PORTRAITS

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PORTRAITS

WHITE BRUSH GALLERY Andrテゥ Schnaudt, Dテシsseldorf Galerie CLAUS STEINRテ傍TER, Mテシnster Galerie KREMERS, Berlin


Das da auf dem Bild bin ich nicht! Warum beschäftigen wir uns heute noch mit Portraits? Marie Christine Kremers „Der Mensch kann mit dem Mund so viel lügen wie er will - mit dem Gesicht, das er macht, sagt er stets die Wahrheit.“ Friedrich Nietzsche 1 In seiner Studie „Faces. Eine Geschichte des Gesichts“ bezeichnet Hans Belting das Gesicht als Statthalter eines umstrittenen Menschenbildes. Da es die sichtbaren individuellsten Züge seines Trägers wie in einem Steckbrief deutlich und den einzelnen Menschen somit unterscheidbar und identifizierbar macht, bringt das Gesicht etwas zur Anschauung, auf dessen Grundlage die Existenz bestimmter Grundvoraussetzungen angenommen werden muss: es sind dies die Einheit einer Person, die Zurechenbarkeit von äußerlichen Eigenschaften zu einem Subjekt, die Existenz von Individuen. Obwohl bei jedem Anblick eines Gesichts immer wieder behauptet, sind diese Gewissheiten den Wissenschaften schon lange abhandengekommen. Der Streit um die Deutungshoheit bei der Definition des Menschen, den Biologie, Soziologie, Philosophie und Psychologie miteinander und untereinander ausgetragen haben und der sie zum Teil zum Spielball politischer Interessen hat werden lassen, ist langweilig geworden. Weil niemand mehr sagen kann, worüber er eigentlich redet, haben hier alle Recht

oder eben keiner. 1 Hans Belting: Faces, Eine Geschichte des Gesichts, München 2014, S.118ff.


Johannes Grテシtzke, Alfred Brendel, 6. 6, 2014, 80 x 60cm,テ僕 auf Leinwand


Folglich wird auch das Portrait in der heutigen Kultur meist als eine verlorene Sache betrachtet. Dabei ist das Gesicht als Motiv des Portraits inflationär geworden und immer billiger zu haben. Millionen digitaler Urlaubsfotos erscheinen als Vergewisserung der eigenen Identität in der Vergangenheit „Ich bin dagewesen“. Noch viel mehr Selfies, also Selbstportaits, die den Portraitierten in Alltagssituationen zeigen, „beurkunden“ die Weiterexistenz dieses Ichs bei beliebigen Tätigkeiten in der Gegenwart. Wenn auch das Genre der Portraitmalerei an Bedeutung verloren hat, so hat das Bedürfnis nach Portraits angesichts der existentiellen Bedrohung der Einzigartigkeit des Ichs, sei es durch die Hirnforschung oder die Globalisierung, eher zugenommen. Das Ich, das uns abhanden zu kommen droht, suchen wir immer noch im Gesicht und nicht im Gehirn oder im systemischen Umfeld einer Person. Bei näherer Betrachtung ist auch allen Arbeitspsychologen und deren Persönlichkeitstests zum Trotz die Entschlüsselung der Physiognomie immer noch der wichtigste Zugang zum dahinter liegenden Menschen. Zum Maßstab genommen werden dabei bestimmte Eigenschaften der Gesichtsform so wie einzelner Teile des Gesichts. Mittels dieser können anhand kollektiver Merkmale bestimmte Sozialtypen klassifiziert werden (wovon die NS-Ideologen ein besonders unrühmliches Beispiel geben). Auch gibt es idealtypische Merkmale, die eine allegorische Funktion übernehmen. So finden wir die Weisheit dargestellt im Portrait des Sokrates, die Schönheit im Portrait der Venus. Besonders spannend ist die Merkmalssuche in Portraits, die aus sich heraus Schönheitsvorstellungen prägen wie im Portrait der Mona Lisa. Die Mona Lisa definiert die Schönheit in bildlicher Form. Ihre Schönheit ist eine individuelle und wir können uns nicht abschließend darüber verständigen, welche Merkmale oder Merkmalskombinationen dafür verantwortlich sind.


Johannes Grützke

„Dr. Heinrich Näteler“ II, 19.2.2010, 19.9.2012, 100x80 cm, Öl auf Leinwand


Johannes Grützke

Die Knochenmänner, 38/40, Lithographie, 100cm x 130cm, 2007

Spiegel der Seele, Sitz des Willens und andere Orientierungshilfen „Dem Klugen wird auch ein Gesicht zur Sprache.“ Publius Syrus 1 Wie erkenne ich einen anderen Menschen und was leitet mich dabei? Wenn ich einem Menschen das erste Mal begegne, orientiere ich mich intuitiv an äußeren Merkmalen, die mich zu bestimmten Vorurteilen veranlassen. Diese Vorurteile wiederum lassen Hypothesen darüber zu, wie ich dem anderen adäquat begegne. Sie sind allerdings leicht dem Irrtum unterworfen. So gibt es immer wieder irritierende Begegnungen, in denen mein Vor- Urteil über die Geschlechtszugehörigkeit meines Gegenübers oder auch andere Zuordnungen hinsichtlich Alter, Attraktivität, Schönheit, Intelligenz usw. sich nicht einstellen will. Ein Beispiel ist das Portrait Johannes des Täufers von Leonardo da Vinci. Sowohl die Gesichtszüge als auch Form und Hautstruktur des nach oben gestreckten Armes erscheinen sehr weiblich. Hier werden lang geübte Seh- und Kategorisierungsgewohnheiten ein Stück weit außer Kraft gesetzt. 1.Jhdt.v.Chr .Ehemaliger syrischer Sklave und Autor volkstümlicher Theaterstücke in Rom


Die Gewohnheit, Menschen anhand äußerer Merkmale zu beurteilen, ist allerdings lange überliefert und kommt u.a. in Redewendungen zum Ausdruck wie „das Auge ist der Spiegel der Seele“ und „er hat ein energisches Kinn“ sowie in Wortschöpfungen wie „Denkerstirn“. Die Physiognomik als die „Technik“, von den morphologischen Eigenschaften des Gesichts und seiner Teile auf den Charakter oder das Temperament des Gegenübers zu schließen, galt zu Zeiten der Aufklärung als populär, aber auch schon Aristoteles hat einen Menschen mit flacher Nase für lasziv gehalten, Galen Menschen mit kleinen Augen für verzagt. Auch wenn diese Lehre in rassistischen Ideologien pervertiert wurde, so erfreut sie sich in spirituellen Zirkeln wieder großer Beliebtheit, z.B. bei der Zuordnung bestimmter Merkmale zur 5- ElementeTypenlehre in der chinesischen Philosophie. Aller gebotenen Skepsis zum Trotz ist das Gesicht immer die Quelle einer Fülle von Deutungs- und Interpretationsleistungen.

Pablo Picasso

Picassos Drucker, 23.09.66, Lithographie 7/50, Motiv-56x40 cm, Blatt 73 x 52 cm

Nicht das Gesicht, sondern die Mimik deuten wir

Auch bei der Bestimmung der sozialen Funktion der Mimik und ihrer von Darwin entdeckten stammesgeschichtlichen Wurzeln kommt uns die Individualität abhanden. Das Gesicht ist nicht Spiegel der Seele, sondern Schauplatz elementarer Emotionen, die wir mit dem Tier teilen. Gesichtsmuskeln führen Reflexe aus, die von Angst, Trauer, Freude und Schmerz gesteuert werden und selten vom Willen ihres Trägers. Die Rückschlüsse vom Gesichtsausdruck auf die emotionale Verfasstheit meines Gegenübers, z.B. seine Angriffsbereitschaft, können lebenserhaltend sein. Auch über kulturelle Grenzen hinweg werden hochgezogene Mundwinkel immer als Freude bzw. Ausdruck einer heiteren Gemütsverfassung interpretiert, aufgerissene Augen signalisieren Erstaunen oder Angst usw . Johannes Grützke

„Wolfgang Rihm, eine Symphonie für 300 Musiker“ 2014, 57 x 38cm, Lithographie


Johannes Grützke

„Alice Jay Gräfin von Seldeneck“ II, 7.4.2014, 100x80 cm, Öl auf Leinwand „Ulrich Seibert“ I, 18.7.2004, 100x80 cm, Öl auf Leinwand „Volker Lehmann“, 14.6.2010, 40x30 cm, Öl auf Leinwand „Hans Robert Metelmann“, 07.01.2015, 80x100cm, Öl auf Leinwand


Johannes Grützke, „Claus Steinrötter“, 2002, 100x100cm. Öl auf Leinwand

Auf der anderen Seite schreiben sich Emotionen, die häufig erlebt werden, wie die berühmten Lachfalten mit der Zeit als individuelle Gesten in die Gesichter ein. Diese „Spuren des Lebens“ verlöschen und sind auf Totenmasken nicht mehr zu sehen. Doch ist es oft gerade ein spezifischer Gesichtsausdruck, den ein Mensch in bestimmten Situationen macht, den wir als die besondere Eigenart eines Menschen erleben. In dem, was hier sichtbar wird, spiegelt sich ein ganz eigenes Mischungsverhältnisses von bewusst zur Schau Getragenem und reflexhaft Erlebtem, von beabsichtigtem und unwillkürlichem Ausdruck. Dieses Mischungsverhältnis ist zwar eine Momentaufnahme, kann aber so vielschichtig sein, dass es viel besser als ein Steckbrief oder eine elaborierte Charakterstudie für den ganzen Menschen stehen kann. Solche Art „Steckbriefe“ sind die Portraits des Malers Johannes Grützke. Im Portrait des Galeristen Claus Steinrötter erkennen wir Claus Steinrötter „wie er leibt und lebt“ und dieses Portrait macht selbst wiederum etwas von dem Erleben sichtbar, mit dem er auf seine Umwelt reagiert.

Der Ausdruck des Erschreckens, mit dem der Portraitierte den Betrachter anschaut, scheint der von Darwin entdeckten Sprache der elementaren Emotionen zu entstammen und wirkt übertrieben und der Situation kaum angemessen; schließlich ist sein Gegenüber wahrscheinlich der Maler Grützke und kein Alligator. Bei Kulturwesen kommt es vor, dass sie elementare Emotionen auch dann zeigen, wenn sie nicht gerade Gefahr laufen, gefressen zu werden. Diese Emotion ist dann nicht nur etwas, was einem widerfährt, sondern Geste. Auch wenn wir den im Portrait dargestellten Ausdruck des Erschreckens in seiner übertriebenen Form bei Steinrötter nie oder nur sehr selten zu Gesicht bekommen, erkennen wir die Geste wieder. Sie will uns auch nicht mitteilen, dass sich Fressfeinde in der Nähe befinden, sondern warnt uns vor Zumutungen oder Übertreibungen anderer Art, z.B. in Gestalt von schlechter Kunst.


Petra-Moßhammer

„Siehst du auch nicht, was ich nicht sehe”, 2013, 106x79cm, Pastell „Suppenorakel”, 2013, 106x79cm, Pastell „Einäuglein”, 2010, 106x79cm, Pastell


Aspekte der kontrollierten Verfremdung spielen auch in den Portraits Petra Moßhammers, einer Schülerin Johannes Grützkes, eine große Rolle.

Petra Moßhammer, „Stirn bieten”, 2013. 106x79cm, Pastell

Auch hier werden leuchtende Farben und kräftige Pinselstriche in den Dienst gestellt, um die Eigenwilligkeit der dargestellten Charaktere hervorzuheben und zur Geltung zu bringen. Die von Moßhammer gewählten Situationen und Posen der Portraitierten spielen mit dem Sujet des Frauenportraits bzw. -akts, verwandeln aber die portraitierten Frauen mit viel Sinn für Humor und Freude am Eigensinn vom voyeuristisch angeschauten Objekt zum selbstbewussten Subjekt, das den Betrachter „durch die Brille“ anschaut.


Timur Celik, „Viron“, 2015, 55 x 45 cm cm, Öl auf Leinwand

Person ist Maske – verstecken und enthüllen Wir dürfen nicht vergessen, dass aller aufrichtigen Suche nach dem „wahren“ Gesicht zum Trotz „Person“ ursprünglich und in erster Linie „Maske“ bezeichnete und erst später mit der Bedeutung ausgestattet wurde, Träger des Individuellen zu sein. Im Portrait kann die Maske sichtbar werden, die einer sich gibt, analog zur Rolle, die er im gesellschaftlichen Leben spielt oder gerne spielen würde. In der Auftragsmalerei waren Maler lange damit beschäftigt, genau das darzustellen. Mitunter schaut der Maler aber „hinter die Maske“ und lässt etwas deutlich werden, das auf eine intime Kenntnis der Persönlichkeit des Portraitierten schließen lässt. Portraits sind auch Spiegel des Verhältnisses des Malers zu seinem Modell.


Timur Celik, „Thomas“, 2015, 260x200 cm, Öl auf Leinwand

Timur Celiks Portraits sind im besten Sinne realistisch. Die von ihm Portraitierten wirken vollkommen authentisch und dadurch überaus lebendig. Weder hat der Künstler etwas Bewertendes hinzugefügt noch scheinen die Portraitierten vorzugeben, etwas anderes zu sein, als sie hier und jetzt wirklich sind. Es ist, als habe Celik sie ermutigt, ihre Gefühle oder ihr inneres Erleben zu zeigen, das heißt ihre Verletzlichkeit, ihre Müdigkeit oder ihr Misstrauen. Sie zeigen Spuren des Erlebten, ohne sich zu verstecken und scheinen sich unbeobachtet zu fühlen. Oft von einem tiefer liegenden Blickwinkel aus und überlebensgroß gemalt können sich die Protagonisten nackt und verletzlich zeigen, ohne ihre Würde zu verlieren.


Timur Celik, „Birol“ - 2010, 150 x 200 cm, Öl auf Leinwand


Das Portrait im Spiegel Wenn ich in den Spiegel schaue, so tue ich dies mit der Erwartung, dass das, was ich da zu sehen kriege, die Person ist, die zugleich Träger und (mehr oder weniger vollkommener) Ausdruck meines Selbstbewusstseins ist. Passiert es nun, dass ich an einem Spiegel vorbeilaufe und mein Spiegelbild zufällig wahrnehme, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich mich auf den ersten Blick nicht erkenne und erst auf den zweiten Blick mit einem gewissen Schrecken wahrnehme, dass ich es selber bin, der mir da begegnet ist. Dieses Ereignis kann sogar dahin führen, dass ich mein Urteil über mich (zum Besseren oder Schlechteren) revidiere, da ich mich „mit anderen Augen gesehen habe.“

Fiona Ackerman, „Meckseper 1“, 2015, 42 x 49 cm, Öl auf Leinwand.

Fiona Ackerman, „Meckseper 2“, 2015, 49 x 49 cm, Öl auf Leinwand.


Fiona Ackerman, „The Second Brother“, 2015, 85 x 150 cm, Öl auf Leinwand.


Fiona Ackerman, „My Way or the Highway, (Portrait of R. Ackerman Sr.)“, 2007, 122cm x 183cm, Öl auf Leinwand

Genauso wenig, wie ich im Selbstportrait das erfassen kann, was zu der Gewissheit führt, dass ich es bin, der dargestellt wird, kann ich als derjenige, der einen anderen portraitiert, das darstellen, was diese Gewissheit seiner selbst im anderen auslöst. Der Portraitierte wird sich vielleicht in meinem Portrait anhand bestimmter Merkmale wiedererkennen, sich aber niemals vollständig mit dem Abbild identifizieren können. Eine kleine Studie zu diesen Verwicklungen finden wir in den Meckseperportraits der kanadischen Künstlerin Fiona Ackerman. Was sie dabei in zwei Bildern portraitiert, ist nicht die Person des Künstlers Friedrich Meckseper, sondern seine Spiegelbilder; auf dem einen schaut der Portraitierte direkt in den Spiegel (und die Künstlerin vielleicht an?), auf dem anderen zur Seite und ist so im Spiegel und auf dem Bild im Halbprofil zu sehen. Es findet also ein mehrfacher (mindestens zweifacher) Reflexions- bzw. Vermittlungsprozess statt. Der direkte Blick in den Spiegel ist zudem verstellt von einer kleinen, gläsernen, chemischen Versuchsanordnung, ein weiterer Hinweis darauf, dass nicht das unmittelbare Erkennen, sondern die Zuordnung bestimmter Merkmale einen Rückschluss auf die Identität der dargestellten Person zulässt, vielleicht auch, dass der Künstler sich dem direkten Blick nicht aussetzen will. Das „Labor“ könnte zeigen, dass sowohl der Künstler Friedrich Meckseper als auch die ihn portraitierende Künstlerin Fiona Ackerman gerne mit Versuchs-anordnungen im weitesten Sinne experimentieren. Die Einzigartigkeit der Person ist keine natürliche Eigenschaft, sondern ein Ergebnis der Auffassung und Zurschaustellung bestimmter Merkmalskombinationen.


Fragmente – Portraits zwischen Malerei und Konzept Man mag es als Konsequenz dieser Entwicklung ansehen, wenn nicht nur das Dargestellte, sondern auch das Gemälde selber seine Form verliert. In der Konzeptkunst finden wir einen Ansatz, der beide Perspektiven zusammenführt: Auf der einen Seite spielt es eine untergeordnete Rolle, wer das Kunstwerk ausführt, sofern der Künstler das Konzept oder die Regel der Ausführung vorgibt. Auf der anderen Seite wird der Betrachter als aktiver Part in das Rezeptionsgeschehen mit einbezogen. Gregor Hiltner hat in seinem Portrait des spanischen Architekten Antonin Gaudi dessen Vorliebe für Bruchstücke und Mosaike zum Anlass genommen, sein Portrait zu gestalten: auch Gaudis Kopf ist aus Mosaiksteinchen verschiedenster Materialien zusammengesetzt. Ein Betrachter, der Gaudi nicht kennt, würde nicht verstehen, was das Portrait mit dem Portraitierten verbindet.


Gregor Hiltner, “Gaudi”, 2009, 110 x 115 cm, Pigmentdruck auf Papier/Aluminium aus dem Zyklus Fotosynthesen


Gregor Hiltner, „Kilian“, 2006, 80cm x 100cm, Acryl auf Leinwand

Gregor Hiltner, „Kilian 5“, 2006, 120cm x 140cm, Akryl auf Leinwand


Gregor Hiltner, Kilian 9, 2007, 120cm x 160cm, Acryl auf Leinwand

Die aktive Rolle des Betrachters wird auch in elementarer Weise an einem von Gregor Hiltners Werken im öffentlichen Raum deutlich. Im U-Bahnhof Rathenauplatz in Nürnberg finden wir zwei große, einander gegenüber angeordnete Portraits Walther Rathenaus und Theodor Herzls. Die Portraitierten sind als Anamorphosen in der Technik eines gigantischen Mosaiks gestaltet. Extrem in die Länge gezogen entziehen sie sich der Entschlüsselung durch direkte Betrachtung und sind nur aus einem sehr flachen Blickwinkel überhaupt lesbar. Zeuge eines Verschlüsselungsprozesses wird der Betrachter in der Portrait-Reihe, die Gregor Hiltner von seinem Sohn gemacht hat. Wie die Konturen der abgelichteten Gesichter auf alten Fotografien verlieren sich in dieser Sequenz die eindeutig erkennbaren Züge des Portraitierten bis an die Grenze der Unkenntlichkeit. Mit den Mitteln der Reduktion von ursprünglich zum Portrait gehöriger Information und Hinzufügung neuer, den Prozess der Veränderung bzw. Auflösung dokumentierenden Formen macht Hiltner etwas sichtbar, was auf der psychologischen Ebene ein Entfremdungsvorgang ist. Wo ist die Grenze erreicht, an der sich das Bild auflöst? Dies ist die herausfordernde Frage nicht nur an den Maler, sondern auch an den Betrachter.


Fazit Das Portrait in der Malerei spiegelt je nachdem, in welchem ideologischen und historischen Kontext sie steht, viele der erwähnten Aspekte. Ein Gesicht ist auch immer Antlitz seiner Zeit und das Portrait reflektiert die Außenwirkung des Portraitierten – von ihm und/oder dem Maler beabsichtigt oder nicht - in prägnanter Weise. So kommt in der Auftragsmalerei in idealtypischer Weise zum Ausdruck, welche Maske sich die Macht geben, mit welchen Attributen sie sich ausgerüstet sehen will. Goyas Herrscherportraits mögen als besonders krasses Beispiel herrschaftlicher Selbstverblendung gelten und auch als Zeugnis dafür, wie weit ein Maler gehen kann, wenn er den königlichen Hofstaat in seiner ganzen, realistischen Hässlichkeit abbildet, obgleich sich die Portraitierten vermutlich für sehr schön halten. Mit diesem Problem haben moderne Maler wie Johannes Grützke allerdings auch heute noch zu kämpfen. Die Darstellung des Status spielte auch anfangs in den bürgerlichen Portraits eine große Rolle. Besondere Kleidungsstücke und Gegenstände fungierten als Symbole der gesellschaftlichen Rolle des Portraitierten oder auch eine besonders schlichte Erscheinung wurde zum Zeichen moralischer Größe. In dem Maße, in dem der Künstler autonom wird und nicht mehr Status abbildet, entsteht eine neue Auffassung der Funktion des Portraits. Gleichzeitig gerät es in eine Krise, weil mit der zunehmenden Emanzipation des Individuums von seiner gesellschaftlichen Rolle auch die Person als Bezugsgröße verschwindet.

Gregor Hiltner, „Theodor Herzl und Walther Rathenau“, 1990, Anamorphose, 2000qm Mosaik, Rathenauplatz Nürnberg, Foto VAG/Claus Felix


Foto oben VAG/Dieter Kachelrieß, Foto unten VAG/Claus Felix

In der modernen Malerei schließlich wächst mit der Abkehr vom Gegenständlichen auch wieder die Experimentierfreude. Hierbei gerät der Betrachter zunehmend ins Blickfeld und mit ihm die konstruktive Rolle des Rezipienten, sein Eigenanteil bei der Entfaltung der Wirkung eines Kunstwerks. Wenn sich die Malerei, sei es als Revolte gegen die Maske, sei es aus Furcht vor ideologischer Verblendung oder aus kritischer Einsicht in die Unmöglichkeit der Abbildung „des Wahren“, vom Portrait abgewandt hat, so hat sie ein Stück weit das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Dies wird nicht zuletzt in dieser Ausstellung deutlich. Hier zeigt sich einmal mehr, nicht nur wie sprechend Gesichter sind, sondern auch wie anregend die Reflexion dieser Erscheinung in der Malerei sein kann.


PORTRAITS

Johannes Grützke, Friedhelm Döhl

Johannes Grützke, Wolfgang Gräfe

Johannes Grützke, Wolfgang Burde

WHITE BRUSH GALLERY André Schnaudt

Altestadt 13, D-40213 Düsseldorf 26. Nov. 2015 bis 06. Feb. 2016

Galerie Steinrötter

Rothenburg 16, 48143 Münster Februar 2016 bis April 2016

Galerie Kremers

Schmiedehof 17, 10965 Berlin Mai 2016 bis Juni 2016

Timur Celik, „Karin“, 2015, 55x45 cm, Öl auf Leinwand

„Mehr hören als das Ohr kann“ J. Grützke

Johannes Grützke, Johannes Grützke


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