wir. Aber dagegen steht der volle Tagesplan der erwachsenen Kinder mit ihren Familien und ihrem neuem Zuhause. Im glücklichsten Fall mögen sich Eltern und Kinder und es gibt kein: „Jetzt seid ihr dran.“ Die gegenseitigen Besuche sind keine Pflicht, sondern ein Geschenk. Eine Pflicht zur Liebe kann es nicht geben. Aber wir können Beziehungen pflegen, damit die Liebe wachsen kann. Noch ein Letztes möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben. Vertrauen Sie bei allen Entscheidungen darauf, dass Sie selbst einen Wert haben. Einen Wert, den Sie sich nicht selbst erschaffen haben, durch Leistung, Besitz, Erfolg oder anderen Dingen. Sondern einen Wert, den Gott Ihnen gegeben hat. Sie sind wertvoll! Einfach weil es Sie gibt. Vielleicht hilft Ihnen dieses Wissen in Konfliktsituationen, einmal nicht die Egoismen in den Vordergrund zu stellen. Wenn Sie aus der Liebe zum anderen entscheiden, aus der Überlegung heraus, was dem anderen hilft, dann verlieren sie selbst dabei nicht an Wert. Bevor Sie für andere sorgen, gibt es schon immer jemanden, der sich um Sie sorgt und Sie in die Mitte stellt, genauso wie den Mann mit der gelähmten Hand. Darauf können Sie vertrauen... Amen

Plädoyer für eine Weite im Gottesbegriff Per Du mit Gott? von Pfarrerin Wenke Bartholdi

Dies ist in meinen Augen der Schlüssel für den Umgang mit Werten. Es gibt einen Wert, der über allen Werten steht: das ist die Liebe, die Liebe zum Nächsten und zu Gott. Wenn es also einen christlichen Wert gibt, dann ist es dieser. Alles andere ordnet sich dem unter. Ich kann Ihnen also heute keine Palette von christlichen Werten nennen, die wieder eingeübt werden müssen. Nur den christlichen Leitgedanken der Liebe, der uns aber immer wieder vor die Verantwortung stellt, eigene Entscheidungen zu treffen, aber mit der Frage in Kopf:

Wie stellen Sie sich Gott vor? Ist er wie eine Person, mit der man sprechen kann? Hat er eher männliche Züge oder weibliche? Oder ist er doch eher eine Kraft, die uns umgibt und stärkt? Mit diesen Fragen sind wir bereits mitten in einer aktuellen und emotionalen Diskussion um das Gottesbild. Insbesondere nach dem Erscheinen der neuen Übersetzung „Die Bibel in gerechter Sprache“ wallen die Gefühle hoch und bringen viele Menschen dazu, ihr Gottesbild zu reflektieren. Was aber ist bei der Übersetzung geschehen, dass sie so kontrovers diskutiert wird?

Was hilft uns menschlicher und liebevoller zu werden, welcher Wert lässt uns in einer bestimmten Situation an Menschlichkeit gewinnen? Jesus geht es nicht um das Einreißen traditioneller Werte und Gebote, sondern um unsere Freiheit, liebevoll damit umzugehen. Das ist nicht immer einfach und oft müssen Spannungen ausgehalten werden. Manchmal geraten wir auch in ein Dilemma und müssen damit leben, dass sich die Richtigkeit der eigenen Entscheidung erst viel später erweist. Wenn Sie also überlegen, wieviel Geld Sie bei einem Lottogewinn abgeben sollten (das war ja eine der Fragen zu Beginn des Gottesdienstes), dann geht es nicht nur um einen Geldwert, um das Motto „ich bin doch nicht blöd“, „Geiz ist geil“ oder „Nutzen Sie ihre Vorteile“, sondern auch um die Liebe zum Nächsten ... Wie würden Sie jetzt im Sinne Jesu diese Frage beantworten?

Der Gottesname im Alten Testament, der mit den Buchstaben JHWH (Tetragramm) geschrieben wird und am ehesten mit „Ich bin da“ übersetzt werden kann, wurde in der Tradition im Anklang an die hebräische Tradition mit HERR übersetzt. An diesen Stellen wurden nun in der neuen Übersetzung, deutlich gekennzeichnet, andere Gottesbezeichnungen eingesetzt bzw. zur Wahl gestellt: Der Ewige, die Ewige, der Lebendige, die Lebendige, der Name, Ich-bin-da, ER, SIE, GOTT, die Eine, der Eine, der Ort und viele mehr.

Soll man, wenn man von einer heimlichen Liebschaft eines Teils eines befreundeten Paares erfährt, den an-

Dieser Schritt hat etwas geradezu Revolu-tionäres, denn er greift in die uns vertrauten und lieb gewordenen Formulierungen im Herzen unseres Glaubens ein. Aber er zollt den Auseinandersetzungen Tribut, die sich rund um das personale und nicht-personale Gottesbild ergeben haben und die Theologie in den letzten Jahren bestimmt haben.

1. Das personale Gottesbild Theologisch gesehen wird hier der Schwer-punkt auf die 1. Person der Trinität gelegt. Gott wird vorstellbar als eine Art Person, zu der wir DU sagen, mit der wir sprechen können. Dies knüpft an unsere Erfahrungen an, denn als Menschen sind wir es von Geburt an gewöhnt, einem anderen Menschen in die Augen zu schauen und ihn als unser Gegenüber, als unseren Bezugspunkt zu sehen. Kinder lernen so von Geburt an, dass von diesem Mensch Essen, Zuwendung, Geborgenheit und Liebe kommen. So ein Gegenüber ist in dieser Vorstellung auch Gott: Er ist aktiv, er handelt, er hört zu, er redet, er vergibt Schuld, er wird mitunter auch zornig. In der Tradition wurde Gott fast ausschließlich mit männlichen Attributen belegt. In der Kunst wird das besonders deutlich, wenn Michelangelo Gott als alten Mann mit Bart darstellt. Dies wird heute sehr kritisch gesehen, nicht nur wegen des Bilderverbots (5. Mose 4,15-16: „So hütet euch denn wohl – denn ihr habt keine Gestalt gesehen an dem Tage, da JHWH mit euch redete aus dem Feuer auf dem Berge Horeb - , dass ihr euch nicht versündiget und euch irgendein Bild macht, das gleich sei einem Mann oder Weib“), sondern auch aus der Erfahrung heraus, dass kirchlich geprägte Sprache dieser Art nicht ohne Folgen bleibt, insbesondere bei Menschen, die Gewalterfahrungen von männlicher Seite hinter sich haben. Was ursprünglich als feministisches Experiment belächelt wurde, ist heute ein breiter Konsens und wird von EKD-Studien bestätigt: Dass nämlich auch die weiblichen Bilder der Bibel, Gott als Hebamme, als Mutter, als Weisheit zu bezeichnen ebenso wichtig sind. Dass ein ausgewogener Wechsel von männlichen und weiblichen Attributen hilft, Gott gerade nicht als Mann oder Frau zu sehen In unserer Sprache können wir schlecht geschlechtslos sprechen. Deshalb können wir uns in unserer Sprache auch nur annähern und gebrauchen daher unweigerlich Bilder. Das ist auch in Ordnung, solange man nicht diese Annäherung absolut setzt mit der Wahrheit. Das aber ist hinsichtlich der männlichen Eigenschaften Gottes jahrtausendelang passiert. Umso wichtiger ist es, dass wir uns heute neu darüber Gedanken machen und mehr experimentieren und den Reichtum unserer Tradition ausschöpfen. 2. Das nicht-personale Gottesbild Dieses Gottes-“Bild“ finden wir insbe-sondere in der Mystik, aber nicht nur. In gesellschaftlichen Befragungen und auch in der Gemeindearbeit wird deutlich, dass offenbar viele Menschen heutzutage stärker den Schwerpunkt auf die 3. Person der Trinität legen, auf den Heiligen Geist, auf die Kraft Gottes. Gott wird dabei als Grund allen Seins, als Summe erfahrener Liebe gesehen. Er handelt nicht, greift nicht wie eine Person in ein Geschehen ein. Aber er ist da, er ist vollkommen, er umhüllt uns, ist unsichtbar präsent, lehrt uns auf seine Weise. Nach Paul Tillich ergreift das Göttliche uns Menschen in der Mitte unserer Person und unseres Herzens und bringt in uns einen Prozess in Gang. Es grüßt Sie herzlich, Ihre Pfarrerin Wenke Bartholdi Ich höre nicht auf „Du“ zu sagen Gott-Person? von Pfarrerin Wenke Bartholdi Kann man zu so einem Gott noch „Du“ sagen? Ich glaube ja, denn wir können bei allem Bemühen schwer anders als in einer personalen Sprache von und mit Gott reden.

5/16 HERAUSGEBER: PRESBYTERIUM DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE WERDEN BEAUFTRAGTER DES PRESBYTERIUMS FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT CONRAD SCHLIMM REDAKTION: MEIKE KRÜGER ( 40 50 16 ANDREAS SCHÄFER ( 49 02 301 ANSCHRIFT: DER BRIEF • HECKSTRAßE 65 • 45239 ESSEN-WERDEN


Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden Aber wir sollten kritisch bleiben gegenüber jedem Bild, das wir uns von Gott machen (Hos 11,9: „Ich bin Gott und nicht ein Mensch.“). Vielleicht kann man es so formulieren: Ich höre nicht auf, „Du“ zu sagen, aber ich höre auf zu denken, dass ich mit einer Gott-Person spreche. Die Bibel in gerechter Sprache als neue Übersetzung ist ein Plädoyer für eine Weite im Umgang mit unserem Gottesbild, sei es nun personal oder nicht-personal. Sie gibt uns viele Anregungen an die Hand, in neuen Worten von Gott zu sprechen. Sie fordert uns heraus, unser je eigenes Gottesbild zu befragen. Lassen Sie uns doch diese Anregungen positiv aufnehmen und mit den Gottesbezeichnungen experimentieren und feststellen, was uns in unserem Glauben an Gott gut tut. Weiterlesen ... Wer Lust hat, etwas intensiver in diese Diskussion einzusteigen, dem seien folgende Artikel empfohlen: Hartmut Meesmann, „Nicht aufhören, Du zu sagen“, erschienen in Publik-Forum Ausgabe 11/2007, Seite 68, am 8.6.2007 oder auf www.publik-forum.de (Themen/Mein Gott/Texte aus Publik-Forum). Kai Michel, „Gott Mutter“, erschienen in Die ZEIT Ausgabe 13/2008, Seite 31ff, am 19, März 2008 oder auf www.zeit. de/2008/13/A-Religion. Außerdem lohnt es sich natürlich, sich mit der Bibel in gerechter Sprache auseinanderzusetzen, hg. von Ulrike Bail u.a., 2. Aufl., Gütersloh 2006.

Vom Singen und Spielen Musik und Glaube von Pfarrer Irmenfried Mundt Die Tonkunst ist eine Grenzgängerin. Die Musik überschreitet das Zeitliche und lässt Ewigkeit ahnen. Jeder Ton, der erklingt, ein Bild für Hoffnung auf Kommendes, Ewiges. Jeder Ton, der verklingt, ein memento mori, Erinnerung an die Endlichkeit des Lebens. Und im Zusammenklang eine Harmonie, die eine verborgene ahnen lässt. Darum sind Singen und Spielen und Glauben untrennbar verbunden, seit biblischen Zeiten. Johann Sebastian Bach hat seine Musik ausdrücklich so verstanden. “s.d.g.” – soli deo gloria - steht häufig über seinen Werken. “Gott allein die Ehre”. Nicht zuerst einem Publikum, sondern Gott wird gesungen und gespielt. Kurz vor seinem Tod 1750 vollendet Bach seine “Kunst der Fuge”. Die notierten Töne mussten über 175 Jahre auf “Auferstehung” warten, bis sie 1927 zum ersten Mal zu Gehör gebracht wurden. Zahlensymboliker glauben, Bach habe in manche Teile die Zahlen 13 und 12 eingewoben, und sich damit auf 1. Korinther 13,12 bezogen: “Wir sehen jetzt durch einen Spiegel, ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.” In diesen Satz kommt die Erfahrung von “Abendwehen” und “Morgenluft” geradezu klassisch zum Ausdruck. Wir erkennen noch nicht, aber sind von Gott erkannt und geliebt. Wir leben im Glauben und noch nicht im Schauen. O Tonkunst, bist Du das Abendwehen aus diesem Leben? Oder die Morgenluft aus jenem? - Jean Paul -

Eben dies bildet das “ludus tonalis”, das Spiel mit den Tönen, ab. Beim Singen und Spielen, aber auch schon beim Hören der Musik erfahren wir geradezu etwas österliches, ohne dass das “Abendwehen aus diesem Leben” ausgeblendet wird. Ich glaube, darum ist Musik so unendlich tröstlich: Ein Klang, der Himmlisches ahnen lässt. In der “Kunst der Fuge” wird das für nicht wenige besonders deutlich. Sie wird von manchen als “absolute Musik” bezeichnet. Trotz ihrer Vollkommenheit bleibt sie Stückwerk, aber gerade so Hinweis auf das Ganze. Hinweis auf Gott, der mich und dich, der die Welt in seiner Hand hält. Und das gilt nicht nur Bachs Musik, das gilt für alles Singen und Spielen und für das im Gottesdienst erst recht. Wenn man mit der Predigt nicht recht zufrieden war, sagte man früher gerne: Die Lieder, die haben sie gut ausgesucht, Herr Pfarrer. Recht verstanden ein großes Lob. Denn auch die Lieder predigen. Alle, die singen, predigen. Die Orgel predigt wie die Trompete und die Gitarre. Und kein Musikstil ist ausgenommen. Gott wird gelobt auf vielerlei Weise. Die Musik ist die beste Gottesgabe. Durch sie werden viele und große Anfechtungen verjagt. Musik ist der beste Trost für einen verstörten Menschen, auch wenn er nur ein wenig zu singen vermag. Sie ist eine Lehrmeisterin, die die Leute gelinder, sanftmütiger und vernünftiger macht. - Martin Luther Cantate domino – singt dem Herrn, so ermuntern schon die Psalmen. Wer darin einstimmt, reiht sich ein in eine Gemeinschaft. Er verliert für einige Zeit seine Einsamkeit. Er darf von sich absehen; im Gotteslob darfst du deine Sorgen vergessen, du trittst ein in ein Stück Selbstvergessenheit. Cantate domino: Vor Gott singen wir. Und zugleich von Gott. Vom Gott der Liebe, der in Christus nicht geschieden sein will von alldem, was dir und mir zu schaffen macht. Der unser Singen hört ebenso wie die ungezählten Schreie von Menschen durch die Geschichte bis heute. Wir singen von dem Gott, der seinem Namen alle Ehre machen will: Ich werde dasein. So weist uns die Musik, das Singen und Spielen, ein in die Lebensweise des Trauens. Wir werden Lehrlinge des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Es grüßt Sie herzlich, Ihr Pfarrer Irmenfried Mundt

Pfingsten 2008 Predigt zu Apg. 2,14-18! von Pastorin Maret Schmerkotte Zu Pfingsten kann einen die Sehnsucht überkommen, dass unsere Kirche nur so vor Geist und Begeisterung übersprudelt... Denn so haben es die Jünger damals erlebt: Der Heilige Geist kam über sie unter den Zeichen von Sturm und Feuer. Die Jünger gerieten außer sich. Waren Feuer und Flamme. Wie von einem Wirbelsturm erfasst. Wie betrunken von einem Sog, der sie nach vorn zieht. Kein Wunder, dass die Spötter damals die Turbulenzen auf übermäßigen Weingenuss zurückgeführt haben. Aber nicht nur das: Die Jünger fingen an, sich unters Volk zu mischen und in anderen Sprachen zu reden. Bisher waren sie vermutlich eher unter sich, saßen hinter verschlossenen Türen und mieden die Öffentlichkeit. Zu Pfingsten aber brechen sie

ihr Schweigen um Gott. „Sie wurden alle erfüllt vom heiligen Geist und fingen an zu predigen…“. Vor allem, Petrus, der Ängstliche, der, der Jesus zuvor verleugnet hat, hält in aller Öffentlichkeit eine lange unvorbereitete Pfingstpredigt. Die ganze zusammengewürfelte Menge in Jerusalem hört ihn und die anderen Jünger plötzlich von den großen Taten Gottes reden. Und das hörte sich nach Lukas etwa so an: 14 Da trat Petrus auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ihr Juden, liebe Männer, und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan, und lasst meine Worte zu euren Ohren eingehen!15 Denn diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde am Tage; 16 sondern das ist‘s, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist (Joel 3,1-5): 17 »Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; 18 und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen. Apostelgeschichte 2, 14-18 Petrus überrascht mich mit dieser Rede. Nicht nur, dass er das ganze Geschehen erklärt und deutet, er erdet für mich auch das Wirken des Geistes. Das Reden in anderen Sprachen und andere wunderhafte pneumatische Phänomene spielen in seiner Rede gar keine Rolle mehr. Statt dessen kommt er ganz nüchtern zum Kern der Sache selbst: So wie der Prophet Joel es schon vorausgesagt hat, hat Gott seinen Geist ausgegossen. Nicht irgendein Geist, sondern den Geist Jesu Christi, denn er ist derjenige, der dieses Geschehen bewirkt. Ja, ihr habt richtig gehört, Jesus, genau der, der gekreuzigt wurde. Ihr meint, ihr seid mit Jesus fertig, seit er so elend gescheitert und umgekommen ist? Es ist überhaupt nicht vorbei mit Jesus. Ich predige ihn euch jetzt. Ihr müsst nämlich wissen: Gott hat ihn auferweckt, er ist noch da, jetzt erst recht und ihr werdet es, jetzt und künftig mit ihm zu tun haben. Am Ende dieser Rede erwartet man, das sich die Hörer möglicherweise empört auf den Redner stürzen, doch das Gegenteil ist der Fall. Die Hörer sind zutiefst betroffen. Es ging ihnen durchs Herz, heißt es. Und das genau ist das Kennzeichen des Wirken des Geistes. So sehr er von außen in uns kommt, so wirkt er in unserem Innern. Und eben nicht nur in außerordentlichen Vorgängen, wie Prophetie, Ekstase und Zungenreden, sondern er erweist sich in dem, was im Herzen vorgeht. Unser natürliches Menschsein wird nicht ausgeschaltet oder übergangen, sondern in den Dienst genommen. Der Geist wendet sich an das Herz, an die Mitte unseres Menschseins. Wem etwas durchs Herz geht, der ist ganz und gar in Anspruch genommen, vielleicht beunruhigt, vielleicht beglückt und befreit. Und wenn es wirklich wahr ist, so wie hier beschrieben, dass Gott durch seinen Geist so direkt auf uns zukommt, dann muss einfach in uns diese Frage entstehen: Was sollen wir tun? Nach dieser Rede, die so sehr ins Herz trifft, muss etwas passieren. Eine Entschluss, eine Wendung... in der Gegenwart des Geistes gibt es kein Versteckspiel mehr. Was sollen wir tun? Die Antwort in unserem Predigttext lautet: Tut Buße! Für moderne Ohren ein möglicherweise anstößiges Wort, ist es doch behaftet mit der Vorstellung, Buße sei die Anweisung zur Zerknirschung, aufgrund des eigenen Mangels und Ungenügens und des Ungehorsams Gott gegenüber und eine notwendige Wiedergutmachung von Fehlleistungen... Das Evangelium aber meint

6/16 HERAUSGEBER: PRESBYTERIUM DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE WERDEN BEAUFTRAGTER DES PRESBYTERIUMS FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT CONRAD SCHLIMM REDAKTION: MEIKE KRÜGER ( 40 50 16 ANDREAS SCHÄFER ( 49 02 301 ANSCHRIFT: DER BRIEF • HECKSTRAßE 65 • 45239 ESSEN-WERDEN


Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden etwas anderes: Befreiung zur Freude, zum wirklichen Kontakt mit Gott, der uns verheißt: Du kannst noch anders werden! Buße ist eine Bewegung nach vorne, die mich sozusagen verrückt. Christen sind verrückte Leute, denen Gottes Liebe, Kopf und Herz verdreht. Buße, Umkehr das ist der Ruf zum Neuanfang, zur Bewegung auf Gott hin! Ja, natürlich habt ihr auch versagt, seid schuldig geworden und vieles ist gescheitert. Aber nicht das ist es, was euer Leben bestimmen soll!. Eure Geschichte mit Gott kann wieder neu beginnen. Petrus weiß, wovon er hier spricht. Dreimal hatte er gesagt, dass er mit dem Mann aus Nazareth nichts zu tun habe. Peinlich, peinlich! Mit dem Reden war er schnell dabei, eigentlich habe er mit Jesus, seinem Meister in den Tod gehen wollen. Und wie schnell nahmen dann er und die anderen Reißaus als es brenzlig wurde. Aber nun, da sind sie wieder, die Jünger, und Petrus ist ihr Sprecher. Das Desaster vom Karfreitag ist eingeholt vom Ostermorgen. Der Tod vom Leben. Und die Schuld von der Vergebung, so könnte man hinzufügen. Mit seiner eigenen Person dokumentiert Petrus die Möglichkeit zur Veränderung, zum Neuanfang, so sehr dass seine Worte eben durchs Herz gehen. Wir müssen nicht stecken bleiben in unserem bisherigen Leben, Denken und Fühlen. Gott kann unsere Vergangenheit bewältigen und Neues wachsen lassen. Sicher, das kann auch eine Zumutung sein, aber Gottes Geist gibt uns eben auch den Mut zur Auseinandersetzung mit der Frage: Was möchten wir hinter uns lassen? Wo brauchen wir Veränderung und Neuanfang, vor allem, wenn es um ein Leben mit Gott geht? Ein letzter Gedanke aus der Predigt des Petrus: “Euch und euren Kindern gilt diese Verheißung, und allen, die fern sind, so viele der Herr, unser Gott herzurufen wird“, sagt er zu den versammelten Menschen... Dieser Vers ist nicht zuletzt auch für die späteren Leser und Hörer gedacht. Die Predigt des Petrus soll Geschichte machen: Kirchengeschichte. Christ werden, das wird hier deutlich, ist identisch mit hinzugerufen oder hinzugetan werden zur bestehenden Gemeinschaft. Das Neue Testament hat eher einen sozialen als einen individualistischen Glaubensbegriff. Der Glaube braucht die Gemeinschaft, in der Vereinzelung kann er sehr viel schwerer überleben. Allerdings der Trend geht wohl momentan eher in die andere Richtung, wenn ich auf die Kirche insgesamt schaue: zurückgehende Mitgliederzahlen, weniger Leute im Gottesdienst, knapper werdende Finanzen und eine nachlassende Bereitschaft zur Mitarbeit... Das mag hin und wieder anders aussehen, schließlich gibt es sie ja noch die vollen Gottesdienste, trotzdem denke ich, dass wir in der Kirche ein Problem haben. Mit der folgenden Geschichte lässt sich das vielleicht ganz gut veranschaulichen: Von der Rettungsstation zum Clubhaus An einer gefährlichen Küste machten vor Zeiten ein paar Leute eine Rettungsstation für Schiffbrüchige auf. Zu dieser Rettungsstation gehörte nur ein einziges Boot. Mit diesem wagte sich die kleine, mutige Mannschaft immer wieder, bei Tag und bei Nacht, auf das Meer hinaus, um Schiffbrüchige zu retten. Es dauerte nicht lange, bis dieser kleine Stützpunkt bald überall bekannt war. Viele der Geretteten und auch andere Leute aus der Umgebung waren gern bereit, die armselige Station mit Geld zu unterstützen. Die Zahl der Gönner wuchs und wuchs. Mit dem Geld, das sie spendeten, wurde die Rettungsstation großzügig ausgebaut, immer schöner und komfortabler.

Sie wurde allmählich zu einem beliebten Aufenthaltsort und diente schließlich den Männern als eine Art Clubhaus. Immer mehr Mannschaftsmitglieder weigerten sich nun, auszufahren und Schiffbrüchige zu retten. Sie wollten den Rettungsdienst überhaupt einstellen, weil er unangenehm und dem normalen Clubbetrieb hinderlich sei. Ein paar Mutige, die den Standpunkt vertraten, daß Lebensrettung ihre vorrangige Aufgabe sei, trennten sich von ihnen.

stand Ahab für eine ausgeprägte Versöhnungs- und Friedenspolitik.

Nicht weit davon entfernt begannen sie, mit geringen Mitteln eine neue Rettungsstation aufzubauen. Aber auch sie erfuhr nach einiger Zeit dasselbe Schicksal: Ihr guter Ruf verbreitete sich schnell, es gab neue Gönner, und es entstand ein neues Clubhaus. So kam es dann schließlich zur Gründung einer dritten Rettungsstation. Doch auch hier wiederholte sich die gleiche Geschichte ... Wer heute diese Küste besucht, findet längs der Uferstraße eine beträchtliche Reihe exklusiver Clubs. Immer noch wird die Küste vielen Schiffen zum Verhängnis; nur - die meisten Schiffbrüchigen ertrinken. Verkürzt nach Prediger und Katechet 2/79, s. 253

Und wir treten hinein – in diese scheinbar so schmutzige Welt der Machtkämpfe und Interessenskonflikte. Eine Welt, in der sich brennend die Frage stellt nach der Gegenwart Gottes; nach seinem Geist! Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Und wir – als Kirche – mitten drin! Hören Sie die Geschichte, über die hier in dieser Kirche vielleicht noch nie gepredigt wurde!

Vielleicht ist das das eigentliche Problem unserer Kirche, dass wir nicht mehr um unsere Mitte, um unsere Aufgabe wissen. Was sollen wir tun? Diese Frage stellen wir uns als Gemeinde immer weniger. Wir richten uns ein in unseren kirchlichen Alltagsbetrieb, haben unsere festgefügten Abläufe und Traditionen. Das machen wir doch immer so ... das ist der Grundsatz unseres Gemeindelebens. Und manchmal gleichen wir dabei eher einem Clubhaus als einer Rettungsstation. Wer zu uns hinzukommen will, darf den normalen Clubbetrieb nicht stören. Wo aber spielt da der Geist Gottes noch eine Rolle? Ja, zu Pfingsten kann einen die Sehnsucht überkommen, dass unsere Kirche übersprudelnd von Geist und Begeisterung sein müsse... Ich erwarte keine außergewöhnlichen pneumatischen Phänomene und ekstatischen Zustände, nein das wäre auch nicht unsere Art, den Glauben auszudrücken. Und Petrus zielt in seiner Predigt darauf ja auch gar nicht ab. Er gibt überhaupt keine detaillierte Anweisung, wie eine geistgewirkte Gemeinde aussehen soll. Nur: Tut Buße! Kehrt um! Fangt wieder neu an!Das ist alles. Hören wir doch dies auch für uns als Gemeinschaft! Gottes Geist will unsere Fantasie wecken, das altbekannte Evangelium in neuen unverbrauchten Worten und Formen weiterzusagen. Ein arabisches Sprichwort sagt: „Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen.“ Wir können Gottes Geist nicht herbeizwingen. Er weht, wo er will. Aber in der Windstille, können wir die Windmühlen der Erwartung aufstellen. Wir können und dürfen den Geist herbei bitten, dass er uns neu durchs Herz geht und in Bewegung bringt. Amen

Predigt zu 1. Könige 20,1-13 Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten von Pfarrer Martin Schmerkotte Liebe Gemeinde, erinnern Sie sich an Ahab, den König Israels? Der kommt im Alten Testament schlecht weg. Denn er tolerierte neben dem Glauben an Jahwe auch den Baals-Kult im Lande. = Glaube der kanaanäischen Urbevölkerung. Etwa die Hälfte der Einwohner. Politisch war das klug. Überhaupt

Von den Frommen im Land wurde er dafür angefeindet. Einer der Wortführer: Elia. Der rasselt häufig mit Ahab zusammen. Wer den Alleinanspruch Jahwes mit aller Macht durchsetzen will, kann mit einer solchen Friedens- und Versöhnungspolitik im Zweifelsfall nichts anfangen. (Wie aktuell!) Ahab kommt schlecht weg.

1. Könige 20, 1-12: Der syrische König Ben-Hadad – dem Ahab und seinem Heer haushoch überlegen – sammelte seine Streitmacht. Mit ihm zogen 32 verbündete Könige heran – mit Ross und Wagen. Ben Hadad belagerte Samaria – Ahabs Hauptstadt und sandte Boten zu Ahab und ließ ihm sagen: „Liefer mir dein Silber und dein Gold aus; deine Frauen und deine Söhne!“ Ahab ließ ihm antworten: „Mein Herr und König! Was du befiehlst, geschehe! Alles, was mir gehört, gehört dir!“ Da sandte Ben-Hadad noch einmal Boten zu Ahab: „Dein Silber und Gold, deine Frauen und Söhne sollst du mir geben. Zusätzlich aber werden morgen meine Soldaten die Häuser deiner Untertanen durchsuchen und alles mitnehmen, was ihnen gefällt!“ Da rief Ahab die Ältesten zusammen und sprach: „Seht, wie böse er es meint! Von dem, was er von mir verlangt hat, habe ich ihm nichts verweigert!“ Die Ältesten sprachen: „Du sollst ihm nicht gehorchen und nicht einwilligen!“ Da sprach Ahab zu den Boten Ben-Hadads: „Sagt meinem Herrn: Alles, was du zuerst geboten hast, will ich tun. Aber dass du meine Untertanen ausplünderst – das kann ich nicht zulassen!“ Als Ben-Hadad das hörte, ließ er Ahab ausrichten: „Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn morgen von Samaria noch mehr übrig ist als Staub!“ Aber Ahab lies ihm sagen: „Wer den Waffenrock anzieht, soll sich nicht so rühmen wie der, der ihn ablegt.“ Diese Worte wurden BenHadad gesagt, als er gerade mit den Königen im Zeltlager saß und zechte. Er sprach: „Greift an!“ Und seine Soldaten griffen die Stadt an. Das Unrecht – es ist mit Händen zu greifen! Gewalt – nackte Gewalt auf der Tagesordnung. Wer die Macht in Händen hält, nutzt sie - für seine eigenen, egoistischen Zwecke! Und wer keine Macht hat, nicht mithalten kann? Der spricht: Dein Wille geschehe – mein Herr und König. Eine andere Rolle bleibt nicht. Buckeln vor der Macht; sich klein machen - wie vor Gott. „Mein Herr und König!“ Ein altes Spiel – aber hochaktuell! Ahab – der Verruchte – von den Frommen so oft Verfluchte – er überrascht! „Alles, was mir gehört, liefer ich dir aus! Nur an meine Untertanen – an die, die mir anvertraut sind und die auf mich vertrauen, darfst du nicht!“ Der, der das Eigene hergibt, leistet Widerstand – gegen den „gesunden Menschenverstand“ - wenn es um die geht, die ihm anvertraut sind. Doch wer die Macht hat – duldet der Widerstand? Wir haben gehört. „Du fügst dich nicht? Ich werde dich und die deinen zu Staub zermalmen! Greift an!“ Erstaunlich – ein Ahab, der dem Zwang der Macht widersteht! Weil es Menschen gibt, für die er Verantwortung trägt. Eine Haltung/Rückgrat, das ich vielen Menschen wünschen würde, denen andere Menschen anvertraut sind.

7/16 HERAUSGEBER: PRESBYTERIUM DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE WERDEN BEAUFTRAGTER DES PRESBYTERIUMS FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT CONRAD SCHLIMM REDAKTION: MEIKE KRÜGER ( 40 50 16 ANDREAS SCHÄFER ( 49 02 301 ANSCHRIFT: DER BRIEF • HECKSTRAßE 65 • 45239 ESSEN-WERDEN


Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden Menschen, die über die berufliche Existenz anderer entscheiden (manchmal in ganz großen Dimensionen) Menschen, die Entscheidungen fällen, die Konsequenzen für das Leben anderer nach sich ziehen Menschen, die Verantwortung für andere tragen Menschen, die meinen, sie wüssten, wo es lang geht Menschen, die diese Welt gestalten wollen Wie überraschend: der viel gescholtenen Ahab – von vielen seiner Zeit längst abgeschrieben - er wird zum Vorbild für verantwortliches und mutiges Handeln. Aber: was kann er tun, wo Macht erdrückt? Ist er selbst nicht auch – der Macht des Mächtigen gegenüber – machtlos?

der allen Mächten, die kalt und arrogant daherkommen, entgegentritt und Grenzen setzt. Diesen Gott, diesen Geist erwarten wir! Der spricht: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben!“ Es wird Pfingsten – welch ein Glück für diese Welt!

Eine Situation – eine Konstellation – die schreit! Die schreit danach dass sich Gerechtigkeit durchsetzt – selbst gegen die Macht! Wo ist der Mächtige, der Gerechte, der Leben schaffen kann, selbst da, wo das Menschenmögliche ausgespielt ist? Gott – wo bist du – in unserer menschlichen Geschichte? Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Eine alte Geschichte – und immer wieder neu!

Es gibt sie, die Menschen, die plötzlich ihr Leben verändern und aussteigen, die mit vierzig oder fünfzig Jahren z.B. ihren Beruf wechseln. Ein Manager wird Sozialarbeiter, weil er festgestellt hat, dass er genug Geld gemacht hat und nun etwas mehr für andere tun will, oder ein Banker verwirklicht seinen Kindheitstraum und wird doch noch Tischler. Oder Menschen bauen sich in einem fremden Land eine neue Existenz auf. Oder wie vorhin hier im Gottesdienst vorgestellt: ein Priester steigt aus der katholischen Kirche aus oder eine Frau aus ihrer krank machenden Ehe …

Ein Seitenblick: Wo steckt eigentlich Elia? Dieser ständige Wegbegleiter und Kritiker des Ahab. Warum ist er nicht hier? Kommt nicht vor? Bahnt sich hier kein Unrecht an? Wäre hier kein Gerichtswort anzusagen? Finden sich hier keine erschütterten Gemüter, die gestärkt und getröstet werden müssten? Oder kümmert er sich nur um religiöse Fragen und überlässt ansonsten die Welt dem freien Spiel der Kräfte? So, als verschlösse Gott Mund und Herz, wenn der Sturm der Weltgeschichte über das Schicksal vieler hinwegfegt? Elia hat den Ahab abgeschrieben. Er rechnet nicht mit der Weite Gottes, der oft zwiespältige und zerrissene Menschen zu seinen Werkzeugen macht. Gerade das: Zeugnis eines Geistes, der diese Welt bewegen und verändern kann. Doch damit ist der fromme Elia selbst abgeschrieben. Er denkt zu eng über die Möglichkeiten Gottes. Und: wer tritt jetzt diesem frechen König entgegen, der angeheitert beim Wein die Räder eines skrupel- und gewissenlosen Spiels in Bewegung setzt? „Greift an!“ Wir kennen diese arrogante Geste der Macht. Mit dem Champagnerglas in der Hand Schicksal für viele spielen wollen. Ohne Rücksicht. Macht, die nicht mehr damit rechnet, dass ihr jemand entgegen treten kann. Ein böses Spiel. Den Opfern scheinen die Hände gebunden. Die Situation: ein Schrei! „Gott, spiel du mit, damit wir leben können!“ Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Wir warten auf deinen Geist! Die Welt wartet auf deinen Geist! Ein weiterer Vers: 1. Kg 20, 13: Ein Prophet trat zu Ahab und sprach: „So spricht der Herr: Siehst du diese große Menge Soldaten? Wahrlich – ich will sie heute in deine Hand geben, dass du wissen sollst: Ich bin der Herr!“ Eine erstaunliche Geschichte! Ein erstaunlicher Gott! Zwielichtige, zerrissene Menschen macht er zu seinen Werkzeugen (Ahab – mich - Dich) Wo moralische Institutionen (Kirche?) und Instanzen (Elia) blind sind und versagen - da spricht sein Geist selbst durch die Namenlosen. Schon immer hoffen Menschen auf das, was wir zu Pfingsten erhoffen und feiern: dass Gott sich mitten in dieser Welt erweist dass sein Geist trotz aller Wirrnis und Unübersichtlichkeit im Getriebe dieser Welt zu finden ist dass er gerade durch die scheinbar Macht- und Namenlosen spricht und wirkt

Amen.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne Ich steige aus! von Pastorin Maret Schmerkotte

Vielleicht haben Sie ja auch schon einmal daran gedacht: Eigentlich müsste ich mein Leben verändern, müsste aussteigen aus meinem Job, aus meinem Umfeld, meiner Lebensweise und etwas Neues anfangen… Aber dann bleibt es eben doch beim Träumen: der erste Schritt ist einfach zu schwer, die Unsicherheit vor etwas Neuem und die Angst, etwas zu verlieren sind zu groß. Was, wenn ich dann in der Luft hänge? Was werden die anderen sagen? Mein soziales Umfeld, das mich auf meine Rolle festgelegt hat? Lieber richte ich mich doch ein in meiner Unzufriedenheit und nörgele weiter an meinem Leben herum. Doch sollten wir unsere Unzufriedenheit mit uns und unserem Leben sehr ernst nehmen: wenn ich merke: Das, was ich gerade beruflich tue, ist es nicht mehr, ich will etwas anderes. Oder wenn ich depressiv werde in einer schon toten Beziehung, oder wenn ich spüre, dass mein Leben kein Ziel oder Zweck mehr hat, mir der Sinn fehlt. Wenn ich also spüre, dass ich keine Vitalität und Lebenskraft mehr besitze. Dann ist auf jeden Fall eine Veränderung dran, doch bevor ich für die notwendigen Veränderungen und Neuanfänge plädiere, möchte ich auch von den Dingen sprechen, die Sie zuvor bedenken sollten. Denn oft verändern Sie mit solchen Entscheidungen nicht nur Ihr eigenes Lebensumfeld, sondern auch das Umfeld anderer Menschen, der Familie oder Partner beispielsweise. Wir sollten genau prüfen, welche Art der Veränderung wirklich dran ist und was wir von dieser Veränderung erwarten. Eines sollte uns in jedem Fall klar sein: Wir kommen nicht drum herum, im Leben gewisse Kompromisse zu schließen. Es wird auch nach einer notwendigen Veränderung nicht unbedingt alles perfekt sein. Und bestimmte Probleme, die in uns selbst liegen, schleppen wir weiter mit in uns herum. Wenn z.B. jemand sagt: „Ich bin hier in Deutschland sehr unglücklich und unzufrieden, ich wandere deshalb nach Spanien aus oder an den schönen Südseestrand und da wird dann alles besser sein“, dann kann dies auch zu einer große Enttäuschung werden. Vielleicht ist dann nämlich in dem Land meiner Träume gar nichts besser, denn oft nehmen wir unsere Probleme ja mit in die neue Situation. Nicht immer ist der Beruf oder das Land das Problem, sondern ich selbst. Wir glauben, wir könnten das Problem lösen, indem wir in neue Lebenszusammenhänge eintauchen. Dieses Phänomen lässt sich z.B. oft in Partnerschaften finden: Nach einer ersten Liebe, die häu-

fig in einer Ehe mündet und in einer Scheidung endet, gibt es eine ganze Reihe ähnlicher Partner. Selbst wenn wir festen Willens sind, dass wir so eine Beziehung wie die vorherige nie wieder führen wollen, wenn wir uns also ganz bewusst sogar für das Gegenteil vom vorherigen Partner entscheiden wollen, unsere verborgenen inneren Muster, Grundsätze und Verletzungen sorgen dafür, dass sich alles wiederholt. Wir müssen also, wenn wir diese Unzufriedenheit in uns wahrnehmen, genau überlegen, was wir da eigentlich suchen: Ist es wirklich eine neuer Beruf oder eine neue Partnerschaft oder suche ich nicht vielmehr mich selbst? Meine eigenen Wurzeln, meine Identität. Eine weitere notwenige Überlegung wäre, ob der Schritt oder die Veränderung, die ich vorhabe, wirklich zu mir passen. Es gibt große Lebensträumen und Lebensziele, die aber nicht unbedingt der eigenen Persönlichkeit entsprechen. Auch da sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Manchmal meinen wir, unseren Lebenstraum doch noch irgendwie verwirklichen zu können, aber irgendwann muss ich mir doch eingestehen: Das wird nichts mehr mit meinen Träumen. Klar, dass dann ein gewisses Gefühl der Trauer einkehrt. Das ist normal. Auch ein Lebenstraum will würdig betrauert werden, aber oft taucht in solchen Momenten auch etwas Neues auf, das meistens viel realitätsnäher ist. Machen Sie sich also frei von dem Gedanken: Mein Leben ist nur dann ein gutes Leben, wenn ich meinen Lebenstraum verwirkliche. Gelingt mir dies nämlich nicht, werde ich mich ewig als ein Opfer des Schicksals und der Lebensumstände fühlen und mit mir und meinem Leben unzufrieden sein. Viele Leute verpassen so ihr Leben, weil sie immer auf etwas warten und entsprechend passiv bleiben. Sie sind nicht in der Lage, aus ihrer augenblicklichen Lebenssituation konkret etwas zu machen. Aus dem Leben etwas machen, d.h. in jedem Fall eine positive lebensbejahende Entscheidung zu treffen, wenn ich nicht länger Opfer der Umstände sein will. Das kann bedeuten, dass ich aufhöre, an meinem eigenen Leben herumzunörgeln. D.h. ich entscheide mich, das Beste aus dem zu machen, was ist und nicht länger ein verletzter, enttäuschter und verbitterter Mensch zu werden. Das kann aber auch bedeuten, auszusteigen aus meinem bisherigen Lebensumständen, die mich krank machen, weil ich festgestellt habe, dass das Problem innerhalb meiner bisherigen Lebensmuster nicht zu lösen ist. So ein Ausstieg kann dann wirklich radikal sein, muss es vielleicht sogar auch. Das Denken muss dann wirklich auf das neue Ziel ausgerichtet sein, auf den Neuanfang. Wenn ich mich dann für etwas Neues entscheide, für eine neue Lebensform z.B., muss mir klar sein, dass ich mich damit gleichzeitig gegen hundert andere Lebensformen entscheide. Und doch ist das, was ich nun leben möchte, für mich das Beste. Ich muss mit ganzem Herzen dabei sein, auch wenn sicherlich – und das bleibt nicht aus, irgendwann auch bei Neuanfängen eine Phase der Ernüchterung eintreten wird. Es kommt darauf an, dass ich mit mir selbst einverstanden bin und diesen Neuanfang bewusst bejahe. In der Bibel gibt es viele Geschichten von Menschen, die ihr Leben verändern. Und wenn sie sich dabei mehr auf Gott verlassen, als auf sich selbst, dann sind diese Ausstiege und Einstiege auch erfolgreich. Ich möchte mit Ihnen nun einen Blick in eine solche biblische Geschichte wagen. Vor den Toren Jerusalems gab es einen Teich, Betesda hieß er, übersetzt Haus der Gnade. Doch dieser Name klingt geradezu höhnisch, denn dort hausten in den Säulenhal-

8/16 HERAUSGEBER: PRESBYTERIUM DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE WERDEN BEAUFTRAGTER DES PRESBYTERIUMS FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT CONRAD SCHLIMM REDAKTION: MEIKE KRÜGER ( 40 50 16 ANDREAS SCHÄFER ( 49 02 301 ANSCHRIFT: DER BRIEF • HECKSTRAßE 65 • 45239 ESSEN-WERDEN


Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden len rund um den Teich zahlreiche Kranke: Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Ab und an geriet die Wasseroberfläche dieses Teiches etwas in Bewegung und wer dann als erster hinein stieg, so heißt es in der Geschichte, der wurde geheilt. Man kann sich die Stimmung an diesem Teich so ungefähr vorstellen: Alle starren begierig auf das Wasser, weil sie als erste hineinwollen, denn nur dann haben sie Heilungschancen, meinen sie jedenfalls. Eine Frauengruppe, die sich mit dieser Geschichte etwas intensiver auseinandergesetzt hat, hat einmal versucht, diese Szene nachzuspielen. Eine Frau übernahm die Rolle des Wassers, sie hatte ein blaues Tuch und konnte damit Wellen machen. Alle anderen spielten die Kranken und warteten auf die Bewegung des Wassers. Beim Warten breitete sich eine allgemeine Lähmung aus. „Ich habe mich gewundert, wie passiv die Kranken sind“, sagte die Frau, die das Wasser spielte, später. Die Lähmung hatte die Kranken wie eine zweite Haut umgeben und äußere und innere Aktivität vollkommen eingeschränkt. Alles im Leben dieser Kranken drehte sich um ihr Elend. Außer dem starren Blick auf das Wasser nahmen sie nichts mehr um sich herum wahr. An diesem Teich nun lag auch ein Mann, bereits 38 Jahre. Kaum vorstellbar, wie diese vielen Jahre für ihn ausgesehen haben müssen. Völlig fixiert auf die Heilung durch das Wasser, war er völlig lahmgelegt. Lahmgelegt in seiner Rolle als hoffnungsloser Fall und als jemand, der das Leben verpasst hat. Und dabei mit dem Gefühl, dass die anderen womöglich schneller sind und näher dran am Glück des Lebens. Nun kommt eines Tages Jesus an diesem Teich vorbei und sieht diesen Mann dort liegen und fragt ihn: Willst du gesund werden? Blöde Frage, mögen sie vielleicht denken, aber diese Frage hat durchaus ihren Sinn. Gesund sein – möchte der Kranke vielleicht schon, aber gesund werden? Der Wille des Menschen ist hier angesprochen. Jesus fragt hier den Mann, ob er bereit ist zum Aufbruch, zum Ausstieg aus seiner Lähmung. Ob er also bereit ist, seinen, gewohnten und vertrauten Platz zu verlassen. Das Vertraute gibt ja Sicherheit und irgendwann stellt man vielleicht auch fest: Nach 38 Jahren gehört diese Krankheit zu meinem Leben, ich habe mich daran gewöhnt und darin eingerichtet. Ich kann mir eigentlich gar nichts anders mehr vorstellen. Ein Weg zum Neuanfang, zur Heilung wäre demgegenüber ungeheuer anstrengend. Immerhin bei unserem Fall wird in diesem Mann ein neuer Denkprozess angestoßen: Er gesteht sich ein: Ja, ich bin krank und es sprudelt aus ihm nur so hervor: ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn sich das Wasser bewegt; wenn ich es aber selbst versuche, so komme ich immer zu spät.“ Hier wird die eigentliche Not deutlich: Ich hänge seit 38 Jahre hier und habe zu niemandem eine Beziehung aufbauen können. Warum eigentlich nicht, möchte man ihn am liebsten fragen? Wie schön wäre es gewesen, wenn er die Zeit genutzt hätte, um ein paar Freunde zu finden, statt auf das Wasser zu starren. Stattdessen macht er auch noch andere für sein Missgeschick verantwortlich. Jesus reagiert nun ganz anders, als der Kranke es vielleicht erwartet hat: Er bringt ihn nicht zum Teich, sondern sagt einfach: Steh auf und nimm deine Matte und geh! Dieser Teich hat schon genug Elend über dich gebracht. Mehr als deine Krankheit, er hat dich endgültig gelähmt. Nun steh auf, du hast genug Kraft, einen neuen Weg einzuschlagen! „Und sogleich wurde der Mensch gesund, nahm seine Matte und ging.“ Was können wir daraus für Schlussfolgerungen für unser eigenes Leben ziehen: Wenn in meinem Leben eine Veränderung, ein Ausstieg dran ist,

weil ich mich innerlich krank und unzufrieden fühle, sollte ich mich nicht an meinem Leid festbeißen. Es gilt die Entscheidung für das Leben zu treffen: aus der jetzigen Lebenssituation das Beste machen (auch nicht mehr mit meinem Leid hadern) oder nach einem wirklichen Neuanfang suchen Sich nicht nur auf eine Lösungsmöglichkeit, einen Lebenstraum fixieren... Es könnte sein, dass mich gerade dieses einseitige Warten passiv macht und ich andere Wege aus dem Blick verliere. Genau prüfen: Will ich wirklich gesund werden? Der Weg zur Heilung ist möglicherweise anstrengend und erfordert neue eigene Schritte -Nicht immer sind die Lebensumstände oder die anderen schuld an meinem Elend. Häufig liegt die Ursache in meinem Innern. Das heißt: nicht die anderen müssen sich verändern, sondern ich selbst. Jesus möchte uns zu einem neuen Leben verlocken. Er will, dass wir gesund werden. Aber er heilt uns nicht, indem er uns unseren Wunschtraum erfüllt und uns die Wege abnimmt, sondern er gibt uns Kraft, uns selbst zu heilen und eigene Schritte zu gehen. Er schickt uns Mut, die richtigen Anstöße und Menschen, die uns begleiten. Wenn wir darauf vertrauen, werden wir auch spüren, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Amen.

Furcht geht tiefer Fürchtet Euch nicht Andacht von Pfarrer Martin Schmerkotte Vor manchen Dingen habe ich Angst. Das ist menschlich. Schlechte Erfahrungen mit Menschen, unsichere Lebensumstände, das kann Ängste wecken. Furcht geht tiefer. Furcht kann einen Menschen befallen, wenn er mit etwas konfrontiert ist, was größer ist als das, was er fassen kann. Gott ist groß. Gott ist allmächtig. Ein gottesfürchtiger Mensch rechnet mit Gottes Gegenwart. Doch wenn ich mich allein auf diese Seite Gottes fixiere, kann es mir geschehen: ich fühle mich klein, gering, fast wie ein Nichts. Mein Glaube wird von der Furcht bestimmt. Wie gut, dass wir uns gerade in der Advents- und Weihnachtszeit auf eine andere Seite Gottes einlassen dürfen. Fürchtet euch nicht!Ò Das ist die Botschaft der Engel, die diesem Gott vorausgeht. Gott kommt klein und schutzlos, als ein Kind! Der Verstand kann das nicht fassen, aber das Herz ahnt vielleicht etwas von dem Wunder, das hier geschieht. Gott selbst verhüllt die Seiten seines Wesens, die Furcht erregen könnten. Als wollte er sagen: Für dich bin ich nur noch der Gott, der dich mit den liebevollen Augen des Kindes in der Krippe anschaut. Kein anderer! Deshalb: Fürchte dich nicht! Das ist ein Wunder. Gott selbst tut, was wir Menschen aus eigener Kraft nicht könnten. Er überwindet den Graben der Furcht. Sein tiefstes Wesen, seine Liebe und seine Menschenfreundlichkeit, treiben ihn dazu. Neues Leben wird möglich, frei von Angst. Die Mächte, die uns Angst machen wollen – selbst Hölle, Tod und Teufel (oder wie immer wir sie benennen) – sie werden vor diesem Gott nicht bestehen. Wo die Furcht überwunden wird, soll die Angst keinen Raum mehr haben. Nicht aus Angst glaube ich, sondern weil Gottes Liebe so unglaublich ist. Auch die Gottes-Furcht als Lebenshaltung wird neu definiert. Fürchte dich nicht! Dieses Wort gilt. Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Advents- und Weihnachtszeit. Es grüßt Sie herzlich, Ihr Pfarrer Martin Schmerkotte

Predigt zur Jahreslosung 2008 Ich lebe und ihr sollt auch leben, sagt Jesus! von Pastorin Maret Schmerkotte Und jetzt ganz ehrlich? Wann haben Sie sich zum letzten Mal so richtig lebendig gefühlt? Innerlich wach und offen für Neues? Nicht als Opfer der Umstände, sondern das Leben aktiv gestaltend? Voller Lebensfreude von Kopf bis Fuß? Natürlich, wir leben und atmen alle. Das ist das Normalste, vielleicht aber auch das Schwerste, das wir tun. „Lebe doch, lebe voll und ganz!“, ruft uns das Leben täglich hundertfach zu. Und beschäftigt mit tausend Dingen antworten wir, ohne der Frage echte Aufmerksamkeit zu schenken: „Ich lebe doch, ich bin doch nicht blöd!“ Dabei existieren wir häufig nur, statt unser Leben voll und tief zu leben. Echtes Leben ist voller Offenheit, Begegnung, Bewegung und Dynamik, ist erfüllt von Gestaltungskraft und Begeisterung, hat Tiefe und Nähe. Wer es wagt, sich ganz auf das Leben einzulassen, kann es an guten wie an schlechten Tagen intensiv erleben. Das genau ist es, was Jesus uns schenken möchte, mit seiner österlichen Botschaft: Ich lebe und ihr sollt auch leben! Diese Worte schlagen einen großen Bogen von der Geburt Jesu bis hin zu seinem Tod. Zunächst galten sie den Jüngern kurz vor Jesu Abschied von ihnen. „Ich werde zu meinem Vater gehen“, sagt er. Das Entsetzen der Jünger, die zuerst nur den Tod Jesu und das Verlassenwerden vor Augen haben, fängt Jesus sofort auf: „Nein, ich lasse euch nicht allein zurück. Ich komme wieder zu euch. Schon bald werde ich nicht mehr auf dieser Welt sein, und niemand wird mich mehr sehen. Nur ihr, ihr werdet mich sehen. Und weil ich lebe, werdet auch ihr leben. Dann werdet ihr erkennen, dass ich eins bin mit meinem Vater und dass ihr in mir seid und ich in euch bin.“ In diesen Worten steckt der Schlüssel zu einem erweiterten Lebensbegriff, der unsere normalen Vorstellungen vom Diesseits und Jenseits durchbricht. Leben und Tod werden zu Beziehungsbegriffen. In der Beziehung zu Jesus bleiben wir lebendig und deshalb: weil Jesus lebt, können auch wir leben. Und das unabhängig von unserem biologischen Tod: „Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt, und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben“, so sagt es Jesus an anderer Stelle. Wir werden unser Leben lang mit dem Tod konfrontiert. Zum einen durch die Tatsache, dass unser Leben auf dieser Erde zeitlich begrenzt ist. Zum anderen kann uns der Tod durch Trennung oder Verlust eines geliebten Menschen begegnen. Oder durch den Verlust einer erfüllenden Aufgabe. Oder durch schmerzhafte, verletzende Begegnungen, Mobbing, Hass, Krankheit und andere Schicksalsschläge als sogenannte kleine Tode. Ganz zu schweigen von den Widrigkeiten des Alltags: kleine Pannen, Verspätungen, nicht funktionierende Geräte, unerwartete Regengüsse oder schlecht gelaunte Verkäuferinnen. Tod begegnet uns immer dann, wenn jemand oder etwas unsere Lebendigkeit angreift. Jedes Mal, wenn uns etwas Hartes, Kritisches oder Vernichtendes begegnet, stehen wir in Gefahr, innerlich auch ein Stück weit abzusterben. Dennoch haben wir bei jeder Begegnung mit dem Tod – egal ob es sich um einen großen oder kleinen Tod handelt - die Möglichkeit zu wählen, wie wir reagieren. Wir können innerlich mit in den Tod gehen oder am Leben bleiben. Diese Wahl können und müssen wir immer wie-

9/16 HERAUSGEBER: PRESBYTERIUM DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE WERDEN BEAUFTRAGTER DES PRESBYTERIUMS FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT CONRAD SCHLIMM REDAKTION: MEIKE KRÜGER ( 40 50 16 ANDREAS SCHÄFER ( 49 02 301 ANSCHRIFT: DER BRIEF • HECKSTRAßE 65 • 45239 ESSEN-WERDEN


Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden der treffen. Sowohl in den kleinen Alltagsbegegnungen, als auch bei großen und schmerzhaften Ereignissen. Dieses Lebendigbleiben trotz aller Widrigkeiten mutet Jesus auch seinen Jüngern angesichts seines bevorstehenden Todes zu. „Ich lebe und ihr sollt auch leben“, das ist nicht nur ein Zuspruch, sondern auch Anspruch, ein Auftrag. Jesus fordert von seinen Jüngern die Entscheidung für das Leben. Sie sollen weiterhin in ihrem Glauben an ihn festhalten. Und so werden sie ihn sehen, auch wenn er nicht mehr für alle sichtbar ist. Das Faszinierende an Jesu eigener Lebensgeschichte ist, dass Jesus sich immer für das Leben entschieden hat. Zwar wirkt Jesus in der Passionsgeschichte wie das Opfer schlechthin. Aber dennoch bleibt er bis zur letzen Minute der Handelnde und Aktive. In Verhören antwortet er nicht, wenn er nicht will. Er nutzt Wunderkräfte nicht, um sich selbst zu befreien. Er geht den Weg ans Kreuz, ohne sich dagegen zu wehren. Und am Ende wird gerade so das Kreuz zu einem Weg ins Leben. Vielleicht ist es das, was wir von Jesus wirklich lernen können: Wir können das Leben wählen, in jeder Situation. Täter und Opferrollen stehen nicht fest. Auch in aussichtslosen und misslichen Situationen haben wir immer noch die Möglichkeit selbst zu entscheiden, wie wir damit umgehen. In der Bergpredigt erklärt Jesus seinen Zuhörern, wie sie mit dem dominanten Verhalten anderer umgehen sollen. Er sagt: „Wenn dich einer zwingt, etwas für ihn zu tun oder ihm etwas zu geben, dann gib ihm mehr als er fordert.“ Wie ist das zu verstehen? Sicherlich nicht in dem Sinne, dass wir als Christen immer superlieb sein müssen, sondern vielleicht so: Wenn dich einer zwingt, einen Kilometer lang sein Gepäck zu schleppen, dann trage es freiwillig, aus freien Stücken zwei Kilometer. Dann bist du nicht mehr das Opfer, sondern der, der aus freien Stücken entscheidet, was er tut. Übertragen in unsere Lebenswirklichkeit heißt es dazu in einem Buch von Kerstin Hack¹: „Wenn jemand etwas von dir will, dann gib es ihm nicht nur aus einem Gefühl der Pflichterfüllung heraus. Das macht dich nur unfrei. Entscheide dich. Und wenn du dich als freier Mensch entschieden hast, es ihm zu geben, dann tue es gern und packe als Krönung noch was extra obendrauf. Du bist der Handelnde und du hast die Wahl.“ Wir sind oft viel zu schnell geneigt, uns in die Opferrolle zu begeben, unser negatives Empfinden den widrigen Umständen zuzuschreiben, denen wir uns hilflos ausgeliefert fühlen. Was uns aber immer bleibt - auch nach erlebten Verletzungen – ist die Entscheidung, wie wir reagieren, ob wir weichere und liebevollere Menschen oder verbitterte Biester werden, ob wir mit in den Tod gehen oder ganz nah am Leben bleiben. Gestalten und Handeln gehört zum Grundauftrag des Menschen. Die Frage, die Gott und das Leben an uns stellen, heißt: Wie kann ich meine Welt positiv prägen und verändern? Wie kann ich etwas gestalten, was mir und anderen nützt? Wie kann ich etwas Gutes hinterlassen? Wie kann ich das Beste aus der Situation machen? So bleiben wir am Leben dran. So können wir auch in der Beziehung zu Jesus bleiben und in ihr wachsen, wenn wir uns jeden Tag neu ganz bewusst für ihn entscheiden und unser Leben von ihm prägen lassen. Machen Sie doch einmal das Gedankenexperiment, Jesus würde Sie den Tag hindurch begleiten. Er würde mit am Frühstückstisch sitzen, im Auto neben ihnen, er wäre bei einem schwierigen Gespräch dabei. Vielleicht würden Sie sich dann bei der einen oder anderen Sache doch bewusster und anders entscheiden. Meist treffen wir die Wahl für oder gegen das

Leben unbewusst und reagieren irgendwie. Mal genervt, mal verzeihend, mal wütend.. Und weil wir das schon tausendmal gemacht haben, sind bestimmte Reaktionsmuster fest eingeübt und wir meinen, nicht anders als so reagieren zu können. Wir existieren in vorgegebenen Bahnen und leben ein allzu angepasstes Leben.

Die Lust an der Lust von Pastorin Maret Schmerkotte

Jesus aber möchte, dass wir uns immer wieder neu für das Leben entscheiden. Er, der den Tod kennt und besiegt hat, lädt uns zum Leben ein. Darum ist er Mensch geworden. Und so können wir nicht auf Jesus blicken und dabei denken, dass sein Leben nicht zum Maßstab unseres eigenen Lebens werden könnte. Mit seiner Liebe und seinem Ja zum Leben kann er unser Leben prägen, auch wenn wir ihn nicht vor uns sehen. So ist er in uns und wir in ihm. So hat er es seinen Jüngern versprochen und damit auch uns.

Ich will versuchen, mich dem Themenkomplex Lust und Sexualität und Erotik über ein paar grundsätzliche Richtigstellungen zu nähern, damit Sie vielleicht selbst eigene Antworten auf solche und ähnliche Fragen finden können: Zunächst einmal: Woran denken Sie, wenn Sie den Begriff Erotik hören? Wenn ich diesen Begriff im Internet in die Suchmaschine eingebe, heißt es, dass diese Seite womöglich rechtswidrige und jugendgefährdende Inhalte anzeigt. Kann dann aber wirklich Erotik gemeint sein? Ist nicht hier nicht vielmehr zuerst an Sex gedacht? Aber es ist ein Unterschied zwischen Sex und Erotik. Sex ist etwas rein Körperliches, Erotik dagegen weitaus mehr. „Eros“ bzw. „Erotik“ war über Jahrhunderte hinweg das griechische Wort für „Liebe“ schlechthin. Prägend für diesen Begriff war der Philosoph Platon, der in einem seiner Werke den Mythos vom sogenannten Kugelmenschen schildert.

Auf dem Bild zur Jahreslosung von O. Baulig ist die Grundfarbe Gelb. Wüste. Toter Sand. Ein Ort, der zum Tode führt. Einige der Menschen sind nur noch als Umrisse zu erkennen. Schatten ihrer selbst. Sind Sand geworden. Tot. In der Mitte der Wüste aber steht das Kreuz. Auch das Kreuz bedeutet Last, Schmerz und Tod. Aber es bedeutet eben auch noch mehr. Es ist Mittelpunkt des Lebens. Es ist die ausgestreckte Hand Gottes für die Menschen. Es ist Zeichen seiner Liebe und seiner bewussten Hingabe. So kommt Leben in die Welt. Ein Leben, das um Wüste und Tod weiß, den Tod nicht verhindert, aber den Tod überwinden kann. So wird das Symbol des Kreuzes ein Zeichen des Lebens. Die Menschen, die sich unter dem Kreuz versammeln, blicken auf zu Jesus: „Ich lebe und ihr sollt auch leben“! Leben mit Jesus bedeutet auch Leben in der Wüste, aber es bedeutet eben in jedem Fall Leben! Leben, das begeistert, lebendig macht und die Welt gestaltet, auch wenn die äußeren Bedingungen noch so schlecht sind. Und diese Art des Lebens, die selbst den Tod überwindet, ist ewiges Leben. Im Diesseits und im Jenseits. Doch das Leben fällt uns nicht einfach von allein zu. Wir müssen uns immer wieder neu auf den Weg machen, müssen jeden Tag neu unsere Entscheidungen treffen. Was ist für uns Maßstab und woran orientieren wir uns? Die drei Weisen aus dem Osten, die nach Jerusalem kamen, um den neugeborenen König zu sehen, waren getrieben von der Sehnsucht nach dem Geheimnis des Lebens. Wer ist der Mensch und wer ist Gott? Sie haben sich auf den Weg gemacht und landeten schließlich beim menschgewordenen Gott. Die drei Weisen mussten weite Wege gehen, alles an Wissen hinter sich lassen, um dann schließlich nur noch staunend niederzufallen. Das Geheimnis des Lebens war anders als erwartet. Die Weisen werden bei Matthäus auch Sterndeuter genannt. Sie deuten die Sterne des Himmels, aber auch die Sterne ihres Schicksals. Der Stern über der Krippe kann für uns Zeichen unserer Sehnsucht nach dem Leben sein. Wenn wir uns entscheiden, unserer Sehnsucht zu folgen, finden wir Christus. Und in ihm das Leben. Der Weg dorthin ist nicht immer leicht, und manchmal verdunkelt auch die Nacht unseren Stern. Und doch: traurig müssen unsere Nächte nicht mehr sein. Wir haben wie die Jünger die Zusage: Ihr seid nicht allein! Vertraut mir! Nichts kann uns voneinander trennen. Ich lebe und ihr sollt auch leben! Eine Zusage, die uns auch dann stärken kann, wenn uns die Kraft zur eigenen Entscheidung fehlt. Jesus hört auch dann nicht auf uns einzuladen. Zum Leben! Amen

Es ist gar nicht so einfach den Ratsuchenden in unserem Anspiel eine Antwort zu geben, oder? Wie hätten Sie als Seelsorger geantwortet?

Am Anfang der Welt, so schreibt er, trennten die Götter alle Menschen in zwei Hälften. Und seitdem ist jeder und jede auf der Suche nach der fehlenden Hälfte. Und diese Bewegung, diese Suche des Menschen nach Ergänzung und Ganzheit, nennt Platon „Eros“. Erotik ist also das leidenschaftliche Gefühl: Der oder die ergänzt mich. Mit dem oder der möchte ich zusammen sein. Mit dem oder der zusammen bin ich mehr als ich selbst allein. Erotik ist also eine bestimmte Sehnsucht, ausgelöst durch etwas ganz Sinnliches: Was ich vom anderen sehe, höre und spüre. Wenn ich also bei irgendeinem Menschen etwas sehe, was mich tief in meinem Innern berührt und anspricht, wenn es in mir Lust erweckt, mit ihm zusammen zu sein, weil ich mir davon erhoffe, dass er meine Sehnsucht nach Ganzheit irgendwie stillen kann, dann ist es eine erotische Beziehung! Unser Problem ist, dass wir diesen Begriff hochgradig sexualisiert haben, aber das ist in der Urbedeutung des Wortes nicht der Fall: „Eros“ war im Griechischen einfach das am häufigsten gebrauchte Wort für „Liebe“ und hat demnach genauso viel oder wenig mit Sex zu tun wie das Wort „Liebe“. Natürlich gibt es einen Zusammenhang, eine gewisse Schnittmenge, aber die beiden Worte sind keineswegs gleichbedeutend. Vergessen Sie also, was Sie bisher über Erotik gedacht haben. Denken Sie dabei nicht nur einseitig an das Sexuelle! „Eros“ heißt: Ich liebe etwas, weil es mich ganz macht. Das können nicht nur andere Personen sein. Ich kann auch eine erotische Beziehung zur Arbeit, zur Kunst oder vielleicht auch sogar zu meinem Auto haben. Und man kann das ganze auch noch weiter treiben: Man kann seine erotische Ergänzung nicht nur in etwas Innerweltlichem, sondern auch in Gott suchen. Wenn also jemand zu der Erkenntnis kommt: Ich brauche nicht nur einen Partner, ein Haus und ein Auto, um ganz zu werden, sondern ich brauche Gott, also etwas, was größer ist als ich, und meinem Leben Sinn gibt. Hinter aller Spiritualität steckt die Erkenntnis, dass nichts in dieser Welt mich wirklich ganz machen kann und ich mich auf die Suche nach etwas Göttlichem machen muss. Also egal, womit und wem wir uns in dieser Welt erotisch ergänzen, richtig ganz machen wird uns das nie. Es bleibt immer eine unvollkommene Beglückung.

10/16 HERAUSGEBER: PRESBYTERIUM DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE WERDEN BEAUFTRAGTER DES PRESBYTERIUMS FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT CONRAD SCHLIMM REDAKTION: MEIKE KRÜGER ( 40 50 16 ANDREAS SCHÄFER ( 49 02 301 ANSCHRIFT: DER BRIEF • HECKSTRAßE 65 • 45239 ESSEN-WERDEN


Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden

Das heißt nun aber nicht, dass alles Erotische, Sexuelle und Sinnliche unwichtiger wäre als das Spirituelle, auch wenn die Kirchengeschichte hier in der Vergangenheit etwas anderes lehrte. Jahrhundertelang wurden Sexualität und erotische Lust im kirchlichen Bereich negativ bewertet. Ein historisches Beispiel ist dafür der Kirchenvater Augustinus, der das moralische und religiöse Sexualverständnis wie kein anderer geprägt hat. Augustinus hat die sexuelle Lust mit der Erbsünde in Verbindung gebracht. Stark vereinfacht lautete seine Argumentation: Christus war ohne Sünde, weil er nicht sexuell gezeugt wurde. Je reiner ein Christ nun sein will, desto enthaltsamer muss er leben. Sexuelle Lust bezeichnete er als Übel, und deshalb darf nichts aus Lust geschehen. Ziel der sexuellen Vereinigung kann folglich nur die möglichst lustlose Zeigung eines Kindes sein. Augustinus` Verknüpfung von Sexualität und Sünde wirkte sich fast 1500 Jahre verhängnisvoll auf die christliche Sexualethik aus. Verhängnisvoll nicht allein, weil das erotische Erleben vieler Generationen mit einem chronisch schlechten Gewissen belastet worden ist, sondern auch deshalb, weil Befreiung zur Sexualität gleichzeitig auch als Befreiung von der Religion verstanden wurde und wird. Von der Geschichte her verständlich, von der Sache her völlig zu Unrecht. Denn lassen Sie uns einen Blick in die Bibel werfen: Wenn Sie meinen, die Bibel sei ein moralisches, sex- und lustfeindliches Buch, sollten Sie dieses Vorurteil ab sofort korrigieren. In der Bibel fängt es bereits gut an: Mit zwei nackten Menschen -unter freiem Himmel- mitten in einem Garten. Im 1. Buch Mose wird erzählt, wie Gott sein Schöpfungswerk ausführt. Und nachdem sich dort trotz langer Suche in der Tierwelt kein geeignetes Gegenüber für das „Erdwesen“ finden ließ, schuf Gott die menschliche Sexualität: „Und Gott, der Herr, ließ einen tiefen Schlaf über das Erdgeschöpf kommen, entnahm ihm eine Rippe und verschloss die Stelle wieder mit Fleisch. Aus der Rippe formte er eine Frau und brachte sie zu dem Menschen. Da rief dieser: „Endlich gibt es jemanden wie mich! Sie wurde aus einem Teil von mir gemacht – wir gehören zusammen.“ Darum verlässt ein Mann seine Eltern und verbindet sich so eng mit seiner Frau, dass die beiden eins sind mit Leib und Seele. Der Mensch ist also als ein von Gott sexuell konzipiertes Wesen zu betrachten. Sexualität bedeutet Überwindung der Einsamkeit, Einssein und Gemeinschaft. Und zu den imposantesten erotischen Dichtungen gehört das Hohelied Salomos. Es beschreibt Lebenslust und Liebesspiel eines verliebten Paares in einer teilweise gewagten bildreichen Sprache. Eine kleine Kostprobe haben sie ja vorhin gehört: „Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, liebe Braut! Deine Liebe ist lieblicher als Wein, und der Geruch deiner Salben übertrifft alle Gewürze... Honig und Milch sind unter deiner Zunge…“ (4,10f ) „Dein Schoß ist wie ein runder Becher, dem nimmer Getränk mangelt“ (7,3) „Komm mein Freund, lass uns aufs Feld hinausgehen und unter Zypernblumen die Nacht verbringen … da will ich dir meine Liebe schenken.“ (7,13) Im Neuen Testament bietet Paulus etwas ausführlichere Reflexionen zum Thema Ehe und Sexualität: Zunächst mahnt er auf dem Hintergrund chaotischer sexueller Verhältnisse in der Hafenstadt Korinth zur Enthaltsamkeit.

Und da der Anbruch des Reiches Gottes unmittelbar bevorzustehen schien, ergab langfristige Familienplanung sowieso keinen rechten Sinn mehr. Dennoch wertet er die Sexualität nicht ab, sondern schlussfolgert: Eheliche Erotik ist besser als Unzucht oder neurotisches Verzehrtwerden. Er schreibt: „Ein jeder soll seine eigene Frau haben und jede Frau ihren eigenen Mann. Der Mann leiste der Frau, was er ihr schuldig ist, desgleichen die Frau dem Mann. Die Frau verfügt nicht über ihren Leib, sondern der Mann. Ebenso verfügt der Mann nicht über seinen Leib, sondern die Frau. Entziehe sich nicht eins dem anderen, es sei denn eine Zeitlang, wenn beide es wollen…“ Sexualität an sich ist nach Paulus also weder zu verteufeln, noch zu glorifizieren. Entscheidend ist, wie wir mit ihr umgehen und was wir aus ihr machen. Eine Ehe oder eine langfristige Beziehung schaffen jedenfalls einen geschützten Raum des Vertrauens, in dem wir Körperlichkeit und Sexualität als etwas erleben können, was uns gut tut. Partnerschaftliche Treue geht dabei weit über das sexuelle Verhalten hinaus. Es geht darum, bei allem den Partner bzw. seine Partnerin und ihre Entwicklung im Blick zu haben. Und erst daraus folgen entsprechende Konsequenzen im Blick auf Verlässlichkeit, Offenheit, und sexuelles Verhalten. Die Treue ist nie ein Selbstzweck, sondern eine ernsthafte Verabredung für einen gemeinsamen Weg. Alles in allem finden menschliche Sexualität und Erotik in der Bibel also eine sehr positive Wertung. Gleichzeitig fordert sie aber eben auch den Rahmen verbindlicher und vertrauensvoller Beziehungen, damit Liebe und Sexualität wirklich lustvoll gelebt werden können. Und so gibt sie der sinnlichen Erotik immer auch den Gedanken der schenkenden Liebe an die Seite. D.h. es kann beim Ausleben von Sexualität weder um eine eheliche Pflicht gehen, die mühsam eingefordert werden muss, noch darf der andere als Objekt gebraucht werden, um eigene Bedürfnisse und das eigene Ichgefühl zu befriedigen. Sexualität muss eine Ausdrucksform der Liebe bleiben. Dann wird sie auch als lustvoll erlebt. Schlussfolgerungen: 1. Wir sollten endgültig damit aufhören im Namen der Religion das Sexuelle zu bekämpfen. Alle Erotik, nicht nur das Sexuelle, ist eine elementare Macht in unserem Leben, die sich nicht straflos unterdrücken lässt. Wenn wir sie abspalten oder verdrängen, dann kommt eigentlich so gut wie immer etwas Ungutes, Ungesundes und Verlogenes heraus. Unsere christliche Religion bietet lediglich Maß und Korrektur, wenn der Eros von der Liebe losgelöst wird und andere Menschen verletzt werden. 2. Wir sollten aufhören das Erotische zu vergöttern. Das Gefundene, der Gegenstand unserer Sehnsucht, kann niemals an die Stelle Gottes treten. Und dass der andere „göttlich“ ist, empfinde ich immer nur für eine vorübergehende Zeit und wäre auf Dauer eine völlige Überforderung des Partners oder der Partnerin. Und wir werden damit keineswegs Gott gerecht, wenn wir ihn völlig auf die Ebene des Erotischen herunterziehen, ganz abgesehen davon, dass wir uns mit viel zu wenig zufrieden geben würden. 3. Statt die Erotik zu bekämpfen oder zu vergöttlichen, sollten wir sie als eine gute Gabe Gottes begreifen. Etwa so wie in dem Roman „Die Farbe Lila“ von Alice Walker, wo Shug ihrer Freundin Celie erzählt, wie sich ihr Gottesbild gewandelt hat: „Mein erster Schritt von dem alten weißen Mann weg, waren die Bäume. Dann die Luft . Dann die Vögel. Dann andere Leute. Aber an einem Tag, wie ich

ganz still dagesessen bin und mich gefühlt habe, wie ein Kind ohne Mutter, und das war ich ja, da kam es mir: so ein Gefühl, dass ich ein Teil von allem bin, nicht abgetrennt. Ich habe gewusst, wenn ich einen Baum fälle, blutet mein Arm. Und ich habe gelacht und geweint und bin im ganzen Haus rumgerannt. Ich habe genau gewusst, was Es war. Ja, wirklich, wenn’s passiert, da kannst du’s nicht verpassen. Es ist so eine Art, wie, du weißt schon was, sagt sie und grinst und reibt ganz oben an meinem Schenkel! – Shug! sage ich – Ach, sagt sie. Gott mag die ganzen Gefühle. Das ist was vom besten, was Gott gemacht hat. Und wenn du weißt, dass Gott sie mag, dann hast du einen Haufen mehr Spaß daran. Dann kannst du einfach loslassen und laufen mit allem, was läuft, und Gott damit preisen, dass du magst, was du magst. – Findet Gott das nicht schmutzig?, frage ich. – Nein, sagt sie, Gott hat es doch gemacht.“ Gott hat’s doch gemacht: dass wir in der Lage sind, Beziehungen zu Menschen oder Dingen auszubauen, die uns ergänzen, die uns vervollkommnen, so dass wir begreifen, dass wir ein Teil von allem sind. Alles Erotische ist kein Gott, sondern etwas, wofür ich Gott danke. 4. Auch unsere Spiritualität darf wieder erotischer werden. Es gibt nicht nur einen Menschen, der uns ergänzen kann, sondern wir brauchen eine Vielzahl von erotischen Kontakten. Erotischen, nicht sexuellen! Und ich denke, dass eine christliche Gemeinde ein Ort sein kann, wo erotische Beziehungen durchaus gelebt werden können: eine Gemeinschaft also, wo man tiefe Gespräche führt, wo man fasziniert voneinander ist, wo man sich umarmt und segnet, sich freundschaftlich an der Schulter berührt. Eine Gemeinschaft also, in der bis ins Körperliche hinein Annahme und Liebe erfahren werden können. Außerdem wünschte ich mir, dass unsere Art zu beten, zu singen und Gottesdienst zu feiern, durchaus auch unseren Puls schneller schlagen lassen und Begriffe wie „Lust“, „Begeisterung“, „Hingabe“ und „Leidenschaft“ eben nicht nur der Sexualität vorbehalten sind. Amen

Wer stirbt hier eigentlich? von Pastorin Maret Schmerkotte Johann Rist hat diese Frage in der ersten Fassung des Liedes “O Traurigkeit, o Herzeleid” so beantwortet: “O große Not! Gott selbst liegt tot.” Vor dieser Konsequenz schreckte man später zurück. Nun heißt es: “Gott´s Sohn liegt tot”. Denn zu wem und nach wem würde der Sterbende schreien, wenn er selbst der Gerufene wäre? Matthäus selbst beantwortet die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Sterbenden und Gott nicht, aber er stellt sie besonders eindringlich. Zunächst beschreibt Matthäus erschreckend nüchtern den Ablauf der Dinge, ohne auszuschmücken. Er erzählt einfach nur, was geschieht. “Als sie ihn aber gekreuzigt hatten …” Die Soldaten, die die Hinrichtung durchführten , sind schon zur Tagesordnung übergegangen – sie teilen den Nachlass unter sich. Sie haben ja nichts weiter zu tun, als den Sterbenden zu bewachen. Es sieht geradezu nach Routine aus. Ja, das Kreuz war damals eine alltägliche Angelegenheit. Die Perser haben es erfunden, durch die Karthager kam es nach Rom. Dort wurde oft gekreuzigt: Schwerverbrecher, entlaufene Sklaven und Aufständische endeten am Kreuz. Quintilus Varus hat einmal in einer Strafaktion 2000 Menschen kreuzigen lassen. Jesus ist am Kreuz einer von vielen. Auch neben ihm hängen

11/16 HERAUSGEBER: PRESBYTERIUM DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE WERDEN BEAUFTRAGTER DES PRESBYTERIUMS FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT CONRAD SCHLIMM REDAKTION: MEIKE KRÜGER ( 40 50 16 ANDREAS SCHÄFER ( 49 02 301 ANSCHRIFT: DER BRIEF • HECKSTRAßE 65 • 45239 ESSEN-WERDEN


Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden zwei Räuber, er stirbt also an der Seite zahlloser Opfer der Unmenschlichkeit in der Geschichte der Menschen. Er stirbt da, wo man nichts mehr spürt von der Gegenwart eines Gottes, der darauf achtet, dass keinem Unrecht geschieht. Im Zentrum des Berichtes von Matthäus steht weiter, was die sagen, die unter dem Kreuz stehen, die das Sterben Jesu beobachten – spöttisch, höhnend und doch fragend zugleich. “Wenn du wirklich den Tempel abbrechen und in drei Tagen wieder aufbauen kannst, dann lass uns jetzt deine Wunderkraft sehen? Wenn du wirklich der Sohn Gottes bist, dann hilf dir doch selbst? Steig doch herab von deinem Kreuz, dann wollen wir glauben… Die so reden, denken, wie man auch heute oft denkt. Ausweis ist die eigene Stärke, der Erfolg. Und nur wer sich selbst helfen kann, der kann auch anderen helfen. Aber Recht haben sie: Jesus kann sich am Kreuz nicht helfen. Er würde seine Berufung und seine Lehre verleugnen: Dass der Mensch, der sein Leben um jeden Preis bewahren will, sein eigentliches Leben verlieren wird. Jesus antwortet denen, die ihn schmähen, nichts. Er schreit: Elohi, elohi, l´ma sabachtani. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ja doch, das Vertrauen des Gekreuzigten ist groß: Warum hast du mich verlassen? Das ist der 22. Psalm. So betet jeder fromme Jude im Augenblick des Sterbens. Das ist im Augenblick der scheinbaren Gottesferne das wahnwitzige Vertrauen, dass Gott dennoch hört. Da, wo nichts Gottes Gegenwart spüren lässt: auf der Intensivstation, am offenen Grab, in der Not der Verzweiflung, im Scheitern der Lebensplanung …Und doch ja: Gott könnte hören! Dieses Vertrauen macht den Unterschied. Zwischen Ausgeliefertsein und Hoffnung... Bei allen Schwierigkeiten mit dem Kreuzesgeschehen: dieser Schrei allein lässt verstehen, warum wir das Bild des Gekreuzigten brauchen. Nicht Gott, sondern wir!!! Das ist ja gerade das Missverständnis. Als habe Gott diesen Tod nötig gehabt! Was für ein kleiner und höchst merkwürdiger Gott wäre das, der nur über Mord und Gewalt zum Zuge käme. Dass Jesus gekreuzigt wurde, ist kein geheimes Diktat Gottes, so als habe es nur diesen Weg geben können. Gott brauchte die Bosheit der Römer nicht, er fand sie vor und beantwortete eben nicht Gewalt mit Gegengewalt. Gott überwindet Gewalt. Das Heil kommt nicht durch das Töten, sondern trotz des Tötens. Es gibt immer wieder Menschen mit einem ausgeprägten Schicksalsglauben. Es sei alles vorherbestimmt. Und wenn sogar Jesus seinem Schicksal nicht entrinnen konnte, müssen auch wir uns fügen. Dieser Zwang der Vorherbestimmung tötet aber jede Freude am Glauben und verstärkt ein dunkles Gottesbild, vor dem der Mensch ganz klein wird, ein Knecht, der sich dem Willen des Stärkeren, des Allmächtigen zu fügen hat. Aber es ist gerade Jesus, der diese Düsterkeit aus dem Gottesbild vertreibt, der Gott zu einem Gegenüber auf Augenhöhe werden lässt. Jesu Wort und Leben zeigen: Bei allem, was kommt, darf man sich Gott ganz anvertrauen. Bei allem was kommt… Mit seinem Ruf zu Gott, selbst in seiner Todesstunde, besteht Jesus die größte Versuchung, den Glauben an Gott aufzugeben. Und nur so –als Leidender und dennoch Vertrauender- konnte er zum Zeichen werden für alle Leidenden, für alle, die nicht mehr weiter wissen und dennoch um Vertrauen ringen. Rudolf Otto Wiemer schreibt dazu in einem Gedicht:

Keines seiner Worte glaubte ich ihm hätte er nicht geschrieen mein Gott warum hast du mich verlassen das ist mein Wort das Wort des untersten Menschen und weil er selber so weit unten war ein Mensch der Warum schreit und schreit verlassen darum will ich auch die anderen Worte die von weiter oben vielleicht ihm glauben. Zu den Worten von weiter oben gehört z. B. auch die Vergebungsbotschaft Jesu. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn schildert Jesus Gott als einen ungewöhnlichen Vater, der seinen Sohn aus reiner Liebe annimmt. Gott braucht den Tod Jesu auch nicht, um vergeben zu können. Aber der Tod Jesu erleichtert es mir an die Vergebung zu glauben. Wenn ich auf Jesus sehe, der selbst seinen Mördern noch vergibt, dann kann ich darauf vertrauen, dass Gott auch mir meine Schuld nicht anrechnet. Die grundlose Vergebung wird hier am Kreuz durch Jesus so ausgedrückt, dass sie mich erreichen kann. Oft genügt es einfach nicht, wenn uns jemand sagt, Gott sei barmherzig, er werde uns schon vergeben. Wir hören es zwar, aber es dringt nicht wirklich in unser von Schuld erfülltes Herz. Unsere unbewusste Selbstablehnung steht dazwischen. Am Kreuz aber wird sichtbar, wie groß Gottes Liebe und Vergebungsbereitschaft wirklich sind. Jesu Tod ist die konsequente Fortsetzung und Besiegelung seiner Botschaft. Hier begegnen wir Gott selbst und zwar so, wie Jesus ihn gepredigt hat. Einen in seiner Liebe zugleich unendlich starken und verletzlichen Gott. Als Jesus stirbt, zerreißt der Vorhang im Tempel, so schreibt Matthäus. Im Tempel verdeckt der Vorhang das Heiligste des Heiligen, also den Ort, wo Gott wohnt. Jesus stirbt und Gottes Wohnstatt öffnet sich. Fortan wird der Tempel ein offenes Heiligtum sein für alle Sohne und Töchter Gottes, für alle Völker. Der römische Hauptmann ist der erste, der eintritt. Er erkennt als erster, was hier geschehen ist und spricht: Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen! Hier stirbt nicht ein weiteres Mal ein guter Mensch, ein Märtyrer vielleicht. Hier stirbt Gottes Sohn. Das ist ein Bekenntnis. Ein Versuch, etwas zu verstehen. Nicht unbedingt ein Tost. Denn zu trösten gibt es nichts mehr. Denn ist es nicht so? Starb Gottes Sohn nicht wirklich gottverlassen, einsam und ungetröstet? Wo war Gott? Warum schwieg er? Nicht, weil er Jesus wirklich verlassen hätte, sondern weil er sich mit ihm identifizierte. Am Kreuz gab es kein Gegenüber mehr zwischen Vater und Sohn. Der Vater, nicht mehr zu unterscheiden vom Sterbenden, konnte seinem Sohn nicht mehr antworten. Gott selbst hat sich hier preisgegeben und wehrlos gemacht. Hat sich angreifen und verletzen lassen. Gott hat sein Gottsein aufs Spiel gesetzt. Hat lieber selbst verloren, als seine Liebe aufzugeben. Und deshalb hat auch die erste Version des Liedes von Johann Rist recht: Gott selbst liegt tot. Das kann nur verstehen, wer den Ausgang dieser Geschichte kennt. So ist das Evangelium erzählt worden. Immer vom Ende her, immer so, dass bereits der lebendige, der auferweckte Christus daraus spricht. Auch der Dichter unserer Kantate schreibt aus dieser Perspektive. Nur so ist seine Todessehnsucht zu verstehen. Im Gekreuzigten hat Gott sich hergegeben und doch darin das Spiel gewonnen. Jesus hat nicht für sich gelebt und ist nicht für sich gestorben. Sondern einzig damit wir vertrauen, dass uns einer grenzenlos liebt. Können auch wir uns darauf einlassen? Und im Scheitern, im Leid dem vertrauen, der uns hält, der mit uns fährt in

unserem Lebensschiff gegen den Todesstrom? Es gibt keine Betrübnis, keine Not, die Gott nicht kennt. Können wir also mit dem Dichter unserer Kantate inmitten aller stürmischen Wellen die Stimme Gottes hören? Ich bin bei dir, ich will dich nicht verlassen? Amen

Dietrich Bonhoefer - Christsein heißt Menschsein von Pastorin Maret Schmerkotte Wie kann man in der heutigen Welt vom Glauben, vom Christsein reden? Dietrich Bonhoeffer hat nach brauchbaren, verständlichen Worten gesucht, nach einer nichtreligiösen Sprache. Vor allem in seinen Briefen aus dem Gefängnis schrieb er von seinem Suchen nach einfachen Worten. Dem Brief vom 8. Juli 1944 legte er einen ersten Versuch in Form eines kurzen Gedichtes bei: Es trägt den Titel: “Christen und Heiden”. Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot, um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. So tun sie alle, alle, Christen und Heiden. Menschen gehen zu Gott in Seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in Seinem Leiden. Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden. Ein Wort kommt in allen drei Strophen vor: gehen. Glaube hat es mit einer Bewegung zu tun. Die Bewegung beginnt mitten in der Welt, in der Wirklichkeit. Im Jahr 1944 hatte der Krieg schon fünf Jahre gedauert. Die Vorräte gingen aus, es fehlte an allem, an Glück, an Brot. Berlin wurde von den Alliierten bombardiert. In solch einer Wirklichkeit bleibt nur noch die Hoffnung, dass Gott anders ist, dass er rettet aus Krankheit, Schuld und Tod. In der Situation des Gefängnisses sieht Bonhoeffer, dass Christen wie Nichtchristen sich in Ausweglosigkeit und Todesnot an Gott wenden. Das ist nichts spezifisch Christliches. Das Suchen nach Gott ist allen Menschen gemeinsam. Im Gefängnis traf er mit Menschen verschiedenster Prägung zusammen, auch mit vielen bekennenden Atheisten, denen er sich fast “brüderlich” nahe fühlte. Und von ihnen fühlte er sich herausgefordert über die Frage nachzudenken, wie er als Christ ihnen gegenüber in einer gottlosen Welt Gott und Christus nahe bringen könnte. “Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte – seien es theologische oder fromme Worte - sagen könnte, ist vorüber…” Bonhoeffer lehnte es ab, erst den Menschen Hilfsbedürftigkeit einzureden, um dann Gott aus dem Hut zu zaubern. Die Schwächen der Menschen auszunutzen war kein Weg für ihn, um Gott ins Spiel zu bringen. Geht das überhaupt, fragt er sich, stimmt das mit unserem wirklichen Leben überein, immer nur vom jenseitigen Gott zu reden, ihn sozusagen nur zum Trösten, zum Vertrösten in Not und Elend zu benutzen? Das Problem von Religion ist nach Bonhoeffer, dass sie auf

12/16 HERAUSGEBER: PRESBYTERIUM DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE WERDEN BEAUFTRAGTER DES PRESBYTERIUMS FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT CONRAD SCHLIMM REDAKTION: MEIKE KRÜGER ( 40 50 16 ANDREAS SCHÄFER ( 49 02 301 ANSCHRIFT: DER BRIEF • HECKSTRAßE 65 • 45239 ESSEN-WERDEN


Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden ein Jenseits fixiert ist und daher ohne den Mitmenschen auskommt. Es ist die Vorstellung von Gott als einem Lückenbüßer, der dann zur Erklärung herangezogen wird, wenn die Möglichkeiten menschlichen Erklärens an eine Grenze stoßen.

jene Liebe des Beistehens, Daseins und Naheseins. Unser Verhältnis zu Gott ist kein religiöses zu einem denkbar höchsten, mächtigsten Wesen, sondern unser Verhältnis ist ein neues Leben im “Dasein für andere”, in der Teilnahme am Sein Jesu.

“Die Religiösen sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen … Ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen… Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig. Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, sondern mitten im Dorf.”

Dietrich Bonhoeffer hat so gelebt. Er verzichtete auf eine akademische Karriere und übernahm stattdessen die Ausbildung künftiger Pfarrer der Bekennenden Kirche. Er sprach sich so deutlich gegen die Rechtsbeugung des Nazi-Regimes aus, dass ein Schreibverbot die Folge war. Um dem Kriegsdienst in Hitlers Armee zu entgehen, ließ er sich zu einem Gastaufenthalt in New York einladen. Doch er hielt es nicht aus, dort zu bleiben; er wollte nicht der Verantwortung für

Die Kirche mitten im Dorf: das wird zum Bild eines Christseins, das sich seiner Weltlichkeit nicht schämt. Not, Brot und Tod – so beschreibt Bonhoeffer in unserem Gedicht die momentane menschliche Wirklichkeit und Weltlichkeit. In der zweiten Strophe kommt nun die Überraschung: Menschen gehen zu Gott in Seiner Not. Das ist der Kerngedanke des Gedichts. Wo ist Gott? Er ist selbst in Not.

Deutschland entfliehen – und kehrte zurück in das Land des Diktators. Der Schritt in den Widerstand war unausweichlich bis hin zur Verschwörung gegen Hitler und die damit verbundene Bereitschaft, bewusst Schuld auf sich zu laden, um Menschen zu retten. Dieser Weg aber führte in die Haft und in den frühen Tod.

Seit 11 Jahren stand Deutschland unter der Diktatur von Hitler. Viele sind arm geworden, geschmäht, ohne Rechte und Würde; Menschen wurden aus ihren Häusern ins Ghetto getrieben – und von dort ins Vernichtungslager. Viele starben an Hunger und Erschöpfung. In grenzenloser Überheblichkeit sollte ein tausendjähriges Reich geschaffen werden, viele hatten sich dabei mitschuldig gemacht; nur wenige hatten den Mut zum Protest – auch in kirchlichen Kreisen. Millionen von Menschen wurden mit industrieller Gründlichkeit umgebracht. Kann man da überhaupt noch von Gott reden? Bonhoeffer konnte es. Denn er verband mit den gleichen Wörtern auch noch ein anderes Bild: Jesus starb am Kreuz: arm, geschmäht, ohne Besitz, hungrig und durstig. Hier ist Gott schwach geworden und hat sich vom Tod verschlingen lassen. Gott ist nicht mehr der allmächtige Gott, der weit weg ist. Er nimmt Teil am ohnmächtigen Leiden und wird zum Bruder für die Geringsten unter den Menschen. Jetzt kann man ihn im Diesseits finden. Jetzt können Christen Gott nahe sein, bei ihm in seinem Leiden stehen, zu ihm gehen in seiner Not. Wenn Jesus nun dort ist, können seine Nachfolger nicht woanders sein. In einer Auslegung der Geschichte, in der Jesus kurz vor seinem Tod in Gethsemane betet, schreibt Bonhoeffer: “Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?’, fragt Jesus in Gethsemane. Das ist die Umkehrung von allem, was der religiöse Mensch von Gott erwartet. Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden. Er ist befreit von allen falschen religiösen Bindungen und Hemmungen. Christsein heißt nicht, in einer bestimmten Weise religiös sein, … sondern es heißt Menschsein. … Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben.” Konkret: Nicht aus der Wirklichkeit fliehen, nicht die Augen verschließen. Nicht zuerst an die eigenen Nöte, Fragen und Ängste denken. Sich nicht heraushalten aus den Angelegenheiten dieser Welt, schon gar nicht, wenn Menschen leiden. Auch dann nicht, wenn man schmutzige Hände bekommt. Nicht nur den Opfern von Gewalt beistehen, sondern auch den Ursachen von Gewalt zu Leibe rücken, dem Rad also in die Speichen fallen. Hinsehen, hingehen und handeln. Bereit sein, mitzuleiden; im Wissen, dass Gott gegenwärtig ist. Hier zählt allein die Liebe,

Hatte er einst gedacht, er könne glauben lernen, indem er selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte, musste er schließlich erkennen, “dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt.” Und da hat man dann völlig darauf zu verzichten, aus sich selbst etwas machen zu wollen. Wenn man das kann, ”dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, und wird so ein Mensch, ein Christ.”

gesagt zu werden. Und deshalb dürfen Sie auch nicht aufhören, immer wieder neu Ihre Fragen und Anfragen zu stellen. Glaube ist aber vor allem ein Lebensakt, der den ganzen Menschen ergreift. Glaube ist nicht allein der Gottesdienst oder die Andacht, nicht etwas, was am Morgen oder Abend im Gebet abgehakt werden könnte. Nicht dass diese geistlichen Übungen überflüssig wären; Bonhoeffers Leben, sein klares und entschiedenes Denken wäre ohne das tägliche Gebet undenkbar gewesen. Aber wichtig ist: Glaube umgreift unseren gesamten Alltag, ist die Art und Weise, wie ich mein gesamtes Leben führe. Ob im Dasein für andere? Und d.h. auch manchmal auch “nur” als Mensch? Dass dies auch die Kleinigkeiten im Alltag betrifft, verdeutlicht eine kurze Szene aus dem Leben Bonhoeffers, mit der ich schließen will: Auf der Fahrt von Buchenwald nach Flossenbürg, die seine letzte Fahrt werden sollte, teilte Bonhoeffer den Raum in dem engen, unförmigen Kastenwagen, in dem die Gefangenen zusammengepfercht waren, unter anderem mit dem Engländer Payne Best. Best war ein starker Raucher; er berichtet, in dieser Situation habe Bonhoeffer, der selbst, wie man weiß, auch ein passionierter Raucher war, in einer seiner Taschen einen kleinen Tabakvorrat entdeckt. Und Bonhoeffer habe darauf bestanden, diesen knappen Vorrat mit allen anderen zu teilen. Amen.

Beinahe beiläufig erwähnt Bonhoeffer, was geschieht, wenn man sich so auf die Diesseitigkeit einlässt. Man wird ein Mensch, ein Christ. Christsein ist die Art und Weise, so Mensch zu sein. Wenn man so lebt, dass man nicht mehr sich selbst zum Zentrum erhebt, dann wirft man “sich Gott ganz in die Arme”. Und manchmal kann das eben auch heißen: Ich bin am Ende meines Lateins. Mir fehlen die Worte. Ich kann nichts mehr sagen. Aber vielleicht kann ich genau in diesem Moment dem Menschen ein Mensch sein. Oder mit anderen Worten: für einen anderen einfach nur da sein. In der dritten Strophe unseres Gedichtes kehrt sich die Bewegung um. Gott geht. Er selbst macht sich auf den Weg und kommt in Christus in die Welt hinein. Zu allen Menschen in ihrer Not. Bonhoeffer möchte hier alle Menschen – ohne Unterschied zwischen Christen und Heiden - eingeschlossen wissen in die Zuwendung Gottes. Gott vergibt ihnen beiden. Alle können einen Neuanfang machen. Das ist das Entscheidende, auch für uns. Auch wenn Gott ohnmächtig und schwach in der Welt ist, aber so ist er doch bei uns und hilft uns. “Es ist ... deutlich, dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens!” Und vielleicht ist das genau die Stärke der Gedanken, die Bonhoeffer entwickelt hat. Er räumt mit der Vorstellung von einem jenseitigen und unnahbar fernen Gott, der bestenfalls Lückenbüßer und Notnagel ist, auf und macht den Blick frei für Christus, den menschgewordenen Gott, der selbst in unserer größten Not bei uns ist. Und dieser Blick lässt durchaus ein modernes wissenschaftliches Bewusstsein zu und nimmt die Welt als eine mündig gewordene ernst. Und damit komme ich zu unserer Ausgangsfrage zurück: Wie kann man in der heutigen Welt vom Glauben, vom Christsein reden? Glaube darf sich nicht hinter religiösen Begriffen verstecken; er hat es nötig, immer wieder neu

Du musst ein Schwein sein in dieser Welt von Pastorin Maret Schmerkotte Du musst ein Schwein sein in dieser Welt. Das ist eine Frage des Überlebens. Die Ehrlichen sind am Ende die Dummen, und die Braven die Verlierer, die, die über den Tisch gezogen werden…. So auch in dem Lied der Prinzen, das Sie vorhin gehört haben: Du musst gemein sein in dieser Welt! Denn willst du ehrlich durchs Leben gehen, kriegst nen Arschtritt als Dankeschön! Ist das das Erfolgsrezept im Leben? Es lässt sich gewiss nicht abstreiten, dass es Menschen gibt, die mit einem “schweinischen” Verhalten erfolgreich sein können, auf den ersten Blick. Wer aber langfristig damit Erfolg haben will, dass er andere übers Ohr haut und sich mit Ellenbogen gegenüber anderen durchsetzt, muss sich auch immer wieder Dumme suchen, die das mit sich machen lassen. So wie in dem Anspiel: Hier ist der eine gemeiner als der andere, und wer hier am Ende der Erfolgreiche oder gar der Dumme ist, ist ziemlich offen. Ich bin sicher, auch Sie kennen solche Situationen: dass einer einem anderen bewusst schadet, um einen eigenen Vorteil daraus zu ziehen. Oder ein Schaden wird bewusst verschwiegen, um keinen Nachteil zu haben. Auch die sogenannten Kavaliersdelikte wie Schwarzfahren, Steuerhinterziehung usw. schaden letztlich der Allgemeinheit. Wir wissen das, und tun vieles trotzdem. Schon als Kinder lernen wir genau, wo die Stellen sind, die dem anderen weh tun. Jedes Kind weiß es von seinen Eltern, und jeder der verheiratetet ist von seinem Partner… wir wissen, wie man andere durch Verachtung klein hält, andere in ein negatives Licht stellt, um selbst besser dazustehen, andere gezielt zu beeinflussen durch Nebenbemerkungen, Schmeichelei, Kritik. Im privaten Umfeld geschieht dies meist noch verdeckt, an vielen Arbeitsplätzen wird ganz offen gemobbt, ge-

13/16 HERAUSGEBER: PRESBYTERIUM DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE WERDEN BEAUFTRAGTER DES PRESBYTERIUMS FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT CONRAD SCHLIMM REDAKTION: MEIKE KRÜGER ( 40 50 16 ANDREAS SCHÄFER ( 49 02 301 ANSCHRIFT: DER BRIEF • HECKSTRAßE 65 • 45239 ESSEN-WERDEN


Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden logen und Konkurrenz ausgeschaltet. Um zu überleben? Möglicherweise vertreten einige diese Ansicht, dass der Alltag ein Kampf aller gegen alle sei; aber was brauchen wir wirklich? Was lässt uns wirklich leben und was gibt uns Selbstbewusstsein, um das wir nicht jeden Tag neu kämpfen müssen? Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich vertrete nicht die Ansicht, Christen dürfen sich nicht selbst behaupten. Selbstbehauptung ist wichtig, manchmal sogar notwendig. Was macht man mein Selbst aus, was muss ich behau pten, damit ich überlebe, und wie muss ich es behaupten? Das Gefühl unserer Identität, unseres Selbstbewusstseins gewinnen wir nicht nur daraus, wie wir uns selber sehen, sondern vor allem auch aus unseren Beziehungen zu anderen. Zu dir selbst, zu deiner Sache, zu deinen Bedürfnissen kommst du nur zusammen mit den anderen. Weil du nie für dich selbst lebst, sondern immer in Beziehung; es gibt das Selbst als Sache für sich allein gar nicht. Als Beziehung, die ich zu mir selber und die ich zu anderen habe; und die ich zu Gott habe. In der Bibel, im Alten Testament gibt es dafür eine Lebensregel und Jesus bezeichnet sie als das höchste Gebot: In einem Gespräch wird er gefragt: “Welches von allen Geboten ist das wichtigste ?” Dies ist das Wichtigste: Der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Ihn sollt ihr von ganzem Herzen lieben, mit ganzer Hingabe, mit eurem ganzen Verstand und mit all eurer Kraft.” Ebenso wichtig ist das andere Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden.” Hier wird nichts Unmögliches verlangt. Es heißt nicht, wir sollen den Nächsten über alles lieben, sondern wie uns selbst. Es geht in der Nächstenliebe nicht um eine Alternative: Der Nächste oder ich, Nächstenliebe oder Selbstliebe. Es geht um Nächstenliebe und Selbstliebe. Also nicht Selbstverachtung oder Minderbewertung der eigenen Person und Höherbewertung des Mitmenschen. Ich bin nicht die Putz- und Tretmatte für den Nächsten, sondern ein von Gott geliebter Mensch, natürlich ebenso wie mein Nächster. Wir Menschen sind Gottes Ebenbild, sein Gegenüber und Dialogpartner. Und manchmal bedeutet das eben auch, dass ich mich selbst behaupten muss, indem ich andere kritisch angreife. Auch als Christ. Nicht um andere zu vernichten, sondern um Schaden zu verhindern. Streit und Auseinandersetzungen sind nichts Unchristliches, aber es muss fair zugehen, ohne die menschliche Würde des anderen zu verletzen. Es gibt auch Situationen, vor denen ich mich schützen muss, um nicht selbst kaputt zu gehen. Meine eigenen Fähigkeiten und Kräfte sind begrenzt. Dies zu erkennen und bewusst bestimmten Situationen aus dem Weg zu gehen oder einfach nur nein zu sagen: Das mache ich nicht! ist nichts Egoistisches oder Unmenschliches, sondern zeugt von gesundem Menschenverstand und klarer Selbsteinschätzung der eigenen Kräfte und Fähigkeiten. Natürlich sind die Grenzen fließend und es ist nicht immer leicht zu erkennen, was in welcher Situation das Richtige ist, zumal dies ja auch für jeden Menschen anders aussehen kann. Das Gespräch mit Gott und Menschen in der Gemeinde, die einem helfen in solchen Situationen das Richtige vom Falschen zu unterscheiden, ist da sehr wichtig. Wie wir die Nächsten- und Selbstliebe zu verstehen haben, sie miteinander verbinden und praktizieren können, hat Jesus auch in seiner Bergpredigt zusammengefasst:

Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. Also: Voraussetzung für eine ehrliche Liebe zum Nächsten ist ein gesundes Selbstbewusstsein, das Wissen um die eigenen Bedürfnisse und Gefühle, um die eigene Befindlichkeit. Noch ein Wort zur Nächstenliebe, da es hier oft Missverständnisse gibt. Gemeint sind hier nicht die positiven Gefühle wie in der erotischen Liebe oder wie in unseren freundschaftlichen Beziehungen, sondern es geht um das liebevolle Verhalten dem Nächsten gegenüber. Im neuen Testament steht dafür das Wort agape. Das ist die Form von Liebe, die auch Jesus den Menschen entgegengebracht hat. Liebe, die nicht die eigene Befriedigung sucht, sondern ganz am Nächsten ausgerichtet ist. Tue deinem Nächsten Liebes an, wäre wohl die genauere Übersetzung. Und die Nächsten, das sind nicht nur die Menschen, die ich mag; Jesus spitzt die Nächstenliebe auch auf die Feindesliebe zu: Konkret: Sei auch vernünftig im Umgang mit deinem Gegner. Nicht ohne Grund ist in der Bibel allerdings das Gebot der Nächstenliebe mit dem Gebot, Gott zu lieben, verknüpft. Dazu eine Geschichte. Zu einem Rabbi kam einst ein Kaufmann und beklagte sich über einen anderen, der einen Laden dicht neben seinem aufgetan habe. “Du meinst offenbar” sagte der Gerechte, “es sei dein Laden, der dich erhält, und richtest auf ihn dein Herz statt auf Gott, der dich erhält. Oder weißt du nicht, wo Gott wohnt? Es steht geschrieben: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Und: Ich bin der Herr. Das heißt: So wie für dich selbst, sollst du auch für deinen Nächsten das wollen, was er braucht. Wie dieser Kaufmann denken und handeln nicht wenige von uns. Ständig um uns besorgt, um Auskommen und Weiterkommen, sehen wir oft im Mitmenschen den Rivalen, den Konkurrenten, der uns ein Stück vom Lebenskuchen streitig machen will. Und solches Verhalten müssen wir teuer bezahlen mit Neid, Unzufriedenheit, Rücksichtslosigkeit, eben mit “Schweinsein”. Und diese Sorge um uns macht uns nicht freier und glücklicher, sondern eher missmutiger und freudloser. Habe ich Gott im Blick, kann ich aufhören, ständig mit meinen Gedanken und Sorgen um mich selbst zu kreisen. Ich kann aufhören hinter mir selbst her zu jagen und ich kann alle Versuche einstellen, mich selbst bedeutend zu machen. Ich kann aufhören, alles sofort und im Überfluss haben zu wollen. Vielmehr habe ich nun eine Beziehung zu mir, weil ich in einer Beziehung bin. Ich kann Ja zu mir sagen, weil Gott längst Ja zu mir gesagt hat. Weil Gott mich sein Ja spüren lässt, immer wieder überraschend und phantasievoll. Im Kontakt mit ihm lerne ich verantwortungsvoll mit mir und mit meinem Mitmenschen umzugehen. Meine Liebe ist eigentlich nur eine Antwort auf Gottes liebendes Handeln. Das gibt mit ein Selbstbewusstsein, das nicht auf die Kosten anderer geht. Ein Selbstbewusstsein, das nicht Siegersein und zuschlagen müssen voraussetzt, um zu überleben. Ein Selbstbewusstein, das sich auf meine Beziehungen gründet, zu mir, zu anderen, zu Gott, ein Selbstbewusstsein, das es wert ist, behauptet zu werden. Man kann sich das auch als ein Beziehungsdreieck vorstellen: Gott will, dass unser Leben und unser Selbstbewusstsein sich entfaltet und aufblüht wie ein starker Baum, der in drei Richtungen wächst: -dass wir Gott in unser Leben einbeziehen (mit ihm in einer Beziehung leben) -dass wir uns selber mögen; uns selbst bejahen

-dass wir unsere Mitmenschen nicht als Bedrohung, Last oder Konkurrenz empfinden, sondern als Bereicherung und mit ihnen gut umgehen Und außerdem: wenn wir ehrlich sind, es gibt kein Glücklichsein gegen den anderen oder auf Kosten des anderen. Wie oft hat Sie nicht schon die Freude, die sie einem anderen Menschen geschenkt haben, selbst glücklich gemacht! Fazit: Schweinsein und Christsein passen nicht zusammen. Ich kann Gott nicht finden, ohne meinen Nächsten im Blick zu haben. Oder wie es ein Unbekannter aus Russland so schön ausgedrückt hat: “Ich suchte Gott, und er entzog sich mir. Ich suchte meine Seele, und ich fand sie nicht. Ich suchte meinen Bruder, und ich fand alle drei.” Amen.

Predigt zu Gen 8,15-22 von Pfarrer i.R. Dr. Wolfgang Gerlach Menschen machen Fluterfahrungen. Da denkt man schnell an Hochwasser im Oderbruch, an Tsunami im Pazifik, an Hurrikane im Golf von Mexiko. Strafgericht Gottes oder unverschuldeter Schicksalseinbruch? Die Wahrscheinlichkeit wird immer größer, daß solche Flutkatastrophen vom Menschen verursacht und nicht mehr Gott in die Schuhe zu schieben sind. Wir kommen zur Vernunft und finden Ursachen: Begradigung der Flüsse, unverantwortlich nahes Siedeln an Flußläufen, Brandrodungen in den tropischen Regenwäldern, Verschmutzung der Umwelt. Als Mitverantwortliche werden wir zu Opfern eigenen Handelns. Sind die ersten Schäden behoben und die Katastrophen von gestern kein Thema mehr fürs Fernsehen von heute, springt der Motor der Verdrängung an. Ängste kommen und gehen, und unverwüstlicher Glaube an den Fortschritt gewinnt wieder Oberhand. Die Wandlung und der Wandel Gottes. Gott “kehrt um”, er “bekehrt” sich zum Menschen. Daher fragt menschliche Frömmigkeit unaufhörlich, ob Gott sich nicht umstimmen lasse. Gründet das schreiende Bittgebet nicht allein auf der Hoffnung, Gott möge das Unglück abwenden – das Kind retten, die Krankheit heilen, aus der Verzweiflung befreien? Lektorin: “Wird denn der Herr auf ewig verstoßen und keine Gnade mehr erweisen? Ist’s denn ganz und gar aus mit seiner Güte, und hat die Verheißung für immer ein Ende? Hat Gott vergessen, gnädig zu sein, oder sein Erbarmen im Zorn verschlossen? ... Darunter leide ich, daß die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann”. (Ps 77, 8-11) So fragen Einzelne, so fragen Familien und Sippen, so fragen ganze Völker – seit Menschengedenken. SintflutMythen sind viel älter als die Bibel; es gibt sie in vielen vorbiblischen Kulturen. Immer wieder diese bohrende Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, die Theodizeefrage: Wie kann Gott das zulassen? Die Mitverantwortung des Menschen kommt bei solchem Fragen nicht vor. Auch wenn wir in solchen Untergangsgeschichten immer wieder den abwesenden, den dunklen, den strafenden Gott bemühen, so geht es hier vielmehr um die Erfahrung von einem sich wandelnden Gott. Die Umgekommenen können nicht mehr reden, nicht schreien, nicht anklagen. Aber die Überlebenden,

14/16 HERAUSGEBER: PRESBYTERIUM DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE WERDEN BEAUFTRAGTER DES PRESBYTERIUMS FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT CONRAD SCHLIMM REDAKTION: MEIKE KRÜGER ( 40 50 16 ANDREAS SCHÄFER ( 49 02 301 ANSCHRIFT: DER BRIEF • HECKSTRAßE 65 • 45239 ESSEN-WERDEN


Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden die “noch einmal davon gekommen sind”, die können von Rettung reden. Meine eigene Vita sehe ich als Geschichte der Bewahrung: Vom behüteten Garten Eden der Kindheit in Ostpreußen zur Flucht in den Westen (vom Alles-Haben zum NichtsHaben über Nacht), vom Umweg über die Kunst zur Theologie, von den Rettungen aus seelischen Krisen. Man kann das alles auch anders deuten, ich weiß. Aber meine Deutung heißt: Hier war Gott im Spiel. Und meine Bilanz ist in bemerkenswerter Wiederkehr: Mein Dichten und Trachten – wenn’s denn böse war oder einfach nur falsch, egoistisch oder kurzsichtig – dann war da eine Kraft, die es ins Gute gewendet oder die mich ins Bessere geführt hat. Könnten hier nicht sehr viele unter uns Ähnliches von sich erzählen? Immer wieder dieses gleiche Schema: Du wirst bedroht oder fühlst dich geängstet, gerätst in eine Krise der Beziehung oder wirst hineingezogen in den Sog eines katastrophalen Verlusts. Und erst im Nachhinein, wenn Rettung in Sicht oder erfolgt ist, geht dir ein Licht auf. Vielleicht hat dich auch eine Arche, so ein Kasten überleben lassen. War es der rettende Anker, den du ergreifen und dich an ihm festhalten mußtest? War es der rettende Strohhalm, die letzte Möglichkeit, auf die dun setzen konntest? Oder hattest du dir selber ein Floß gezimmert? Wir Menschen sind offenbar vom Schöpfer so gebaut, daß wir oft erst durch tiefe Krisen hindurchgehen müssen, ehe uns ein unsichtbarer, aber wirksamer Gott “aufgeht”. Ein Mensch ohne Krise, einer, dem alles gelingt, der Glückspilz par excellance, der ist gefährdet; denn ersetzt auf den Volksmund: Ein jeder ist seines Glückes Schmied. Der lebt gottlos glücklich. Oder hat er nur das Bild eines beglückenden Gottes? Solch vergoldete Gottesbilder haben keinen Bestand. Die ganze Urgeschichte (Gen 1-11), die ja erst erdacht und “erglaubt” worden ist, nachdem all die nachfolgenden Geschichten längst vorhanden waren, erzählt von dem ständig sich selbst korrigierenden Gott und dem scheinbar mißlungenen Experiment Mensch. Adam und Eva: behütet erst, und dann zur Strafe aus dem Paradies vertrieben. Kain und Abel brüderlich miteinander lebend, bis Eifersucht aufkommt und Mord geschieht. Kain wird bestraft, er soll unstet als Flüchtling leben, aber keiner soll ihm ein Haar krümmen (und der Herr machte ein Zeichen an ihn – das Kainsmal! – daß ihn niemand erschlüge). Und dann die Sintflut, weil der Herr sah, daß des Menschen Dichten und Trachten böse ist von Jugend auf – Gen 6,5. Und als die Wasser der Flut wieder zurückgingen und Noah mit allem Gepaarten aus dem Kasten stieg, stimmt Gott nun trotz des bösen Dichtens und Trachtens des Menschen sich selber um (Gen 8, 21): Lektorin: “Ich will hinfort die Erde nicht mehr verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe”. Wir haben hier einen naiven, archaischen Erzähler vor uns, der den Schöpfer in menschliche Haut schlüpfen läßt: Gott schreitet im Garten Eden durch die Kühle des Abends; Gott schließt persönlich die Arche ab; Gott riecht das Opfer. Gottes Sinnlichkeit beschreibt der Dichter, indem er ihm das Rauchopfer Noahs in die Nase steigen läßt, als ob Noahs Dankopfer Gott schier betörte. Gott wird hier beschrieben wie ein gütiger Vater oder eine mitfühlende Mutter. Die Urgeschichte (die ersten 11 Kapitel der Bibel) kommt theologisch aus der Kinderstube. So haben wir doch unsere Eltern erfahren: gütig, strafend, versöhnlich

– und wieder von Neuem: herzlich, zornig, umarmend. Die Menschen damals und wir heute wissen nicht, wie Gott ist. Wir wissen ja auch nicht, wie unsere Eltern “an sich” sind oder waren. Wir können nur erzählen, wie wir sie in ganz verschiedenen Situationen erlebt haben. So auch die Bibel: Menschen erzählen von ihren Erfahrungen. Die Lebensweisheit und Lehre des Dichters hier lautet: Gott weiß: Gegen die Gewalttätigkeit des Menschen ist kein Kraut, und schon gar nicht irgendeine Strafe gewachsen. Das “Gefäß” Mensch ist nicht zu reparieren, denn das Gefäß “pariert” nicht. Die Beziehung zwischen Mensch und Gott – so wie die Beziehung zwischen Kind und Eltern – ist, wie sie ist. Wir ändern uns nicht, manchmal ein bißchen vielleicht, aber nicht wesentlich. Dolch können wir dazu betragen, daß sich unsere Beziehungen ändern. Und veränderte, verbesserte Beziehungen machen es möglich, daß unser “Dichten und Trachten” eben nicht nur böse ist, sondern auch seine liebevollen und liebenswerten Seiten hat. Ach, ist das doch immer wider schön und Anlaß zum Feiern, wenn man sich mal wieder mit einem versöhnt hat, wenn ein beklemmendes oder beleidigendes Mißverständnis aufgeklärt werden konnte, wenn der andere mein Wort der Entschuldigung angenommen hatte und Umarmung möglich wurde. Wenn der Erzähler den Noah und seine Mitwelt überleben läßt dadurch, daß Noah auf genaue Anweisung Gottes einen Kasten baut, der ihn und die Seinen auf den Fluten sicher tragen soll, dann steht da das Wort tewah. Eine chassidische Legende lehrt, daß tewah nicht nur Arche heißt, sondern auch Buchstabe. Noah also wurde nicht nur das Handwerkszeug für die Kiste gegeben. Wir können auch sagen: Ihm wurde auch das Mundwerkzeug gegeben für die Bildung von Buchstaben, Wörtern und Sprache. Mach dir also eine Sprache, Mensch, die dir als Obdach und Zuflucht dient. Oder weiter gefaßt: Finde die Sprache der Versöhnung, die dich Frieden schließen läßt. Finde Worte, die das Mißverständnis aufklären hilft. Finde den Mut auszusprechen, was der andere zu sagen sich nicht traut, aber sich wünscht. Tiefenpsychologisch ist tewah der Uterus, aus dem die zweite Menschheit geboren wird. Die Urgeschichte ist eine Geschichte von Führungen und Fügungen – im Bereich von Liebenden und Geliebten, von Kindern und Eltern, von Familie und ihrer Tradition. Hier wirkt Gott in der Profanität. Da ist nichts Heiliges und Sakrales. Deshalb verwundert es, daß der Erzähler den Noah, der ja übrigens kein einziges Wort redet, einen Altar baut. Noah bleibt stumm, aber er räuchert. Wo Luther übersetzt “lieblichen Geruch”, da ist eigentlich die Rede vom “Geruch der Beruhigung”. Gottes Zorn wird beschwichtigt und beruhigt durch einen Duft, der uns erkennen läßt: Ab jetzt kann Gott den Menschen (wieder) riechen! Ist das nicht auch unter uns bis heute eine Sympathiebezeugung, wenn ich sage: Ich kann dich gut riechen!? Am Anfang war da die Erfahrung von einem Gott, der erst erschafft und dann aus Zorn über die verkorkste Kreatur Mensch all das Geschaffene vernichtet – fast alles, bis auf einen spärlichen Rest. Darauf baute sich auf die Erfahrung von einem erhaltenden Gott. Gott will – so teilt er sich uns mit – (was er wirklich will – wer will das wissen?) – Gott möchte nicht mehr das Böse vernichten; denn wie leicht kann da nach einem Gleichnis Jesu mit dem Unkraut das gute Kraut mit ausgerissen werden; vielmehr will er das Gute stärken. Das hört der Mensch von alters her als Auftrag: Das Gute zu stärken, damit das Denken und Trachten nicht nur böse sei, sondern als Wohlgeruch dem Himmlischen in die Nase steigt.

Fürbittengebet Unser Gott, was Menschen in alten Zeiten erfuhren, das begegnet uns bis heute: Am Tiefpunkt angekommen, wußten wir nicht ein noch aus; mit den Nerven fertig, wurde uns vor den Augen schwarz; und am Ende des Tunnels wurde es licht. Wo Hilfe und Heilung geschah, werden wir bereit zu singen: “... dankbare Lieder sind Weihrauch und Widder, an welchen er sich am meisten ergötzt”. (eg 449,3) Wo Angst und Verzweiflung uns quält, da wollen wir singen lernen: “Wenn unser Herze seufzt und schreit, / wirst du gar leicht erweicht / und gibst uns, was uns hoch erfreut, / und dir zur Ehr gereicht”. (eg 324,10) So denken wir an die Menschen, denen schwere Krankheit und Todesangst zusetzt. Gib ihnen Freunde an die Hand, deren Dichten und Trachten Wärme gibt und offenes Ohr. Laß ihnen dein Wort zum Kasten werden, der sie rettet in den Fluten der Angst. Und was ihnen in diesen herbstlichen Tagen gepflanzt wird, laß sie im Frühjahr noch blühen sehen. Unser Dichten und Trachten gehe in der Stille zu Menschen, die unsere Gedanken brauchen – Stille –

100 Jahre Otto Krüger Predigt von Superintendent Pfarrer Irmenfried Mundt Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen. Liebe Gemeinde, am 14. September 1975 hielt Otto Krüger seinen Absch iedsgottesdienst,drei Wochen nach seinem 70. Geburtstag am 24. August, auch einem Sonntag.Er stieg auf die Kanzel, schlug die Bibel auf und las folgenden Text zit. Epheser 4,14-21 Sie haben richtig gehört: Ein Gebet. Zum Schluss, nach dreißig Jahren – ein Gebet als Predigttext. Nicht selbst gesucht, sondern vorgegeben – die altkirchliche Epistel für den 16. Sonntag nach Trinitatis. (Die neue Ordnung der Predigttexte kam kurze Zeit später) Ein Gebet in drei langen Sätzen. Luther dazu 1537 am gleichen Sonntag: “Es ist nicht leicht Durchkommen. Die Epistel sieht aus wie ein Dornstrauch, durch den man nicht leicht hindurchbrechen kann.” Otto Krüger hat den Durchbruch versucht in seiner eigenen Art, mit einer Frage und drei Antworten. Frage: Was brauchen wir? Erste Antwort: Wir brauchen mehr innere Kraft, Lebensmut und Zuversicht. Sie wird uns angeboten. Darum beten. Das gilt bis heute. 30 Jahre danach. Das hat gegolten 30 Jahre davor 1945. Innere Kraft, Lebensmut, Zuversicht – nie Besitz, nie Vermögen, immer Geschenk. Immer angefochten durch das, was ist. Durch die Erfahrung. Kraft, Mut, Zuversicht – was hieß das 1933/1934 – als Christsein auch Kampf bedeutete, für Otto Krüger, damals in der Altstadt Illegalität, wie für Heinz Johannsen in Werden. Gestapo, Krieg, Soldat – woher die Kraft? Woher die Kraft beim Wiederauf-

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Randnotizen 1 - 17 Andachten und Predigten aus der Evangelischen Kirchengemeinde Werden

Was heißt beten? Beten heißt standhalten – und nicht fliehen. Beten ist Zuflucht, nicht Ausflucht. Beten heißt Sehn, was ist – und doch nicht verzweifeln Beten heißt Hoffen. Beten heißt Widerstehen Und Beten heißt Sich ergeben. Beten heißt dem Begreiflichen misstrauen, Und dem Unbegreiflichen trauen. Dem einen Namen – Ich werde dasein. Beten – wir müssen es immer wieder neu lernen Als die Kehrseite des Tuns. “Ich beuge meine Knie vor dem Vater, dass er euch Kraft gebe, stark zu werden im inwendigen Menschen.” Nach allem, was die Kirche getan hat, um glaubwürdig zu sein, und anerkannt in den vergangenen Jahrzehnten, erkennen wir heute: Da ist auch noch eine Seele, etwas Inwendiges, das hat Hunger, das braucht Kraft, Mut und Zuversicht. Darum beten. Wie lernt man das? Durch beten. Was brauchen wir? Zweite Antwort: Mehr Verbundenheit mit Jesus Christus. In ihm bin ich geliebt bei Gott. Letzter Sinn des Menschseins, von Gott geliebt, gebraucht, berufen. 1946 lautete die Jahreslosung: Christus spricht: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich. Im Januar kam Otto Krüger nach Werden, übernahm die Konfirmanden, und suchte dies ihnen einzuprägen in den wenigen Wochen bis zur Konfirmation. Der Grund der Welt nicht eisiges Schweigen, sondern der, den Jesus Vater nennt, der rechte Vater über alles, was Kinder heißt. Jesus hat das verkündet, denken sie an den letzten Sonntag: Ihr alle meine Schwestern und Brüder und meine Mutter, und er hat es gelebt. Und hat die Menschen damit in Freiheit gesetzt. Und der Hinweis auf diese Freiheit eines Christenmenschen – der war Otto Krüger so wichtig. Darum er viel Freiheit gegeben. Und sich auch Freiheit genommen, z.B. zu rauchen – bei der Bibelarbeit im Mädchenkreis, der dann lange in seinem Studierzimmer zusammenkam. Freiheit – von allem anderen, was sich sonst zur Macht erklärt. Das Erbe der Bekennenden Kirche. Das Erbe von Barmen. Christus Weg und Wahrheit und Leben. Verbundenheit mit ihm: “dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid.” Also: Wir sollen im Herzen nicht allein sein. Im Herzen sollen nicht nur die Sorgen reden oder der Hochmut, nicht nur die Angst oder das Haben wollen, sondern es soll einer mitreden, der gnädiger und barmherzige mit mir umgeht als ich selbst. und deine inneren Wurzeln sollst du entdecken in der Liebe Gottes, im Leben aus der Güte. Letzter Sinn: Von Gott geliebt, gebraucht, berufen. Das brauchen wir? Dritte Antwort: Wir brauchen mehr Liebe. Die Liebe kennt keine Mauern, die Zeichen der Angst, Verbindungen schaffen über Abgründe. Auch der andere ist von Gott geliebt. Glauben und Leben – in der Liebe fällt beides zusammen. Die Liebe, die tiefer sieht – auch im anderen: Gott. Die Mauern und Abgründe überwindet. Wir wissen – das ist wahr. Und doch sind da immer wieder Mauern, selbst unter Christen, damals die zwischen denen aus den Juden und denen aus den Heiden. Und heute?

Die Mauern zwischen den Konfessionen. Sie bröckeln – Gott sei Dank. Und Otto Krüger und Heinz Johannsen und Hanns-Joachim Maßner, die hatte gerade in Werden ihren frühen Anteil daran. Das waren Menschen der Einheit. Dass wir eine Christliche Krankenhausgemeinschaft Werden haben, dafür haben sie den Grund gelegt, ohne Unterschiede zu verleugnen. Statio und Schreinerhebung, ökumenische Hospizarbeit all dies war noch weit, aber schon angelegt damals durch sie. Auch der andere, der Fremde von Gott geliebt. Die Fähigkeit zum Frieden liegt hier begründet. Wir brauchen mehr Liebe. Abschiedsworte an die Gemeinde. Gebetsworte. Kraft, Christusverbundenheit, Liebe. Das brauchen wir. Und Gott will es schenken. Otto Krüger hat dann nur noch dreimal hier auf der Kanzel gestanden: Ostern und Erntedank 1976 und das letzte Mal Karfreitag 1979, und wieder unter dem Stichwort Liebe. Seht welch eine Liebe hat uns der Vater gezeigt, dass wir Gottes Kinder sollen heißen und es auch sind. Am 12. Dezember1989 um 12 Uhr stand dann hier sein Sarg. Die Ansprache unter dem Psalm 116, dem letzten Bibelwort, dass er zuhause noch hat lesen können, vor seinem Klinikaufenthalt. Vers 9 findet sich auf seinem Grabstein wieder: “Ich werde wandeln vor dem Herrn im Lande der Lebendigen.” Zum Schluss soll Kurt Wolff zu Wort kommen, der langjährige Freund und Wegbegleiter, GrafikDesigner und Paramentiker in Kaiserswerth und Predigthelfer. Nach der Beerdigung auf der Nachfeier im Haus Fuhr – wir gehen gleich auch dorthin – ergriff er das Wort mit einem “Erdachten Gespräch mit Otto Krüger”: In diesem Gespräch, das nicht mehr geführt wurde, geht es um das geknickte Rohr, das nicht zerbrochen wird und um den glimmenden Docht, der nicht ausgelöscht wird, Jesaja 42 Daraus Folgendes: “Das ist natürlich klar, sagte er, dass das zerstoßene Rohr nicht die defekte Wasserleitung ist und auch nicht das Mannesmann-Rohr zweite Wahl. Als Ingenieur weiß ich das, das heißt ich wollte einmal Ingenieur werden. Aber auch so sind mir genug ‚geknickte Rohre’, geknickte Menschen begegnet, die nicht zerbrochen, sondern gerade gebogen werden wollten. Du aber meinst, sagte er, dass das geknickte Rohr ein Schilfschreibrohr war, angekaut und angefasert vor lauter Nachdenken. Ich weiß noch, wie das war, als ich sonntags der Gemeinde predigen sollte. Da kaute ich auch am Bleistift, sozusagen, wenn mich der Zweifel überfiel und schrieb doch mit meinem Bleistiftstumpf weiter, weil Gottes Wort weitergesagt werden musste. Also du meinst, Jesaja habe sein eigenes beschädigtes Schreibrohr für Gottes Botschaft vor Augen gehabt. Ein tröstlicher Gedanke. Dann will ich auch gern ein beschädigtes Schreibrohr gewesen sein. Doch jetzt müssen andere kommen und handeln, und die sollen sich nicht scheuen, ihr Schreibrohr gründlich zu strapazieren. Denn wenn dein Bild stimmt, sagte er, dann sind wir auch heute noch dazu da, Gottes Geschichte mit unseren fast leeren Federhaltern, mit unserem unvollkommenen Leben, weiterzuschreiben. Ich werde jetzt mein angekautes Schreibrohr, wie du es nennst, aus der Hand legen müssen, sagte er. Und der Docht glimmt auch nicht mehr lange. Andere werden Öl nachgießen müssen.” Das wollen wir tun, so gut es geht. Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

HERAUSGEBER: PRESBYTERIUM DER EVANGELISCHEN KIRCHENGEMEINDE WERDEN BEAUFTRAGTER DES PRESBYTERIUMS FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT CONRAD SCHLIMM REDAKTION: MEIKE KRÜGER ( 40 50 16 ANDREAS SCHÄFER ( 49 02 301 ANSCHRIFT: DER BRIEF • HECKSTRAßE 65 • 45239 ESSEN-WERDEN

© Bild: EKiR / gemeindebriefredaktion.de

bau – auch der Gemeinde nach 1945, nach all den Irrungen und Wirrungen auch hier in Werden. Woher die Kraft an Krankenbetten und Gräbern, im Umgang mit Jugendlichen und Studenten, in der Leitung unseres Krankenhauses, unseres Kirchenkreises durch viele Jahre? Woher die Kraft beim Abschied? Am Grab seiner Frau Dea, die er fünf Jahre überlebte. Seine Frage – unsere Frage. Persönlich, im Blick auf unsere Kirche, im Blick auf die Zukunft. Kraft, Mut, Zuversicht. Sie wird uns angeboten – darum beten. So wie hier der Apostel für seine Gemeinde, ein Gebet aus der Gefangenschaft. Nach drei Kapiteln Theologie – Thema Einheit der Gemeinde und vor drei Kapiteln voller Mahnungen – mitten drin ein Gebet.


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