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LOKALMATADOR No 339
«So toll vernetzt» Tymofiy Havryliv ist ein Autor, der die Grenzen zwischen Wien und Lemberg überwinden will. Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto)
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auptbahnhof Wien. Von hier fahren jetzt Züge in alle Himmelsrichtungen ab, aber nicht in alle großen Städte Europas. So ist es eine Ironie bzw. ein Reflex der Geschichte, dass man auf dem neuen weltoffen gedachten Bahnhof die alten Kurswagen nach Moskau und Kiew vergeblich sucht. Weltpolitik als Bremsklotz: Weil schon seit Längerem die Regime Russlands und der Ukraine voneinander abrücken, wurden auch die Bahnverbindungen gekappt. Betroffen davon ist auch der ukrainische Schriftsteller Tymofiy Havryliv. In Kürze wird er in den Nachtzug nach Budapest steigen, um wieder einmal eine Weltreise zu absolvieren. Dabei will er nicht nach Moskau oder Kiew, sondern nur nach Lviv (deutsch: Lemberg). «Statt besser wird es immer schlechter», klagt Havryliv. Während die Dampflokomotiven vor hundert Jahren gerade einmal zwölf Stunden von Wien in die Hauptstadt Galiziens fuhren, «dauert eine Bahnreise im neuen Europa doppelt so lang. Dabei ist die Entfernung nicht weiter als jene zwischen Wien und Bregenz.» In Budapest muss Havryliv umsteigen. Und stundenlang warten. Erst gegen sieben Uhr in der Früh fährt ein Zug in Richtung ungarisch-ukrainische Grenze. Wo er dann bis zum späten Nachmittag erneut die Zeit totschlagen muss, weil die Waggons umgerüstet werden. Damit sie auf den breiteren Schienen verkehren können. «In meiner Wohnung in Lemberg ankommen werde ich erst spätabends», so der Pendler zwischen den ungleichen Europa-Hemisphären. Um dann von seinen
Reisestrapazen einen politischen Befund abzuleiten: «Die Statements von Regierungsvertretern sagen uns wenig über die tatsächliche Distanz der Ukraine zu Europa. Aussagekräftiger ist wohl, wie die Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur ausgebaut ist.» Es betrübt ihn die Einsicht, dass seine Heimat (im Westen der Ukraine) vom Wiener Hauptbahnhof weiter entfernt ist, als die geografische Nähe und gemeinsame Geschichte vermuten ließen. Als Schriftsteller überschreitet er dessen ungeachtet öfters die Grenzen. Im Rhythmus von acht bis zwölf Wochen tut er sich die mühsamen Ortwechsel an. Im Zug hat Havryliv immerhin viel Zeit zum Reflektieren. In Lemberg hat er zu studieren begonnen, Literaturwissenschaft, wenige Monate vor dem Zerfall der Sowjetunion. Heute wie damals war das eine Umbruchzeit. Die alten Kader lasen in ihren Vorlesungen noch stur die Geschichte der KPdSU herunter, um dann bei Prüfungen von ihren Student_innen einen kritischen Diskurs einzufordern. Kritischer Diskurs? In seiner Heimat schwierig. Viele Intellektuelle der Ukraine sind dem Terror Stalins zum Opfer gefallen. Andere gingen in der Nomenklatura auf, einige von denen wechselten nach dem politischen Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 mit fliegenden Fahnen vom Kommunismus in das Lager der Nationalisten. Tymofiy Havryliv und seine Frau Oksana, eine Germanistin, kamen nach 1991 zum ersten Mal nach Wien, um ihre Studien fortzusetzen. In seiner Erinnerung klingt das so: «Ich war berauscht von den
Pendler: Tymofiy Havryliv zwischen zwei Kontinenten – innerhalb Europas
40 Lokalmatador_innen – in einem Buch: Dieses Kompendium ist noch im Augustin-Büro und bei Ihrem_Ihrer Kolporteur_ in erhältlich. Es kostet: € 8,–.
schmucken, einladenden Schaufenstern, voll Neugier für die materielle Pracht der modernen, postmodernen Welt.» Heute sieht er Wien nüchterner: «Mir fällt auf, dass selten gelacht wird. Die echten Wiener schauen oft sehr mürrisch, während das Lächeln in den Geschäften auf mich eher künstlich wirkt, wie eine Maske.» Der Autor merkt an, dass er bei seinen Landsleuten trotz Krieg und Krise öfters den Ausdruck echter Lebensfreude erkennen kann. Was ihn in Wien vor Probleme stellt: «Dass die Wiener nie offen sagen, was sie gut und was sie schlecht finden. Für mich ist das nicht immer interpretierbar. Ich bin kein Diplomat.» Was ihm in Wien besser als in Lemberg gefällt: «Dass die Stadt so toll vernetzt ist, dass man mit öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Rad, zu Fuß überall gut und schnell hinkommt. Dass man für Stadtmenschen wie mich versucht, auch noch den kleinsten Raum für schöne Grünflächen zu nützen.» Wien sei für ihn ein großes Lemberg: «Es sind bestimmte Straßensegmente, vor allem die älteren Bauten, die Wien und Lviv verwandt aussehen lassen. Man merkt die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen kulturellen bzw. architektonischen Raum.» Manche Wiener Impression fand Eingang in seine Gedichte und Romane. Einiges hat er auch in der Wohnung geschrieben, die seiner Frau und den beiden Söhne als Hauptwohnsitz dient. Die Wohnung im Ursulinenhof in Währing sei ein großes Glück, sagt der Autor. «Eine Oase inmitten der gurrenden Autos, gleich hinter dem unbarmherzig befahrenen Gürtel.» Dabei ist sein Werk, das viel vom anderen Europa erzählt, in Wien so gut wie unbekannt. Seine letzte Lesung datiert aus dem Jahr 2009. Man lädt den Unterstützer der Majdan-Bewegung, der sich für ein Ende der alten politischen Eliten und der Oligarchen ausspricht, öfters zu Diskussionen über den Ukraine-Konflikt ein. Aber man interessiert sich nicht wirklich für seine Bücher. Hauptbahnhof Wien. Der Zug nach Budapest fährt ab. Gute Reise und Auf Wiedersehen! Der Schriftsteller wird in sechs Wochen wieder in Wien sein. Dann hoffentlich mit besseren Nachrichten aus seiner Heimat. ◀