VON ANNA BEDDIG
Teil der Abschlussarbeit »Entscheidungsdruck« von Anna Beddig entstanden im SoSe 2013 an der HAWK Hildesheim
Bei dem Wort »Entscheidung« denken wir oft an bedeutsame Entscheidungen wie z.B. Heirat, Kinder, Studium, Beruf oder größere Anschaffungen. Unser Leben besteht jedoch in jedem Moment aus Entscheidungen, ob wir im Restaurant vor der Speisekarte sitzen, im Geschäft nicht wissen, welches Kleidungsstück wir wählen sollen oder welche Kasse im Supermarkt am schnellsten voran geht. Der Mensch trifft eine Vielzahl an Entscheidungen, meist sind es Situationen, in denen er nicht viel darüber nachdenken muss und über ein Repertoire an Routinen verfügt, die ihm dabei helfen, die immer wiederkehrenden Entscheidungssituationen zu bewältigen, wie z.B. einkaufen.1 ES IST
EIN ALLTÄGLICHER PROZESS DES DENKENS, DER MEIST UNBEWUSST ABLÄUFT. Ohne den Prozess des Entscheidens wären Menschen nicht in der Lage, sich der Umwelt anzupassen oder die eigenen Ziele zu erreichen.2
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Der Begriff »Entscheidung« hat seinen etymologischen Ursprung im germanischen Ausdruck skaipi bzw. skaipio (Plural skeidir: Schwertscheide). Der Gebrauch des Plurals resultiert aus der Grundbedeutung »Gespaltenes« als Anordnung zweier Holzplatten, die das Schwert schützten.3 Dieser Wortstamm wurde im Deutschen zu scheide u.a. mit der Bedeutung »aus der Scheide ziehen«, da man sich zwischen kämpfen bzw. nicht kämpfen entschieden hat.4
ENTSCHEIDEN IST DER PROZESS DES WÄHLENS ZWISCHEN MINDESTENS ZWEI OPTIONEN, MIT DEM ZIEL, ERWÜNSCHTE KONSEQUENZEN ZU ERREICHEN UND UNERWÜNSCHTE KONSEQUENZEN ZU VERMEIDEN. Der Prozess führt im günstigen Fall zu einer Entscheidung. Durch die Entscheidung wird eine Option selektiert und der Entschluss gebildet, diese zu realisieren, z.B. eine Handlung auszuführen.5 Die Wahl ist ein Teil dieses Prozesses.
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Ein Rahmenmodell für den Prozess des Entscheidens zeigt die wichtigen Teilprozesse des Entscheidens, die Gegenstand der Entscheidungsforschung sind.6 Es wird in drei Entscheidungsphasen unterschieden, die präselektionale, die selektionale und die postselektionale Phase.7 In der präselektionalen Phase finden die Prozesse der Generierung von Optionen und der Informationssuche statt. Die selektionale Phase zeigt den Kernprozess der Entscheidung. Hier werden die Konsequenzen bewertet und es wird eine Handlungsintention gebildet. In der postselektionalen Phase führen wir die Handlung aus und unsere Umwelt gibt uns Feedback über die Konsequenzen unseres Verhaltens. DIE KONSEQUENZEN
ZEIGEN OB ETWAS GUT ODER SCHLECHT WAR, DAMIT KÖNNEN WIR AN KONSEQUENZEN UNSERES VERHALTENS WAS DAZULERNEN.8
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Heutzutage können Menschen so viel entscheiden wie nie zuvor. Es scheint manchmal wie ein endloses Herumirren in einem Wald vor lauter Möglichkeiten, die uns offen stehen.9 Jeder kennt das Gefühl, sich nicht entscheiden zu können und die Entscheidung möglichst auf einen anderen Zeitpunkt verschieben zu wollen. Der Psychologe Prof. Dr. Gerd Gigerenzer hat herausgefunden, dass eine Auswahl von mehr Alternativen nicht immer gleich besser ist. In einem Experiment, ob Kunden mehr kaufen würden, wenn die Auswahl größer ist, wurden in einem Supermarkt einmal 6 und einmal 24 Gläser mit verschiedenen Marmeladen an einem Probierstand angeboten. DAS ERGEBNIS
ZEIGTE DEUTLICH, DASS DIE KUNDEN VON MEHR ALTERNATIVEN ANGEZOGEN WURDEN, ABER MEHR KAUFTEN, WENN DIE AUSWAHL GERINGER WAR.10
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Auch ein anderes psychologisches Experiment bestätigte das Sprichwort »Die Qual der Wahl«. Versuchspersonen, denen man zehn Sorten von Schokolade zur Auswahl gab, waren am Ende unzufriedener mit ihrer Wahl als die Personen, die nur vier Sorten zur Auswahl hatten.11 Bei einer Entscheidung wird das Ziel verfolgt, erwünschte Konsequenzen zu erreichen und unerwünschte zu vermeiden.12 DAS KANN
JEDOCH ZU EINEM ZIELKONFLIKT FÜHREN UND UM DIESES PROBLEM ZU LÖSEN, MÜSSEN DIE KONSEQUENZEN DER OPTIONEN BEURTEILT UND GEGENEINANDER ABGEWOGEN WERDEN.13 Je nachdem welche Option nützlicher erscheint, wird zu ihren Gunsten entschieden. Die Experimente zeigen, dass je mehr Optionen man hat, desto schwieriger wird es, diese Optionen miteinander zu vergleichen und umso eher führt es zu Konflikten.
Entscheidungen können rational oder emotional sein. Eine rationale Entscheidung benötigt Zeit, Aufmerksamkeit und Konzentration, dagegen hat man bei einem Gefühl eine schnellere Bewertung.14 Fast jeder kennt das undefinierbare Bauchgefühl. Ohne ein Gefühl ist der Verstand hilflos. Bei einer Entscheidung gibt es Faktoren, die uns unbewusst beeinflussen.
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MENSCHEN EIGNEN SICH IM LEBEN FORTLAUFEND IMPLIZITES WISSEN AN, WELCHES IM LANGZEITGEDÄCHTNIS ABGESPEICHERT WIRD. Dieses Wissen zeigt sich in einem spontanen Gefühl, z.B. durch Zuneigung und kann als Basis für intuitive Urteile dienen.15 Der amerikanische Erfinder und Staatsmann Benjamin Franklin wurde von einem Mann um Rat aufgesucht, der sich zwischen zwei Frauen nicht entscheiden konnte. Franklin riet ihm, eine Liste zu machen, auf die er die Vor-und Nachteile der Frauen auflisten und sich dann für diejenige entscheiden soll, die die meisten Vorteile aufwies. Als die Siegerin feststand, wurde ihm aber klar, dass er die andere Frau wollte.16 Bauchgefühle entstehen aus Faustregeln, die einer komplexen Umwelt nur wenige Informationen entnehmen und lassen den Rest unbeachtet.17 In unserer Vorstellungswelt ist nicht nur das Pro und Kontra entscheidend. Unser evolviertes Gehirn stellt uns Fähigkeiten zur Verfügung, die wir uns im Laufe des Lebens angeeignet haben. Dazu gehören die Fähigkeiten zu vertrauen, nachzuahmen und Emotionen zu empfinden.
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BAUCHGEFÜHLE GEWINNEN IHRE QUALITÄT AUS DER INTELLIGENZ DES UNBEWUSSTEN.18 Sie entstehen aus unseren Erinnerungen, Sinneseindrücken und Empfindungen. Forscher gehen davon aus, dass das menschliche Unterbewusstsein eine höhere Kapazität aufweist, um mehr Informationen zu integrieren, die uns unbewusst zu besseren Entscheidungen führen können.19 Prof. Dr. Gerd Gigerenzer kommt in seinem Buch »Bauchentscheidungen« zu dem Entschluss, dass »weniger mehr ist«. Weniger Zeit und Informationen führen zu besseren Entscheidungen, denn unser Bauchgefühl kann eine Menge an Wissen und Information übertreffen.20 Es ist die Fähigkeit, ohne Nachdenken zu erkennen, auf welche Regel wir uns in welcher Situation verlassen können. Intuitionen können durch zu viel Nachdenken beeinträchtigt werden.21 Auch bei den wichtigen Entscheidungen des Lebens wie Heiraten oder welchen Beruf wir wählen, spielt unser evolviertes Gehirn eine große Rolle. Der Nachteil einer emotionalen Bewertung ist, dass sie nicht greifbar ist wie ein Argument.22
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Personen unterscheiden sich darin, wie viele Gedanken sie sich bei Entscheidungen machen. Einige haben die Neigung, sich sehr umfangreiche Gedanken zu machen, um für sie die richtige Entscheidung zu treffen. Andere Personen dagegen entscheiden schnell und aus dem Bauch heraus.23 Die Psychoanalytikerin Maja Storch hat vier Typen von Entscheidern herausgearbeitet. Der Ausgeglichene trifft seine Entscheidungen aufgrund von Erfahrung, Ratio und der Emotion. Er weiß, wie er Verstand und Emotion koordinieren muss, um eine Lösung zu finden. Der Selbstausbeuter ist leistungsorientiert, erfolgreich und loyal. Er trifft seine Entscheidungen aus rationalen Gründen und unterdrückt das Gefühl oder kann es nicht wahrnehmen. Das Gegenteil von ihm ist der Schnellentscheider. Er ist impulsiv und hört auf seinen Instinkt. Er kann sich schnell für Dinge begeistern, jedoch auch genau so schnell alles ablehnen. Rationale Gründe bezieht er nicht in seine Entscheidung mit ein. Der Zerrissene dagegen zieht die Ratio mit ein, wie der Selbstausbeuter. Der Unterschied zum Selbstausbeuter ist, dass er die Emotion wahrnimmt, ihr aber nicht vertraut.24 17
Trotz der großen Freiheit, die uns die vielen Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stellen, vermeiden Menschen Entscheidungen, auch wenn es um Leben und Tod geht. In Deutschland sterben viele Menschen, weil es zu wenig Organspender gibt, während es in Frankreich reichlich Spender gibt. In Ländern wie Deutschland, USA, Großbritannien ist es vom Gesetz vorgegeben, dass niemand dazu verpflichtet ist, Organspender zu sein, es sei denn, er hat sich bewusst dazu entschieden. In Frankreich, Österreich und Ungarn dagegen ist jeder Spender, wenn er sich nicht explizit dagegen entscheidet.
VIELE MENSCHEN HALTEN SICH AN DIE VOM STAAT FESTGELEGTE EMPFEHLUNG, DENN ES ERSPART IHNEN AUCH VIELE ENTSCHEIDUNGEN.25
Es gibt einige Gründe warum, Menschen das Entscheiden schwer fällt. Entscheidungen sind immer mit einem Verlust verbunden, denn ein »Ja« für eine Möglichkeit ist gleichzeitig ein »Nein« für die anderen. Sie sind auch nach vielen Fakten und Informationen ein Schritt ins Ungewisse.26 Eine Entscheidung zwingt uns, uns festzulegen. Es besteht bei vielen Menschen die Illusion, es gäbe die Wahl des »Nicht Entscheidens«, um so eine Entscheidung zu vermeiden. Dies ist jedoch ein Trugschluss, denn auch eine »NichtEntscheidung« ist eine Entscheidung.27
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Das Vermeiden von Entscheidung spiegelt sich auch in manchen Partnerschaften wider. Die Zahl der Eheschließungen in Deutschland geht kontinuierlich zurück und die Zahl der unverheiratet zusammenlebenden Paare wird immer größer — auch steigt die Zahl der SingleHaushalte.
VIELE JUNGE MENSCHEN LEHNEN DEN KONVENTIONELLEN GEDANKEN DER EHE AB, WEIL SIE ES ANDERS MACHEN WOLLEN ALS IHRE ELTERN. Häufiger sind es aber Bindungsängste oder die Angst vor Verantwortung. Eine Entscheidung für die Ehe bedeutet das ausschließliche Ja für einen einzigen Menschen und der oft unbewusste Gedanke »man könne jederzeit gehen« oder »man kann sich noch alles offen halten« fällt damit weg.28 »Eine Beziehung zwischen Mann und Frau hat was mit Verbindlichkeit zu tun«, so der Paartherapeut Hans Jellouschek »man kann es nicht der Entwicklung überlassen, denn bewusste Entscheidungen sind gefordert, sonst gleitet die Liebe in Beliebigkeit ab.« Lehnt man Verbindlichkeit in der Partnerschaft von vornherein ab, relativiert man die Beziehung gleich von Anfang an.29 Eine Paar-
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beziehung scheint wie ein Balanceakt zwischen Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit, sowie Nähe, Vertrauen, Geborgenheit und Verbindlichkeit auf der anderen Seite.30 Viele Leute, vor allem junge Leute, wollen sich nicht mehr festlegen. Es scheint, als wäre es ein Lebensmotto, sich nicht festlegen zu müssen und sich alle Optionen offen zu halten. Es werden Entscheidungen gemieden — in der Liebe, im Konsum oder in der Politik. Die Medien nennen diesen Zeitgeist »Generation maybe«. Es scheint, als ob diese Generation es sich in der Unentschlossenheit gemütlich gemacht hat.31 DIE MÖGLICHKEITEN
SICH ZU VERWIRKLICHEN, DIE UNS DIE GLOBALISIERUNG ZUR VERFÜGUNG STELLT, SCHEINEN GRENZENLOS. Viele Menschen werden von ihr überrannt und das führt zu Unentschlossenheit.32 Man möchte alles ausprobieren und ist trotzdem nicht zufrieden. Unzufriedenheit scheint wie ein kollektives Lebensgefühl zu sein, obwohl man so viele Möglichkeiten hat sich zu verwirklichen.33 Je mehr Möglichkeiten wir haben, desto mehr besteht die Gefahr und die Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen.
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Jeder kennt das Gefßhl, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben und manches bereut man ein Leben lang. Trotzdem bereuen wir keine Entscheidung mehr, als die, nichts getan zu haben.34 π
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1
Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen – Die Intelligenz des Unbewussten
und die Macht der Intuition, C. Bertelsmann Verlag München 2007 , 2 < zeit. de/zeit-wissen/2011/06/Entscheidungen >,
3
Stüwe B.: Praktisch, rationales
Entscheiden im Marketing, Eine Erkenntnis – theoretische Analyse, Fördergesellschaft Produkt-Marketing e.V. 2010, S.19, 4 <de.wikipedia.org/wiki/Entscheidung >,
5
Betsch/Funke/Plessner: Denken – Urteilen, Entscheiden,
Problemlösen, Allgemeine Psychologie, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011, S. 68, 6-8 Betsch/Funke/Plessner, a.a.O., S. 75-76, 9 < zeit.de/zeit-wissen/ 2011/06/Entscheidungen >, 10 Gerd Gigerenzer, a.a.O., S. 41, 11 < persoenlichkeits -blog.de/article/188/sieben-gruende-warum-menschen-sich-nicht-entscheiden -wollen >, 12-13 Betsch/Funke/Plessner, a.a.O., S. 3, 14 < zeit.de/karriere/beruf/ 2011-03/uebersicht-entscheider-typen >,
15
Betsch/Funke/Plessner, a.a.O., S. 44,
16
Gerd Gigerenzer, a.a.O., S. 12-14,
17
Gerd Gigerenzer, a.a.O., S. 48
18
Betsch/Funke/Plessner, a.a.O., S. 44,
19
< gesundheit.de/medizin/psycho-
logie/psychologische-fragen/das-unterbewusstsein-wie-beeinf lusst-esunsere-entscheidungen >,
20
Gerd Gigerenzer, a.a.O., S. 47,
21
Gerd Gigerenzer,
a.a.O., S. 69, 22 < zeit.de/karriere/beruf/2011-03/uebersicht-entscheider-typen >, 23
<wpgs.de/content/view/487/237/>,24<zeit.de/karriere/beruf/2011-03/uebersicht-
entscheider-typen >, 25 Gerd Gigerenzer, a.a.O., S. 194-197, 26-27 < persoenlichkeitsb l o g.d e /a r t i c l e /18 8/s i e b e n- g r u e n d e - w a r u m-m e n s c h e n- s i c h-n i c h tentscheiden-wollen >,
28
< welt.de/wissenschaft/article1568216/Wie-Partner-
schaften-nicht-verjaehren.html >,
29
< welt.de/wissenschaft/article1568216/
Wie-Partnerschaften-nicht-verjaehren.html >, 30 < welt.de/wissen-schaft/article 1568216/Wie-Partner-schaften-nicht-verjaehren.html >,
31
< welt.de/debatte/
kommentare/article13939962/Generation-Maybe-hat-sich-im-Entweder-oderverrannt.html >,
32-33
< arte.tv/de/berlin-welthauptstadt-der-generation-
maybe/2151166,CmC=6755276.html >, 34 < http://www.zeit.de/zeit-wissen/2011/06/ Entscheidungen >
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