Peter Putz
Das Ewige Archiv The Eternal Archives · ∞
Präsentation Wien Museum
„Das Fotografieren ist eine gemeine Sucht, von welcher nach und nach die ganze Menschheit erfaßt ist, weil sie in die Verzerrung und die Perversität nicht nur verliebt, sondern vernarrt ist und tatsächlich vor lauter Fotografieren mit der Zeit die perverse Welt für die einzig wahre nimmt. Die fotografieren begehen eines der gemeinsten Verbrechen, die begangen werden können, indem sie die Natur auf ihren Fotografien zu einer perversen Groteske machen. Die Menschen sind auf ihren Fotografien lächerliche, bis zur Unkenntlichkeit verschobene, ja verstümmelte Puppen, die erschrocken in ihre gemeinsame Linse starren, stumpfsinnig, widerwärtig. Das Fotografieren ist eine niederträchtige Leidenschaft, von welcher alle Erdteile und alle Bevölkerungsschichten erfaßt sind, eine Krankheit, von welcher die ganze Menschheit befallen ist und von welcher sie nie mehr geheilt werden kann.“1) Thomas Bernhard
Grasberg, Altmünster | AT · 2011 Thomas-Bernhard-Haus: „Die Krucka“
Grasberg, Altmünster · 2011 Thomas-Bernhard-Haus: „Die Krucka“
1) Thomas Bernhard, Auslöschung, Frankfurt/M., 1988, by courtesy of Suhrkamp Verlag.
Cover: Wien Museum, 2010 – 2015
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Peter Putz
DAS EWIGE ARCHIV The Eternal Archives · ∞
Präsentation Wien Museum April 2016 3
Das Ewige Archiv wurde im Jahr 1980 von Peter Putz gegründet und versteht sich als dynamische Enzyklopädie zeitgenössischer Identitäten. Es ist eine der umfangreichsten nichtkommerziellen und unabhängigen Bilddatenbanken Österreichs, mit einem Bildbestand ab dem Jahre 1905, mit Metadatenverzeichnis und detaillierter Beschlagwortung. Die Arbeit am Ewigen Archiv wurde ohne jegliche öffentliche oder institutionalisierte Unterstützung zur Gänze aus Eigenmitteln realisiert und finanziert.
Besichtigungen im Ewigen Archiv 20
Gottfried Fliedl Elke Krasny Friedrich Achleitner
MI & (lano) = MI & (stelbach)
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Timm Starl
Das Archiv der Fotografie
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Shaheen Merali
The Long Breath 64 Der lange Atem 66
Peter Putz
Was ich nicht fotografieren darf 70
Peter Putz
Woher kommen Bilder, was tun sie hier, wohin gehen sie? 71
Johanna Rachinger
Bibliotheken und die subversive Kraft der Erinnerung 74
Ingram Hartinger
Über das Archivieren des Ephemeren 82
Aktivist Archivar Künstler Fotograf 24
„Man muss den Dingen eine Form, eine Ordnung geben können, um sie besser zu verstehen, und das ist es auch, was man tut, wenn man einen Film macht oder anders künstlerisch tätig ist: Man versucht, zumindest temporär, eine Ordnung einzuführen und ein oder zwei Fragen auf diese Weise zu klären – weil man das chaotische Ganze ohnehin nicht erfassen kann. Ich glaube, das ist eine Art, um die Unordnung, in der wir leben oder als die wir die Welt empfinden, auszuhalten.“ Agnès Varda
Agnès Varda in einem Interview zu ihrem Film Les Glaneurs et la Glaneuse (Die Sammler und die Sammlerin) in: Der Standard, 8. 10. 2001
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Review: Das Ewige Archiv · The Eternal Archives · Heavy Duty XS
Inescapably Unalterable Infinities Attention, provocation! By means of forensically precise photography, artist Peter Putz confronts the viewer with traces of everyday activity permanently preserved. The Eternal Archives, established in 1980, can be understood as a dynamic encyclopedia of contemporary identities. The focus of the present, multifaceted irritation lies in its documentation of people’s habitats – divergent, transcontinental. The unspectacular, the obvious things of our planet are what the photographer – a native of Ebensee, Austria (1954) – collates in dense, heavily loaded tableaux as manifestations of everyday life: façades, signs, trashcans, garbage trucks, porta potties, shopping carts. Things harvested and things bundled up, things cooked, things vomited. Parish fairs, firemen’s fairs, street demonstrations, but also places of collective lust: peepshows, gambling dens. Places of rest, refuges for the individual. Demonstrations of mass and power. The loneliness of the country road, the finite nature of time. Fish and meat, fruit and vegetables, raw, cooked or left to rot. Wild, chaotically convoluted, intensely arranged. All in all, however, it is precisely this (superficially) arbitrary character, this powerful concatenation of an enormous amount of photographs that reveals the intention of the artist. A visualization of our world, of our everyday universe with its glut of stimuli, its constant flood of images, its saturation. What this unique album communicates is nothing other than visualized social criticism. What is being addressed is social disorder, which finds itself causally reflected or distorted here in ordered arrangement. One facet of existence is the unalterable course of all that is earthly, the consistent cycle of things, the supply chain of breeding, consumption, excretion and disposal. De facto, Peter Putz succeeds in producing an intense, forceful visualization of the transitory nature of things. Gregor Auenhammer Peter Putz, Das Ewige Archiv. The Eternal Archives. 1980 – ∞. Heavy Duy XS. Euro 29. 240 pages. Ritter Verlag, Vienna, 2012. 7
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Peter Putz: Was ich nicht fotografieren darf What I’m not allowed to photograph
Begrüßung · Welcome Address: Wolfgang Kos, Direktor · Director WIEN MUSEUM
Präsentation 2012
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A BAND FROM HOME: Wolfgang Puschnig – sax, flute Stefan Gfrerrer – bass, Emil Krištof – drums
Friedrich Achleitner: MI & (lano) = MI & (stelbach)
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2012 Peter Putz
DAS EWIGE ARCHIV The Eternal Archives · 1980 – ∞
Heavy Duty XS 240 Seiten · pages, deutsch · english Hardcover, Schutzumschlag · dust jacket Ritterverlag, Wien · Klagenfurt, 2012 www.ritterbooks.com 100 Tableaus: Peter Putz 7 Essays: Friedrich Achleitner, Richard Bellet Robert Del Tredici, Peter Gorsen Peter Putz, Timm Starl Marlene Streeruwitz Extra-Tableau: Hannes Reisinger
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DAS EWIGE ARCHIV The Eternal Archives · 1980 – ∞
Heavy Duty XS
R I T T E R1
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Besichtigungen im „Ewigen Archiv“ Gottfried Fliedl
Gibt es eine Unterscheidung von Alltagsgegenständen und Allerweltsgegenständen? Der Alltagsgegenstand ist vielleicht einer, der nur innerhalb der Zäune einer Wissenschaftsdisziplin gedeiht, etwa der Volkskunde oder wie das seit einiger Zeit heißt, der Europäischen Ethnologie. Der Alltagsgegenstand wurde zusammen in einer Zone der Geschichte entdeckt, die bis dahin kaum oder nur halb erkannt in den historischen Wissenschaften existierte, gewissermaßen im Bodensatz der großen Erzählungen. In ihr würde er zum Zeugen einer übersehenen Gewöhnlichkeit, aus der wohl das Leben bestand, nicht aber das Wissen der Historiker. Soziologisch war das die emphatische Entdeckung einer Geschichte jenseits der Herrschaftsgeschichte, der einfachen, der „unteren“ Lebensverhältnisse. Nicht dass es diesen Gegenstandsbereich und ein auf ihn gerichtetes Interesse nicht schon gegeben hätte. In der Entwicklung der Geschichtswissenschaft findet man ein Interesse und ein Sammeln solcher Dinge (etwa im Zusammenhang mit dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg), ehe sie definitiv das schriftliche Dokument als Quelle privilegierte und die Gegenstandskunde in die Nachbar- und Hilfsdisziplinen wie Kunstgeschichte oder Volkskunde abwanderte. Doch dort wurde auch ausgewählt und ausgesondert, und was als Zeugnis unerheblich, ästhetisch uninteressant und produktionstechnisch minderwertig erschien, zum „Un-Ding“. So formierte sich auch in der Welt der Dinge eine Klassengesellschaft mit ihren Hierarchien, ihren Distinktionen, mit ihren feinen Unterschieden, auch in der Aufmerksamkeit der Sammler, Kritiker, Wissenschafter und Museen. Wann und wo diese Hierarchie sich aufzulösen begann, und das Triviale, das Übersehene, die Massenware, das Kurzlebige, das vordergründig rein Funktionale, das Hässliche, das Unschöne, das Abstoßende, das Ekelhafte, das Banale in jenen Radar der Aufmerksamkeit gerieten, der sie dann auch sichtbar machte, dokumentierte, zusammenstellte oder ausstellte, kann ich nicht sagen. Sicher ist, dass immer noch der bei weitem größte Teil der Dingwelt, ob alltäglich oder nicht, lässt sich nicht einmal sagen, „ungesehen“ bleibt, obwohl er gegenwärtig, sichtbar, unter Umständen und jederzeit zu Hand oder unvermeidlich in unserer Lebenswelt anwesend ist. Es sind die Un-Dinge, die zwischen alle Raster des Registriertwerdens fallen, die nicht zum kulturellen Gut zählen, als unästhetisch gelten, wie funktional notwendig sie auch immer scheinen, wie etwa ein Spielgerät in einem Park, das für Kinder gedacht ist, eine Maschine, die bestimmten Müll entsorgt oder bearbeitet, wie eine Schallschutzwand an einer Schnellstraße, wie die Installationen eines Eislaufplatzes, wie plattgedrückte Aluminiumdosen auf Asphalt, wie die Markisen eines Marktes - alles Objekte, die im Ewigen Archiv auftauchen. Da sind wir in der Welt des Peter Putz und seiner Sammlung von gegenwärtig über 250.000 Fotografien, einer der größten privaten Bilddatenbanken Österreichs, zahlreichen Publikationen, einer Webseite, von Ausstellungen und zahllosen Aktivitäten. Ein Kompendium von allem und jedem, dessen Untertitel der Publikation von 2012 The Eternal Archives 1980 – ∞ ironischer ist, mit seiner zeitlichen Fixierung der Unendlichkeit, als der Titel der aktuellen. Auf rund 200 großformatigen Bildseiten sind hier, in der Auswahlpublikation, innerhalb eines Layout-Rasters, Schwarz-Weiß-Fotos und Farbfotos zu knapp beschrifteten weiter aber unkommentierten 20
Tableaus zusammengestellt, in einer scheinbar willkürlichen Reihenfolge, die meisten von ihnen jeweils mit einer oder mehreren Seiten zu einem Sujet zusammengefasst. Eine Art statistischer Sichtung, die ich nicht mache, würde Vorlieben und Obsessionen sichtbar machen und die Frage stellen, was alles dennoch aus der Welterfassung des Fotografen ausgeschlossen bleibt. Ja, da geht es um die immer verfehlte Totalität des Sammelns, sie würde Zufälliges und Absichtsvolles, aus Anlässen und aus Intentionen Entstandenes entschlüsseln. Die Bitte, fotografiert zu werden, die Teilnahme an Veranstaltungen, die Dokumentation von Demonstrationen, politischideologisch motiviertes Fotografieren gibt es, und alle vielen Momente, von denen Peter Putz sagt: „Die Dinge suchen mich, nicht ich sie“. Allerweltsdinge. Man könnte versucht sein, das Wort so wörtlich zu nehmen, dass es für eine Erfassung der Welt durch ihre Dinge steht. Man könnte an Bouvard und Pécuchet denken, die aber die Welterfassung praktisch betrieben und ebenso scheiterten, wie ihr Erfinder, Gustave Flaubert, der den Roman unvollendet liegen lassen musste. Oder an das Mundaneum (Paul Otlet und Henri La Fontaine), diesen Großversuch, das Weltwissen zu verzetteln und zu verschlagworten, ein Versuch, der Le Corbusier zu einem Projekt eines unendlich wachsenden Museums inspiriert hat. Oder an Peter Greenaways 100 Objekte, die von der Welt erzählen, die Ausstellung, die seinem eigenen Bekunden nach von der hybriden Vorstellung inspiriert ist, man könne mit einer Hand voll einer Weltraumsonde mitgegebener Text- und Bilddaten Außerirdischen ein Verständnis für „uns“ vermitteln. Man könnte auch an das Musée sentimental Daniel Spoerris denken, das die Willkür und Zufälligkeit der Auswahl und der Zusammenstellung der Dinge unter einem strikten Ordnungsprinzip verbirgt. Dann selbstverständlich an Marcel Broodthaers Der Adler vom Oligozän bis heute, also an sogenannte Künstlermuseen, die ihr „Vorbild“, die Institution Museum unterminieren, indem sie die Fragwürdigkeit seiner Grundlagen sichtbar machen. Das Ewige Archiv ist freilich weder enzyklopädisch noch repräsentativ und auch nicht historisierend, wie etwa ein anderer über Dinge, Museumsobjekte, unternommener Welterfassungsversuch, Neil MacGregors Buch, in dem Objekte des British Museum eine (Welt) geschichte erzählen sollen (Geschichte der Welt in 100 Objekten). Es ist auch keine animistische Belebung der Dinge durch einen Künstler, der die Welt „nach seinem Bild“ umformt, wie zum Beispiel August Walla, der Sessel, Schreibmaschinen, beteerte Straßen, Bäume, Zimmerdecken, Schreibtischlampen, Trafohäuschen, Betten, Türen, Hütten oder auch die Steine der Schotterbänke an der Donau bemalte. Dennoch tendiert auch diese Sammlung von Fotografien und der Umgang mit ihnen, ein „Weltmuseum“ in dem Sinne zu sein oder erst zu werden, als es eine Totalität aus sich heraus generiert, die zwar die empirische Welt aufnimmt, in akribisch festgehaltenen Ausschnitten, aber sie als Material verwendet, aus dem etwas Neues entsteht, ein idiosynkratischer und narzisstischer Kosmos. Dass Gsellmanns Weltmaschine doppelseitig in der Publikation auftaucht, ist vielleicht kein Zufall. Ein Kosmos, von dem im Übrigen sein Autor listigerweise behauptet, der bestünde auch unabhängig von ihm und würde von ihm gleichsam nur registriert, aufgeschnappt, festgehalten werden.
Dass das Welt-Bauen im Zentrum steht, daran lässt Peter Putz im Gespräch keinen Zweifel. Fragen wie: „Wie kann ein Einzelner mit der Abbildung der Welt umgehen? Wie kann er die Welt verstehen? Wie kann ich mir die Welt erklären?“, fallen rasch hintereinander. Ich füge hinzu: „Wie kann ich mich vor der Welt schützen und vor ihrem Anblick?“ Peter Putz hinterlässt keine, zieht keine Spuren, er zieht sich auf die Rolle des unsichtbaren, anonymen „Mannes hinter der Kamera“ zurück, der scheinbar ohne Interesse und Leidenschaft den Dingen Bilder gibt. „Sie entdecken mich“. Er ist Flaneur, dessen Bewegung durch die Stadt in dem Sinne absichtslos scheint, als sie kein Ziel hat und auch nicht wie das touristische Flanieren auf Sehenswürdiges aus ist, also schon gar nicht auf vorcodierte, mit Bedeutung und Wert schon autoritativ versehene Objekte. Gibt es kein Fotografieren aus Vorsatz? Doch. Da gibt es Ensembles von dokumentarischen Fotografien, von Kundgebungen oder Demonstrationen. Die leisten das, was ein bestimmter fotografischer Blick leisten kann, nämlich das Symptomatische, nicht das Intentionale einer Szene festzuhalten. Der 1. Mai der Wiener Sozialdemokratie ist ein politisches Ritual, an dem die jüngsten ökonomischen und großpolitischen Unwetterwände nicht spurlos vorübergegangen sind. Ebensowenig wie die Abnutzungserscheinungen, die ein dutzendfach vollzogenes oder auch nur mitgemachtes Ritual nun einmal mit sich bringt. Das sieht man auf den Fotos des Ewigen Archivs. Die Verdichtung eines solchen Festtages auf eine Zusammenstellung von Gesten, Fahnen, Handhabungen, Blicken, Begrüßungen, Parolen usw., also die Reduzierung auf das Alltägliche im Nicht-Alltäglichen, macht etwas sichtbar, was auf „Höhepunkte“ konzentrierte Medien- und Bildberichterstattung nie sieht. Da Peter Putz dieses Fest des 1. Mai immer wieder besucht hat und es mit Bildern von Maifeiern in anderen Ländern konfrontiert, etwa aus Polen oder Paris, wo er eine Veranstaltung Le Pens besucht hat, wird das Archiv hier „historisch“, was es sonst kaum wo ist. Das gilt selbstredend auch für die Aufnahmen von Demonstrationen, bei denen wiederum nicht in erster Linie das Ereignis in seiner Einmaligkeit Thema ist, sondern das Verhalten der Demonstranten, der Zuschauer, der Polizei. Peter Putz ist nicht auf jene sensationellen Fotos aus, auf Gewaltsamkeit etwa, die in der Medienberichterstattung manchmal der erste und einzige Grund zu sein scheint, von einer Demonstration überhaupt zu berichten.
Tableau (1. Mai 1973) aus: Das Ewige Archiv · Heavy Duty XS, 2012
Tableau (Weltmaschine) aus: Das Ewige Archiv · Heavy Duty XS, 2012
Die Zusammenstellung von Fotos erlaubt es, stereotype Muster zu entdecken. Die Fotos von Bettlern oder Sandlern zeigen solche Muster, und ich habe mich gefragt, ob es da tatsächlich bestimmte körpersprachliche Muster gibt oder ob sie Resultat der Auswahl und Zusammenstellung sind. Mit dem Kern der intentional dokumentarischen Fotos bilden viele solcher Tableaus durchaus so etwas wie eine Physiognomie der Republik. Manchmal stelle ich mir ein „Republikmuseum“, wie es in Österreich nun schon an die zwei Jahrzehnte diskutiert wird, so vor: nicht als monumentale Geschichtserzählung, nicht als nationales Großnarrativ (ohne allzu große Konfliktfreudigkeit), sondern als
Tableau (Presskammer) aus: Das Ewige Archiv · Heavy Duty XS, 2012
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eine wesentlich von „Bildern“ im weitesten Sinne erzählte oder besser collagierte Vernetzung von Ereignissen, die eher einer kugelförmigen Dramaturgie (Alexander Kluge) denn einer linearen folgen. Früher hat man so etwas „Geschichte von unten“ genannt, die Geschichte der „kleinen Leute“, aber alle diese Wörter sind schwammig geworden, sind schief und ungenau. „Mich interessiert nicht das einzelne Bild“, sagt Peter Putz, und überraschenderweise auch: „Ich bin kein Fotograf“. Er, der die Zeit seiner Arbeit als Grafiker im ORF und die Zusammenarbeit mit Neville Brody als wichtige Inspiration seines Tuns nennt, sieht sich wohl eher als Arrangeur, den die Beziehung von Bildern untereinander interessiert und erst so etwas Signifikantes über die Zeit, in der sie entstanden sind, oder über unsere Gegenwart aussagt. Dieser Verzicht auf das Erzählen, die Geschichte, das Anekdotische, das man den Dingen zu entnehmen glaubt (meist irrtümlich – sind es nicht immer Projektionen, Deutungen?), die man vermeint in Dingen finden zu können, wird im manipulierenden Eingriff überwunden. Erst die Auswahl der Bilder und ihre Konfrontation macht sie interessant. Wenn ich dabei höre, wie Peter Putz diese Arbeitsweise schildert und gleichzeitig erzählt, dass das aus der Beschäftigung mit den Medien, mit den Fernsehbildern, mit den enormen, inzwischen durch das Internet tausendfach multiplizierten Bilderfluten inspiriert ist, also auch medienkritisch, denke ich an die Verwandtschaft zur Arbeitsweise, vor allem wo sie politisch-ideologisch motiviert ist, von Harun Farocki. In der Auswahl und Zusammenstellung ist aber Peter Putz weit weniger variabel als er. Meist bildet er Serien, innerhalb derer das Sujet sich von Bild zu Bild nur wenig verändert, fast wie in einem Film oder in einem Daumenkino, wenngleich immer wieder auch Nachbarschaften entstehen, wo wir uns dem Aufblitzen einer Erkenntnis, einer rätselhaften Frage oder auch des Lachens nicht erwehren können. Es sind die Schichten des Lebens, in denen sich unsereins aufhält, wenn wir in dem Fotoband blättern, als Durchschnittsösterreicher, der es sich in seinem Alltag einrichtet und manches einblendet und vieles ausblendet, und sich überraschen oder auch befremden lässt von dem, was er vergessen hat. Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk hat mit seinem Museum der Unschuld einen Gegenentwurf gemacht zu jenen Museen, die eine Geschichtsepoche oder einen Staat oder ein Volk darstellen und plädiert für ein Museum der individuellen Geschichten derer, die „unschuldig“ sind. Das mit der Unschuld mag man bestreiten und man mag die Tendenz zur Idyllisierung seitens seines Museumsexperiments goutieren oder nicht. Es schließt alles an Katastrophischem, an Schmerz, an Unterdrückung, Missachtung, Rechtlosigkeit usw. aus, indem es sich auf den privatesten aller Schmerzen konzentriert: eine scheiternde Liebe. Sein Satz aus seinem kleinen Museumsmanifest führt uns zurück zum Ewigen Archiv, das fast nichts (Auto)Biografisches und zum Unterschied zum Museum der Unschuld auch nicht individuelle Spuren verfolgt. Pamuk: Ein Museum soll daran gemessen werden, „ob es in seiner Herangehensweise einzelnen Schicksalen gerecht wird oder nicht.“ Nun ist das Projekt von Peter Putz kein Museum, aber in der Art und Weise wie er Menschen fotografiert, wobei er darin sehr zurückhaltend ist und das Recht von jedermann auf das eigene Bild respektiert, gibt es ein Paradox zwischen Sachlichkeit des Abbildens und Empathie der Wahl des Sujets. Das erlaubt ihm, abzubilden, was die Gesellschaft Menschen antut und was Menschen sich und der Gesellschaft antun. 22
Bei Pamuks Museumsprojekt, das ja gleichzeitig mit einem gleichnamigen Roman entstanden ist, wird der Widerspruch zwischen individuellem Sammeln und Anspruch auf öffentliche Wahrnehmung deutlich. Je individueller und eigensinniger ein Sammler ist, desto schwieriger fällt, wenn sie überhaupt beabsichtigt ist, die Transformation in die Öffentlichkeit. Je selbstbezüglicher die Sammlung war, desto schwieriger fällt die „Übersetzung“. Ein Sammler begründet Wahl und Zusammenstellung selbstbezüglich, und es ist die Frage, wie und ob überhaupt eine gesellschaftliche Legitimation gefunden werden kann, die die alte, private Intention nicht zerstört und dennoch öffentlichen Erwartungen und Notwendigkeiten entspricht. Bei Pamuk ist dieses Problem verschärft, denn das Museum bezieht sich auf vertrackte und inspirierende Weise – was ich hier nicht ausführe – auf den Roman, auf die Liebesbeziehung zweier junger Bewohner Istanbuls, also auf Fiktion. Auch bei Peter Putz steht bei einem Teil der Bilder, beileibe nicht bei allen, die individuelle Sicht dem öffentlichen Interesse entgegen. Der Kraftakt, etwas, was notorisch übersehen wird, zu sehen, zu geben, Aufmerksamkeit zu erzeugen, wird wohl nicht immer gelingen. Diese Sprödigkeit steht bedauerlicherweise der Rezeption der Arbeiten von Peter Putz gelegentlich im Weg. „Kunden“, die sich auf die Flucht vor der Auseinandersetzung mit dem Werk begeben, rufen in der Not dann schon mal das Ende der Fotografie aus: „Es ist eh schon alles fotografiert!“ Der private Archivar muss keine Selbstzensur üben und er kann bei einer selbst verantworteten Publikation auf Bilder zurückgreifen, die in offiziöser Hinsicht kaum kommuniziert würden. Beim Blättern im Band geht mir ein ganz anderes Fotobuch durch den Kopf, das eben in diversen Zeitungen rezensiert wird und das ich nur in Ausschnitten kenne. War Porn, von Christoph Bangert, Kriegsfotografien, die keine Zeitung druckt, die kein TV-Sender übernimmt. Man kann nicht so ohne weiteres sagen, dass sie das wahre Bild des Krieges zeigen, aber sie machen das Äußerste an Aggression, das er entfesselt, ansatzweise sichtbar, etwa so wie die entsetzlichen Fotos aus Abu Ghraib, die wir ja nicht alle und nur zensiert, teilweise unkenntlich gemacht, zu sehen bekommen haben. Würde eine ähnliche Radikalität der Fotografie im sozialen Raum ähnliche Effekte haben wie die eben genannten aus dem irakischen Foltergefängnis des US-Militärs? Peter Putz ist fasziniert von Grenzüberschreitungen, und ich glaube, ich vermute, ich ahne nur, auf doppelte Weise. Es ist einerseits das „Seht-Hin!“, das ihn antreibt, und andrerseits eine Art von Austasten der eigenen Grenzen. Wenn man das Ewige Archiv mit seiner älteren Publikation Virtual Triviality vergleicht, fällt auf, um wie viel stärker dort das Verletzen, Zerstören, die Entstellung, der Zusammenprall von Organischem und Technischem, das Töten, die phallische Aggressivität präsent war. Und um wie viel stärker dort durch die – sehr aufwendige, fast einem Künstlerbuch vergleichbare Gestaltung, also eine spröde Ästhetisierung –, das alles gerade noch erträglich machte. Da nützt ihm die Kamera, hinter der er sich schützen könnte, wenig. Auch im Ewigen Archiv gibt es einschlägige Fotos, Schweineschlachten, von Unfällen aufgerissene Autos, Serien von Erbrochenem auf dem Asphalt, das blutige Töten von Fischen auf dem Großmarkt, blutige Handschuhe und Einwegspritzen von Drogensüchtigen, tote Tiere, von Autoreifen aufgequetscht, und, in extremer Nahsicht besonders unappetitlich, folienverpacktes Geflügel, wie es wohl viele von uns ohne Bedenken im Supermarkt kaufen.
Aber er ist milder geworden, mit uns und mit sich, er gönnt uns auch lange Fotostrecken, wo es idyllisch, kurios, schräg, witzig, merkwürdig zugeht. Ein Künstlerfreund bei der vertieften Arbeit, bunte rätselhafte Zeichen, alberne Street-Art, gestapelte Sessel, knallgelbe Postwägelchen, Menschen in karnevalesker Verkleidung, Touristen, Straßenarbeiter, typografische Fundsachen, ein Feuerwehreinsatz, ein Buswartehäuschen aus Waschbeton ... und dann wiederum, unvermittelt ein drohender Einbruch in diesen Alltag, eine Serie von Überwachungskameras. Zu viel Harmlosigkeit lässt er nicht zu, der Archivar. Und ich könnte mir gut vorstellen, dass all dieses Material etwas noch nachdrücklicher leisten könnte, was es ja, wie gesagt, ohnehin in Teilen auch ist. Eine zeitdiagnostische Revue, die sich an den besten Stellen jeder Klischees und Vorformatierung in gängigen und eingängigen Medienformaten entzieht, ganz zu schweigen von all den Sujets, die kaum jemand wahrnimmt oder die der individuellen wie kollektiven Verdrängung unterliegen. Indes steht dies, wenn es je zur Absicht des Autors gehörte, im Widerspruch zum „Weltbauen“. So wie sich Herr Gsellmann bei seiner Weltmaschine, die er irgendwo im steirischen Niemandsland ein halbes Leben lang baute, an allem und jedem bediente, Staubsaugermotoren, Nachttischlämpchen, Fahrradketten, Spielzeugraketen, Plastikblumen, Messingbuchstaben, Hausklingeln, HulaHoop-Reifen einmontierte, so gibt es auch im Ewigen Archiv Alles und Jedes. Vor der Gefahr des „Auseinanderfliegens“ ist die kuriose steirische Weltmaschine durch sinnreiche bewegliche Verbindungen und Transmissionen geschützt. Alles scheint mit allem in Verbindung zu stehen - auch eine Art von Harmonia Mundi. Beim Ewigen Archiv dagegen sehe ich die Gefahr, dass die Teile zu unverbunden bleiben, aber es ist ja auch kaum etwas heil. Mal Polen, mal USA, mal Wien, was nicht alles auftaucht! Mal Fotografien aus einer Erbschaft, mal Schnappschüsse auf Auftrag, mal Trivia, mal Großereignis. „Über das Kotelett in der Pfanne wird an den Schlachthöfen Chicagos entschieden“, so ein Satz Brechts oder ein ganz anderer, modernisierter, muss im Kopf des Archivars geistern. Gibt es ein Zentrum – außer der libidinösen Sammlerenergie, die alles in Gang setzt und hält? Bei der Gsellmannschen Weltmaschine gibt es eine auf Knopfdruck abrufbare Bewegung, zentrifugal, multipel. Eine „arbeitslose“ Maschine, die sich dreht, leuchtet, blinkt und klingelt. Und die nie fertig wurde und – ohne dass das ihr Schöpfer es je hätte ahnen dürfen – nie fertig werden durfte. Dann drohte das Schicksal, das den Sammler trifft, der das letzte, abschließende Stück erwirbt. Das ist die totale Implosion des antreibenden Begehrens. Das darf auch mit dem Archiv nicht passieren – eine Drohung und gleichzeitig eine Hoffnung, der der Archivar (gegen alle Wahrscheinlichkeit) standhält mit dem in 8 Punkt-Schrift fast unlesbar gesetzten Schlusssatz auf dem allerletzten Blatt des Buches: time is on my side.
aus: Peter Putz, Das Ewige Archiv · New Stuff, Wien 2014, Ritter
Tableaux aus: Peter Putz, Virtual Triviality, 1994
G. F., 2014 Gottfried Fliedl, Kunsthistoriker, Germanist und Archäologe. In der Hierarchie seiner unübersichtlichen Interessen steht seit Jahrzehnten das Museum als schwer verständliche und oft auch schwer erträgliche Institution im Zentrum, was seinen Niederschlag in Lehr- und Beratungstätigkeit fand, in praktischer Ausstellungsarbeit, vielen Publikationen, in ungebrochen neugierigen Entdeckungsreisen in die Welt des Museums und der Ausstellungen und hartnäckiger wie hoffnungsloser Museumskritik. So entstand ein dilettierender und stets scheiternder Generalismus aus allem und jedem, den man in akademischer Verschleierung transdisziplinär nennen könnte und den er zuletzt am Landesmuseum Joanneum in Graz (aus dem ohne sein Zutun aber während seiner Anstellung ein Weltmuseum wurde) mit mittlerem Erfolg anzuwenden versuchte. Das alles findet seit einigen Jahren auch in einem museologischen Blog seinen Niederschlag: http://museologien.blogspot.co.at/ 23
Aktivist Archivar Künstler Fotograf Elke Krasny
Mein erster Besuch im Ewigen Archiv fand im Frühling des Jahres 2014 statt. Hätte mich Peter Putz nicht kontaktiert und in sein Atelier eingeladen, dann hätte ich nie Kenntnis von der Existenz des Ewigen Archivs erlangt. Mit den Mitteln der Fotografie unternimmt Putz den Versuch, die Sprengkraft des Gegenwärtigen, die städtischen Veränderungen im Moment ihrer öffentlichen Erscheinung festzuhalten. Die so erzeugten Dokumente finden Eingang in das Ewige Archiv, welches seinen Standort im Atelier des Künstlers in der Mollardgasse im sechsten Wiener Gemeindebezirk hat. Putz verbindet das, was man als Studio Practice1) bezeichnet, seit vielen Jahren mit dem, was man als Post-Studio Practice bezeichnet. Sein Atelier ist Wien, die Stadt, in der er lebt und arbeitet, aber auch eine große Anzahl anderer Orte und Städte, in die ihn seine Lebens- und Arbeitswege geführt haben. Sein Atelier in der Mollardgasse gibt dem Archiv Raum. Die Stadt und ihre öffentlichen Erscheinungsräume sind in diesem Archiv geborgen. Peter Putz agiert als Künstler und als Fotograf. Peter Putz agiert als Archivar und als Aktivist. Das Ergebnis ist das Ewige Archiv. In den Überlegungen dieses Essays werde ich untersuchen, wie diese vier unterschiedlichen Handlungsweisen, die des Künstlers, des Fotografen, des Archivars und des Aktivisten, sich zueinander verhalten. Mein besonderes Interesse gilt dabei der Frage nach den Bedingungen, Möglichkeiten, Grenzen und Konflikten im Agieren, im Handeln. Weiters werde ich die Frage aufwerfen, in welchem Verhältnis dieses selbstgewählte und selbstbestimmte künstlerisch-aktivistische Handeln zu den Ansprüchen der Öffentlichkeit steht. Zunächst werde ich mich mit dem Begriff des Handelns auseinandersetzen. In zeitgenössischen Theoriedebatten – mein Interesse gilt im Speziellen dem feministischen sowie dem kunsttheoretischen Kontext – wird die Frage der agency, die ich mit Handlungsmacht übersetzen möchte, intensiv diskutiert. In dem Buch Why Stories Matter. The Political Grammar of Feminist Theory widmet Claire Hemmings einen eigenen Abschnitt der Frage der Handlungsmacht, der agency. Sie weist darauf hin, dass Unabhängigkeit, Autonomie, Freiheit und Selbstbestimmung als bestimmende Faktoren einer westlichen Konstruktion von Handlungsmacht aufgefasst werden. (Hemmings 2011: 205) Wie die Autorin ausführt, richtet sich eine marxistische Kritik, wie die von Kalpana Wilson, an einer subjektzentrierten Handlungsmacht darauf, dass diese das Individuum über das Kollektiv stellt und zur Kapitalakkumulation anderer beiträgt. Aus einer machttheoretischen Perspektive kritisierte, wie Hemmings darlegt, Judith Butler das Konzept der Handlungsmacht, da dieses die Macht, die die Handlungen immer schon, ohne dass das Subjekt sich dafür entschieden hat, (mit) bestimmt, außer acht lässt. Mein Interesse am künstlerischen und aktivistischen Handeln gilt einer Handlung(smacht), die sich dieser Fallen bewusst ist und im Gestus des reflektierten Trotzdem weiterhin agiert. Ich verstehe Agieren folglich nicht in Unabhängigkeit von materiellen Bedingungen und Möglichkeiten, nicht in Unabhängigkeit von anderen handelnden Subjekten und nicht in Unabhängigkeit von Fragen der Macht. Handeln, wie ich es begreife, bedeutet Agieren mit und durch Ko-Existenz, Ko-Dependenz und Ko-Implikation. Ich verwende die beiden Begriffe Handeln und Agieren als austauschbar und habe das Agieren ebenfalls eingeführt, weil es, vermittelt über die lateinische Wurzel des Wortes agere, im Deutschen nochmals eine Nähe zum englischen Begriff der agency aufbaut. 24
Ich werde nun das Agieren des Künstlers, des Fotografen, des Archivars und des Aktivisten mit meiner Bestimmung des Handelns, das sich durch Ko-Existenz, Ko-Dependenz und Ko-Implikation auszeichnet, zusammenführen. Zwei der Positionen lassen sich aktiv als Handeln ausdrücken: fotografieren und archivieren. Zwei der Positionen hingegen benötigen ein sogenanntes Hilfszeitwort, das Wort Sein, Künstler-Sein und Aktivist-Sein, um als Agieren ausgedrückt zu werden. Weder gibt es das Zeitwort zu „künstlern“ noch gibt es das Zeitwort zu „aktivisten“. Beide, Künstler und Aktivist, brauchen daher, und ich betrachte dies von der wörtlichen sprachlichen Hilfskonstruktion ausgehend im übertragenen Sinn der materiellen, ästhetischen, bedeutungsproduzierenden, politischen Implikationen, Hilfe. Sie bedürfen der Unterstützung. Künstler-Sein und Aktivist-Sein hängt folglich ab von diesem spezifischen wörtlichen Verhältnis zum Sein. Es mangelt am Zeitwort, das alleine die Handlungen ausdrücken könnte, die der Künstler oder der Aktivist hervorbringt. Die Sprache liefert die Einsicht in diesen Umstand. Ich verwende das poststrukturalistische Wissen und den linguistic Turn nicht, um diesen dekonstruktivistisch mit den Mitteln der Sprache zu verfolgen, sondern vielmehr verwende ich dieses Wissen für eine materialistische Lesart in einer sozialen und politischen Ökonomie und für eine kritische Analyse der Verhältnisse zwischen der individuellen Produktion, der kollektiven Involviertheit, der individuellen Seins-Investition, den öffentlichen Ansprüchen und den institutionellen Zusammenhängen. Das Wissen aus der Sprache zeigt auf die Politik, die Ökonomie, die Ontologie, die alle gleichermaßen durch das Hilfszeitwort Sein mitbenannt sind. Von der Unterstützung, der Hilfe, des Hilfszeitworts Sein sind der Künstler und der Aktivist abhängig. Dieses Hilfszeitwort Sein führt uns zurück zur Ko-Existenz, zu dem, was gleichzeitig ist, zur Ko-Dependenz, zu dem, wovon es gleichermaßen ein Abhängigkeitsverhältnis gibt, und zur Ko-Implikation, zu dem, wovon die Positionen gleichermaßen erfasst sind. Ich werde mich nun im folgenden den Positionen (und Mythen) von Künstler und Aktivist zuwenden. Position (und Mythos) des Künstlers2) wurde historisch auf komplexe und komplizierte Weise mit Autonomie verbunden. In seinem Buch Anywhere or Not at all. Philosophy of Contemporary Art analysiert Peter Osborne den Begriff der Autonomie aus verschiedenen Perspektiven. Ich greife hier die Beziehung zwischen Autonomie und Ware heraus, um zu unterstreichen, dass die materielle Abhängigkeit (nicht die Unabhängigkeit von materieller Abhängigkeit, der Unterschied ist entscheidend) die Autonomie der Kunst (und der Position des autonom agierenden Künstlers) gleichermaßen ermöglicht und einfordert. Die Warenförmigkeit der Kunst ist die Ermöglichung ihrer Autonomie. “Autonomous art has always been for sale, as a commodity in the market. (Historically, the market is the social basis of art‘s autonomy from its previous social functions.) Autonomous works of art are thus always also commodities – (…). Autonomy is never a given. In so far as it exists it is the individual achievement of each work: the victory of technique (the principle of internal organization) over social conditions. Autonomy is the achievement, in each instance, of the production of a law of form.” (Osborne 2013: 166) Im Gegensatz zu dieser westlichen Konstruktion von Position und Mythos des Künstlers, der Kunstschaffen und Autonomie verbindet und im Kunstschaffen autonom bleibt und die Autonomie in der Kunst ausdrückt,
gibt die Sprache den Hinweis darauf, dass es sich beim Künstler-Sein um eine Position handelt, die auf der Zurverfügungstellung von Hilfe beruht. Die Autonomie ist folglich hilfsbedürftig. Dass die deutsche Sprache (für das Englische gilt dasselbe) kein eigenes Zeitwort ausgebildet hat, das aktiv zum Ausdruck bringt, was Künstler tun, was künstlerisches Agieren ist, verweist in meiner Lesart darauf, dass materielle und institutionelle Bedingungen für das Agierenkönnen als Ermöglichung hergestellt werden müssen, um diese (mythische) Konstruktion von Künstler und Autonomie zu produzieren und aufrechtzuerhalten. Das Hilfszeitwort Sein gibt den Hinweis darauf, dass Künstler-Sein existiert in Ko-Dependenzen und Ko-Implikationen, in Abhängigkeit von den Bedingungen und Möglichkeiten, die ein künstlerisches Werk ermöglichen und bedingen, und in Bezugnahme auf die (affirmierende, kritische, reflektierende, negierende, ignorierende) Artikulation dieser Implikationen, die das Werk ermöglichen und bedingen. Position (und Mythos) der Aktivist_In3) sind in ähnlicher Weise, wie die des Künstlers, in ihrem Verhältnis zu Autonomie zu problematisieren. Kämpfe um die Durchsetzung von (Wahl)Rechten, wie von den Suffragetten, um territoriale Selbstbestimmung, wie in den kolonialen Unabhängigkeitskriegen, oder um sexuelle Selbstbestimmung, wie von LGBT Organisationen, gehen von einem Subjektbegriff der Aktivist_In aus, die sich mit anderen Aktivist_Innen organisiert, politisch formiert und kollektiv agiert.4) Die geführten Kämpfe um Un-Abhängigkeit sind abhängig von den historischen Bedingungen, die sie zu überschreiten suchen. Sie sind abhängig von den materiellen, intellektuellen, emotionalen, ökonomischen Ressourcen, über die sie verfügen, die zu mobilisieren sie imstande sind. Wieder ist es die Ko-Existenz (die im Kollektiv organisierten aktivistischen Subjekte), die Ko-Dependenz (die Abhängigkeit in den Bedingungen, die überschritten und transformiert werden sollen), die Ko-Implikation (die Bedeutungen, die Existenzen und Abhängigkeiten zueinander konstituieren und mobilisieren), die ich für meine Lesart in den Vordergrund rücke. Der Künstler und die Aktivist_In haben ihre Positionen zu unterschiedlichen Zeiten miteinander verbunden und als Künstler-Aktivist_In5) agiert. Bevor ich mich nun den Positionen von Archivar und Aktivist zuwenden werde, möchte ich nochmals zusammenfassend betonen, dass der Kampf um die Autonomie, der durch die Positionen von Künstler und Aktivist_In und ihren jeweiligen Arbeiten (Kunstwerk, Kunstprozess, politische Selbstorganisation und Durchsetzung von Rechten, Zugang zu Ressourcen, Umverteilung etc.) ausgetragen wird, folgt man der Logik der Sprache, des Hilfszeitworts Sein bedarf. Autonomie bedarf der Hilfe, ist auf Unterstützung angewiesen, hängt von dieser ab. Der Kampf um die Autonomie braucht die Hilfe von Subjekten, wie Künstler oder Aktivist_innen, welche ihr Sein in diesen Kampf investieren. Um dieses Sein investieren zu können, bedürfen sie der Hilfe im materiellen wie immateriellen Sinne. Dies führt den Kampf um die Autonomie und die Investition in das Künstler-/Aktivist_in-Sein zurück in die Zyklen von Ko-Existenz, Ko-Dependenz und Ko-Implikation. Dem Fotografen und dem Archivar sind eigene Zeitworte zugeordnet. Er fotografiert. Er archiviert. Diese Handlungen kommen ohne Hilfszeitworte aus. Sie bedürfen der Hilfe nicht. Im Gegenteil, sie helfen. Die Handlungen dienen der Fotografie oder dem Archiv.
Historisch waren Fotografen nicht als autonome Künstler positioniert, ihre Profession war ein Gewerbe. Sie handelten im Auftrag anderer, für die Aufträge anderer. Sie handelten im Dienst anderer. Die Mittel des Fotografierens wurden in vielen verschiedenen Bereichen eingesetzt. Von der Polizei bis zur Archäologie, vom Journalismus bis zur Rechtssprechung, von der Anthropologie bis zur Architektur, vom Militär bis zum Städtebau wird das Fotografieren benötigt. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts als eigenständige Form innerhalb der bildenden Kunst anerkannt und den verschiedenen Technologieschüben folgend als Massenmedium der AmateurInnen etabliert, hat das Fotografieren eine ambivalente Position im Wissen, im Nützlichen, im Glaubwürdigen. Der Fotograf braucht das Hilfszeitwort Sein nicht. Sein Handeln kommt ohne Sein aus. Er fotografiert. Das Fotografieren steht im Dienst dessen, was sich auf den Fotografien zur Erscheinung bringt. Das, was sich zur Erscheinung gebracht hat, ist fotografisch festgehalten. Als Dokument, als Zeugnis, findet die Fotografie Eingang ins Archiv. Sie dient als Beleg dessen, was ist, als Zeugin der Ereignisse. Im Archiv werden die dort gesammelten und aufbewahrten Dokumente geordnet, erschlossen und zugänglich gemacht. Das Archiv ist eine öffentliche Einrichtung, die die Akten verwaltet. Archivieren umfasst alle Handlungen, die der Bewahrung, Erhaltung und Ordnung des Archivierten dienen. Durch die Akten erschließt sich der Zugang zur Geschichte. Die Lage der Akten ist eine geschichtspolitische Frage. Der Archivar braucht das Hilfszeitwort Sein nicht. Sein Handeln kommt ohne Sein aus. Er archiviert. In der Praxis von Peter Putz verbinden sich die von mir dargestellten Handlungsweisen. Putz agiert durch das Archivieren und das Fotografieren in Verbindung mit dem Künstler-Sein und dem AktivistSein. Er stellt seine Kunst und seinen Aktivismus als Position der Autonomie in den Dienst des Archivierens6), welches er mit den Mitteln der Fotografie unablässig und unterschiedslos betreibt. Da er als Künstler die Entscheidung getroffen hat, der Stadt ein Archiv zu erzeugen, zeigt sich in diesem immer weiter wachsenden Archiv die Entschlossenheit, mit der Putz die Konsequenzen dieser Entscheidung trägt und mit den Mitteln der Fotografie und dem Einsatz von Aktivismus als Archiv-Künstler lebt. Der Aktivismus hilft dem Archiv. Die Fotografie hilft der Kunst. Ersetze ich das Hilfszeitwort Sein, das der Künstler und der Aktivist brauchen, um ihr Agieren als Tätigkeit ausdrücken zu können, im Fall von Peter Putz durch die Tätigkeiten des Archivierens und des Fotografierens, so sehen wir, wie das den Künstler-Archivar und den Fotografen-Aktivist ergibt oder den Künstler-Fotografen und den Archivar-Aktivisten. Die Positionen ko-existieren, sind von einander ko-dependent und ko-implizieren einander. Wie diese Positionen sich zueinander verhalten in Hinblick auf Hilfe und Autonomie und welche Konflikte, sowohl theoretisch wie praktisch daraus resultieren, habe ich gezeigt. Peter Putz handelt im eigenen Auftrag. Als Künstler setzt er auf die Autonomie. Der Auftrag, den er sich gestellt hat, ist unbewältigbar, unabschließbar, immer größer als die Möglichkeiten, die dem Fotografen und dem Archivar zur Verfügung stehen. Die Stadt zu erfassen, in ihren Mikrotransformationen und ihren Makrotransformationen, ihren Situationen, Momenten, Langfristigkeiten, politischen Manifestationen, übersteigt die Möglichkeiten eines Einzelnen. Als Aktivist stellt er sich dieser permanenten Herausforderung und Überschreitung seiner Möglichkeiten. Wird der Markt im 18. Jahrhundert 25
zu jenem Mechanismus, der die Grundlage für die Autonomie der Kunst ermöglicht, so muss der Markt diese Möglichkeiten bieten und tragen. Trifft ein Künstler für seine Praxis, wie im Falle von Peter Putz, die Entscheidung, die Autonomie, die der Markt ermöglicht, durch die Autonomie, die der Aktivismus in kritischer Distanz zum Markt postuliert, zu ersetzen, so ist der Preis, um in der Sprache des Marktes und der Kunst als System von Anerkennung und Auszeichnungen zu argumentieren, der dafür bezahlt werden muss, hoch. Der Preis ist das Leben, das sich in das Ewige Archiv als unabschließbares Projekt investiert. Für das abschließende Argument und das finale Plädoyer dieses Essays kehre ich zur Situation zurück, die ich eingangs beschrieben habe. Peter Putz hat mich eingeladen, das Ewige Archiv in seinem Atelier zu besuchen. Hätte er mich nicht persönlich angesprochen, hätte ich von der Existenz des Ewigen Archivs nie erfahren. Es gibt kein öffentliches Wissen um die Existenz dieses Archivs. Ich habe mich bis jetzt den inhärenten Konflikten und Potenzialen, die aus allen denkbaren Verbindungen zwischen Künstler-Archivar und Fotografen-Aktivist resultieren, gewidmet und diese analytisch aufgezeigt und kritisch beleuchtet. Diese vier Positionen des Agierens bilden jedoch kein in sich geschlossenes System, in dem sie nur voneinander abhängen. Vielmehr ist allen vier gemeinsam, dass sie einen Anspruch stellen: den Anspruch auf Öffentlichkeit. Entsteht die Öffentlichkeit in dem Raum und durch den Raum, in dem sie sich zur Erscheinung bringt, und ich folge hier Hannah Arendts Begriff des Erscheinungsraums, wie er von Judith Butler kritisch weiter entwickelt wurde (Butler 2012: 117 und 118), dann braucht dieser Erscheinungsraum auch bleibende visuelle Dokumentationen, um ein langfristiges Erinnern an seine Existenz zu ermöglichen. In ihrem 2012 erschienenen Essay Bodies in Alliance and the Politics of the Street stellt Judith Butler einen Zusammenhang her zwischen der politischen Theorie Hannah Arendts, die die Idee des Erscheinungsraums, der die Öffentlichkeit konstituiert, entwickelt hat, und dem physisch notwendigen Raum, der dieses Erscheinen materiell trägt und ermöglicht. Butler schreibt: “Human action depends upon all sorts of supports – it is always supported action.” (Butler 2012: 118). Der öffentliche Erscheinungsraum der Stadt ist die Voraussetzung für die Praxis von Peter Putz, zugleich bringt Putz diesen Raum in seinen fotografischen Dokumenten zur Erscheinung. Er hält diesen fest in seinem momenthaften Erscheinen, macht ihn archivierbar und dadurch (öffentlich) zugänglich. Ich habe das Öffentlich im vorangegangenen Satz eingeklammert, um auf die Potenzialität der öffentlichen Zugänglichkeit zu verweisen, die jedoch (noch) keine Realität ist, da zwar jedes Archiv dem Anspruch nach öffentlich ist, das Ewige Archiv als Kunstprojekt eines Individuums jedoch diesem Anspruch nicht gerecht werden kann. Daher braucht das Ewige Archiv Unterstützung. Jedes Dokument des Ewigen Archivs, jede Fotografie, die in das Archiv Eingang gefunden hat, vermag Einsichten zu vermitteln in die städtische Öffentlichkeit und den Erscheinungsraum, den die Öffentlichkeit produziert. Die Archivalien des Ewigen Archivs, die Fotografien, bringen Stadtgeschichte zur Erscheinung. Sie sind ein Teil des kollektiven Gedächtnisses von Stadt, das durch ein individuelles künstlerisch-aktivistisches Projekt getragen wird. Im Ewigen Archiv befindet sich eine Fülle von visuellen Dokumenten, die für HistorikerInnen, StadtforscherInnen, EthnologInnen, AnthropologInnen, ArchitekturhistorikerInnen, Kultur26
theoretikerInnen und StadtbewohnerInnen von Relevanz sind. Die Fotografien des Ewigen Archivs sind sich nicht selbst genug. Sie sind unabgeschlossen, sie benötigen und ermöglichen die weiterführende Bearbeitung, Erschließung, Erforschung. In Hinblick auf sein Archiv-Sein – und ich verwende hier nochmals das Hilfszeitwort Sein, um auf Judith Butler zu rekurrieren und auf den sozialen wie politisch relevanten Umstand, dass jede menschliche Handlung der Unterstützung bedarf, also auf Hilfe angewiesen ist, dann hat das Ewige Archiv nun einen kritischen Zeitpunkt erreicht, zu dem es der öffentlichen Unterstützung bedarf, um seine Ansprüche an die Öffentlichkeit in einem anderen Erscheinungsraum zur Wirkung bringen zu können. Zugleich sind Institutionen und die BenützerInnen von Institutionen darauf angewiesen, dass es Projekte wie das Ewige Archiv gibt, die sich ebenso leidenschaftlich wie andauernd den Erscheinungsräumen der Öffentlichkeit widmen, da die Institutionen, wie Archive, Bibliotheken oder Museen, in Zeiten der Austerität, der Sparmaßnahmen, diesem öffentlichen Anspruch der Dokumentation der Gegenwartsgeschichte der Stadt nicht mehr umfassend Rechnung zu tragen imstande sind. Die BenützerInnen von Institutionen können sich nicht mehr darauf verlassen, in den genannten Institutionen die öffentlichen Erscheinungsräume der Geschichte der Gegenwart auffinden zu können. Meine Argumentation zielt nicht darauf ab, dass das Atelier Peter Putz in der Mollardgasse nicht mehr der Ort sein soll, an dem jemand wie ich das Ewige Archiv entdecken kann. Meine Argumentation verfolgt eine Doppelstrategie: als künstlerisch-aktivistisches Projekt wird das Ewige Archiv vom Atelier Peter Putz getragen. Als Projekt von öffentlichem Anliegen und öffentlichem Interesse braucht das Ewige Archiv eine Institution, in dem die Einsicht in das Ewige Archiv und dessen Erforschung für viele möglich werden. Diese öffentliche Version des Ewigen Archivs benötigt ein neues Sein, einen Erscheinungsraum, in dem es den gespeicherten öffentlichen Erscheinungsraum zeigen kann. Ein Archiv, wie das Stadtarchiv, eine Bibliothek, wie die Wienbibliothek, ein Archiv, wie das Bildarchiv der Nationalbibliothek oder ein Museum, wie das Wien Museum, wären ein geeigneter öffentlicher Erscheinungsraum für das Ewige Archiv.
aus: Peter Putz, Das Ewige Archiv · New Stuff, Wien 2014, Ritter
1) In dem im Rahmen der von der Whitechapel Gallery herausgegebenen Reihe Documents of Contemporary Art stellt der von Jens Hoffmann herausgegebene Band The Studio eine Reihe von Texten zu Studio-Practice und Post-Studio Practice vor. Wiewohl sich das Atelier als der Arbeitsort von KünstlerInnen seit den 1960er Jahren entscheidend verändert hat, ist das Atelier weder obsolet noch bedeutungslos geworden. Orte und Arbeitsweisen, die außerhalb des Ateliers im engeren Sinn liegen, haben sich vervielfacht und wurden Teil von konzeptuellen, postkonzeptuellen, politisch involvierten, sozial engagierten, relationalen, performativen, dokumentarischen und anderen künstlerischen Praxen.
begreift und einen Aktivismus des individuellen Handelns, der sich kollektiven und öffentlichen Erscheinungsformen widmet, praktiziert.
2) Die männliche Form ist mit Absicht gewählt, um der historischen Konstruiertheit von Position und Mythos Rechnung zu tragen, die mit den westlichen bürgerlichen Revolutionen im 18. Jahrhundert begonnen hat.
6) Im Unterschied zu anderen künstlerischen Positionen wie der von Dayanita Singh oder Rosangela Renno, die mit der Befragung, Appropriation oder Rezitierung von Archivmaterialien arbeiten, arbeitet Putz wie ein Archivar, der Dokumente erzeugt, wie sie in ein Archiv Eingang finden können.
3) Die Schreibweise, die die männliche, die transgender und die weibliche Form durch das Binnen I und den Unterstrich visuell in der geschriebenen Sprache ausdrückt, wurde mit Absicht gewählt, um der historischen Entwicklung von Aktivismus aus der Position von Kämpfen um die Durchsetzung von Rechten von unterschiedlichen Subjektpositionen Rechnung zu tragen.
Literatur: Judith Butler, Bodies in Alliance and the Politics of the Street, in: Sensible Politics. The Visual Culture of Nongovernmental Activism, eds. Meg McLagan and Yates McKee (New York: Zone Books 2012) Claire Hemmings, Why Stories Matter. The Political Grammar of Feminist Theory (Durham and London: Duke University Press 2011) Peter Osborne, Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art (London: Verso 2013)
Foto: © Alexander Schuh
4) Eine Reihe von Fotografien im Ewigen Archiv dokumentieren die Ereignisse des Widerstands gegen die Regierungskoalition von ÖVP und FPÖ im Jahr 2000. Die Widerstandsbewegung um die Botschaft der besorgten BürgerInnen am Rande des Heldenplatzes wurde von Peter Putz fotografisch festgehalten. In diesem Fall war er als Aktivist, der fotografiert, Teil einer kollektiven selbstorganisierten Widerstandsbewegung. Sein Aktivismus ist jedoch einer, der sich auch außerhalb kollektiv organisierter Zusammenhänge als solcher
5) Aus den vielen möglichen Beispielen der Geschichte der bildenden Kunst greife ich die folgenden heraus: Eugène Delacroix (Französische Revolution), Suzanne Lacy (Second Wave Feminism), Chto Delat (Post-1989, Verbindung von Theorie, Kunst und Aktivismus). Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sie durch eine kunsthistorische, kuratorische, sammelnde und institutionengeschichtliche (Ausstellungen, Biennalen, Triennalen, Museen) Praxis zu ihrer öffentlichen Erscheinung gebracht werden.
E. K., 2014 Elke Krasny ist Kuratorin, Kulturtheoretikerin, Stadtforscherin und Schriftstellerin. Sie ist Professorin an der Akademie der bildenden Künste Wien und im Jahr 2014 Gastprofessorin an der Technischen Universität Wien. Ihre theoretische und kuratorische Arbeit ist tief verwurzelt in sozial engagierter Arbeit und raumbezogenen Praktiken, urbaner Erkenntnislehre, postkolonialer Theorie und feministischer Geschichtsschreibung. In ihrer konzeptuell bestimmten und forschungsbasierten kuratorischen Arbeit arbeitet sie an den Schnittstellen von Kunst, Architektur, Bildung, Feminismus, Landschaft, raumbezogener Politik und Urbanismus. Sie ist bestrebt, zu Innovation und Debatten in den erwähnten Gebieten beizutragen durch die Formung von Allianzen zwischen Forschung, Lehre, kuratorischer Tätigkeit und schriftstellerischer Arbeit. www.elkekrasny.at 27
Wien Museum
Wien | A · 2009 – 2012
2009 – 2012 · Wien Museum
Wien | A · 2007 – 2009
2007 – 2009 · Ausstellungseröffnung Wien Museum 28
Wien | A · 2009 – 2010
2009 – 2010 · Installation der Arbeit von Werner Feiersinger
Wien | A · 2010 – 2012
2010 – 2012 · Graffiti am Wien Museum 29
Wien | A · 2007 – 2012
2007 – 2012 · Ausstellungseröffnungen im Wien Museum (uva: Anna Auer, Elfriede Mayröcker . . . )
Wien | A · 2007 – 2011
2007 – 2011 · Didi Sattmann, Fotograf des Wien Museums 30
Wien | A 路 2010
2010 路 Catering Wien Museum
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Prater (Beispiele)
Wien | AT 路 1973
Wien | 1973 路 Prater: Kettensprenger Charles de Kieswart (rechts)
Wien | AT 路 1973
Wien | 1973 路 Prater 32
Wien | A · 2007 – 2011
Wien | 2007 – 2011 · Prater: Republik Kugelmugel
Wien | A, 2010
Wien | 2010 · Prater 33
Wien | AT 路 2008
Wien | 2008 路 Neugestaltung Prater-Vorplatz
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Böhmischer Prater (Beispiele)
Wien | A · 1973
Wien | 1974 · Böhmischer Prater; Barytabzüge einzelner Aufnahmen im Besitz des Wien Museums
Wien | AT · 2010
Wien | 2010 · Böhmischer Prater am Ort der Aufnahmen von 1974 35
MI & (lano) = MI & (stelbach). Friedrich Achleitner (2012) Soweit noch nicht in der Globalisierung der Autokennzeichnung abstrakte Ziffern- und Buchstabensysteme praktiziert werden, kommen sich Städte und Regionen, die nichts miteinander zu tun haben, oft zum Verwechseln nahe. Aber das ist nicht das Thema. Die elektonische Wahrnehmung ist schon lange nicht mehr vom Auge des Polizisten abhängig, und so kann man nicht mehr Milano mit Mistelbach verwechseln. An die Wunschkennzeichen, eine austrakische Spezialität (?), hat man sich gewöhnt. Als sie im Stadtbild auftauchten, brachten sie etwas Erfrischendes in den Zeichenmüll der verwalteten und umworbenen Welt. Zum „verbuchstabierten Netz“ der Länder, Regionen und Städte kam etwas Neues hinzu, sozusagen eine private, ja intime Ebene. Der Eitelkeit der Schlittenkapitäne waren keine Grenzen mehr gesetzt. besonders beliebt hinter Kose- und Spitznamen war die Nummer 1. „LAUSI 1“ konnte nur aus Klagenfurt stammen. Da war gleich der Klausi mit im Spiel. Wer ihn kannte war gerührt, freute oder ärgerte sich. „GAGGI 1“ war wiederum für eine besondere Art der Fantasie gedacht. Manches stürzte in Tautologisches ab: „FIRST 1“, na ja, ein Zimmermann wirds schon nicht sein. Es outeten sich auch Selbstironiker: „NARR 1“, „WEDL 1“, „ASS 1“, „PROF 1“ (gnadenlos). Eine höhere Stufe (in Nähe der „konkreten poesie“) erreichten zweideutige Verbindungen mit den Kennbuchstaben der Städte, etwa „W & EDEL“. Da führte in der Kombination das Wunschdenken direkt in die harte Wirklichkeit über. Es gibt auch intelligente Konstellationen: „REIF 1“ = Reifenhändler mit Matura. Hat ein „JANDL 5“ noch etwas mit Literatur zu tun? Man muss nicht erwähnen, dass es sich überwiegend um Männer handelt: Eitelkeit ohne Humor: Oder noch ärger, Eitelkeit mit Humor (unfreiwilliger mit eingeschlossen). Eine Tafel mit „WIEN 1“ mit einem MU voraus, voll ausgeschrieben „MU & WIEN 1“, kann nur von einem Mann sein. Bei Angebereien wie „K & HAPPY 4 „ überrascht nicht die Herkunft. Nach „MUT 1“, „FESCH 1“, „ART 1“, „Jus 1“ muss mann gestehen, dass „DUDI 1“, „PIMPI 1“, „HASI 1“, „SPATZ 1“, „TUTI 1“, „KUKI 1“ oder „BUBI 1“ rührende Sympathie verdienen. Ich habe die Beispiele einer Montage von Peter Putz entnommen. Die Welt der Wunschkennzeichen führt natürlich in ein viel größeres Reich freudianischer Hochleistungen und Ausrutscher. Neben der grafischen Ebene mit Buchstaben- und Zahlenkombinationen (W 11111) erschließt sich geradezu ein semantischer Kosmos. Neben einer Ethnographie und Soziologie des globalen Fuhrparks, schmuggeln sich Ebenen der Selbstdarstellung und Inszenierung von Befindlichkeiten in einen Verwaltungsmechnismus ein, der seinesgleichen sucht. Das Paradoxe daran ist, dass die scheinbare Notwendigkeit der Nummerierung des Menschen sich in ein Spielfeld der Lust der öffentlichen Selbstbespiegelung verwandelt, das gnadenlos alle Höhen und Tiefen menschlicher Fantasie ausstellt. Und das auf eigene Kosten.
aus: Peter Putz, Das Ewige Archiv · Heavy Duty XS, Wien 2012, Ritter 36
Tableau für Friedrich Achleitner zum 80. Geburtstag. 2010 (Detail) Tableau for Friedrich Achleitner‘s 80th birthday. 2010 (detail)
Prof. Friedrich Achleitner, geboren 1930 in Schalchen, Oberösterreich, Mitglied der Wiener Gruppe, zahlreiche Auszeichnungen. Bis 1998 Professor an der Universität für angewandte Kunst Wien. Als Literat ein Hauptvertreter des modernen Dialektgedichts und der Konkreten Poesie, (u.a. quadratroman) als Essayist ein bedeutender Kritiker und Chronist der modernen Architektur. (Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert)
Wunschkennzeichen „Wien“
AT · 2001 – 2014
(Wunsch)Kennzeichen DIY 37
Das Archiv der Fotografie Timm Starl Das Archivalische ist ein konstitutionelles Element des Fotografischen. Man möchte sagen: Die Fotografie kann nicht anders, als im Augenblick der Aufnahme alle sichtbaren Erscheinungen aufzuzeichnen, die sich vor dem Objektiv befinden. Wobei vollkommen unerheblich bleibt, welches Motiv von den Fotografen und Fotografinnen jeweils gewählt worden ist. Auch was sie gar nicht wahrgenommen haben, geht gewissermaßen zufällig ins Bild ein. Dieses Nebeneinander wird jedoch beim Betrachten nicht als chaotisch aufgefasst, auch wenn es gelegentlich surreale Züge aufweist, sondern als adäquater Ausdruck eines bestimmten Augenblicks verstanden. Schließlich verdankt es sich der höheren Ordnung einer chemisch-physikalischen Reaktion im Moment der Belichtung. Zudem gehört es zu den Fähigkeiten der Betrachter von Fotografien, alle Abstraktionen – Verkleinerung, Verflachung, Verzerrung – zu missachten und sich trotz der Verfremdungen eine Vorstellung des Realen zu machen. Einmal davon abgesehen, dass die Summe der Gegenstände, die sich im realen Blickfeld befinden, generell nicht als Chaos wahrgenommen werden. Bevor nämlich das Erkennen eintritt, muss der menschliche Blick manches übersehen, weil die Vielzahl der Details das Auffassungsvermögen übersteigt. Er extrahiert und rekonstruiert, bevor das Erkennen eintritt, wobei die Folie der Erinnerungen als Filter dient. Doch kennt die Fotografie nicht nur das Archivalische im Bild, sondern ihre Produkte eignen sich auch als Bilder vorzüglich zur Darstellung von gleichartigen Gegebenheiten und aufeinanderfolgenden Entwicklungen. Nun sind es nicht mehr die Benutzer der fotografischen Apparatur, die etwas bildlich festhalten, sondern Wissenschaftler, Künstler und Archivare, die Fotografien mit bestimmten Inhalten oder Ausdrucksweisen sammeln und einem Archiv einverleiben. Mit dem Thema und den Absichten sind Kategorien vorgegeben, die jedem Bild einen Rang verleihen: nach Inhalt, Herkunft, Alter, Größe, Präsentationsform des Bildgegenstandes und des Bildträgers. Dieses System verdeckt die in einer Hinsicht chaotischen Züge des Archivs: Denn nun sind Bilder und ihre Objekte, die aus unterschiedlichen Zeiten und Orten stammen und andersartigen Gebrauchsweisen dienten, in einen neuen Zusammenhang gestellt und angesichts ihrer ehemaligen Funktion enthistorisiert. Das einzelne Lichtbild, das sich auf einen gewesenen Augenblick beruft, ist in einen Raum getreten, der auf Dauer angelegt ist. Es begibt sich aus den Bedingtheiten einer bestimmten Gegenwart in jenen unumstößlichen einer Sammlung und wird damit einer Geschichte ausgeliefert, die erst noch zu formulieren ist. Archive versammeln Objekte und Bilder (von Objekten), um diese zu bewahren, zur Schau zu stellen, mit ihnen zu forschen, sie als Vorlagen zu verwenden und für Argumente einzusetzen und vereinzelt, um das Archivalische an sich zu reflektieren. Unabhängig vom jeweiligen Zweck sind es durchwegs gestaltende Maßnahmen, denen das Material ausgesetzt wird. Ob ein Bild Eingang in ein Archiv findet, folgt einem Akt der Auswahl, was bedeutet, dass andere Bilder unberücksichtigt bleiben. Nachdem jedes fotografische Bild auf etwas weist, das vergangen und nicht anwesend ist (den früheren Gebrauch, den ehemaligen Augenblick) und einem kompositorischen Kalkül entspringt (Ausschnitt, Einstellung, Ausarbeitung), eignet es sich gleichermaßen für historische wie für künstlerische Entwürfe. Mit der Fotografie als Archiv lassen sich Spuren sichern, Ereignisse verdeutlichen, Progressionen nachvollziehen, 38
Parallelen aufdecken, Ähnlichkeiten nachweisen, Absurditäten herausstellen, Besonderheiten betonen – und ebenso Vorbilder übernehmen, Verfremdungen mittels Überarbeitung vornehmen, fiktive Zusammenhänge herstellen. Bereits die Pioniere erkannten das archivalische Potential des neuen Mediums. Louis Jacques Mandé Daguerre platzierte 1839 versteinerte Muscheln und Schnecken auf einem Regal, um sie in einer Daguerreotypie festzuhalten. William Henry Fox Talbot nahm zwischen 1839 und 1844 mehrfach Teile seiner Bibliothek auf. Dabei operierten die Protagonisten nach dem jeweils technischen Vermögen ihrer Verfahren: Die Daguerreotypie lieferte ausschließlich Unikate, und ihr Erfinder stellte archäologische Einzelstücke zur Schau. Talbot erfand das Negativ/Positiv-Verfahren und eröffnete den Weg zum massenmedialen Einsatz – die fotografierten Bücher stehen auch für den Verweis auf die Reproduktionsmöglichkeit der Drucktechnik. Es waren im Übrigen die ersten fotografischen Wiedergaben eines Archivs. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde es üblich, Kunstsammlungen fotografisch zu dokumentieren, und wenn ein Werk nicht transportabel war, stellte man gelegentlich dessen Reproduktion aus. In Fotoateliers entstanden außerdem Ansichten von posierenden nackten Modellen, die von Künstlern erworben und in ihr Archiv einverleibt wurden, um diesem bei Bedarf Vorlagen für gemalte oder gezeichnete Arbeiten entnehmen zu können. Der Dresdner Fotograf und Fotolehrer Hermann Krone fertigte ab den 1870er/80er Jahren von allen gängigen Verfahren seit der Frühzeit des Mediums Muster oder besorgte sich welche und schöpfte aus diesem Fundus die Abzüge zu einem „Historischen Lehrmuseum für Photographie“, mit dem er seinen Unterricht gestaltete und das er 1893 öffentlich machte. Der Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Aby Warburg entwarf in den 1920er Jahren die Tafeln für seinen Bilderatlas „Mnemosyne“ gleichfalls als Mittel der Demonstration auf Vorträgen und Ausstellungen. Doch anders als Krone, der noch dem materialistischen Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts anhing, argumentierte Warburg ikonologisch, um die Darstellungen der Antike in der Kunst der Renaissance wiederzufinden, und begnügte sich nicht allein mit fotografischen Wiedergaben aus dem Bereich der Kunstproduktion, sondern ebenso der Massenkultur. Insofern stellte er mit einem solchem Vorgehen auch die gängigen Konventionen der Kunstgeschichte in Frage. Abgesehen von der Erweiterung des Spektrums an Bildgegenständen sowie der Techniken der Aufzeichnung und Speicherung fand das 20. Jahrhundert neue Methoden des Umgangs mit den Bildern und ihrem öffentlichen Einsatz. Insbesondere sind es bildende Künstler und Künstlerinnen nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, die oftmals Ansichten von alltäglichen Dingen und Ereignissen zum Ausgangspunkt der Überlegungen nahmen und mit ihren Darstellungen zugleich den Archivbegriff neu formulierten. So sammelte beispielsweise der französische Konzeptkünstler Christian Boltanski in den 1970er Jahren Familienfotos aus privater Provenienz, stellte aus den Konvoluten fiktive Biografien zusammen und publizierte diese. Eine der Konzeptarbeiten des Deutschen Hans-Peter Feldmann, der ebenso Alltagsgegenstände wie Fotografien von geläufigen Dingen und Vorkommnissen sammelt, bestand 1974 darin, „[a]lle Kleidungsstücke einer Frau“ abzulichten und die Bilder auf
Symposien und Ausstellungen zu präsentieren. Der Linzer Schriftsteller und Herausgeber einer Literaturzeitschrift Heimrad Bäcker fotografierte auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen über mehrere Jahre die Relikte ehemaliger Bauten und verfolgte deren steten Verfall. Die Aufnahmen stellen eigentlich Kryptogramme dar, indem sie auf etwas deuten, das nicht sichtbar und längst verschwunden ist, aber in jedem Betrachter Bilder provozieren, die er mit sich trägt. Eine Serie bildlicher Andeutungen trifft auf das Archiv des Gedächtnisses. Der Radius der Inanspruchnahme von Archiven durch Künstler und Künstlerinnen ist mit den angeführten Beispielen nur ansatzweise umrissen. „Das Ewige Archiv“ von Peter Putz hat von Beginn an die seit der Frühzeit der technischen Bildmedien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis heute aufgetretenen Arten des Sammelns als Bild und im Bild quasi in Zeitraffer vollzogen. Zugleich hat sein Schöpfer verschiedenartige Speicherungstechniken und Publikationsmittel eingesetzt und sich einer massenmedialen Artikulation befleißigt. Zunächst wurde mit gedruckten Fotos und eigenen Aufnahmen hantiert, dann sind weitere Bildträger gewählt worden, bis der aktuelle Bestand mehr als 200.000 digitale, rund 5.000 analoge Fotos sowie 900 digitale Videos und 7 analoge Filme umfasst. 1987 fungierte eine Holzkassette als Speicher, die 33 Foto/Text-Kombinationen als Druckgrafiken versammelte, in den 1990er Jahren folgten illustrierte Broschüren und Bücher, im 21. Jahrhundert finden wir eine allgemein zugängliche Website, mit der die Öffentlichkeit konfrontiert wird. In der Regel werden Erscheinungen als Bilder zu anderen ins Verhältnis gesetzt, manchmal um einen Titel oder eine Textpassage ergänzt, gelegentlich sind gezeichnete Aperçus einoder angefügt. Der ehemalige Kontext ist verschwunden, ein neuer hergestellt. Putz geht mit offenen Augen durch den bunten Kosmos des Alltags, entnimmt ihm Einzelheiten meist trivialer Art, manchmal auch seltsamer Form, entbindet sie der seinerzeitigen Bedeutung und konfrontiert sie gewöhnlich mit seinesgleichen, reiht gleichartige Motive zueinander oder zeigt Widersprüchliches auf. Er seziert, kombiniert und polemisiert. Was gesehen wird, erhält ein passendes Maß und jenes Format, das die Gegenüberstellungen verlangen, um eingängig zu sein. Die Diktion ist ironisch oder erregt oder auch voller Zorn, niemals abgeklärt oder belehrend. Was gemeint ist, lässt sich ohne weiteres verstehen. Gelegentlich fällt der Blick des Arrangeurs auf sich selbst und er tritt bildlich auf, nachdem die Kamera in einen Spiegel gerichtet oder der Selbstauslöser betätigt worden ist. Dann befindet sich Peter Putz auch augenscheinlich inmitten einer Welt, die ebenso seine wie unsere ist. Er hat sie zu unserer Einsicht entworfen.
Fotogeschichte, Jg. 8, 27, Frankfurt a. M., 1988
T. S., 1988
aus: Peter Putz, Das Ewige Archiv · New Stuff, Wien 2014, Ritter
Dr. h.c. Timm Starl, geb. 1939 in Wien, freier Kulturwissenschaftler, Fotopublizist und Ausstellungskurator, Gründer (1981) und Herausgeber (bis 2000) der Zeitschrift Fotogeschichte, Ausstellungen und Veröffentlichungen vorwiegend zu fotohistorischen Themen, arbeitet an einer Theorie der Fotografie (www.kritik-der-fotografie.at/), lebt in Wien und im Weinviertel. 39
Wien (Beispiele)
Wien | AT · 2010 – 2015
Wien | 2000 – 2015 · Beschriftungen Sozialer Wohnbau, 1920-er Jahre
Wien | AT · 2011
Wien | 2011 · Hochstrahlbrunnen, Denkmal für die der Befreiung Wiens gefallenen russichen Soldaten 40
Wien | A · 2010
Wien | 2011 · Ottakringer Straße
Wien | AT · 2010 – 2016
Wien | 2010 – 2016 · Handy-Shops, Call-Shops 41
Kunst im öffentlichen Raum · street art (Beispiele)
Wien | AT · 2011 – 2013
Wien | 1973 · Mosaike
Wien | AT · 2011
Wien | 2011 · Schwarzenbergplatz, Aufbau THE MORNING LINE: Matthew Ritchie with Aranda/Lasch and Arup AGU 42
Wien | AT · 2009 – 2011
Wien | 2009 – 2011
Wien | AT · 2009 – 2012
Wien | 2009 – 2011 43
Arbeit (Beispiele)
Wien | AT · 2010
Wien | 2010 · Fensterreinigung Hotel Intercontinental
Paris | FR; Wien | AT · 2003 – 2016
Paris, Wien | 2003 – 2016 · Servicearbeiten 44
Wien | AT · 2015
Wien | 2015 · Mitarbeiter einer Reinigungsfirma – “Train of Hope“, Hauptbahnhof
Wien | AT · 2014
Wien | 2014 · Entfernung von Telefonkabeln 45
Künstler*innen (Beispiele)
Wien | AT · 1975 – 2012
Wien | AT · 2000 – 2013
Wien | 2000 – 2013 · Marlene Streeruwitz, Schriftstellerin 46
© Hannes Reisinger
© Hannes Reisinger
Wien | 1974 – 2012 · Oswald Oberhuber
Wien | AT · 2016 Anna Vasof @ ASIFA-Keil
Wien | 2016 · Anna Vasof, Filmemacherin
Wien | AT · 2011 – 2014
Wien | 2011 – 2014 · Bernhard Tragut, Bildhauer 47
2014 Kunsthalle Wien Museumsquartier
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Kunsthalle Wien Museumsquartier
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Kunsthalle Wien Museumsquartier
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Kunsthalle Wien Museumsquartier
AT 路 2013, 2012
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AT | PL · 1977 – 2014
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Kunsthalle Wien Museumsquartier
A | F | UK · 2008 – 2013
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Poznan | PL 路 1. Maja 1978
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Kunsthalle Wien Museumsquartier
Aalen | DE; Wien | AT · 2011 – 2013
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Iraq 路 1958 Photos: Karl A. Putz
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Kunsthalle Wien Museumsquartier
Bad Ischl, Wien | A 路 2013
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Review: Das Ewige Archiv · The Eternal Archives · New Stuff
The mundane in the particular, in the exotic. The private in things public. Peter Putz makes visual the universe of day-to-day life in carefully arranged tableaux.
The Particular in the Mundane “If we lose our history, we also lose our ability to understand the present – and our future. To lose one’s memory is to die an intellectual death,” comments Johanna Rachinger, Director-General of the Austrian National Library, philosophizing on “memory institutions”, such as libraries, museums and archives, all of which are “engaged in a constant struggle against oblivion.” In the same spirit, Peter Putz has been storing photographic items for memory in his Eternal Archives since 1980. Putz, born in 1954 in Ebensee, Upper Austria, can thus be given the appellation of silent chronicler of everyday life. It is not the insignias of power, not the palaces, and certainly not the rulers that are the focus here, but rather, ordinary, average people and the refuse of daily life that is usually relegated to the netherworld of things to be forgotten. The artist, who has studied in various schools internationally, documents distinctive indicators of the lives we live from day to day: filth, fecal matter, manhole covers, garbage cans, garbage trucks, cleaning teams, cleaning ladies, street sweepers. Façades fill Putz’ universe. Virginal, freshly whitewashed, besmeared, decaying. Open and enclosed spaces, signs, slogans, moving walkways, conveyor belts – all the madness of our everyday lives. Putz makes visual the way of all things, the progress of the fleeting things of this world, the passing, the inexorable. He focuses not on perfection, not on beauty, but on the object per se as something deserving to be preserved. In stark tableaux, Putz amalgamates his own pictures with historical photographs and arranges the individual frames into one great whole, animated with wisdom and humor. The collated result is something of a modern library of Alexandria, a currentday variant of the medieval Paupers’ Bible, the Bible of the illiterate. Visual and wordless, but readable for those who are willing to see – and tremendously revealing. Gregor Auenhammer
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Felix Del Tredici, bass trombone Christian S. Smith, percussion
Shaheen Merali: “The Long Breath”
Kunsthalle Wien Museumsquartier Eröffnung · Opening night 62
Video: “∞ in progress”
Peter Putz: “Where do pictures come from, what are they doing here, where are they going?�
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The Long Breath Shaheen Merali
If you cannot put into words what you feel or believe, if you cannot, at the same time, contain what you know about the world, its spatiality or how the whole effects your day to day - then what do you do? Do you seek the meditative possibilities of silence or gradually stage the possibilities beyond the unsayable? For many of such a disposition, the possible evolves in encroaching forms, bearing the marks of excavation from untamed imaginations. The results may be described as poetic or paradoxical, solutions, changes or modifications that persuade us to alter the passage of our universe. The much quoted opening line of the profound novel, Metamorphoses by Franz Kafka, is an important example: “As Gregor Samsa awoke one morning from uneasy dreams, he found himself transformed in his bed into a gigantic insect.” A certain epistemological license further authorised the contemporary Japanese writer, Haruki Murakami, to write his metaphysical mind-bender, Kafka on the Shore. In both novels the tools and means to make apparent were forged innately in the visual; an expanded visual which no longer remains contained in traditional categories of notations that separate the written, the choreographed or the painted. Herein the processes bear witness to the specters of thinking. The process of making from the intangible, the intransient, the untranslatable, and even the impalpable, results in this form of visualisation. The residual material often forms mental images that help us grasp the frail, visual perceptions from which they emerge in the first place. Not all is possible, but aspects of the visual can sometimes be made more comprehensive during the creative process. For those able to communicate through such fleeting moments of lucidity, then, what is represented is neither the internal nor the external landscape but a potent mixture of emancipated memory, bridging immense complexities of the imagined as well as the emotional. In forging creatively, visualisations supersede fictionalisation or narratives. In many ways what emerges are sensitive accounts, daring juxtapositioning and dark subversions as a form of expression. The narration continues, taking its emphases from the visual rather than from an inscribed or articulated transmission. We are, after all, born with the eyes that we die with as all other organs grow and constantly transform from the time of our birth. For the eternal archivist, Peter Putz, the visual has become a daily practice of recording, organising the recorded and reiterating its place in an ever-increasing composite graphic. This solitary effort has engaged his artistic faith, constructing a bewildering record from the mundane to the extraordinary that crisscrosses his life path. His lifework, The Eternal Archives, in many ways parallels the release of archived materials by institutions, as in the recent case of the Metropolitan Museum of Art, releasing 400,000 images online for non-commercial use or the newsreel archive, British Pathé, uploading its entire collection of 85,000 historic films, in high resolution, to its YouTube channel. Putz’s Eternal Archives release and sporadi64
cally emit, in the form of booklets, publications, films and videos as well as photographic works, for a public which is never sure of its ambition or how its contents are to be managed as it circulates in the field between documentary and fine art photography, diaries and voyeurism. The Eternal Archives are a turbulent entity, for they never sit entirely comfortably, ensuring them a cult status in these remarkable times, where, in a click or at a moment’s command, a vast amount is arranged before us by search engines, limiting our horizons by dictating our visual range. Instagrammed, pininterested, downloaded, usb(ed), Picasa(ed), the list is immense and all these have pervasive rules and philosophies that dictate the way we read the entire visual library that they supply. These rules are often based on security or, erstwhile, on how subjects inhabit truth or imply power over the body or society. Truths create a pool of knowledge in these zones of contact, and we, as viewers, become virtual subjects of visual lands, possessed by all the experiences that we share, becoming familiar with what is offered as much as by what is repudiated. Irrational laws, of what can and cannot be presented in its epistemological limit, heavily influence Facebook as an archive. In drawing on these conceptual frameworks of the imaginative and the lived realities as a holistic way to encapsulate the world, Putz manages to create his Eternal Archives from daily recordings and frequent sorties, in combination with accidental and estranged encounters. The eternal becomes the entirety of his ability to reconstitute the recorded in these formulaic “pages“. “Pages“ that often contain four to five images from a constituted situation can range from a studio visit to a visit to a florist or, further afield, studies as a tourist. In being placed within a ”page” the images act as a set of hesitative notations for a larger body of images, images that embody both spatial and geographical temporalities but, most importantly, speak volumes about the artist’s inquisitiveness. One cannot rely on these “pages“ to give us the full picture of those images that remain absent from or present in his private archive – The Eternal Archives present a partially mediated picture. This selective archive is the process through which Putz visualises the whole, the world and his place within it – it is both the taste and the sum of the culled and the framed. Putz has been successful in continually asserting this visualisation by producing both larger format books and smaller edition supplements that testify to his notion of the construct of the eternal. There is no seeming end to his capturing the world around him in daily recordings with his lens-based frolics. The eternal remains to be added to on a daily basis, supplemented by further roving and often-repetitive explorations of the found, confounding the relation to the already archived. It is both a quest and a journey, which Putz takes with a joy and passion that permeate all the pages, both challenging and giving testimony to the desire to create as Kafka and Murakami have done, the meandering mind making from the mundane a statement of living and thinking in the dark edges of his digital trace.
As Leslie Jamison recently said, “…accumulation, juxtaposition, the organizing possibilities of metaphor. These techniques are ways in which the essay has always linked the private confessional to the communal…”1)
1) Leslie Jamison, ”What Should an Essay Do? Two new collections reinvent the form“, July 8, 2013 http://www.newrepublic.com/article/113737/solnit-faraway-nearby-andorange-running-your-life
from: Peter Putz, Das Ewige Archiv · New Stuff, Wien 2014, Ritter
Shaheen Merali is curator and writer, currently based in London. Previously, he was Head of Exhibitions, Film and New Media at the Haus der Kulturen der Welt, Berlin (2003-2008) where he curated several exhibitions accompanied by key publications, including The Black Atlantic; Dreams and Trauma – Moving images and the Promised Lands and Re-Imagining Asia, One Thousand years of Separation. Merali was the co-curator of the 6th Gwangju Biennale, Korea (2006). Upon leaving Germany he curated many exhibitions in India and Iran and then embarked upon a period of extensive research and consultation on the conservation and production of a major exhibition of the International Collection of the Birla Academy of Art and Culture, Kolkata (2010- 2012).
His recent exhibitions include Refractions, Moving Images on Palestine, P21 Gallery, London; When Violence becomes Decadent, ACC Galerie, Weimar; Speaking from the Heart, Castrum Peregrini, Amsterdam; (After) Love at Last Sight / Nezeket Ekici Retrospective, PiArtworks , London and Fragile Hands, University of Applied Arts Vienna. Merali has written catalogue essays on Agathe de Bailliencourt, Jitish Kallat, Sara Rahbar, TV Santhosh, Cai Yuan and JJ Xi (Madforeal) amongst others.
www.shaheenmerali.com
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Der lange Atem Shaheen Merali
Wenn man nicht in Worte fassen kann, was man fühlt oder woran man glaubt, wenn man zudem nicht für sich behalten kann, was man über die Welt weiß, über ihre Räumlichkeit, oder wie einen das alles tagtäglich beeinflusst - was macht man dann? Wählt man dann die meditativen Möglichkeiten des Schweigens oder konzentriert man sich allmählich auch auf Möglichkeiten über das Unsagbare hinaus? Für viele Menschen mit dieser Tendenz entwickeln sich solche Möglichkeiten in unkontrollierbaren Formen und zeigen Spuren einer Ausgrabung von ungezügelten Phantasien. Die Resultate könnte man als poetisch oder paradox bezeichnen, Lösungen, Änderungen oder Modifizierungen, die uns dazu bringen, den Lauf unseres Universums zu verändern. Der vielzitierte erste Satz von Franz Kafkas tiefsinniger Erzählung Die Verwandlung ist ein wichtiges Beispiel: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Eine Art epistemologischer Lizenz gestattete es dem japanischen Schriftsteller Haruki Murakami zudem, seinen metaphysischen und bewusstseinsverändernden Roman Kafka am Strand zu schreiben. In beiden Erzählungen wurden die Werkzeuge und Instrumente, um das deutlich zu machen, immanent im Visuellen geschmiedet; eine Erweiterung des Visuellen, das nicht mehr in traditionellen Kategorien von Bezeichnungen verharrt, die das Geschriebene, Choreographierte oder Gemalte voneinander trennen. Davon zeugen etwa die gespenstischen Prozesse des Denkens. Der Prozess des Schaffens aus dem nicht Greifbaren, Unvergänglichen und sogar nicht Fühlbaren führt zu dieser Form der Visualisierung. Das übrig bleibende Material formt häufig mentale Bilder, mit deren Hilfe wir die zerbrechlichen visuellen Wahrnehmungen, aus denen sie ursprünglich entstehen, erfassen. Nicht alles ist möglich, aber Aspekte des Visuellen können im Lauf des kreativen Prozesses manchmal umfassender gemacht werden. Für jene, die derartig flüchtige Momente der Klarheit kommunizieren können, ist das, was sich zeigt, nicht die innere oder äußere Landschaft, sondern eine potente Mischung aus emanzipierter Erinnerung, die imstande ist, immense Komplexitäten des Imaginierten sowie des Emotionalen zu überbrücken. Im kreativen Prozess überlagern Visualisierungen die Fiktionalisierung oder das Erzählte. Daraus ergeben sich oft sensible Beschreibungen, mutige Gegenüberstellungen und dunkle Subversivität als Ausdrucksform. Der Schwerpunkt der Erzählung bewegt sich mehr auf der visuellen Ebene als auf einer geschriebenen oder artikulierten Vermittlung. Schließlich werden wir mit den Augen geboren, mit denen wir sterben, während alle anderen Organe wachsen und sich ab dem Zeitpunkt unserer Geburt ständig verändern. Für den „Ewigen Archivar“ Peter Putz ist das Visuelle zu einer täglichen Praxis des Aufzeichnens geworden, das Aufgezeichnete wird organisiert und behauptet seinen Platz in einer ständig anwachsenden, zusammengesetzten graphischen Darstellung. Dieses einsame Bemühen bestärkte seine künstlerische Überzeugung und produzierte ein verblüffendes Dokument von alltäglichen bis hin zu außergewöhnlichen Dingen, die seinen Lebensweg kreuzten. 66
Sein Lebenswerk, Das Ewige Archiv, hat in gewisser Weise Parallelen zur Veröffentlichung von Archivmaterial bestimmter Institutionen, wie das kürzlich beim Metropolitan Museum of Art der Fall war, das 400 000 Bilder online für nicht-kommerzielle Zwecke veröffentlichte, oder beim British Pathé-Nachrichtenarchiv, das seine gesamte Sammlung von 85 000 historischen Filmen in hoher Auflösung auf ihren YouTube-Kanal lud. Das Ewige Archiv veröffentlicht und verbreitet sporadisch in Form von Broschüren, Publikationen, Filmen, Videos und als fotografische Arbeiten für ein Publikum, das sich seiner Ambitionen oder wie mit seinen Inhalten umzugehen ist, nie sicher sein kann, während es sich zwischen den Bereichen Dokumentation, künstlerische Fotografie, Tagebücher und Voyeurismus bewegt. Das Ewige Archiv ist ein turbulentes Unternehmen, es fühlt sich nie ganz gemütlich still an und sichert sich so einen Kultstatus in diesen bemerkenswerten Zeiten, wo mit einem Klick oder einem kurzen Befehl an Suchmaschinen eine riesige Datenmenge vor unseren Augen aufgelistet wird, die unseren Horizont begrenzt, indem sie unsere visuelle Reichweite limitiert. Ob per Instagramm, Pinterest, Downloads, in USB-Form, mit Picasa – diese Liste ist unglaublich lang und alle haben ihre tiefgreifenden Regeln und Philosophien, die bestimmen, wie wir die gesamte visuelle Bibliothek lesen, die angeboten wird. Diese Regeln basieren oft auf Sicherheitserfordernissen oder, etwa in früheren Zeiten, darauf, wie mit Wahrheit umgegangen oder wie Macht über den Körper oder die Gesellschaft ausgeübt wird. Wahrheiten schaffen ein Reservoir an Wissen in diesen Kontaktzonen, und wir, die Zuschauer, werden zu virtuellen Bürgern visueller Landschaften, besessen von den gemeinsam geteilten Erfahrungen, wobei wir das, was angeboten wird, ebenso kennenlernen wie das, was abgelehnt wird. Irrationale Gesetze darüber, was in ihren epistemologischen Grenzen präsentiert werden darf und was nicht, haben einen enormen Einfluss auf Facebook als Archiv. Indem Putz sich dieser konzeptuellen Strukturen der fiktiven und der gelebten Realitäten auf holistische Art und Weise bedient, um die Welt zu erfassen, gelingt es ihm, sein Ewiges Archiv aus täglichen Aufzeichnungen und zahlreichen „Feindflügen“, kombiniert mit zufälligen und entfremdeten Begegnungen, zu erschaffen. Das Ewige wird zur Gesamtheit seiner Fähigkeit, das Dokumentierte auf diesen formelhaften „Seiten“ zu rekonstruieren. Die „Seiten“, oft mit vier bis fünf Bildern einer beliebigen Situation, können zwischen dem Besuch eines Ateliers, eines Blumenladens, oder noch weiter hergeholt, Reiseberichten variieren. Durch die Platzierung auf ein und derselben „Seite“ agieren die Bilder wie eine Reihe von vorsichtigen Anmerkungen zu einer größeren Bildersammlung; Bilder, die sowohl räumliche als auch geografische zeitliche Bezüge verkörpern, und dabei, was das wichtigste ist, jede Menge über die Wissbegierde des Autors aussagen. Man kann von diesen „Seiten“ nicht erwarten, dass sie uns ein Gesamtbild davon geben, was in seinem Privatarchiv vorhanden ist oder nicht – die Ewigen Archive präsentieren ein teilweise vermitteltes Bild. Dieses selektive Archiv ist der Prozess, mit dessen Hilfe Putz das Ganze visualisiert, die Welt und seinen Platz in ihr – es ist eine Kostprobe und
zugleich die Summe dessen, was ausgewählt und veröffentlicht wird. Putz gelingt es, diese Visualisierung kontinuierlich durchzuhalten, indem er sowohl recht großformatige Bücher als auch ergänzende Supplemente in kleineren Editionen produziert, die seine Vorstellung vom Konstrukt des Ewigen zeigen. Seine Wahrnehmung der Welt rund um ihn in täglichen Aufzeichnungen, mit seinen lustigen Scherzchen vor der Kamera, wirkt endlos. Das Ewige muss eben tagtäglich hinzugefügt werden, ergänzt durch ausgedehntes Vagabundieren und repetitive Explorationen des Gefundenen, wodurch der Bezug zum bereits Archivierten verwischt wird.
Es ist eine Suche und auch eine Reise, die Peter Putz mit einer Freude und einer Leidenschaft unternimmt, die jede Seite durchdringt, eine Herausforderung und zugleich Zeugnis von der Sehnsucht, zu schaffen, was Kafka und Murakami gelang – der mäandernde Geist, der aus dem Alltäglichen eine Aussage über das Leben und Denken an den dunklen Rändern seiner digitalen Spur trifft. Wie Leslie Jamison kürzlich sagte: “…accumulation, juxtaposition, the organizing possibilities of metaphor. These techniques are ways in which the essay has always linked the private confessional to the communal…”1)
1) Leslie Jamison, Was sollte ein Essay können? Zwei neue Sammlungen, die die Form neu erfinden, 8. Juli 2013. http://www.newrepublic.com/article/113737/solnit-faraway-nearby-and-orange-running-your-life „…Akkumulation, Juxtaposition, die organisierenden Möglichkeiten der Metapher. Diese Techniken sind Formen, in denen der Essay schon immer die private mit der öffentlichen Beichte verbunden hat…” (Anm. d. Übersetzers) aus: Peter Putz, Das Ewige Archiv · New Stuff, Wien 2014, Ritter
Übersetzung aus dem englischen Original
S. M., 2014 Shaheen Merali ist Kurator und Autor, der zurzeit in London ansässig ist. Davor war er als Direktor für Ausstellungen, Filme und Neue Medien im Haus der Kulturen der Welt, Berlin (2003-2008) tätig, wo er diverse Ausstellungen kuratierte und zugleich bedeutende Publikationen herausgab, wie zum Beispiel The Black Atlantic; Dreams and Trauma – Moving images and the Promised Lands und Re-Imagining Asia, One Thousand years of Separation. Merali war Co-Kurator der 6. Gwangju Biennale, Korea (2006). Nach seinem Deutschland-Aufenthalt kuratierte er zahlreiche Ausstellungen in Indien und im Iran; darauf folgte eine Zeit der Recherche und Beratung für die Erhaltung und zur Fertigstellung einer großen Ausstellung der International Collection of the Birla Academy of Art and Culture, Kolkata (2010-2012).
Zu seinen neuesten Ausstellungen zählen: Refractions, Moving Images on Palestine, P21 Gallery, London; When Violence becomes Decadent, ACC Galerie, Weimar; Speaking from the Heart, Castrum Peregrini, Amsterdam; (After) Love at Last Sight / Nezeket Ekici Retrospective, PiArtworks , London und Fragile Hands, Universität für Angewandte Kunst Wien. Merali schrieb Essays für Kataloge, unter anderem über Agathe de Bailliencourt, Jitish Kallat, Sara Rahbar, TV Santhosh, Cai Yuan and JJ Xi (Madforeal). www.shaheenmerali.com
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2014 Peter Putz
DAS EWIGE ARCHIV The Eternal Archives · ∞
New Stuff
248 Seiten · pages, deutsch · english Hardcover, Schutzumschlag · dust jacket Ritterverlag, Wien · Klagenfurt, 2014 www.ritterbooks.com 100 Tableaus: Peter Putz 7 Essays: Shawn Bryan, Gottfried Fliedl Ingram Hartinger, Elke Krasny Shaheen Merali, Peter Putz Johanna Rachinger Extras: Matthias Marx, Johann Promberger Karl A. Putz
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Peter Putz
DAS EWIGE ARCHIV The Eternal Archives · ∞
New Stuff RITTER
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Was ich nicht fotografieren darf. Zeugenschaft oder Beweissicherung? Peter Putz (2012) Herbst 1972, Prater Wien, Flipperhalle. Ich beobachte eine Gruppe um einen Flipper stehender Spieler: Einer von ihnen bewegt Laden von Zündholzschachteln, die er sich zwischen die gespreizten Finger geklemmt hat, schnell über ein auf der Glasfläche des Flippers liegendes Kügelchen und lässt sie dann fallen. Die anderen wetten, unter welcher Lade das Kügelchen liegt. Der Einsatz: 100-SchillingScheine. Im Geist spiele ich mit und sehe zu meinem Erstaunen, dass alle Spieler meiner Meinung nach falsch setzen und verlieren. Meine Vermutungen hingegen, wo das Kügelchen liegen würde, wären alle richtig gewesen – demnach hätte ich schon eine Menge gewonnen, wenn ich nur mitgespielt hätte. Nach einigen Spieldurchgängen werde ich eingeladen, mitzuspielen. Innerhalb kürzester Zeit ist mein Geld weg, blitzschnell verspielt. Dann meine Armbanduhr: verloren. Ich werde getröstet: Ich könne ja alles schnell wieder zurückgewinnen, könne ja meine Kamera einsetzen! Stimmt: Um meinen Hals hängt – am Ledergurt im ledernen Futteral – tatsächlich die 2-äugige Rolleiflex meines Vaters. Eine schwere Entscheidung: Auf die Chance verzichten, das verspielte Geld und die verlorene Uhr (ein mir besonders wichtiges Erinnerungsstück) wieder zurückzugewinnen – sprich, alles loszulassen – oder mit letztem Einsatz versuchen, das Glück zu biegen? Nach innerem Zittern ein kurzes Aufleuchten: Die Kamera als Einsatz wäre mit Sicherheit in Kürze weg, also besser schmerzlich Geld und Uhr endgültig zurücklassen. Ich entziehe mich der Gruppe und den drängenden Zureden, wende mich ab und entferne mich. Aber, denke ich mir – ich will zumindest ein Foto haben, ein Foto machen vom Ort des Geschehens, von der Situation meines Verlustes und meiner Niederlage. Ich öffne das sperrige Lederfutteral, klappe den Sucherschacht der Rolleiflex hoch, stelle scharf auf die Gruppe um den Flipper und drücke auf den Auslöser der Kamera. Sofort bin ich umringt. „Host Du uns jetzt fotografiert? Gib’ ma sofort den Film her oder Du host an Bauchstich!“ Mit zittrigen Fingern also die Kamera aus dem Lederfutteral geschält, den noch unbelichteten Filmteil mit abgedecktem Objektiv verschossen, den Film zurückgespult, die Kamera geöffnet und den Film übergeben. Geld für den Film wird mir zugesteckt. Später höre ich vom Geldwechsler der Flipperhalle: Ich sei ja ein kompletter Idiot gewesen – die Gruppe hätte natürlich gemeinsame Sache gemacht. Was darf ich also fotografieren? Darf ich Männer fotografieren, die am helllichten Tag gegen Litfaßsäulen pissen? Auf der Straße liegende Besoffene? Dealer in der U-Bahn? Wenn ich schlafende Obdachlose fotografiere: Ist das Sozialpornographie und verstört meine gutmeinenden Freunde? Die Antwort darauf ist für mich einfach: Ja, ich darf alles fotografieren – weil ich auch alles anschauen darf und anschauen muss. Selbstverständlich darf ich das alles. Überhaupt keine Frage. Was darf ich nun veröffentlichen? Mitglieder eines Coca-Cola-Dosen verteilenden Rollkommandos – eines selbsternannten SWAT-Teams auf der Mariahilferstraße in Wien – wollten mir erklären, dass ich sie nicht fotografieren dürfe. Zum Teufel! Seit Jahren beobachte ich auf den Fahrten ins Studio in den U-Bahnen Drogendealer und Klientel, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ab und zu versuche ich, sie zu fotografieren. Ganz selten, 70
unscharfe Bilder aus tiefen Perspektiven. In Situationen wie diesen wünsche ich mir eine Augenkamera. Die später zusammengestellten Tableaus heißen dann etwa Traveling salesmen and their customers. Ein guter Freund rät mir dringend ab, diese Tableaus zu veröffentlichen. Würde das dem rechten Lager möglicherweise Beweismaterial für ihre unsäglichen Kampagnen zuspielen? Wozu fotografiere ich also, warum sammle ich? Wozu fotografiere ich flachgedrückte Red-Bull-Dosen auf der Straße? Weil pro Jahr rund 5 Milliarden Red-Bull-Dosen produziert werden? Ist es eine Beweisaufnahme für das Jüngste Gericht – wie ich vor Jahren einen Vortrag zum Thema genannt habe? Ebensee, 1979. Nach dem Tod meiner Großmutter Aloisia Promberger wurden beim Ausräumen des Dachbodens ihres Wohnhauses vom Maler Hans Kienesberger zwei Schachteln mit Glasnegativen ihres 1964 verstorbenen Mannes Johann gefunden und sichergestellt. Glasnegative mit Aufnahmen aus den Jahren 1905 bis 1925. Unter den Aufnahmen Porträts, Landschaftsaufnahmen, Fotos seines Arbeitsplatzes, der Saline Ebensee, seiner Arbeitskollegen, aber auch Fotos von aufgebahrten Toten, Erwachsenen und Kindern. Diese Negative habe ich später kontaktkopiert und über die Aufnahmen meine Diplomarbeit verfasst: Ein Versuch, für den Amateurfotografen Johann Promberger einen Platz in der Geschichte der Fotografie zu finden. Diese Fotografien bilden das Fundament des Ewigen Archives. Ein weiterer historischer Pfeiler ist der Nachlass meines Vaters Karl Abel Putz: Er hinterließ Dias, Negative und Fotos, die er im Irak in den Jahren 1958 und 1959 aufgenommen hatte, in der Zeit, als er eine österreichische Fachschule in Mosul mit aufbaute. Bis zum Sturz von König Faisal (1958), bis ein abgeschnittenes Ohr im Brief als Warnung an die Schule geschickt wurde. Als fotografische Dokumente verblieben Landschaftsbilder, Bilder von Menschen, Pferden – Aufnahmen ohne Bildunterschriften, ohne Namen, Ortsangaben und Datierung. Aus der Zeit gerissen, in Schachteln gelagert. Wie gehe ich um mit Bildern, zu denen jede authentische information fehlt? Was können Bilder überhaupt erzählen? Das sind Fragen, die Teil des Diskurses im Ewigen Archiv sind. Das Ewige Archiv wurde im Jahr 1980 von mir gegründet und versteht sich als dynamische Enzyklopädie zeitgenössischer Identitäten. Es ist die umfangreichste nichtkommerzielle Bilddatenbank Österreichs, mit einem Bildbestand ab dem Jahre 1905, mit Metadatenverzeichnis und detaillierter Beschlagwortung. Schwerpunkt ist die permanente fotografische Notiz: Spurensicherung des Alltags, Dokumentation und Vergleich unterschiedlicher Lebens- und Arbeitsräume: Wien und Montréal, Ebensee und Poznan´, London, New York, Berlin, Lissabon ebenso wie etwa Paris, Vandans, Mossul und Rom. Diese Aufzeichnungen verdichten sich zu größeren Bezugsräumen und bilden ein facettenreiches Gewebe verschiedenster Realitäten mit besonderem Augenmerk auf das SpektakulärUnspektakuläre. Bilder der Sammlung werden exemplarisch zu themenbezogenen Tableaus zusammengefasst. Das Ewige Archiv ist eine Markierung in der Zeit. Nicht mehr – aber auch nicht weniger. aus: Peter Putz, Das Ewige Archiv · Heavy Duty XS, Wien 2012, Ritter
Johann Promberger, 1920
August Sander, 1942
Die Welt hat sich verändert. Information wird auf neuartige Weise übermittelt, auch die Fehlinformation entwickelt eigene Methoden. John Berger*
Woher kommen Bilder, was tun sie hier, wohin gehen sie? Peter Putz (2014) Ein Mann mit Arbeitsschürze sitzt an einem schmalen Tisch und schaut auf ein aufgeschlagenes Buch. Das Zimmer karg. Die Bildunterschrift: Politischer Häftling, 1942. Der abgebildete Mann ist Erich Sander, der 1935 von den Nationalsozialisten wegen seiner Mitgliedschaft bei der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, fotografiert hat ihn sein Vater August Sander. Erich Sander starb kurz vor Ende der Haftzeit am 24. März 1944, weil ihm ärztliche Hilfe verweigert worden war. Das Foto – in der Mappe Politische Gefangene – ist Teil des umfangreichen Gesamtprojektes Menschen des 20. Jahrhunderts von August Sander und wurde erst lange nach dem Tode des Fotografen veröffentlicht. Die Vorstellung, als Vater den eigenen Sohn im Gefängnis zu fotografieren, fotografieren zu müssen, treibt mir Tränen in die Augen. 1983, im Jahr, in dem mein Bruder Rupert in Japan unterwegs war, starb völlig überraschend unser Vater. In der Zeit vor Internet und Mobiltelefon war die einzige Möglichkeit, zu versuchen, mit ihm in Kontakt zu kommen, Briefe poste restante (postlagernd) an verschiedene Postämter der Städte zu senden, in denen er sein hätte können. Ich habe den toten Vater fotografiert, auch um meinem Bruder die Möglichkeit zu geben, sich nach seiner Rückkehr ein Bild zu machen vom Vater bzw. ein letztes Bild zu haben. Das Bild eines Toten als Erinnerung an den Lebenden? Mein Großvater Johann Promberger hat in den 1920er Jahren Verstorbene fotografiert. Einige Glasnegative sind erhalten geblieben aus einer Zeit, als es am Land üblich war, verstorbene Familienmitglieder einige Tage im Haus aufzubahren. Ein Fotograf wurde gebeten, ein letztes Bild zu machen. Auf einem Dachboden Jahrzehnte lang gelagerte Glasnegative lassen das Bild von Toten wieder entstehen. Warum Fotos sammeln? Warum Bilder machen, aufheben, ordnen, anschauen, diese neu und anders ordnen? Warum versuchen, Zusammenhänge herzustellen? Ist es ein Aufbäumen gegen das Vergessen, den drohenden, den bereits eingetretenen Tod? aus: Peter Putz, Das Ewige Archiv · New Stuff, Wien 2014, Ritter
Wieder aufgefundene Fotos: vom Vater aus seiner Zeit in Mosul/Irak 1958, vom Großvater Glasnegative aus der Zeit 1905 bis 1925. Fotografien werden immer wieder an mich herangetragen, werden mir geschenkt oder ich finde sie. Wie gehe ich mit Fotos um, deren Autorin, deren Autor nicht mehr befragt werden kann? Wie stelle ich Bilder zusammen, welche Geschichten erzähle ich, wie kann ich vorgehen, um den Bildern und deren Urhebern zu einem einigermaßen authentischen Nachleben zu verhelfen? Bilder rotieren ohne Unterlass: In „sozialen Netzwerken“ werden Texte, Fotos und Videos automatisiert herangespült, gesteuert von Algorithmen. Was wird aufgezeichnet, was neu – von mir/von anderen – eingespeist in die Bildermaschine? Wo stehen die Datenfarmen und Datenminen? Wieviel kosten Bilder? Wer verkauft sie, wer verdient daran, wer bezahlt dafür? Ich „überwache“ in gewisser Weise mein Leben und das Leben einiger anderer, ich fotografiere Freunde und Bekannte oft über lange Zeit immer wieder und stelle die Fotos zu Zeitraffer-Porträts zusammen, auch, um Veränderungen sichtbar zu machen. Das Ewige Archiv ist ein Versuch der Bestandsaufnahme des entschwindenden Lebens, ist ein Aufsammeln von Bildsplittern einer in weiten Teilen sich auflösenden, fragmentierten Welt. Während diese Zeilen geschrieben werden, wird Gaza bombardiert, sehe ich Bilder von verletzten Frauen, Männern und Kindern, zusammengekauert in den Trümmern der zerstörten Straßen und Städte. Ich schaue aus dem Fenster meines zeitweiligen Arbeitszimmers in ein bewaldetes Tal, auf Wolken, in den Himmel – eine rauhe Idylle im Salzkammergut, in dem ich aufgewachsen bin. Vor rund 70 Jahren kamen im Konzentrationslager Ebensee (ca. 5 km entfernt) mehr als 8.000 Menschen ums Leben. Am Nachbargrundstück wird der neue Swimmingpool einbetoniert. *) John Berger, Mit Hoffnung zwischen den Zähnen, Berlin 2008
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1994 Peter Putz
Virtual Triviality Das Ewige Archiv · The Eternal Archives 120 Seiten · pages; deutsch · english Hardcover, Schutzumschlag · dust jacket 300 x 240 mm Wien · Vienna, 1994 · www.ewigesarchiv.at 2 Essays: Gottfried Fliedl Monika Schwärzler
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Bibliotheken und die subversive Kraft der Erinnerung Johanna Rachinger
Gedächtnisinstitutionen – wie Bibliotheken, Museen oder Archive – stehen in einem permanenten Kampf gegen das Vergessen. Er gleicht einer Sisyphos-Arbeit, da er niemals endgültig zu gewinnen ist, sondern die Aufgabe der Sicherung unseres Wissens nur immer an die nächste Generation weitergegeben werden kann. Warum, so könnte man fragen, lassen wir uns auf diesen scheinbar aussichtslosen Kampf überhaupt ein und akzeptieren nicht einfach die Vergänglichkeit alles Irdischen? „Glücklich ist, wer vergisst ...“, heißt es in einer Wiener Operette. Verlieren wir unsere Geschichte, so verlieren wir auch das Verständnis für die Gegenwart – und damit auch unsere Zukunft. Wer sein Gedächtnis verliert, ist geistig tot. Darum haben alle Kulturen und Gesellschaften versucht, vergangenes Wissen und Wissen über Vergangenes zu bewahren und an die nächste Generation weiterzugeben. In der Geschichte erkennen wir unsere Wurzeln und damit unsere eigene geistige und kulturelle Identität. Der französische Philosoph Maurice Halbwachs hat darauf hingewiesen, dass unser individuelles Erinnerungsvermögen notwendig eingebettet ist in einen sozialen Erinnerungsrahmen, den er mit dem Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ zu umschreiben versuchte.1) Moderne GedächtnisforscherInnen wie Aleida Assmann haben mit dem Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ eine über die zeitlichen Grenzen des kommunikativen (sozialen) Gedächtnisses hinausgehende Dimension beschrieben, die wesentlich auf materiellen Dokumenten beruht. Dieses kulturelle Gedächtnis bleibt auf Dauer nur bestehen, wenn es Institutionen gibt, die es bewahren. Dies verweist direkt auf die grundlegende gesellschaftliche Aufgabe von Gedächtnisinstitutionen wie Nationalbibliotheken und -archiven, nämlich das in Dokumenten niedergelegte, über viele Generationen gesammelte Wissen für die Zukunft zu bewahren. Heute ist die Menge des im „Speichergedächtnis“ von Bibliotheken und Archiven angesammelten Wissens längst unüberschaubar geworden. Nur Ausschnitte davon können nach jeweils selektiven Interessen ins aktuelle Blickfeld einer Gesellschaft – in das „Funktionsgedächtnis“, wie Aleida Assmann es nennt – emporgehoben werden. Sie spricht deshalb von einem charakteristischen Spannungsverhältnis zwischen „Erinnertem und Vergessenem, Bewusstem und Unbewusstem, Manifestem und Latentem“2), das es uns erlaubt, Geschichte immer wieder neu zu bewerten und neu zu interpretieren. Außer Zweifel steht, dass unsere gesamte Kultur auf einer zumindest in großen Zügen funktionierenden Wissenstradierung beruht. Wissenschaftliche Forschung, ein Fortschritt im menschlichen Wissen überhaupt, ist nur möglich, weil wir auf den Erkenntnissen – und Irrtümern – unserer Vorgänger aufbauen können und nicht jede Generation in ihrem Wissenserwerb bei Null zu beginnen braucht. Jedes einzelne Dokument aus dem Wissensspeicher der Menschheit, das unwiederbringlich verloren geht, hinterlässt eine Lücke in unserem kulturellen Gedächtnis. Der Brand der legendären Bibliothek von Alexandria hinterließ einen gigantischen Krater des Vergessens. Das „Memory of the World“-Programm der UNESCO steht für diesen wichtigen Aspekt der Wissensbewahrung. Es versammelt Dokumente aus aller Welt, die symbolisch das gemeinsame 74
kulturelle Gedächtnis der Menschheit repräsentieren. Mit bereits 13 Einträgen – sieben davon von der Österreichischen Nationalbibliothek – ist Österreich eines der am prominentesten vertretenen Länder im „Memory of the World“-Programm.3) Daraus ergeben sich für die mit der Wissensbewahrung befassten Institutionen zweierlei grundlegende Aufgaben. Einerseits gilt es, die in Dokumenten niedergelegten Inhalte unseres Wissens zu bewahren, andererseits aber auch, das Wissen um ihre Interpretation lebendig zu erhalten. Über Jahrhunderte und bis heute wurden und werden die originalen Trägermedien – Papyri, Handschriften, Drucke etc. – selbst sorgsam und dauerhaft aufbewahrt. Heute kommt die Möglichkeit dazu, rechtzeitig digitale Substitute der Originaldokumente herzustellen. Dieser neue Weg eröffnet uns enorme Chancen: Zum einen können auf diese Weise auch die Inhalte von jenen Dokumenten gerettet werden, deren physischer Zerfall nicht dauerhaft zu verhindern ist. Zum anderen ermöglichen digitale Wissensspeicher einen direkten und einfachen Online-Zugriff auf die Informationen, wobei gleichzeitig die Originaldokumente geschont werden. Mit dem Übergang ins Zeitalter digitaler Medien treten aber auch neue Themen in den Mittelpunkt. Dabei geht es weniger um die Sicherung der elektronischen Datenträger selbst, sondern primär darum, die auf digitalen Medien gespeicherten Informationen lesbar zu erhalten. Der dynamische Wechsel der Hard- und Softwarestandards erfordert komplexe und kontinuierliche Anstrengungen sowie Institutionen, die diese Aufgabe leisten können. Unter dem Titel „Langzeitarchivierung“ hat sich an Bibliotheken und Archiven längst eine eigene Disziplin etabliert.4) Neben diesem technischen Aspekt der Archivierung von Information stellt sich aber eine ebenso wichtige komplementäre Aufgabe: Es nützt wenig, Jahrtausende alte ägyptische Papyri zu bewahren, wenn niemand sie zu entziffern vermag. Wenn es uns nicht mehr gelingt, die Zeichen aus der Vergangenheit zu entschlüsseln, bleiben es stumme, unverständliche Symbole. Eine historische Urkunde, die niemand mehr interpretieren kann, ein Bild, von dem niemand mehr weiß, wen oder was es darstellt, verliert seinen eigentlichen Sinngehalt. Genauso wichtig wie die Bewahrung der Information selbst ist also die Kompetenz, sie zu interpretieren. Beide Komponenten haben aber eine entgegengesetzte zeitliche Dynamik, denn der „Zahn der Zeit“ nagt unerbittlich: Ist ein Dokument einmal zerstört, ist es unwiederbringlich verloren. Bei der Entschlüsselung und Interpretation historischer Dokumente hingegen können wir auch auf künftige Forschergenerationen hoffen, solange die Quellen selbst noch verfügbar sind. Die Hieroglyphen konnten beispielsweise erst nach vielen Jahrhunderten der Vergessenheit wieder entschlüsselt werden. Genauso wie historische Dokumente von spezifisch darauf ausgerichteten Gedächtnisinstitutionen bewahrt werden müssen, weil sie „von selbst“ nicht erhalten bleiben würden, so bedarf die Kompetenz zur Interpretation dieser historischen Quellen einer systematischen Pflege in einem wissenschaftlichen Umfeld. Wissensbewahrung steht in einem charakteristischen Naheverhältnis zu politischen Machtstrukturen. Aleida Assmann spricht von einer „charakteristischen Allianz von Herrschaft und Gedächtnis.
Politische Machthaber sind kaum je an einer objektiven, wertfreien Bewahrung von vergangenem Wissen und Wissen über Vergangenes interessiert. Darin kommt eine fast paranoide Angst vor der subversiven Kraft von Archiven und Bibliotheken zum Ausdruck. Denn in den riesigen Gedächtnisspeichern wird sich immer auch politisch Unliebsames, ideologisch Verpöntes, offiziell tot Geschwiegenes finden, das die eigene Machtposition und Legitimation in Frage stellt. Genauso wie das kulturelle Gedächtnis also zur Legitimation bestehender Machtverhältnisse verwendet werden kann, kann es auch zu deren Infragestellung und Umsturz genutzt werden. In diesem Sinn fungieren Bibliotheken und Archive niemals bloß als Institutionen der Machtlegitimation, sondern immer auch als ihr Gegenteil: als potentielle Orte des Widerstandes, der Kritik und der Subversion. Vorausgesetzt allerdings, dass ihre Aufgabe des Sammelns und Bewahrens nicht von vorneherein einer ideologischen Kontrolle unterworfen ist. Es ist klar, dass ideologisch „gleichgeschaltete“ Archive und Bibliotheken sich in letzter Konsequenz selbst zerstören, weil sie die ihnen eigene Aufgabe als kulturelles Gedächtnis nicht mehr erfüllen können. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt formulierte pointiert: „Die Vergangenheit und die Zukunft stehen miteinander in einem geheimnisvollen Stoffwechsel. Als dessen Zentralorgan fungieren die grossen Bibliotheken, die alles Vergangene ohne Rücksicht auf Aktualität für die Zukunft bewahren. […] Der Wille zur Totalität steckt nämlich als geheimer Wahn, als eine Art angeborene Besessenheit im Wesen der Bibliothek. […] Die Bibliothek muss das aufbewahren, worin sich eines Tages eine neue Zeit erkennt, muss es aufbewahren, ohne wissen zu können, was das ist und wo in ihren Lagern und Gestellen die schlafenden Hunde liegen.“6) Nur in diesem Anspruch auf Objektivität und Totalität können Gedächtnisinstitutionen ihrer Funktion als Hüter des kulturellen Gedächtnisses gerecht werden. Sie müssen versuchen, möglichst „alles“ zu sammeln – im Rahmen ihrer technischen und ökonomischen Möglichkeiten. Denn wir können heute noch nicht wissen, was zukünftige Generationen interessieren wird. In diesem Sinne muss das Wissensarchiv immer versuchen, zweckfrei und politisch unabhängig zu agieren, denn nur dann bleibt es eine unerschöpfliche Quelle überraschender Entdeckungen und geistiger Inspiration.
1) Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin 1966 [Orig.: Les cadres sociaux de la mémoire. Paris 1925] 2) Aleida Assmann, Von individuellen zu kollektiven Konstruktionen von Vergangenheit. Vortrag an der Universität Wien am 6.6.2005. 3) Zuletzt wurde im Juni 2013 die „Goldene Bulle“ als deutsch-österreichische Gemeinschaftsnominierung in die Liste des Weltdokumentenerbes aufgenommen. Vgl.: http://www.unesco.org/new/en/communication-and-information/flagship-project-activities/memory-of-the-world/register/access-by-region-andcountry/europe-and-north-america/austria 4) Vgl. dazu z.B. die von der UNESCO organisierte Konferenz The Memory of the World in the Digital Age. Digitization and Preservation. An international conference on permanent access to digital documentary heritage. September 2012, Vancouver, British Columbia, Canada. Conference Proceedings sind online zugänglich unter: http://www.ciscra.org/docs/UNESCO_ MOW2012_Proceedings_FINAL_ENG_Compressed.pdf 5) Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999; S. 138 6) Peter von Matt, Die Vergangenheitsmaschinen. Die paradoxe Aufgabe der Bibliotheken im Kontext von Kultur und Wissenschaft. Neue Zürcher Zeitung vom 18. 4. 2005
Foto: © Hauswirth
Legitimation ist das vordringliche Anliegen des offiziellen oder politischen Gedächtnisses.“5) Herrschaft wurde gewöhnlich mittels ausgeklügelter Vergangenheitskonstruktionen legitimiert – und damit auch der Anspruch auf ihre unbegrenzte Fortsetzung. Der Versuch, auch die Vergangenheit vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen und damit Geschichte als ihre eigene Legitimations- und Ruhmesgeschichte umzuschreiben, ist ein Kennzeichen totalitärer Macht. George Orwell hat diesen Vorgang, der sich in vielen Diktaturen der Welt bis heute abspielt, literarisch überzeichnet in seinem berühmten Roman 1984 dargestellt.
J. R., 2014 Dr. Johanna Rachinger, seit Juni 2001 Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek, studierte Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien. Von 1995 bis 2001 war sie Geschäftsführerin des Verlags Ueberreuter. Dr. Rachinger wurden zahlreiche Auszeichnungen verliehen, darunter WU-Managerin des Jahres 2012, Österreicherin des Jahres 2010 in der Kategorie „Kulturmanagement“ und der Wiener Frauenpreis 2003. Von 2004 bis 2009 war sie stellvertretende Vorsitzende des Österreichischen Wissenschaftsrates. Sie ist Mitglied des Senats der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Aufsichtsrätin der DIE ERSTE österreichische Spar-Casse Privatstiftung.
aus: Peter Putz, Das Ewige Archiv · New Stuff, Wien 2014, Ritter 75
1994 Kritiken · Reviews: Virtual Triviality
02 / 1995
Peter Putz erhielt schon viele Preise für seine Film- und Videoarbeiten. Seit 1991 benutzt er den Computer als Werkzeug künstlerischer Arbeit.
04 / 1995 76
27. 1. 1995
45 / 2002
5. 4. 1995 77
1988 Museum moderner Kunst Wien
Begrüßung · Welcome Address: Dieter Schrage, Museum moderner Kunst
Peter Putz, Premiere „Gelati per tutti“
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Peter Putz
DAS EWIGE ARCHIV Kassettenedition Auflage 99 Stück, signiert, nummeriert · edition of 99, signed, numbered. 33 Tableaus 315 x 455 mm in einer Holzkassette 33 tableaus in wooden cassette; 2 Siebdrucke auf Büttenpapier 2 serigraphies; 32 Offsetdrucke in insgesamt sieben Farben auf 340 g/m2 Invercoat-Karton; 32 offsetprints, 7 colours on 340 g/m2 Essay: Arnulf Rohsmann
Ausstellung · Exhibition:
Museum moderner Kunst Wien Im Rahmen der Ausstellung Erstaufführung der Filme „TV Montezuma“ und „Gelati per tutti“. Premiere of the films „TV Montezuma“ and „Gelati per tutti“.
Ausstellung im Museum moderner Kunst, Wien 1988. Eröffnung durch Dir. Dr. Dieter Schrage, Museum mod. Kunst, Dr. Arnulf Rohsmann, Dir. Landesgalerie Klagenfurt; Premiere der Animations-Filme „Gelati per tutti“ und „TV-Motezuma“. 79
1987
Tableaux der Kassettenedition DAS EWIGE ARCHIV, 1987, 31,5 x 45,5 cm; Offsetdruck in 7 Farben, signiert, nummeriert
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Tableaux der Kassettenedition DAS EWIGE ARCHIV, 1987, 31,5 x 45,5 cm; Offsetdruck in 7 Farben, signiert, nummeriert
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Über das Archivieren des Ephemeren Ingram Hartinger
Schon allein der Titel des Buchs will nicht aus den Dunkelwelten des Universums kommen. New Stuff sagt modern und zeitgerecht: Hienieden wird fortgesetzt, es gibt das Vorher, den Anfang mit allem – und wer den Beginn der Eskapade, der ganzen Bildgeschichte versäumt und nicht kennt – selber schuld. Es geht bei New Stuff in seiner apostrophierten Kontinuität nicht um billige Vertrauensbildung, dass hier ein Werk etwa und nicht das Produkt einer Eintagsfliege im Entstehen ist, nein, die Fütterung mit neuem Material, das Hinzufügen neuer Daten in den ohnehin schon prallen Speicher ist simpel gemeint, nichts sonst. Kurz ist das Leben, ewig sein Archiv. Wir sind hier – erinnern wir uns! – auf der Erde, wenn auch als Megahaufen stumpfsinnig von uns selbst verehrt. Er könnte auch heißen: „Die nächste Welt, bitte“, um Abwechslung zu schaffen, aber so heißt der vorliegende Band mit seinen zahllosen Bildchen und Geschichtchen nun einmal nicht. Die ständige Wiederholung ist gefragt – damit ein Wesentliches endlich hinterfragt sei. Und dann kann man sich fragen, ob das mit dem Additiv, mit der Wiederholung, der Serie und dem Kompilieren ewig so weitergehen kann und wohin das führen wird. Das neue/alte Material mit utopisch unterentwickelter Epidermis schaut einem unverhüllt entgegen: als erbarmungslose Variantenproduktion, als Produkte einer materialistischen Philosophie, als enttarntes Muster eines sozialen Zusammenhangs. Es gibt ein Misstrauen gegen das Bild, das dem Bild nicht das Mindeste glaubt. Die mythologische Sprachanbetung weiß, was das Wort betrifft, selbst davon ein Liedchen zu singen. Wort und Bild sind auf Dauer in die Binsen gegangen. Übrig bleiben die Dinge, die Binsen und verschiedene pathologische Anatomien. Um jene Dinge geht es in diesem Buch, die beweiskräftiger sind als jedes Vertuschungsmanöver des totalitären Zeitgeists. Beim Blättern im Buch: „Das alles hat man doch schon irgendwo gesehen. Dem ist man erst kürzlich begegnet.“ Aber man täusche sich nicht. Es gibt das Lineare nicht – außer im Denken. Und dieses macht Angst. Alles ist hier auf der Flucht. Das Archivieren selbst scheint als Vorgang, als selbstreferenzielles Muster und Monster hingegen ewig und ohne Alter zu sein, keine Radiocarbonmethode ließe sich hier anwenden. Die ganze Welt ist nämlich ein Archiv, wiewohl die vorgefundenen, gegebenen Gegenstände sich datieren lassen, in allen Höhlen des Amazonas liegen sie herum und auch sonst wo. Selbst wo kein Mensch ist, ist noch ein zu Archivierendes im Außen, ist ein Alter. Externe Medien, als da sind: Knochen, Knorpel, Sehnen, Bänder oder die Federn des Vogels Garuda, schließlich jede Menge Anorganisches. Irgendein Gegenstand war immer als erster da, von da an ein Regieren. Man vergisst im Alltag nur immer wieder die vielen kleinen Hinweise. Dem Archiv verschrieben.1) „Nichts ist weniger sicher, nichts weniger eindeutig heute als das Wort Archiv“ und nichts „trüber und verwirrender heute als der in diesem Wort Archiv archivierte Begriff“, gesteht Derrida. Der Titel des französischen Originals lautet übrigens Mal d’archive und ist vieldeutig. Der Begriff „mal“ – Mühe, Weh, Leid, das Übel, das Böse – kann einerseits im Genitivus subiectivus wie auch obiectivus mit dem des Archivs verbunden sein, also ein dem Archiv inhärentes Übel oder gar das Archiv selbst als Übel 82
bezeichnen, andererseits – wie etwa in „mal du pays“ – auf eine Sehnsucht, ein Begehren hinweisen, womit sich die Verquickung mit der Psychoanalyse ergibt: Freuds Unbewusstes wurde von Derrida als Entwurf für eine Archiviologie gelesen. Daraus folgt die mediale Speicherung als fatale Wiederholung. Kein Archiv ohne „Draußen“, wobei „Draußen“ einen „externen Träger“ (Derrida) meint. Genau hier kommt nach Derrida Psychoanalyse ins Spiel: „Wenn es kein Archiv gibt ohne Konsignation an irgendeinem äußeren Ort, der die Möglichkeit der Memorisierung, der Wiederholung, der Reproduktion oder der Re-impression sicherstellt, so sollten wir uns zudem in Erinnerung rufen, dass die Wiederholung selbst, die Logik der Wiederholung, ja der Wiederholungszwang nach Freud untrennbar bleibt vom Todestrieb. Also von Destruktion.“2) Und damit ist das „mal d’archive“ festgestellt: „Der Todestrieb [...] bedroht [...] jede Prinzipalität, jedes archontische Primat, jedes Begehren nach einem Archiv. Wir werden dem später den zusätzlichen Namen le mal d’archive, ‚das Archivübel’, geben.“3) Das Draußen, eine gewisse Äußerlichkeit: die Einkaufswägelchen des Supermarkts, ineinandergeschoben und geschützt durch Plexiglaskojen. Wenn das Archiv etwas bewahrt, muss es materiell verräumlicht sein. Denn erst mit dieser Verräumlichung wird es wiederholbar, und es ist die Wiederholbarkeit, über die wir bewahren. Wiederholung ist jedoch in der Dekonstruktion kein einfacher Vorgang, im Gegenteil. Wiederholbarkeit ist die Voraussetzung für das Speichern, aber sie stellt zugleich den Inhalt nicht still, denn der Wiederholung ist gemäß der Theorie der Dekonstruktion selbst ein Moment der Entfremdung immanent. Es ist immer ein Erbe anzutreten. Mitten im „Archivübel“ – die Versuchung sondergleichen –, also mitten in den Wäldern Amazoniens, entdeckt mit schwellender Brust ein gewisser Humboldt Pflanzen, Steine und Tiere. Er jauchzt, bringt alles heim, will nichts verkomplizieren. Die errichteten Archive als Simulationen des Diesseits. Und heutzutage? Die zu Unrecht verschrienen und pathologisierten Messies mit ihren Sammlungen von alten Plastiksäcken, Zeitungen, Tellern, Knöpfen, halb zerfallenen Borkenkäfern, Wärmedämmmitteln, Schaufensterpuppen, Gartengerät, Bleistiften, Colaflaschen, Batterien, Bilderrahmen, Readers-Digest-Heften, Kohleresten, Ölkannen, Zimbeln, Scheißspateln, Weihrauchschalen, Apfelkernen und dergleichen mehr – auch sie sind die Archivare der Gegenwart, und die Dialektik der Unzähmbarkeit der Dinge steht nicht still. Ganz neu fängt im Leben gar nichts an. Man wird dieses Anhäufen, dieses Kompilieren nie mehr vergessen. Ganz verschollen geht selten etwas. Ins scheinbar Ewige hinein archiviert versetzt das Archiv einen in die unangenehme Lage, über den Wahnsinn der Warenwelt und der wahren Welt nachzudenken. Wir leben nun einmal in Bad Ischl, Poznan´, Wien, Saalfelden, Gmunden, Klagenfurt und Langwies. Geht man um die Sachen herum, dann das meist sehr. Die Grammatik der Bilder macht wie im Sprechen und Schreiben Vorschriften. Wir sprechen nun einmal eine Sprache. Diese Sprache haben wir mitgenommen, mit ihr arbeiten wir. Die Bilder, inflationär und heimtückisch, werden hingegen immer mehr das Mittel, um Anschauung zu kaufen. Dem will sich ein
absichtsloses, unschuldiges Kompilieren entgegenstemmen. Ein Wegtun des Drückenden, Falschen, Hemmenden wird dann unmöglich, im Gegenteil. New Stuff reiht nicht nur aneinander, setzt nicht nur Inkompatibles in Beziehung, New Stuff will den ganzen Unsinn unserer Scheinwelten aufbrechen. Großes Vorhaben, das zweifellos zum Scheitern verurteilt ist. Der Tag wird immer grauer, und der kleine Maxi darf nur noch schwefeln und nebeln. Fernab eines ideologischen Wischiwaschis will das Ewige Archiv hin- und verweisen, um den Bilderbrei leicht zu verändern. Auf der Breitseite der Bildwelten kann nichts verwischt werden. Längsseitig befindet sich selbstverständlich Neuland. Dieses betritt PP mit Humor und Schärfe. 20. März 2014 – Da liegt der tote ukrainische Soldat. Ein Hund bellt ihn an. Niemand weiß, wie der Soldat heißt. Ein Kind kommt daher. Dem erzählte der Soldat, als er noch lebte, eine Geschichte. Der Wald, in dem der Soldat liegt, weint. Das in eine Schlucht gefallene Dorf in der Nähe beherbergt einen alten Morgen. Da liegt der Soldat. Knochen. Das Vaterland will nicht mehr Fleisch werden. Ihr könnt säen, was immer ihr wollt, da fließt kein Bach mehr, da gibt es kein Wasser. Komm, Südwind, berühre die Wurzeln der Erde.
1) Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997. Dieser Text, geschrieben im thematisch etwas schwer zu verfolgenden, sprunghaften Stil, den Derrida in den Neunzigerjahren pflegte, wurde erstmalig am 5. Juni 1994 in London auf dem internationalen Kolloquium Memory: The Question of Archives vorgetragen. Er trug ursprünglich den Titel Le concept d’archive. Une impression freudienne und verweist damit auf Derridas früheren Text, Freud und der Schauplatz der Schrift. 2) a.a.O., S. 22 3) a.a.O., S. 26
I. H., 2003 Ingram Hartinger, geb. in Saalfelden, lebt seit 1979 in Kärnten. Gedichte, Prosa, Essays, Radioarbeiten; zuletzt erschienen: Das verschmutzte Denken, Klagenfurt 2014
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∞ in progress Video (4:15 min.), 2014, HD Peter Putz: concept + images; Markus Hanzer: digital production; Felix Del Tredici: bass trombone; Christian S. Smith: percussion. Video compression: Herwig Turk; © Peter Putz www.ewigesarchiv.at, 2014. online auf: youtube (Peter Putz, ∞ in progress)
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Peter Putz
DAS EWIGE ARCHIV The Eternal Archives · ∞
Das Ewige Archiv wurde im Jahr 1980 von Peter Putz gegründet und versteht sich als dynamische Enzyklopädie zeitgenössischer Identitäten. Es ist eine der umfangreichsten nichtkommerziellen und unabhängigen Bilddatenbanken Österreichs, mit einem Bildbestand ab dem Jahre 1905, mit Metadatenverzeichnis und detaillierter Beschlagwortung. Die Arbeit am Ewigen Archiv wurde ohne jegliche öffentliche oder institutionalisierte Unterstützung zur Gänze aus Eigenmitteln realisiert und finanziert.
Fotos der Ausstellungen: Rupert Steiner, www.rupertsteiner.com Fotos der Veranstaltung in der Kunsthalle Wien: Reinhard Mandl; Didi Sattmann; Barbara Ster Fotos der Veranstaltung im WIEN MUSEUM: Gerhard Carl, www.stiftfits.at; Heribert Corn, www.corn.at; Stefan Liewehr, www.liewehr.com Hannes Reisinger; Didi Sattmann, www.wienmuseum.at
Herausgeber Peter Putz, Das Ewige Archiv · The Eternal Archives www.ewigesarchiv.at Gestaltung: Studio Putz+ Medien · Grafik · Kunst Digitale Bildbearbeitung: Peter Putz Übersetzung · Translation: Shawn Bryan
Alle Fotos, außer gesondert ausgewiesen: © Peter Putz Essays: © Autoren und Autorinnen © Peter Putz · Wien 2016 www.ewigesarchiv.at
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Peter Putz, * 1954 in Ebensee/OÖ. Universität für angewandte Kunst Wien. Studien- und Arbeitsaufenthalte in Poznan/PL (1977/78); Montréal/CAN, Concordia University, artist in residence (1988/89); Paris/F, Cité international des arts (1990); New York/USA (1995). 1978 Gründung der Bild-Manufaktur-Traunsee gemeinsam mit Hans Kienesberger und Walter Pilar und Herausgabe der Bild-Text-Edition Der Traunseher (1978 – 1981). 1978 erste Animationsfilme; Lektor für Film und Neue Medien an mehreren Universitäten. Seit 1980 Arbeit am Projekt Das Ewige Archiv, 1988 Ausstellung im Museum moderner Kunst Wien, 1994 Veröffentlichung des Buches Das Ewige Archiv · Virtual Triviality. 2012 Das Ewige Archiv · Heavy Duty XS, Buchpräsentation und Ausstellung im Wien Museum. 2014 Das Ewige Archiv · New Stuff, Buchpräsentation und Ausstellung in der Kunsthalle Wien. 2015 Les Archives éternelles, Paris, Maison Heinrich Heine Das Ewige Archiv, Robert-Musil-Literaturhaus, Klagenfurt The Eternal Archives & Mont Real Remix, Topological Media Lab, Concordia University, Montreal, CA Zahlreiche Ausstellungen und Auszeichnungen, Vorträge und Publikationen.
Humor und Schärfe für Peter Putz Du sagst nicht Auf mich wartet niemand Du sagst nicht Lass mich schlafen Ingram Hartinger