Essays: Das Ewige Archiv · The Eternal Archives (v_03)

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Peter Putz

Das Ewige Archiv The Eternal Archives · ∞

Essays

Friedrich Achleitner Richard Bellet Shawn Bryan Robert Del Tredici Gottfried Fliedl Peter Gorsen Ingram Hartinger Elke Krasny Shaheen Merali Peter Putz Johanna Rachinger Arnulf Rohsmann Monika Schwärzler Timm Starl Marlene Streeruwitz



Das Ewige Archiv · New Stuff (2014) 8 Johanna Rachinger Bibliotheken und die subversive Kraft der Erinnerung 10 Libraries and the Subversive Power of Remembrance 12 Shaheen Merali

Der lange Atem 14 The Long Breath 16

Elke Krasny

Aktivist Archivar Künstler Fotograf 18 Activist Archivist Artist Photographer 22

Gottfried Fliedl

Besichtigungen im „Ewigen Archiv“ 26 Touring the ”Eternal Archives” 30

Ingram Hartinger

Über das Archivieren des Ephemeren On Archiving the Ephemeral

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Shawn Bryan

Ein anderes Licht? A Different Light?

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Peter Putz

Woher kommen Bilder, was tun sie hier, wohin gehen sie? 40 Where do pictures come from, what are they doing here, where are they going? 41

Das Ewige Archiv · Heavy Duty XS (2012) Friedrich Achleitner MI & (lano) = MI & (stelbach) MI & (lano) = MI & (stelbach) [E]

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Richard Bellet

L‘écho des photos, le poids des maux Echo der Photos, Gewicht des Bösen The Echo of Photos, the Weight of Evil

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Robert Del Tredici

Photographing the Bomb: what kept me going 50 Die Bombe fotografieren: was mich weitermachen ließ 51 Photographing the Bomb (photos) 52

Peter Gorsen

Salvador Dalís fabulierte Wahnwelt im Vergleich mit . . . Salvador Dalí’s Fable-like World of Madness and . . .

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Timm Starl

Das Archiv der Fotografie The Archive of Photography

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Marlene Streeruwitz Occupy Occupy [E] Peter Putz

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Was ich nicht fotografieren darf 64 What I’m not allowed to photograph 65

Das Ewige Archiv · Virtual Triviality (1994) 66 Kritiken | Reviews Das Ewige Archiv | The Eternal Archives · Virtual Triviality 68 Gottfried Fliedl

Das Ewige Archiv 70 The Eternal Archives 71

Monika Schwärzler

Vom Vergnügen und Ungenügen an Oberflächen 72 Of Pleasure and the Insufficiency of Surfaces 73

Das Ewige Archiv Kassettenedition The Eternal Archives – Wooden Box Edition (1987) 74 Gottfried Fliedl Das Ewige Archiv 78 The Eternal Archives 81 Arnulf Rohsmann

Text zur Kassettenedition 84 Essay for the Wooden Box Edition 85

Ingram Hartinger

Impressum | Imprint Biographie | Biography Humor und Schärfe | Humor and Sharpness

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„Man muss den Dingen eine Form, eine Ordnung geben können, um sie besser zu verstehen, und das ist es auch, was man tut, wenn man einen Film macht oder anders künstlerisch tätig ist: Man versucht, zumindest temporär, eine Ordnung einzuführen und ein oder zwei Fragen auf diese Weise zu klären – weil man das chaotische Ganze ohnehin nicht erfassen kann. Ich glaube, das ist eine Art, um die Unordnung, in der wir leben oder als die wir die Welt empfinden, auszuhalten.“ Agnès Varda

“You have to give things a form, an order, so you can understand them better. And that is what you do when you make a film or engage in other artistic activity: you try to introduce order, at least temporarily, so as to clarify one or two questions because there is no way to grasp chaos in any case. I think that this is a way of tolerating the disorder in which we live or perceive the world.” Agnès Varda

« Il faut pouvoir donner une forme, un ordre aux choses pour mieux les comprendre; c’est aussi en cela que consiste la réalisation d’un film ou toute autre activité artistique : nous essayons, du moins temporairement, d’introduire un ordre et d’élucider ainsi une ou deux questions – car on ne peut, de toute façon, saisir le tout chaotique. Je crois que c’est une manière de supporter le désordre dans lequel nous vivons ou sous la forme duquel nous ressentons le monde. » Agnès Varda

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Das Ewige Archiv wurde im Jahr 1980 von Peter Putz gegründet und versteht sich als dynamische Enzyklopädie zeitgenössischer Identitäten. Es ist eine der umfangreichsten nichtkommerziellen und unabhängigen Bilddatenbanken Österreichs, mit einem Bildbestand ab dem Jahre 1905, mit Metadatenverzeichnis und detaillierter Beschlagwortung. Schwerpunkt ist die permanente fotografische Notiz: Spurensicherung des Alltags, Dokumentation und Vergleich unterschiedlicher Lebens- und Arbeitsräume: Wien und Montréal, Ebensee und Poznan´, London, New York, Berlin, Lissabon ebenso wie Paris, Vandans, Bagdad und Rom. Diese Aufzeichnungen verdichten sich zu größeren Bezugsräumen und bilden ein facettenreiches Gewebe verschiedenster Realitäten mit besonderem Augenmerk auf Spektakulär-Unspektakuläres. Bilder der Sammlung werden zu themenbezogenen Tableaux zusammengefasst.

The Eternal Archives were created by Peter Putz in 1980 and can be understood as a dynamic encyclopedia of contemporary identities. They are one of Austria’s most comprehensive non-commercial, independent image databases, with images dating from 1905 and a metadata index with detailed keyword referencing. The focus is on photographic note-taking: preserving traces of everyday activity, documenting and comparing a variety of places where people live and work – Vienna and Montreal, Ebensee and Poznan´, London, New York, Berlin, Lisbon, as well as Paris, Vandans, Baghdad and Rome. These photographic records interconnect to form a multi-facetted network of greatly differing realities, with particular attention being paid throughout to the profane, the normal, the ordinary and thus pointing out its importance. Images have been collated into thematic tableaux.

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Kunsthalle Wien Museumsquartier Ausstellung ¡ exhibition 2014 6


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2014 Peter Putz

DAS EWIGE ARCHIV The Eternal Archives · ∞

New Stuff

248 Seiten · pages, deutsch · english Hardcover, Schutzumschlag · dust jacket Ritterverlag, Wien · Klagenfurt, 2014 www.ritterbooks.com 100 Tableaus: Peter Putz 7 Essays: Shawn Bryan, Gottfried Fliedl Ingram Hartinger, Elke Krasny Shaheen Merali, Peter Putz Johanna Rachinger Extras: Matthias Marx, Johann Promberger Karl A. Putz

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Peter Putz

DAS EWIGE ARCHIV The Eternal Archives · ∞

New Stuff RITTER


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Bibliotheken und die subversive Kraft der Erinnerung Johanna Rachinger

Gedächtnisinstitutionen – wie Bibliotheken, Museen oder Archive – stehen in einem permanenten Kampf gegen das Vergessen. Er gleicht einer Sisyphos-Arbeit, da er niemals endgültig zu gewinnen ist, sondern die Aufgabe der Sicherung unseres Wissens nur immer an die nächste Generation weitergegeben werden kann. Warum, so könnte man fragen, lassen wir uns auf diesen scheinbar aussichtslosen Kampf überhaupt ein und akzeptieren nicht einfach die Vergänglichkeit alles Irdischen? „Glücklich ist, wer vergisst ...“, heißt es in einer Wiener Operette. Verlieren wir unsere Geschichte, so verlieren wir auch das Verständnis für die Gegenwart – und damit auch unsere Zukunft. Wer sein Gedächtnis verliert, ist geistig tot. Darum haben alle Kulturen und Gesellschaften versucht, vergangenes Wissen und Wissen über Vergangenes zu bewahren und an die nächste Generation weiterzugeben. In der Geschichte erkennen wir unsere Wurzeln und damit unsere eigene geistige und kulturelle Identität. Der französische Philosoph Maurice Halbwachs hat darauf hingewiesen, dass unser individuelles Erinnerungsvermögen notwendig eingebettet ist in einen sozialen Erinnerungsrahmen, den er mit dem Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ zu umschreiben versuchte.1) Moderne GedächtnisforscherInnen wie Aleida Assmann haben mit dem Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ eine über die zeitlichen Grenzen des kommunikativen (sozialen) Gedächtnisses hinausgehende Dimension beschrieben, die wesentlich auf materiellen Dokumenten beruht. Dieses kulturelle Gedächtnis bleibt auf Dauer nur bestehen, wenn es Institutionen gibt, die es bewahren. Dies verweist direkt auf die grundlegende gesellschaftliche Aufgabe von Gedächtnisinstitutionen wie Nationalbibliotheken und -archiven, nämlich das in Dokumenten niedergelegte, über viele Generationen gesammelte Wissen für die Zukunft zu bewahren. Heute ist die Menge des im „Speichergedächtnis“ von Bibliotheken und Archiven angesammelten Wissens längst unüberschaubar geworden. Nur Ausschnitte davon können nach jeweils selektiven Interessen ins aktuelle Blickfeld einer Gesellschaft – in das „Funktionsgedächtnis“, wie Aleida Assmann es nennt – emporgehoben werden. Sie spricht deshalb von einem charakteristischen Spannungsverhältnis zwischen „Erinnertem und Vergessenem, Bewusstem und Unbewusstem, Manifestem und Latentem“2), das es uns erlaubt, Geschichte immer wieder neu zu bewerten und neu zu interpretieren. Außer Zweifel steht, dass unsere gesamte Kultur auf einer zumindest in großen Zügen funktionierenden Wissenstradierung beruht. Wissenschaftliche Forschung, ein Fortschritt im menschlichen Wissen überhaupt, ist nur möglich, weil wir auf den Erkenntnissen – und Irrtümern – unserer Vorgänger aufbauen können und nicht jede Generation in ihrem Wissenserwerb bei Null zu beginnen braucht. Jedes einzelne Dokument aus dem Wissensspeicher der Menschheit, das unwiederbringlich verloren geht, hinterlässt eine Lücke in unserem kulturellen Gedächtnis. Der Brand der legendären Bibliothek von Alexandria hinterließ einen gigantischen Krater des Vergessens. Das „Memory of the World“-Programm der UNESCO steht für diesen wichtigen Aspekt der Wissensbewahrung. Es versammelt Dokumente aus aller Welt, die symbolisch das gemeinsame 10

kulturelle Gedächtnis der Menschheit repräsentieren. Mit bereits 13 Einträgen – sieben davon von der Österreichischen Nationalbibliothek – ist Österreich eines der am prominentesten vertretenen Länder im „Memory of the World“-Programm.3) Daraus ergeben sich für die mit der Wissensbewahrung befassten Institutionen zweierlei grundlegende Aufgaben. Einerseits gilt es, die in Dokumenten niedergelegten Inhalte unseres Wissens zu bewahren, andererseits aber auch, das Wissen um ihre Interpretation lebendig zu erhalten. Über Jahrhunderte und bis heute wurden und werden die originalen Trägermedien – Papyri, Handschriften, Drucke etc. – selbst sorgsam und dauerhaft aufbewahrt. Heute kommt die Möglichkeit dazu, rechtzeitig digitale Substitute der Originaldokumente herzustellen. Dieser neue Weg eröffnet uns enorme Chancen: Zum einen können auf diese Weise auch die Inhalte von jenen Dokumenten gerettet werden, deren physischer Zerfall nicht dauerhaft zu verhindern ist. Zum anderen ermöglichen digitale Wissensspeicher einen direkten und einfachen Online-Zugriff auf die Informationen, wobei gleichzeitig die Originaldokumente geschont werden. Mit dem Übergang ins Zeitalter digitaler Medien treten aber auch neue Themen in den Mittelpunkt. Dabei geht es weniger um die Sicherung der elektronischen Datenträger selbst, sondern primär darum, die auf digitalen Medien gespeicherten Informationen lesbar zu erhalten. Der dynamische Wechsel der Hard- und Softwarestandards erfordert komplexe und kontinuierliche Anstrengungen sowie Institutionen, die diese Aufgabe leisten können. Unter dem Titel „Langzeitarchivierung“ hat sich an Bibliotheken und Archiven längst eine eigene Disziplin etabliert.4) Neben diesem technischen Aspekt der Archivierung von Information stellt sich aber eine ebenso wichtige komplementäre Aufgabe: Es nützt wenig, Jahrtausende alte ägyptische Papyri zu bewahren, wenn niemand sie zu entziffern vermag. Wenn es uns nicht mehr gelingt, die Zeichen aus der Vergangenheit zu entschlüsseln, bleiben es stumme, unverständliche Symbole. Eine historische Urkunde, die niemand mehr interpretieren kann, ein Bild, von dem niemand mehr weiß, wen oder was es darstellt, verliert seinen eigentlichen Sinngehalt. Genauso wichtig wie die Bewahrung der Information selbst ist also die Kompetenz, sie zu interpretieren. Beide Komponenten haben aber eine entgegengesetzte zeitliche Dynamik, denn der „Zahn der Zeit“ nagt unerbittlich: Ist ein Dokument einmal zerstört, ist es unwiederbringlich verloren. Bei der Entschlüsselung und Interpretation historischer Dokumente hingegen können wir auch auf künftige Forschergenerationen hoffen, solange die Quellen selbst noch verfügbar sind. Die Hieroglyphen konnten beispielsweise erst nach vielen Jahrhunderten der Vergessenheit wieder entschlüsselt werden. Genauso wie historische Dokumente von spezifisch darauf ausgerichteten Gedächtnisinstitutionen bewahrt werden müssen, weil sie „von selbst“ nicht erhalten bleiben würden, so bedarf die Kompetenz zur Interpretation dieser historischen Quellen einer systematischen Pflege in einem wissenschaftlichen Umfeld. Wissensbewahrung steht in einem charakteristischen Naheverhältnis zu politischen Machtstrukturen. Aleida Assmann spricht von einer „charakteristischen Allianz von Herrschaft und Gedächtnis.


Politische Machthaber sind kaum je an einer objektiven, wertfreien Bewahrung von vergangenem Wissen und Wissen über Vergangenes interessiert. Darin kommt eine fast paranoide Angst vor der subversiven Kraft von Archiven und Bibliotheken zum Ausdruck. Denn in den riesigen Gedächtnisspeichern wird sich immer auch politisch Unliebsames, ideologisch Verpöntes, offiziell tot Geschwiegenes finden, das die eigene Machtposition und Legitimation in Frage stellt. Genauso wie das kulturelle Gedächtnis also zur Legitimation bestehender Machtverhältnisse verwendet werden kann, kann es auch zu deren Infragestellung und Umsturz genutzt werden. In diesem Sinn fungieren Bibliotheken und Archive niemals bloß als Institutionen der Machtlegitimation, sondern immer auch als ihr Gegenteil: als potentielle Orte des Widerstandes, der Kritik und der Subversion. Vorausgesetzt allerdings, dass ihre Aufgabe des Sammelns und Bewahrens nicht von vorneherein einer ideologischen Kontrolle unterworfen ist. Es ist klar, dass ideologisch „gleichgeschaltete“ Archive und Bibliotheken sich in letzter Konsequenz selbst zerstören, weil sie die ihnen eigene Aufgabe als kulturelles Gedächtnis nicht mehr erfüllen können. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt formulierte pointiert: „Die Vergangenheit und die Zukunft stehen miteinander in einem geheimnisvollen Stoffwechsel. Als dessen Zentralorgan fungieren die grossen Bibliotheken, die alles Vergangene ohne Rücksicht auf Aktualität für die Zukunft bewahren. […] Der Wille zur Totalität steckt nämlich als geheimer Wahn, als eine Art angeborene Besessenheit im Wesen der Bibliothek. […] Die Bibliothek muss das aufbewahren, worin sich eines Tages eine neue Zeit erkennt, muss es aufbewahren, ohne wissen zu können, was das ist und wo in ihren Lagern und Gestellen die schlafenden Hunde liegen.“6) Nur in diesem Anspruch auf Objektivität und Totalität können Gedächtnisinstitutionen ihrer Funktion als Hüter des kulturellen Gedächtnisses gerecht werden. Sie müssen versuchen, möglichst „alles“ zu sammeln – im Rahmen ihrer technischen und ökonomischen Möglichkeiten. Denn wir können heute noch nicht wissen, was zukünftige Generationen interessieren wird. In diesem Sinne muss das Wissensarchiv immer versuchen, zweckfrei und politisch unabhängig zu agieren, denn nur dann bleibt es eine unerschöpfliche Quelle überraschender Entdeckungen und geistiger Inspiration.

1) Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin 1966 [Orig.: Les cadres sociaux de la mémoire. Paris 1925] 2) Aleida Assmann, Von individuellen zu kollektiven Konstruktionen von Vergangenheit. Vortrag an der Universität Wien am 6.6.2005. 3) Zuletzt wurde im Juni 2013 die „Goldene Bulle“ als deutsch-österreichische Gemeinschaftsnominierung in die Liste des Weltdokumentenerbes aufgenommen. Vgl.: http://www.unesco.org/new/en/communication-and-information/flagship-project-activities/memory-of-the-world/register/access-by-region-andcountry/europe-and-north-america/austria 4) Vgl. dazu z.B. die von der UNESCO organisierte Konferenz The Memory of the World in the Digital Age. Digitization and Preservation. An international conference on permanent access to digital documentary heritage. September 2012, Vancouver, British Columbia, Canada. Conference Proceedings sind online zugänglich unter: http://www.ciscra.org/docs/UNESCO_ MOW2012_Proceedings_FINAL_ENG_Compressed.pdf 5) Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999; S. 138 6) Peter von Matt, Die Vergangenheitsmaschinen. Die paradoxe Aufgabe der Bibliotheken im Kontext von Kultur und Wissenschaft. Neue Zürcher Zeitung vom 18. 4. 2005

Foto: © Hauswirth

Legitimation ist das vordringliche Anliegen des offiziellen oder politischen Gedächtnisses.“5) Herrschaft wurde gewöhnlich mittels ausgeklügelter Vergangenheitskonstruktionen legitimiert – und damit auch der Anspruch auf ihre unbegrenzte Fortsetzung. Der Versuch, auch die Vergangenheit vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen und damit Geschichte als ihre eigene Legitimations- und Ruhmesgeschichte umzuschreiben, ist ein Kennzeichen totalitärer Macht. George Orwell hat diesen Vorgang, der sich in vielen Diktaturen der Welt bis heute abspielt, literarisch überzeichnet in seinem berühmten Roman 1984 dargestellt.

J. R., 2014 Dr. Johanna Rachinger, seit Juni 2001 Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek, studierte Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien. Von 1995 bis 2001 war sie Geschäftsführerin des Verlags Ueberreuter. Dr. Rachinger wurden zahlreiche Auszeichnungen verliehen, darunter WU-Managerin des Jahres 2012, Österreicherin des Jahres 2010 in der Kategorie „Kulturmanagement“ und der Wiener Frauenpreis 2003. Von 2004 bis 2009 war sie stellvertretende Vorsitzende des Österreichischen Wissenschaftsrates. Sie ist Mitglied des Senats der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Aufsichtsrätin der DIE ERSTE österreichische Spar-Casse Privatstiftung.

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Libraries and the Subversive Power of Remembrance Johanna Rachinger

Memory institutions – such as libraries, museums or archives – are engaged in a constant struggle against oblivion. The struggle resembles a Sisyphean task, because it can never be won conclusively; the job of safeguarding our knowledge can only be passed on from one generation to another. So one might ask why we even bother undertaking such a seemingly hopeless struggle rather than simply accepting the transitory nature of all earthly things. “Happy is he who forgets…” says the song in a familiar Viennese operetta. If we lose our history, we also lose our ability to understand the present – and our future. To lose one’s memory is to die an intellectual death. For this reason, all cultures and societies have sought to preserve past knowledge and knowledge of the past and to transmit it to posterity. In history we recognize our roots and, consequently, our own intellectual and cultural identity. The French philosopher Maurice Halbwachs advanced the thesis that our individual ability to remember is necessarily embedded in a social remembrance-framework, which he proposed to refer to as “collective memory”.1) With the notion “cultural memory”, modern memory researchers such as Aleida Assmann have described a dimension that extends beyond the temporal boundaries of communicative (social) memory, one that depends to a great extent on material documents. The longevity of this cultural memory depends on the existence of institutions that are able to preserve it. This points directly to the fundamental, societal task of memory institutions such as national libraries and archives, namely, the preservation, for the future, of knowledge gathered over many generations and recorded in documents. Today, the amount of knowledge collected in the “storage memory” of libraries and archives has increased beyond quantification. Only portions of this knowledge can be brought into social focus at a time – or called up into what Aleida Assmann refers to as “functional memory” – according to the selective interests of the day. For this reason, she speaks of a characteristic stress ratio between “the remembered and the forgotten, the conscious and the unconscious, the manifest and the latent”2), which allows us continually to reevaluate and reinterpret history. There is no doubt that our entire culture relies on a transmission of knowledge that functions in at least general terms. Scientific research, any advance at all in human knowledge, is only possible because we are able to build on knowledge gained by those who came before us – and on their errors – rather than having to start from scratch, generation after generation, in our acquisition of knowledge. Every single document of humanity’s store of knowledge that is irretrievably lost leaves a void in our cultural memory. The burning of the legendary library at Alexandria created a gigantic crater of oblivion. UNESCO’s “Memory of the World” program addresses this vital aspect of the preservation of knowledge. The program aims at gathering documents from all over the world, documents that symbolically represent the common cultural memory of mankind. Austria, which has already made 13 contributions – seven of which from the Austrian National Library –, is one of the most prominently represented countries in the Memory of the World program.3 12

It follows from this that institutions concerned with the preservation of knowledge are faced, fundamentally, with a twofold task: on the one hand, they must safeguard knowledge content recorded in documents, and at the same time they must perpetuate the knowledge necessary for its interpretation. For centuries, original materials themselves – papyri, manuscripts, prints, etc. – have been and continue to be preserved with care and concern for their long-term conservation. In addition to this, we now possess the means to create digital surrogates for original documents in time to ensure their survival. This opens up new prospects: on the one hand, we can thus salvage what is recorded in documents whose physical disintegration cannot permanently be prevented; and, on the other, the digital storage of knowledge offers us direct and simple online access to information, while at the same time enabling us to spare the original documents. However, the transition to the age of digital media raises new issues of central importance. Crucial here is not so much the matter of safeguarding the electronic storage media themselves, but rather that of ensuring durable access to the digitally stored information. The dynamic changes in hardware and software standards demand complex, continuous efforts to adapt, as well as institutions that are up to the task. “Digital preservation” has long since become a discipline in its own right in libraries and archives.4) Inseparable from this technical aspect of archiving information is an equally important and complementary task: it does little good to preserve ancient Egyptian papyri if no one is able to decipher them. If we can no longer manage to decrypt the signs from the past, they remain mute, unintelligible symbols. A historical document that no one can interpret anymore, a picture of someone or something that no one can recognize anymore, loses virtually all significance. Just as important as the storage of information itself, then, is the nurturing of competence necessary for its interpretation. However, both of these components find themselves in a dynamic relation with time – for unrelenting are the “ravages of time”. Once a document has been destroyed, it is lost forever. On the other hand, in order to decipher and interpret historical documents, we can also look to future generations of researchers for help, so long as the sources themselves are still available. To cite a notable example: it was not until hundreds of years after falling into oblivion that hieroglyphic script could finally be deciphered. Historical documents, being unable to survive “on their own”, must be preserved by memory institutions specifically conceived for the purpose; but as a corollary, the competence needed to interpret these historical sources requires systematic cultivation in a scientific environment. Preservation of knowledge stands in a characteristic, close relationship to power structures. Aleida Assmann speaks of a “characteristic alliance between political rule and memory. Legitimation is the top priority of official or political memory.”5) Political rule – and by the same token its claim to perpetuity – has usually been legitimated by means of elaborate constructs of the past. The attempt to bring the past, among other things, completely under its control – and in the process rewriting history as a history of its own legitimacy and glory – is a characteristic trait of totalitarian power. George Orwell illustrated this process, amplifying it literarily, in his famous novel 1984.


Hardly ever are those who possess political power interested in preserving past knowledge and knowledge about the past in an objective, unbiased way. In this we see an expression of an almost paranoid fear of the subversive power of archives and libraries. For among the things that can be found in these enormous stores of memory, there will always be those that are politically undesirable, ideologically frowned upon, officially hushed up, things that put positions of power and legitimacy in question. Thus, cultural memory can be used to legitimate the existing balance of power just as well as it can serve to put it in question and upset it. In this sense, libraries and archives can never be seen solely as institutions whose function is to legitimate power, but also as precisely the contrary: as potential places of resistance, of criticism and of subversion. On the condition, however, that their mission to collect and preserve is not prejudiced from the start by any form of ideological control. It is clear that libraries and archives that are ideologically “brought into line” ultimately destroy themselves, because they can no longer perform their essential function as cultural memory.

1) Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin 1966 [Orig.: Les cadres sociaux de la mémoire. Paris 1925] 2) Aleida Assmann: Von individuellen zu kollektiven Konstruktionen von Vergangenheit. Lecture given at the University of Vienna on 6.6.2005. 3) Most recently, in June 2013, the “Golden Bull” of 1356, submitted jointly by Germany and Austria, was included in the Memory of the World Register. Cf.: http://www.unesco.org/new/en/communication-and-information/ flagship-project-activities/memory-of-the-world/register/access-by-regionand-country/europe-and-north-america/austria 4) In this respect, see, for example, the conference organized by UNESCO, The Memory of the World in the Digital Age. Digitization and Preservation. An international conference on permanent access to digital documentary heritage. September 2012. Vancouver, British Columbia, Canada. Conference Proceedings are available online at: http://www.ciscra.org/docs/ UNESCO MOW2012 Proceedings FINAL ENG Compressed.pdf 5) Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. Munich, 1999; p. 138 6) Peter von Matt: Die Vergangenheitsmaschinen. Die paradoxe Aufgabe der Bibliotheken im Kontext von Kultur und Wissenschaft. Neue Zürcher Zeitung, 4.18.2005.

As the Swiss literary scholar Peter von Matt pointedly put it: “The past and the future stand in a mysterious metabolic relationship with each other. In this metabolism, the great libraries serve as the central organ, in the sense that they preserve everything from the past regardless of possible significance for the future. […] Striving for completeness is indeed a secret compulsion, a kind of inherent obsession that belongs to the very essence of libraries. […] Libraries must preserve that in which a new era will someday be able to recognize itself, they must preserve this without knowing just what it is, without knowing where in their stacks and storage cabinets the sleeping dogs may lie.”6) It is only by staying true to their claim to objectivity and completeness that memory institutions can fulfill their function as guardians of cultural memory. They must do their best to collect “everything” – within the limits of their technical and economic means. For we cannot know today what will be of interest to future generations. In this sense, archives of knowledge must always endeavor to carry out their work without bias or political interference, for only then can they continue to be an inexhaustible source of surprising discovery and intellectual inspiration.

Wien | AT · 2012

Wien, Heldenplatz, 2012

Dr. Johanna Rachinger, Director-General of the Austrian National Library since 2001, studied dramatics and German philology at the University of Vienna. From 1995 to 2001 she was Managing Director and General Manager of the Ueberreuter Publishing House. Dr. Rachinger has been the recipient of numerous awards, including the Vienna Woman Award in 2003, Austrian of the Year in 2010 in the category “Culture Management”, and the University of Economics’ Manager of the Year in 2012. From 2004 to 2009 she was Deputy Chairwoman of the Austrian Science Board and is a Senate Member of the Austrian Academy of Sciences. Dr. Rachinger is a Supervisory Board Member of the ERSTE Foundation. 13


Der lange Atem Shaheen Merali

Wenn man nicht in Worte fassen kann, was man fühlt oder woran man glaubt, wenn man zudem nicht für sich behalten kann, was man über die Welt weiß, über ihre Räumlichkeit, oder wie einen das alles tagtäglich beeinflusst - was macht man dann? Wählt man dann die meditativen Möglichkeiten des Schweigens oder konzentriert man sich allmählich auch auf Möglichkeiten über das Unsagbare hinaus? Für viele Menschen mit dieser Tendenz entwickeln sich solche Möglichkeiten in unkontrollierbaren Formen und zeigen Spuren einer Ausgrabung von ungezügelten Phantasien. Die Resultate könnte man als poetisch oder paradox bezeichnen, Lösungen, Änderungen oder Modifizierungen, die uns dazu bringen, den Lauf unseres Universums zu verändern. Der vielzitierte erste Satz von Franz Kafkas tiefsinniger Erzählung Die Verwandlung ist ein wichtiges Beispiel: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Eine Art epistemologischer Lizenz gestattete es dem japanischen Schriftsteller Haruki Murakami zudem, seinen metaphysischen und bewusstseinsverändernden Roman Kafka am Strand zu schreiben. In beiden Erzählungen wurden die Werkzeuge und Instrumente, um das deutlich zu machen, immanent im Visuellen geschmiedet; eine Erweiterung des Visuellen, das nicht mehr in traditionellen Kategorien von Bezeichnungen verharrt, die das Geschriebene, Choreographierte oder Gemalte voneinander trennen. Davon zeugen etwa die gespenstischen Prozesse des Denkens. Der Prozess des Schaffens aus dem nicht Greifbaren, Unvergänglichen und sogar nicht Fühlbaren führt zu dieser Form der Visualisierung. Das übrig bleibende Material formt häufig mentale Bilder, mit deren Hilfe wir die zerbrechlichen visuellen Wahrnehmungen, aus denen sie ursprünglich entstehen, erfassen. Nicht alles ist möglich, aber Aspekte des Visuellen können im Lauf des kreativen Prozesses manchmal umfassender gemacht werden. Für jene, die derartig flüchtige Momente der Klarheit kommunizieren können, ist das, was sich zeigt, nicht die innere oder äußere Landschaft, sondern eine potente Mischung aus emanzipierter Erinnerung, die imstande ist, immense Komplexitäten des Imaginierten sowie des Emotionalen zu überbrücken. Im kreativen Prozess überlagern Visualisierungen die Fiktionalisierung oder das Erzählte. Daraus ergeben sich oft sensible Beschreibungen, mutige Gegenüberstellungen und dunkle Subversivität als Ausdrucksform. Der Schwerpunkt der Erzählung bewegt sich mehr auf der visuellen Ebene als auf einer geschriebenen oder artikulierten Vermittlung. Schließlich werden wir mit den Augen geboren, mit denen wir sterben, während alle anderen Organe wachsen und sich ab dem Zeitpunkt unserer Geburt ständig verändern. Für den „Ewigen Archivar“ Peter Putz ist das Visuelle zu einer täglichen Praxis des Aufzeichnens geworden, das Aufgezeichnete wird organisiert und behauptet seinen Platz in einer ständig anwachsenden, zusammengesetzten graphischen Darstellung. Dieses einsame Bemühen bestärkte seine künstlerische Überzeugung und produzierte ein verblüffendes Dokument von alltäglichen bis hin zu außergewöhnlichen Dingen, die seinen Lebensweg kreuzten. 14

Sein Lebenswerk, Das Ewige Archiv, hat in gewisser Weise Parallelen zur Veröffentlichung von Archivmaterial bestimmter Institutionen, wie das kürzlich beim Metropolitan Museum of Art der Fall war, das 400 000 Bilder online für nicht-kommerzielle Zwecke veröffentlichte, oder beim British Pathé-Nachrichtenarchiv, das seine gesamte Sammlung von 85 000 historischen Filmen in hoher Auflösung auf ihren YouTube-Kanal lud. Das Ewige Archiv veröffentlicht und verbreitet sporadisch in Form von Broschüren, Publikationen, Filmen, Videos und als fotografische Arbeiten für ein Publikum, das sich seiner Ambitionen oder wie mit seinen Inhalten umzugehen ist, nie sicher sein kann, während es sich zwischen den Bereichen Dokumentation, künstlerische Fotografie, Tagebücher und Voyeurismus bewegt. Das Ewige Archiv ist ein turbulentes Unternehmen, es fühlt sich nie ganz gemütlich still an und sichert sich so einen Kultstatus in diesen bemerkenswerten Zeiten, wo mit einem Klick oder einem kurzen Befehl an Suchmaschinen eine riesige Datenmenge vor unseren Augen aufgelistet wird, die unseren Horizont begrenzt, indem sie unsere visuelle Reichweite limitiert. Ob per Instagramm, Pinterest, Downloads, in USB-Form, mit Picasa – diese Liste ist unglaublich lang und alle haben ihre tiefgreifenden Regeln und Philosophien, die bestimmen, wie wir die gesamte visuelle Bibliothek lesen, die angeboten wird. Diese Regeln basieren oft auf Sicherheitserfordernissen oder, etwa in früheren Zeiten, darauf, wie mit Wahrheit umgegangen oder wie Macht über den Körper oder die Gesellschaft ausgeübt wird. Wahrheiten schaffen ein Reservoir an Wissen in diesen Kontaktzonen, und wir, die Zuschauer, werden zu virtuellen Bürgern visueller Landschaften, besessen von den gemeinsam geteilten Erfahrungen, wobei wir das, was angeboten wird, ebenso kennenlernen wie das, was abgelehnt wird. Irrationale Gesetze darüber, was in ihren epistemologischen Grenzen präsentiert werden darf und was nicht, haben einen enormen Einfluss auf Facebook als Archiv. Indem Putz sich dieser konzeptuellen Strukturen der fiktiven und der gelebten Realitäten auf holistische Art und Weise bedient, um die Welt zu erfassen, gelingt es ihm, sein Ewiges Archiv aus täglichen Aufzeichnungen und zahlreichen „Feindflügen“, kombiniert mit zufälligen und entfremdeten Begegnungen, zu erschaffen. Das Ewige wird zur Gesamtheit seiner Fähigkeit, das Dokumentierte auf diesen formelhaften „Seiten“ zu rekonstruieren. Die „Seiten“, oft mit vier bis fünf Bildern einer beliebigen Situation, können zwischen dem Besuch eines Ateliers, eines Blumenladens, oder noch weiter hergeholt, Reiseberichten variieren. Durch die Platzierung auf ein und derselben „Seite“ agieren die Bilder wie eine Reihe von vorsichtigen Anmerkungen zu einer größeren Bildersammlung; Bilder, die sowohl räumliche als auch geografische zeitliche Bezüge verkörpern, und dabei, was das wichtigste ist, jede Menge über die Wissbegierde des Autors aussagen. Man kann von diesen „Seiten“ nicht erwarten, dass sie uns ein Gesamtbild davon geben, was in seinem Privatarchiv vorhanden ist oder nicht – die Ewigen Archive präsentieren ein teilweise vermitteltes Bild. Dieses selektive Archiv ist der Prozess, mit dessen Hilfe Putz das Ganze visualisiert, die Welt und seinen Platz in ihr – es ist eine Kostprobe und


zugleich die Summe dessen, was ausgewählt und veröffentlicht wird. Putz gelingt es, diese Visualisierung kontinuierlich durchzuhalten, indem er sowohl recht großformatige Bücher als auch ergänzende Supplemente in kleineren Editionen produziert, die seine Vorstellung vom Konstrukt des Ewigen zeigen. Seine Wahrnehmung der Welt rund um ihn in täglichen Aufzeichnungen, mit seinen lustigen Scherzchen vor der Kamera, wirkt endlos. Das Ewige muss eben tagtäglich hinzugefügt werden, ergänzt durch ausgedehntes Vagabundieren und repetitive Explorationen des Gefundenen, wodurch der Bezug zum bereits Archivierten verwischt wird.

Es ist eine Suche und auch eine Reise, die Peter Putz mit einer Freude und einer Leidenschaft unternimmt, die jede Seite durchdringt, eine Herausforderung und zugleich Zeugnis von der Sehnsucht, zu schaffen, was Kafka und Murakami gelang – der mäandernde Geist, der aus dem Alltäglichen eine Aussage über das Leben und Denken an den dunklen Rändern seiner digitalen Spur trifft. Wie Leslie Jamison kürzlich sagte: “…accumulation, juxtaposition, the organizing possibilities of metaphor. These techniques are ways in which the essay has always linked the private confessional to the communal…”1)

1) Leslie Jamison, Was sollte ein Essay können? Zwei neue Sammlungen, die die Form neu erfinden, 8. Juli 2013. http://www.newrepublic.com/article/113737/solnit-faraway-nearby-and-orange-running-your-life „…Akkumulation, Juxtaposition, die organisierenden Möglichkeiten der Metapher. Diese Techniken sind Formen, in denen der Essay schon immer die private mit der öffentlichen Beichte verbunden hat…” (Anm. d. Übersetzers) aus: Peter Putz, Das Ewige Archiv · New Stuff, Wien 2014, Ritter

Übersetzung aus dem englischen Original

S. M., 2014 Shaheen Merali ist Kurator und Autor, der zurzeit in London ansässig ist. Davor war er als Direktor für Ausstellungen, Filme und Neue Medien im Haus der Kulturen der Welt, Berlin (2003-2008) tätig, wo er diverse Ausstellungen kuratierte und zugleich bedeutende Publikationen herausgab, wie zum Beispiel The Black Atlantic; Dreams and Trauma – Moving images and the Promised Lands und Re-Imagining Asia, One Thousand years of Separation. Merali war Co-Kurator der 6. Gwangju Biennale, Korea (2006). Nach seinem Deutschland-Aufenthalt kuratierte er zahlreiche Ausstellungen in Indien und im Iran; darauf folgte eine Zeit der Recherche und Beratung für die Erhaltung und zur Fertigstellung einer großen Ausstellung der International Collection of the Birla Academy of Art and Culture, Kolkata (2010-2012).

Zu seinen neuesten Ausstellungen zählen: Refractions, Moving Images on Palestine, P21 Gallery, London; When Violence becomes Decadent, ACC Galerie, Weimar; Speaking from the Heart, Castrum Peregrini, Amsterdam; (After) Love at Last Sight / Nezeket Ekici Retrospective, PiArtworks , London und Fragile Hands, Universität für Angewandte Kunst Wien. Merali schrieb Essays für Kataloge, unter anderem über Agathe de Bailliencourt, Jitish Kallat, Sara Rahbar, TV Santhosh, Cai Yuan and JJ Xi (Madforeal). www.shaheenmerali.com

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The Long Breath Shaheen Merali

If you cannot put into words what you feel or believe, if you cannot, at the same time, contain what you know about the world, its spatiality or how the whole effects your day to day - then what do you do? Do you seek the meditative possibilities of silence or gradually stage the possibilities beyond the unsayable? For many of such a disposition, the possible evolves in encroaching forms, bearing the marks of excavation from untamed imaginations. The results may be described as poetic or paradoxical, solutions, changes or modifications that persuade us to alter the passage of our universe. The much quoted opening line of the profound novel, Metamorphoses by Franz Kafka, is an important example: “As Gregor Samsa awoke one morning from uneasy dreams, he found himself transformed in his bed into a gigantic insect.” A certain epistemological license further authorised the contemporary Japanese writer, Haruki Murakami, to write his metaphysical mind-bender, Kafka on the Shore. In both novels the tools and means to make apparent were forged innately in the visual; an expanded visual which no longer remains contained in traditional categories of notations that separate the written, the choreographed or the painted. Herein the processes bear witness to the specters of thinking. The process of making from the intangible, the intransient, the untranslatable, and even the impalpable, results in this form of visualisation. The residual material often forms mental images that help us grasp the frail, visual perceptions from which they emerge in the first place. Not all is possible, but aspects of the visual can sometimes be made more comprehensive during the creative process. For those able to communicate through such fleeting moments of lucidity, then, what is represented is neither the internal nor the external landscape but a potent mixture of emancipated memory, bridging immense complexities of the imagined as well as the emotional. In forging creatively, visualisations supersede fictionalisation or narratives. In many ways what emerges are sensitive accounts, daring juxtapositioning and dark subversions as a form of expression. The narration continues, taking its emphases from the visual rather than from an inscribed or articulated transmission. We are, after all, born with the eyes that we die with as all other organs grow and constantly transform from the time of our birth. For the eternal archivist, Peter Putz, the visual has become a daily practice of recording, organising the recorded and reiterating its place in an ever-increasing composite graphic. This solitary effort has engaged his artistic faith, constructing a bewildering record from the mundane to the extraordinary that crisscrosses his life path. His lifework, The Eternal Archives, in many ways parallels the release of archived materials by institutions, as in the recent case of the Metropolitan Museum of Art, releasing 400,000 images online for non-commercial use or the newsreel archive, British Pathé, uploading its entire collection of 85,000 historic films, in high resolution, to its YouTube channel. Putz’s Eternal Archives release and sporadi16

cally emit, in the form of booklets, publications, films and videos as well as photographic works, for a public which is never sure of its ambition or how its contents are to be managed as it circulates in the field between documentary and fine art photography, diaries and voyeurism. The Eternal Archives are a turbulent entity, for they never sit entirely comfortably, ensuring them a cult status in these remarkable times, where, in a click or at a moment’s command, a vast amount is arranged before us by search engines, limiting our horizons by dictating our visual range. Instagrammed, pininterested, downloaded, usb(ed), Picasa(ed), the list is immense and all these have pervasive rules and philosophies that dictate the way we read the entire visual library that they supply. These rules are often based on security or, erstwhile, on how subjects inhabit truth or imply power over the body or society. Truths create a pool of knowledge in these zones of contact, and we, as viewers, become virtual subjects of visual lands, possessed by all the experiences that we share, becoming familiar with what is offered as much as by what is repudiated. Irrational laws, of what can and cannot be presented in its epistemological limit, heavily influence Facebook as an archive. In drawing on these conceptual frameworks of the imaginative and the lived realities as a holistic way to encapsulate the world, Putz manages to create his Eternal Archives from daily recordings and frequent sorties, in combination with accidental and estranged encounters. The eternal becomes the entirety of his ability to reconstitute the recorded in these formulaic “pages“. “Pages“ that often contain four to five images from a constituted situation can range from a studio visit to a visit to a florist or, further afield, studies as a tourist. In being placed within a ”page” the images act as a set of hesitative notations for a larger body of images, images that embody both spatial and geographical temporalities but, most importantly, speak volumes about the artist’s inquisitiveness. One cannot rely on these “pages“ to give us the full picture of those images that remain absent from or present in his private archive – The Eternal Archives present a partially mediated picture. This selective archive is the process through which Putz visualises the whole, the world and his place within it – it is both the taste and the sum of the culled and the framed. Putz has been successful in continually asserting this visualisation by producing both larger format books and smaller edition supplements that testify to his notion of the construct of the eternal. There is no seeming end to his capturing the world around him in daily recordings with his lens-based frolics. The eternal remains to be added to on a daily basis, supplemented by further roving and often-repetitive explorations of the found, confounding the relation to the already archived. It is both a quest and a journey, which Putz takes with a joy and passion that permeate all the pages, both challenging and giving testimony to the desire to create as Kafka and Murakami have done, the meandering mind making from the mundane a statement of living and thinking in the dark edges of his digital trace.


As Leslie Jamison recently said, “…accumulation, juxtaposition, the organizing possibilities of metaphor. These techniques are ways in which the essay has always linked the private confessional to the communal…”1)

1) Leslie Jamison, ”What Should an Essay Do? Two new collections reinvent the form“, July 8, 2013 http://www.newrepublic.com/article/113737/solnit-faraway-nearby-andorange-running-your-life

from: Peter Putz, Das Ewige Archiv · New Stuff, Wien 2014, Ritter

Shaheen Merali is curator and writer, currently based in London. Previously, he was Head of Exhibitions, Film and New Media at the Haus der Kulturen der Welt, Berlin (2003-2008) where he curated several exhibitions accompanied by key publications, including The Black Atlantic; Dreams and Trauma – Moving images and the Promised Lands and Re-Imagining Asia, One Thousand years of Separation. Merali was the co-curator of the 6th Gwangju Biennale, Korea (2006). Upon leaving Germany he curated many exhibitions in India and Iran and then embarked upon a period of extensive research and consultation on the conservation and production of a major exhibition of the International Collection of the Birla Academy of Art and Culture, Kolkata (2010- 2012).

His recent exhibitions include Refractions, Moving Images on Palestine, P21 Gallery, London; When Violence becomes Decadent, ACC Galerie, Weimar; Speaking from the Heart, Castrum Peregrini, Amsterdam; (After) Love at Last Sight / Nezeket Ekici Retrospective, PiArtworks , London and Fragile Hands, University of Applied Arts Vienna. Merali has written catalogue essays on Agathe de Bailliencourt, Jitish Kallat, Sara Rahbar, TV Santhosh, Cai Yuan and JJ Xi (Madforeal) amongst others.

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Aktivist Archivar Künstler Fotograf Elke Krasny

Mein erster Besuch im Ewigen Archiv fand im Frühling des Jahres 2014 statt. Hätte mich Peter Putz nicht kontaktiert und in sein Atelier eingeladen, dann hätte ich nie Kenntnis von der Existenz des Ewigen Archivs erlangt. Mit den Mitteln der Fotografie unternimmt Putz den Versuch, die Sprengkraft des Gegenwärtigen, die städtischen Veränderungen im Moment ihrer öffentlichen Erscheinung festzuhalten. Die so erzeugten Dokumente finden Eingang in das Ewige Archiv, welches seinen Standort im Atelier des Künstlers in der Mollardgasse im sechsten Wiener Gemeindebezirk hat. Putz verbindet das, was man als Studio Practice1) bezeichnet, seit vielen Jahren mit dem, was man als Post-Studio Practice bezeichnet. Sein Atelier ist Wien, die Stadt, in der er lebt und arbeitet, aber auch eine große Anzahl anderer Orte und Städte, in die ihn seine Lebens- und Arbeitswege geführt haben. Sein Atelier in der Mollardgasse gibt dem Archiv Raum. Die Stadt und ihre öffentlichen Erscheinungsräume sind in diesem Archiv geborgen. Peter Putz agiert als Künstler und als Fotograf. Peter Putz agiert als Archivar und als Aktivist. Das Ergebnis ist das Ewige Archiv. In den Überlegungen dieses Essays werde ich untersuchen, wie diese vier unterschiedlichen Handlungsweisen, die des Künstlers, des Fotografen, des Archivars und des Aktivisten, sich zueinander verhalten. Mein besonderes Interesse gilt dabei der Frage nach den Bedingungen, Möglichkeiten, Grenzen und Konflikten im Agieren, im Handeln. Weiters werde ich die Frage aufwerfen, in welchem Verhältnis dieses selbstgewählte und selbstbestimmte künstlerisch-aktivistische Handeln zu den Ansprüchen der Öffentlichkeit steht. Zunächst werde ich mich mit dem Begriff des Handelns auseinandersetzen. In zeitgenössischen Theoriedebatten – mein Interesse gilt im Speziellen dem feministischen sowie dem kunsttheoretischen Kontext – wird die Frage der agency, die ich mit Handlungsmacht übersetzen möchte, intensiv diskutiert. In dem Buch Why Stories Matter. The Political Grammar of Feminist Theory widmet Claire Hemmings einen eigenen Abschnitt der Frage der Handlungsmacht, der agency. Sie weist darauf hin, dass Unabhängigkeit, Autonomie, Freiheit und Selbstbestimmung als bestimmende Faktoren einer westlichen Konstruktion von Handlungsmacht aufgefasst werden. (Hemmings 2011: 205) Wie die Autorin ausführt, richtet sich eine marxistische Kritik, wie die von Kalpana Wilson, an einer subjektzentrierten Handlungsmacht darauf, dass diese das Individuum über das Kollektiv stellt und zur Kapitalakkumulation anderer beiträgt. Aus einer machttheoretischen Perspektive kritisierte, wie Hemmings darlegt, Judith Butler das Konzept der Handlungsmacht, da dieses die Macht, die die Handlungen immer schon, ohne dass das Subjekt sich dafür entschieden hat, (mit) bestimmt, außer acht lässt. Mein Interesse am künstlerischen und aktivistischen Handeln gilt einer Handlung(smacht), die sich dieser Fallen bewusst ist und im Gestus des reflektierten Trotzdem weiterhin agiert. Ich verstehe Agieren folglich nicht in Unabhängigkeit von materiellen Bedingungen und Möglichkeiten, nicht in Unabhängigkeit von anderen handelnden Subjekten und nicht in Unabhängigkeit von Fragen der Macht. Handeln, wie ich es begreife, bedeutet Agieren mit und durch Ko-Existenz, Ko-Dependenz und Ko-Implikation. Ich verwende die beiden Begriffe Handeln und Agieren als austauschbar und habe das Agieren ebenfalls eingeführt, weil es, vermittelt über die lateinische Wurzel des Wortes agere, im Deutschen nochmals eine Nähe zum englischen Begriff der agency aufbaut. 18

Ich werde nun das Agieren des Künstlers, des Fotografen, des Archivars und des Aktivisten mit meiner Bestimmung des Handelns, das sich durch Ko-Existenz, Ko-Dependenz und Ko-Implikation auszeichnet, zusammenführen. Zwei der Positionen lassen sich aktiv als Handeln ausdrücken: fotografieren und archivieren. Zwei der Positionen hingegen benötigen ein sogenanntes Hilfszeitwort, das Wort Sein, Künstler-Sein und Aktivist-Sein, um als Agieren ausgedrückt zu werden. Weder gibt es das Zeitwort zu „künstlern“ noch gibt es das Zeitwort zu „aktivisten“. Beide, Künstler und Aktivist, brauchen daher, und ich betrachte dies von der wörtlichen sprachlichen Hilfskonstruktion ausgehend im übertragenen Sinn der materiellen, ästhetischen, bedeutungsproduzierenden, politischen Implikationen, Hilfe. Sie bedürfen der Unterstützung. Künstler-Sein und Aktivist-Sein hängt folglich ab von diesem spezifischen wörtlichen Verhältnis zum Sein. Es mangelt am Zeitwort, das alleine die Handlungen ausdrücken könnte, die der Künstler oder der Aktivist hervorbringt. Die Sprache liefert die Einsicht in diesen Umstand. Ich verwende das poststrukturalistische Wissen und den linguistic Turn nicht, um diesen dekonstruktivistisch mit den Mitteln der Sprache zu verfolgen, sondern vielmehr verwende ich dieses Wissen für eine materialistische Lesart in einer sozialen und politischen Ökonomie und für eine kritische Analyse der Verhältnisse zwischen der individuellen Produktion, der kollektiven Involviertheit, der individuellen Seins-Investition, den öffentlichen Ansprüchen und den institutionellen Zusammenhängen. Das Wissen aus der Sprache zeigt auf die Politik, die Ökonomie, die Ontologie, die alle gleichermaßen durch das Hilfszeitwort Sein mitbenannt sind. Von der Unterstützung, der Hilfe, des Hilfszeitworts Sein sind der Künstler und der Aktivist abhängig. Dieses Hilfszeitwort Sein führt uns zurück zur Ko-Existenz, zu dem, was gleichzeitig ist, zur Ko-Dependenz, zu dem, wovon es gleichermaßen ein Abhängigkeitsverhältnis gibt, und zur Ko-Implikation, zu dem, wovon die Positionen gleichermaßen erfasst sind. Ich werde mich nun im folgenden den Positionen (und Mythen) von Künstler und Aktivist zuwenden. Position (und Mythos) des Künstlers2) wurde historisch auf komplexe und komplizierte Weise mit Autonomie verbunden. In seinem Buch Anywhere or Not at all. Philosophy of Contemporary Art analysiert Peter Osborne den Begriff der Autonomie aus verschiedenen Perspektiven. Ich greife hier die Beziehung zwischen Autonomie und Ware heraus, um zu unterstreichen, dass die materielle Abhängigkeit (nicht die Unabhängigkeit von materieller Abhängigkeit, der Unterschied ist entscheidend) die Autonomie der Kunst (und der Position des autonom agierenden Künstlers) gleichermaßen ermöglicht und einfordert. Die Warenförmigkeit der Kunst ist die Ermöglichung ihrer Autonomie. “Autonomous art has always been for sale, as a commodity in the market. (Historically, the market is the social basis of art‘s autonomy from its previous social functions.) Autonomous works of art are thus always also commodities – (…). Autonomy is never a given. In so far as it exists it is the individual achievement of each work: the victory of technique (the principle of internal organization) over social conditions. Autonomy is the achievement, in each instance, of the production of a law of form.” (Osborne 2013: 166) Im Gegensatz zu dieser westlichen Konstruktion von Position und Mythos des Künstlers, der Kunstschaffen und Autonomie verbindet und im Kunstschaffen autonom bleibt und die Autonomie in der Kunst ausdrückt,


gibt die Sprache den Hinweis darauf, dass es sich beim Künstler-Sein um eine Position handelt, die auf der Zurverfügungstellung von Hilfe beruht. Die Autonomie ist folglich hilfsbedürftig. Dass die deutsche Sprache (für das Englische gilt dasselbe) kein eigenes Zeitwort ausgebildet hat, das aktiv zum Ausdruck bringt, was Künstler tun, was künstlerisches Agieren ist, verweist in meiner Lesart darauf, dass materielle und institutionelle Bedingungen für das Agierenkönnen als Ermöglichung hergestellt werden müssen, um diese (mythische) Konstruktion von Künstler und Autonomie zu produzieren und aufrechtzuerhalten. Das Hilfszeitwort Sein gibt den Hinweis darauf, dass Künstler-Sein existiert in Ko-Dependenzen und Ko-Implikationen, in Abhängigkeit von den Bedingungen und Möglichkeiten, die ein künstlerisches Werk ermöglichen und bedingen, und in Bezugnahme auf die (affirmierende, kritische, reflektierende, negierende, ignorierende) Artikulation dieser Implikationen, die das Werk ermöglichen und bedingen. Position (und Mythos) der Aktivist_In3) sind in ähnlicher Weise, wie die des Künstlers, in ihrem Verhältnis zu Autonomie zu problematisieren. Kämpfe um die Durchsetzung von (Wahl)Rechten, wie von den Suffragetten, um territoriale Selbstbestimmung, wie in den kolonialen Unabhängigkeitskriegen, oder um sexuelle Selbstbestimmung, wie von LGBT Organisationen, gehen von einem Subjektbegriff der Aktivist_In aus, die sich mit anderen Aktivist_Innen organisiert, politisch formiert und kollektiv agiert.4) Die geführten Kämpfe um Un-Abhängigkeit sind abhängig von den historischen Bedingungen, die sie zu überschreiten suchen. Sie sind abhängig von den materiellen, intellektuellen, emotionalen, ökonomischen Ressourcen, über die sie verfügen, die zu mobilisieren sie imstande sind. Wieder ist es die Ko-Existenz (die im Kollektiv organisierten aktivistischen Subjekte), die Ko-Dependenz (die Abhängigkeit in den Bedingungen, die überschritten und transformiert werden sollen), die Ko-Implikation (die Bedeutungen, die Existenzen und Abhängigkeiten zueinander konstituieren und mobilisieren), die ich für meine Lesart in den Vordergrund rücke. Der Künstler und die Aktivist_In haben ihre Positionen zu unterschiedlichen Zeiten miteinander verbunden und als Künstler-Aktivist_In5) agiert. Bevor ich mich nun den Positionen von Archivar und Aktivist zuwenden werde, möchte ich nochmals zusammenfassend betonen, dass der Kampf um die Autonomie, der durch die Positionen von Künstler und Aktivist_In und ihren jeweiligen Arbeiten (Kunstwerk, Kunstprozess, politische Selbstorganisation und Durchsetzung von Rechten, Zugang zu Ressourcen, Umverteilung etc.) ausgetragen wird, folgt man der Logik der Sprache, des Hilfszeitworts Sein bedarf. Autonomie bedarf der Hilfe, ist auf Unterstützung angewiesen, hängt von dieser ab. Der Kampf um die Autonomie braucht die Hilfe von Subjekten, wie Künstler oder Aktivist_innen, welche ihr Sein in diesen Kampf investieren. Um dieses Sein investieren zu können, bedürfen sie der Hilfe im materiellen wie immateriellen Sinne. Dies führt den Kampf um die Autonomie und die Investition in das Künstler-/Aktivist_in-Sein zurück in die Zyklen von Ko-Existenz, Ko-Dependenz und Ko-Implikation. Dem Fotografen und dem Archivar sind eigene Zeitworte zugeordnet. Er fotografiert. Er archiviert. Diese Handlungen kommen ohne Hilfszeitworte aus. Sie bedürfen der Hilfe nicht. Im Gegenteil, sie helfen. Die Handlungen dienen der Fotografie oder dem Archiv.

Historisch waren Fotografen nicht als autonome Künstler positioniert, ihre Profession war ein Gewerbe. Sie handelten im Auftrag anderer, für die Aufträge anderer. Sie handelten im Dienst anderer. Die Mittel des Fotografierens wurden in vielen verschiedenen Bereichen eingesetzt. Von der Polizei bis zur Archäologie, vom Journalismus bis zur Rechtssprechung, von der Anthropologie bis zur Architektur, vom Militär bis zum Städtebau wird das Fotografieren benötigt. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts als eigenständige Form innerhalb der bildenden Kunst anerkannt und den verschiedenen Technologieschüben folgend als Massenmedium der AmateurInnen etabliert, hat das Fotografieren eine ambivalente Position im Wissen, im Nützlichen, im Glaubwürdigen. Der Fotograf braucht das Hilfszeitwort Sein nicht. Sein Handeln kommt ohne Sein aus. Er fotografiert. Das Fotografieren steht im Dienst dessen, was sich auf den Fotografien zur Erscheinung bringt. Das, was sich zur Erscheinung gebracht hat, ist fotografisch festgehalten. Als Dokument, als Zeugnis, findet die Fotografie Eingang ins Archiv. Sie dient als Beleg dessen, was ist, als Zeugin der Ereignisse. Im Archiv werden die dort gesammelten und aufbewahrten Dokumente geordnet, erschlossen und zugänglich gemacht. Das Archiv ist eine öffentliche Einrichtung, die die Akten verwaltet. Archivieren umfasst alle Handlungen, die der Bewahrung, Erhaltung und Ordnung des Archivierten dienen. Durch die Akten erschließt sich der Zugang zur Geschichte. Die Lage der Akten ist eine geschichtspolitische Frage. Der Archivar braucht das Hilfszeitwort Sein nicht. Sein Handeln kommt ohne Sein aus. Er archiviert. In der Praxis von Peter Putz verbinden sich die von mir dargestellten Handlungsweisen. Putz agiert durch das Archivieren und das Fotografieren in Verbindung mit dem Künstler-Sein und dem AktivistSein. Er stellt seine Kunst und seinen Aktivismus als Position der Autonomie in den Dienst des Archivierens6), welches er mit den Mitteln der Fotografie unablässig und unterschiedslos betreibt. Da er als Künstler die Entscheidung getroffen hat, der Stadt ein Archiv zu erzeugen, zeigt sich in diesem immer weiter wachsenden Archiv die Entschlossenheit, mit der Putz die Konsequenzen dieser Entscheidung trägt und mit den Mitteln der Fotografie und dem Einsatz von Aktivismus als Archiv-Künstler lebt. Der Aktivismus hilft dem Archiv. Die Fotografie hilft der Kunst. Ersetze ich das Hilfszeitwort Sein, das der Künstler und der Aktivist brauchen, um ihr Agieren als Tätigkeit ausdrücken zu können, im Fall von Peter Putz durch die Tätigkeiten des Archivierens und des Fotografierens, so sehen wir, wie das den Künstler-Archivar und den Fotografen-Aktivist ergibt oder den Künstler-Fotografen und den Archivar-Aktivisten. Die Positionen ko-existieren, sind von einander ko-dependent und ko-implizieren einander. Wie diese Positionen sich zueinander verhalten in Hinblick auf Hilfe und Autonomie und welche Konflikte, sowohl theoretisch wie praktisch daraus resultieren, habe ich gezeigt. Peter Putz handelt im eigenen Auftrag. Als Künstler setzt er auf die Autonomie. Der Auftrag, den er sich gestellt hat, ist unbewältigbar, unabschließbar, immer größer als die Möglichkeiten, die dem Fotografen und dem Archivar zur Verfügung stehen. Die Stadt zu erfassen, in ihren Mikrotransformationen und ihren Makrotransformationen, ihren Situationen, Momenten, Langfristigkeiten, politischen Manifestationen, übersteigt die Möglichkeiten eines Einzelnen. Als Aktivist stellt er sich dieser permanenten Herausforderung und Überschreitung seiner Möglichkeiten. Wird der Markt im 18. Jahrhundert 19


zu jenem Mechanismus, der die Grundlage für die Autonomie der Kunst ermöglicht, so muss der Markt diese Möglichkeiten bieten und tragen. Trifft ein Künstler für seine Praxis, wie im Falle von Peter Putz, die Entscheidung, die Autonomie, die der Markt ermöglicht, durch die Autonomie, die der Aktivismus in kritischer Distanz zum Markt postuliert, zu ersetzen, so ist der Preis, um in der Sprache des Marktes und der Kunst als System von Anerkennung und Auszeichnungen zu argumentieren, der dafür bezahlt werden muss, hoch. Der Preis ist das Leben, das sich in das Ewige Archiv als unabschließbares Projekt investiert. Für das abschließende Argument und das finale Plädoyer dieses Essays kehre ich zur Situation zurück, die ich eingangs beschrieben habe. Peter Putz hat mich eingeladen, das Ewige Archiv in seinem Atelier zu besuchen. Hätte er mich nicht persönlich angesprochen, hätte ich von der Existenz des Ewigen Archivs nie erfahren. Es gibt kein öffentliches Wissen um die Existenz dieses Archivs. Ich habe mich bis jetzt den inhärenten Konflikten und Potenzialen, die aus allen denkbaren Verbindungen zwischen Künstler-Archivar und Fotografen-Aktivist resultieren, gewidmet und diese analytisch aufgezeigt und kritisch beleuchtet. Diese vier Positionen des Agierens bilden jedoch kein in sich geschlossenes System, in dem sie nur voneinander abhängen. Vielmehr ist allen vier gemeinsam, dass sie einen Anspruch stellen: den Anspruch auf Öffentlichkeit. Entsteht die Öffentlichkeit in dem Raum und durch den Raum, in dem sie sich zur Erscheinung bringt, und ich folge hier Hannah Arendts Begriff des Erscheinungsraums, wie er von Judith Butler kritisch weiter entwickelt wurde (Butler 2012: 117 und 118), dann braucht dieser Erscheinungsraum auch bleibende visuelle Dokumentationen, um ein langfristiges Erinnern an seine Existenz zu ermöglichen. In ihrem 2012 erschienenen Essay Bodies in Alliance and the Politics of the Street stellt Judith Butler einen Zusammenhang her zwischen der politischen Theorie Hannah Arendts, die die Idee des Erscheinungsraums, der die Öffentlichkeit konstituiert, entwickelt hat, und dem physisch notwendigen Raum, der dieses Erscheinen materiell trägt und ermöglicht. Butler schreibt: “Human action depends upon all sorts of supports – it is always supported action.” (Butler 2012: 118). Der öffentliche Erscheinungsraum der Stadt ist die Voraussetzung für die Praxis von Peter Putz, zugleich bringt Putz diesen Raum in seinen fotografischen Dokumenten zur Erscheinung. Er hält diesen fest in seinem momenthaften Erscheinen, macht ihn archivierbar und dadurch (öffentlich) zugänglich. Ich habe das Öffentlich im vorangegangenen Satz eingeklammert, um auf die Potenzialität der öffentlichen Zugänglichkeit zu verweisen, die jedoch (noch) keine Realität ist, da zwar jedes Archiv dem Anspruch nach öffentlich ist, das Ewige Archiv als Kunstprojekt eines Individuums jedoch diesem Anspruch nicht gerecht werden kann. Daher braucht das Ewige Archiv Unterstützung. Jedes Dokument des Ewigen Archivs, jede Fotografie, die in das Archiv Eingang gefunden hat, vermag Einsichten zu vermitteln in die städtische Öffentlichkeit und den Erscheinungsraum, den die Öffentlichkeit produziert. Die Archivalien des Ewigen Archivs, die Fotografien, bringen Stadtgeschichte zur Erscheinung. Sie sind ein Teil des kollektiven Gedächtnisses von Stadt, das durch ein individuelles künstlerisch-aktivistisches Projekt getragen wird. Im Ewigen Archiv befindet sich eine Fülle von visuellen Dokumenten, die für HistorikerInnen, StadtforscherInnen, EthnologInnen, AnthropologInnen, ArchitekturhistorikerInnen, Kultur20

theoretikerInnen und StadtbewohnerInnen von Relevanz sind. Die Fotografien des Ewigen Archivs sind sich nicht selbst genug. Sie sind unabgeschlossen, sie benötigen und ermöglichen die weiterführende Bearbeitung, Erschließung, Erforschung. In Hinblick auf sein Archiv-Sein – und ich verwende hier nochmals das Hilfszeitwort Sein, um auf Judith Butler zu rekurrieren und auf den sozialen wie politisch relevanten Umstand, dass jede menschliche Handlung der Unterstützung bedarf, also auf Hilfe angewiesen ist, dann hat das Ewige Archiv nun einen kritischen Zeitpunkt erreicht, zu dem es der öffentlichen Unterstützung bedarf, um seine Ansprüche an die Öffentlichkeit in einem anderen Erscheinungsraum zur Wirkung bringen zu können. Zugleich sind Institutionen und die BenützerInnen von Institutionen darauf angewiesen, dass es Projekte wie das Ewige Archiv gibt, die sich ebenso leidenschaftlich wie andauernd den Erscheinungsräumen der Öffentlichkeit widmen, da die Institutionen, wie Archive, Bibliotheken oder Museen, in Zeiten der Austerität, der Sparmaßnahmen, diesem öffentlichen Anspruch der Dokumentation der Gegenwartsgeschichte der Stadt nicht mehr umfassend Rechnung zu tragen imstande sind. Die BenützerInnen von Institutionen können sich nicht mehr darauf verlassen, in den genannten Institutionen die öffentlichen Erscheinungsräume der Geschichte der Gegenwart auffinden zu können. Meine Argumentation zielt nicht darauf ab, dass das Atelier Peter Putz in der Mollardgasse nicht mehr der Ort sein soll, an dem jemand wie ich das Ewige Archiv entdecken kann. Meine Argumentation verfolgt eine Doppelstrategie: als künstlerisch-aktivistisches Projekt wird das Ewige Archiv vom Atelier Peter Putz getragen. Als Projekt von öffentlichem Anliegen und öffentlichem Interesse braucht das Ewige Archiv eine Institution, in dem die Einsicht in das Ewige Archiv und dessen Erforschung für viele möglich werden. Diese öffentliche Version des Ewigen Archivs benötigt ein neues Sein, einen Erscheinungsraum, in dem es den gespeicherten öffentlichen Erscheinungsraum zeigen kann. Ein Archiv, wie das Stadtarchiv, eine Bibliothek, wie die Wienbibliothek, ein Archiv, wie das Bildarchiv der Nationalbibliothek oder ein Museum, wie das Wien Museum, wären ein geeigneter öffentlicher Erscheinungsraum für das Ewige Archiv.


1) In dem im Rahmen der von der Whitechapel Gallery herausgegebenen Reihe Documents of Contemporary Art stellt der von Jens Hoffmann herausgegebene Band The Studio eine Reihe von Texten zu Studio-Practice und Post-Studio Practice vor. Wiewohl sich das Atelier als der Arbeitsort von KünstlerInnen seit den 1960er Jahren entscheidend verändert hat, ist das Atelier weder obsolet noch bedeutungslos geworden. Orte und Arbeitsweisen, die außerhalb des Ateliers im engeren Sinn liegen, haben sich vervielfacht und wurden Teil von konzeptuellen, postkonzeptuellen, politisch involvierten, sozial engagierten, relationalen, performativen, dokumentarischen und anderen künstlerischen Praxen.

begreift und einen Aktivismus des individuellen Handelns, der sich kollektiven und öffentlichen Erscheinungsformen widmet, praktiziert.

2) Die männliche Form ist mit Absicht gewählt, um der historischen Konstruiertheit von Position und Mythos Rechnung zu tragen, die mit den westlichen bürgerlichen Revolutionen im 18. Jahrhundert begonnen hat.

6) Im Unterschied zu anderen künstlerischen Positionen wie der von Dayanita Singh oder Rosangela Renno, die mit der Befragung, Appropriation oder Rezitierung von Archivmaterialien arbeiten, arbeitet Putz wie ein Archivar, der Dokumente erzeugt, wie sie in ein Archiv Eingang finden können.

3) Die Schreibweise, die die männliche, die transgender und die weibliche Form durch das Binnen I und den Unterstrich visuell in der geschriebenen Sprache ausdrückt, wurde mit Absicht gewählt, um der historischen Entwicklung von Aktivismus aus der Position von Kämpfen um die Durchsetzung von Rechten von unterschiedlichen Subjektpositionen Rechnung zu tragen.

Literatur: Judith Butler, Bodies in Alliance and the Politics of the Street, in: Sensible Politics. The Visual Culture of Nongovernmental Activism, eds. Meg McLagan and Yates McKee (New York: Zone Books 2012) Claire Hemmings, Why Stories Matter. The Political Grammar of Feminist Theory (Durham and London: Duke University Press 2011) Peter Osborne, Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art (London: Verso 2013)

Foto: © Alexander Schuh

4) Eine Reihe von Fotografien im Ewigen Archiv dokumentieren die Ereignisse des Widerstands gegen die Regierungskoalition von ÖVP und FPÖ im Jahr 2000. Die Widerstandsbewegung um die Botschaft der besorgten BürgerInnen am Rande des Heldenplatzes wurde von Peter Putz fotografisch festgehalten. In diesem Fall war er als Aktivist, der fotografiert, Teil einer kollektiven selbstorganisierten Widerstandsbewegung. Sein Aktivismus ist jedoch einer, der sich auch außerhalb kollektiv organisierter Zusammenhänge als solcher

5) Aus den vielen möglichen Beispielen der Geschichte der bildenden Kunst greife ich die folgenden heraus: Eugène Delacroix (Französische Revolution), Suzanne Lacy (Second Wave Feminism), Chto Delat (Post-1989, Verbindung von Theorie, Kunst und Aktivismus). Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sie durch eine kunsthistorische, kuratorische, sammelnde und institutionengeschichtliche (Ausstellungen, Biennalen, Triennalen, Museen) Praxis zu ihrer öffentlichen Erscheinung gebracht werden.

E. K., 2014 Elke Krasny ist Kuratorin, Kulturtheoretikerin, Stadtforscherin und Schriftstellerin. Sie ist Professorin an der Akademie der bildenden Künste Wien und im Jahr 2014 Gastprofessorin an der Technischen Universität Wien. Ihre theoretische und kuratorische Arbeit ist tief verwurzelt in sozial engagierter Arbeit und raumbezogenen Praktiken, urbaner Erkenntnislehre, postkolonialer Theorie und feministischer Geschichtsschreibung. In ihrer konzeptuell bestimmten und forschungsbasierten kuratorischen Arbeit arbeitet sie an den Schnittstellen von Kunst, Architektur, Bildung, Feminismus, Landschaft, raumbezogener Politik und Urbanismus. Sie ist bestrebt, zu Innovation und Debatten in den erwähnten Gebieten beizutragen durch die Formung von Allianzen zwischen Forschung, Lehre, kuratorischer Tätigkeit und schriftstellerischer Arbeit. www.elkekrasny.at 21


Activist Archivist Artist Photographer Elke Krasny

My first visit to the Eternal Archives took place in the spring of 2014. Had I not been contacted by Peter Putz and invited into his atelier, I would never have become aware of the existence of the Eternal Archives. Using the medium of photography, Putz ventures to capture the explosive power of the present, of urban changes at the time they make themselves visible in public space. The documents created in this manner find their way into the Eternal Archives, which are located in the artist’s atelier in the Mollardgasse in Vienna’s 6th district. For many years, Putz has been combining so-called “studio practice” with what is known as “post-studio practice”1). His atelier is Vienna, the city in which he lives and works, but also a large number of other cities and places where the paths of his life and work have led him. His atelier in the Mollardgasse provides the space for his archive. The city and its public spaces of appearance are held securely within this archive. Peter Putz works as an artist and as a photographer. Peter Putz works as an archivist and as an activist. What results from this are the Eternal Archives. In the following considerations, I will examine the ways in which these four different approaches to his work intersect: artist, photographer, archivist and activist. What interests me here in particular is the question concerning the conditions, opportunities, constraints and conflicts implied by the various ways of operating, by the various ways taking action. Furthermore, I will raise the question as to the nature of the relationship between, on the one hand, this self-imposed and self-determined artistic-activist action, and, on the other, the demands made by the public. I will begin by grappling with the notion of “acting”. In contemporary theoretical debates – my special interest here is in the contexts of feminism and art-theory – there is intense discussion of the question of agency, which I would like to translate as “capacity to act”. In the book Why Stories Matter. The Political Grammar of Feminist Theory, Claire Hemmings devotes a special chapter to the issue of capacity to act, agency. She points out that independence, autonomy, freedom and self-determination are understood as decisive factors in a Western construction of the notion of capacity to act. (Hemmings 2011: 205) As the author remarks, Marxist criticism of a subject-centered capacity to act, such as the criticism put forth by Kalpana Wilson, focuses on the claim that such a notion of capacity to act places the individual above the collective and contributes to the accumulation of capital by others. From a power-theory perspective, as Hemmings points out, Judith Butler has criticized the concept of capacity to act as disregarding the power that has always (co)determined action, action which, consequently, does not result solely from decisions made by the subject. My interest in artistic and activist action is directed at (capacity of) action that takes these pitfalls into account and continues nevertheless to operate in a manifest spirit of reflection. Hence, I do not conceive forms of action independently of material conditions and opportunities, independently of other acting subjects, or independently of the question of power. To act (handeln), as I understand it, means to act (agieren) with and through co-existence, co-dependence and co-implication. I use the two German terms “handeln” and “agieren” (both signifying “to act”, “to take action”) interchangeably and have introduced the word “agieren” for the additional reason that it shares the same Latin root that gave us the word “agere” and thus establishes a proximity to the English word “agency”. 22

I will now correlate the work of the artist, the photographer, the archivist and the activist with my conception of action as being characterized by co-existence, co-dependence and co-implication. Two of these identities can be expressed actively as forms of action: photographing and archiving. By way of contrast, the other two require what one might figuratively call in the present context a “helping” verb, the verb “to be”, in order to express forms of action: “to be an artist” and “to be an activist”. There is no verb “to artist”, nor is there a verb “to activist”. Given the literal, linguistic, “auxiliary” construction, both terms, artist and activist, therefore require help, in the figurative sense of the material, aesthetic, relevance-generating, political implications involved. They require support. The state of being an artist and being an activist is subsequently dependent upon the specific literal relationship to the notion of being. There is no verb that alone expresses what the artist or activist actually brings forth in terms of action. Language provides insight here. I do not use post-structuralist knowledge and the linguistic “turn” in order to pursue a deconstructivist line of reasoning by means of language, but, rather, I use this knowledge to arrive at a materialistic understanding in a social and political economy and for a critical analysis of the relationship between individual production, collective involvement, individual investment in being, public demands and institutional contexts. The knowledge gained from language points to politics, economics and ontology, which all equally require the “helping” verb “to be”. The artist and activist are dependent upon the support, the help of the verb “to be”. This verb “to be” leads us back to co-existence, to what is synchronous, to co-dependence, to what entails a mutual relationship of dependency, and to co-implication, which equally encompasses all four identities with which we are concerned here. I will now discuss the artist and the activist as identities (and myths). Historically, the identity (and myth) of artist2) has been associated with autonomy in a complex and complicated manner. In his book Anywhere or Not at all. Philosophy of Contemporary Art, Peter Osborne examines the term “autonomy” from various perspectives. Here, I am singling out the relationship between autonomy and commodity in order to emphasize the fact that material dependence (not autonomy from material dependence – the difference is crucial) makes possible as much as it demands the autonomy of art (and of the artist as an identity operating autonomously). It is the commodification of art that makes its autonomy possible. “Autonomous art has always been for sale, as a commodity in the market. (Historically, the market is the social basis of art’s autonomy from its previous social functions.) Autonomous works of art are thus always also commodities as well – (…). Autonomy is never a given. In so far as it exists, it is the individual achievement of each work: the victory of technique (the principle of internal organization) over social conditions. Autonomy is the achievement, in each instance, of the production of a law of form.” (Osborne 2013: 166) In contrast to this Western construction of the identity and myth of the artist who combines creative work with autonomy and remains autonomous in the creative process, expressing this autonomy in his art, language use indicates rather that “to be an artist” connotes a position that is based upon the provision of support. Consequently, autonomy requires support. In my view, the fact that the German language (the same applies to English) has not developed a verb of its own to


express, actively, what artists do, what artistic endeavor is, indicates that the very pursuit of the activity is only possible if material and institutional conditions are created that enable this (mythic) construction of artist and autonomy to be produced and perpetuated. The “auxiliary” verb “to be” indicates that being an artist presupposes co-dependences and co-implications, it presupposes dependence on the conditions and opportunities that make possible and determine the creation of an artistic work, and it presupposes an awareness of the (affirmative, critical, reflective, negating, disregarding) articulation of these implications, which make possible and determine the work created. Similarly to that of artist, the identity (and myth) of activist3) deserves to be discussed in relation to autonomy. Struggles for the enforcement of (voting) rights, such as those led by the suffragettes, struggles for territorial self-determination, such as colonial wars of independence, or struggles for sexual self-determination, such as those led by LGBT organisations, emanate from a concept of the activist as an individual who joins forces with other activists, grouping together with them politically and working with them as a collective.4) . The struggles carried out for in-dependence are themselves dependent upon the historical conditions that they seek to transcend. They are dependent upon the available material, intellectual, emotional and economic resources that they are able to mobilize. Again, in my view, special emphasis should be placed on co-existence (activist subjects organized as a collective), co-dependence (mutual dependence in conditions which are to be transcended and transformed) and co-implication (the things of importance that bring together and mobilize existences and forms of dependence). At various times in history, artist and activist have united their identities and acted as artist-activist5) Before dealing, in the following, with the identities of archivist and activist, I would again like to emphasize – by way of summary – that the struggle for autonomy carried out by the artist and the activist in their respective identities and through the kinds of work that they each do (artworks, the artistic process, political self-organisation and fighting for the enforcement of rights, gaining access to and redistributing resources, etc.), requires, if one is to follow the logic of language, the help of the verb “to be”. Autonomy requires help, it relies upon support, it is dependent upon it. The struggle for autonomy requires the help of subjects, such as artists or activists, who invest their being in this struggle. In order to be able to invest this being, they require help in both material and immaterial terms. This brings the struggle for autonomy, and the investment of one’s self in being an artist/activist, back to the cycles of co-existence, co-dependence and co-implication. The photographer and the archivist have been given verbs of their own. “He photographs.” “He archives.” These actions do not require “helping” verbs. They do not need help. On the contrary, they help. These forms of action serve either photography or the archive. Historically, photographers did not use to have a recognized identity as autonomous artists, their profession was considered to be a trade. They acted on the orders of others, to fulfill the orders of others. They acted in the service of others. The medium of photography has been put to use in many different areas. From police work to archaeology, from journalism to legal practice, from anthropology to architecture, from the military to urban planning, photography is needed.

First recognized as a form of visual art in its own right during the course of the 20th century and established as a mass medium for amateurs as a result of various technological advances, photographing is seen with ambivalence when it comes to knowledge, usefulness and credibility. The photographer does not require the help of the verb “to be”. His form of action can do without being. He photographs. Photographing serves what is brought into view in the photographs. What is brought into view is thus recorded photographically. As a document, as testimony, the photograph finds its way into the archive. It serves as evidence of what is, it is a witness of events. In the archive, the collected and stored documents are classified, indexed and made accessible. The archive is a public facility that manages these documents. Archiving encompasses all operations that contribute to the preservation, conservation and organization of what is archived. Through the documents we gain access to history. The general status of the documents is a matter of political history. The archivist does not require the help of the verb “to be”. His form of action gets along without being. He archives. The kinds of practice that I have presented here all come together in the work of Peter Putz. Putz acts by combining the practices of archiving and photographing with being an artist and being an activist. He dedicates his art and his activism, as a position of autonomy, to archiving,6) which he pursues unremittingly and indiscriminately through the medium of photography. Since he, in his capacity as artist, has made the decision to produce an archive for the city, this ever expanding archive shows the determination with which Putz bears the consequences of this decision, it shows his determination to live as an archive artist, with activist commitment, employing the means of photography. The activism is an aid to the archive. The photography is an aid to the art. If, in the case of Peter Putz, instead of employing the “helping” verb “to be”, which the artist and the activist both require in order to be able to express what they do as activity, I complement these nominal terms with those relating to the activities of archiving and photographing, we see how this results in artist-archivist and photographer-activist or artist-photographer and archivistactivist. The identities co-exist, they are co-dependent and they coimplicate one another. I have shown how these identities interrelate with regard to assistance and autonomy as well as the conflicts, both theoretical and practical, that result from this interrelation. Peter Putz acts on his own orders. As an artist, he relies on his autonomy. The task he has set for himself is unmanageable, interminable, always greater than the possibilities available to him as photographer and archivist. Taking in the whole city, with its micro-transformations and its macro-transformations, capturing all the situations, moments, things that last, political demonstrations, is too much for one individual to undertake. As an activist, he faces up to this permanent challenge and to the need to expand the range of his possibilities. If the market of the 18th century became the mechanism that made it possible to establish a foundation for the autonomy of art, the market must in turn offer and support these possibilities. If, as in the case of Peter Putz, an artist resolves, for the pursuit of his work, to replace the autonomy made possible by the market by the autonomy postulated by activism in critical distance to the market, a high price indeed must be paid, to put it in the language of the market and of art taken as a system of recognition and distinction. The price paid is the life knowingly invested in this interminable project – the Eternal Archives. 23


For my concluding argument and a final summing up, I come back to the situation I described at the outset. Peter Putz invited me to visit the Eternal Archives in his atelier. Had he not approached me personally, I would never have learned of the existence of the Eternal Archives. The general public has little knowledge of the existence of this archive. Up to this point, I have devoted my discussion to the inherent conflicts and potentials that result from all conceivable combinations of artist-archivist and photographer-activist and have presented these analytically and sought to shed some critical light on them. However, these four identities or positions from which the individual can act do not constitute a closed system of interdependence. Rather, all four together have a claim to make: a claim to public visibility. If the public relies for its existence on the space in which and thanks to which it makes its appearance – and here I am following Hannah Arendt’s terminology space of appearance as further developed critically by Judith Butler (Butler 2012: 117 and 118) – then this space of appearance also requires permanent visual documentation to ensure a lasting memory of its existence. In her essay Bodies in Alliance and the Politics of the Street, published in 2012, Judith Butler establishes a link between Hannah Arendt’s political theory, which developed the idea of space of appearance – which gives the public its very existence – and, on the other hand, the necessary physical space that materially accommodates this appearance, this fact of appearing, and even makes it possible. Butler writes: “Human action depends upon all sorts of supports – it is always supported action.” (Butler 2012: 118). The city’s public space of appearance is the prerequisite for Peter Putz’s work; Putz in turn makes it possible for this space to appear in his photographic documents. He records this space in its fitful appearances, makes it archivable and thereby (publicly) accessible. In the previous sentence I placed “publicly” in parentheses in order to point out the potential nature of this public accessibility, which is in fact not (yet) a reality; and although every archive claims to be public, the Eternal Archives, being the art project of one individual, are not yet in a position to live up to this claim. It is for this reason that the Eternal Archives require support. Every document of the Eternal Archives, every photograph that has found its way into these archives, can provide insight into the urban public sphere and the space of appearance that is inseparable from the public. The archived items of the Eternal Archives, the photographs, allow urban history to become apparent. They are a part of the collective memory of the city as such, a memory that is sustained by the project of a sole artist-activist. Stored in the Eternal Archives is a wealth of visual documents that are of relevance to historians, urban researchers, ethnologists, anthropologists, architectural historians, cultural theorists and city inhabitants. The photographs contained in the Eternal Archives are not sufficient in themselves. They are unfinished, they require, and also make possible, further processing, analysis, research. As to being an archive, in order to be an archive (and here I again call on the help of the verb “to be” with reference to Judith Butler and to the social and political circumstance that every human action requires some kind of help, is reliant upon assistance), the Eternal Archives have now reached a critical point where they need public support. They need support in order to do justice to their public purpose – and to be able to do so in another space of appearance. It must also be said that certain institutions and their users are reliant upon the existence of such projects as the Eternal 24

Archives, which devote themselves passionately and persistently to the public’s spaces of appearance; because, in times of austerity and budget cuts, institutions such as archives, libraries or museums are no longer able to sufficiently accommodate the public demand for documentation of urban contemporary history. The users can no longer count on being able to discover, within the walls of these institutions, urban history’s public spaces of appearance. I am not arguing that Peter Putz’s atelier in the Mollardgasse should no longer be the place for a person like myself to come and discover the Eternal Archives. My rationale pursues a double strategy here: as a project of an individual artist-activist, the Eternal Archives rest on the shoulders of Peter Putz. As a project with a public purpose and of public interest, however, the Eternal Archives need an institution where large numbers of people can obtain access to them and explore them. This public version of the Eternal Archives needs a new being, a space of appearance in which it can show to people the public space of appearance that is being stored. An archive such as Vienna’s Stadtarchiv, a library such as the Wienbibliothek, an archive such as the Picture Archives of the Austrian National Library or a museum such as the Wien Museum would all be suitable public spaces of appearance for the Eternal Archives.

Elke Krasny is a curator, cultural theorist, urban researcher and writer. She is a professor at the Academy of Fine Arts Vienna and in 2014 City of Vienna Visiting Professor at the Vienna University of Technology. Her theoretical and curatorial work is firmly rooted in socially engaged art and spatial practices, urban epistemology, post-colonial theory and feminist historiography. In her conceptually driven and research-based curatorial practice she works along the intersections of art, architecture, education, feminism, landscape, spatial politics and urbanism. She aims to contribute to innovation and debate in these fields through forging alliances between research, teaching, curating and writing. www.elkekrasny.at


1) Within the framework of the series “Documents of Contemporary Art” published by the Whitechapel Gallery, the sourcebook entitled “The Studio”, edited by Jens Hoffmann, introduces a series of texts on studio practice and post-studio practice. Although the atelier has changed significantly as the place of work of artists since the 1960’s, the atelier has become neither obsolete nor meaningless. Places and methods of work, which – in the narrower sense – lie outside the atelier, have multiplied and become part of conceptual, post-conceptual, politically involved, socially engaged, relational, action-oriented, documental and other artistic practices. 2) In the original German text, the author uses the masculine form „Künstler“ here and explains in a footnote that she does so deliberately in order to account for the historical constructedness of identity and myth, which began with the Western bourgeois revolutions in the 18th century. (Translator’s note) 3) In this section of her original German text, the author consistently uses the non-gender-specific form “Aktivist_In” (the masculine form with a capitalized and separated feminine suffix) and explains in a footnote that she does so in order to account for the historical development of activism as seen from the perspective of the struggle for the rights of various categories of individuals. (Translator’s note) 4) A series of photographs in the Eternal Archives documents events connected with opposition to the government coalition of the ÖVP (Austrian People’s Party) and the FPÖ (Freedom Party of Austria) in 2000. The opposition movement rallying around the “Embassy of Concerned Citizens”, which was set up on the edge of Vienna’s Heldenplatz, was recorded in photographs by Peter Putz. In this case, as a photographing activist, he was part

of a collective, self-organized resistance movement. However, he also sees his activism as extending beyond collectively organized contexts and as one that practices individual action, which is nevertheless devoted to forms of action that manifest themselves collectively and publicly. 5) Of the many possible examples from the history of the visual arts, I single out the following: Eugène Delacroix (France after the Revolution), Suzanne Lacy (second-wave feminism), Chto Delat (post-1989, the merging of theory, art and activism). What all of these have in common is their having been brought to public attention through the work of art historians, curators, collectors and institutions concerned with history (exhibitions, biennials, triennials, museums). 6) In contrast to other artistic approaches, such as those of Dayanita Singh or Rosangela Renno, whose work deals with the questioning, appropriation and reciting of archive material, Putz works in the manner of an archivist, generating documents that can find their way into an archive. Literature: Judith Butler, Bodies in Alliance and the Politics of the Street, in: Sensible Politics. The Visual Culture of Nongovernmental Activism, eds. Meg McLagan and Yates McKee (New York: Zone Books 2012) Claire Hemmings, Why Stories Matter. The Political Grammar of Feminist Theory (Durham and London: Duke University Press 2011) Peter Osborne, Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art (London: Verso 2013)

Donnerstags-Demos · Thursday-Demonstrations. Wien, 2000 – 2001.

Wien | A · 2000 – 2001

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Besichtigungen im „Ewigen Archiv“ Gottfried Fliedl

Gibt es eine Unterscheidung von Alltagsgegenständen und Allerweltsgegenständen? Der Alltagsgegenstand ist vielleicht einer, der nur innerhalb der Zäune einer Wissenschaftsdisziplin gedeiht, etwa der Volkskunde oder wie das seit einiger Zeit heißt, der Europäischen Ethnologie. Der Alltagsgegenstand wurde zusammen in einer Zone der Geschichte entdeckt, die bis dahin kaum oder nur halb erkannt in den historischen Wissenschaften existierte, gewissermaßen im Bodensatz der großen Erzählungen. In ihr würde er zum Zeugen einer übersehenen Gewöhnlichkeit, aus der wohl das Leben bestand, nicht aber das Wissen der Historiker. Soziologisch war das die emphatische Entdeckung einer Geschichte jenseits der Herrschaftsgeschichte, der einfachen, der „unteren“ Lebensverhältnisse. Nicht dass es diesen Gegenstandsbereich und ein auf ihn gerichtetes Interesse nicht schon gegeben hätte. In der Entwicklung der Geschichtswissenschaft findet man ein Interesse und ein Sammeln solcher Dinge (etwa im Zusammenhang mit dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg), ehe sie definitiv das schriftliche Dokument als Quelle privilegierte und die Gegenstandskunde in die Nachbar- und Hilfsdisziplinen wie Kunstgeschichte oder Volkskunde abwanderte. Doch dort wurde auch ausgewählt und ausgesondert, und was als Zeugnis unerheblich, ästhetisch uninteressant und produktionstechnisch minderwertig erschien, zum „Un-Ding“. So formierte sich auch in der Welt der Dinge eine Klassengesellschaft mit ihren Hierarchien, ihren Distinktionen, mit ihren feinen Unterschieden, auch in der Aufmerksamkeit der Sammler, Kritiker, Wissenschafter und Museen. Wann und wo diese Hierarchie sich aufzulösen begann, und das Triviale, das Übersehene, die Massenware, das Kurzlebige, das vordergründig rein Funktionale, das Hässliche, das Unschöne, das Abstoßende, das Ekelhafte, das Banale in jenen Radar der Aufmerksamkeit gerieten, der sie dann auch sichtbar machte, dokumentierte, zusammenstellte oder ausstellte, kann ich nicht sagen. Sicher ist, dass immer noch der bei weitem größte Teil der Dingwelt, ob alltäglich oder nicht, lässt sich nicht einmal sagen, „ungesehen“ bleibt, obwohl er gegenwärtig, sichtbar, unter Umständen und jederzeit zu Hand oder unvermeidlich in unserer Lebenswelt anwesend ist. Es sind die Un-Dinge, die zwischen alle Raster des Registriertwerdens fallen, die nicht zum kulturellen Gut zählen, als unästhetisch gelten, wie funktional notwendig sie auch immer scheinen, wie etwa ein Spielgerät in einem Park, das für Kinder gedacht ist, eine Maschine, die bestimmten Müll entsorgt oder bearbeitet, wie eine Schallschutzwand an einer Schnellstraße, wie die Installationen eines Eislaufplatzes, wie plattgedrückte Aluminiumdosen auf Asphalt, wie die Markisen eines Marktes - alles Objekte, die im Ewigen Archiv auftauchen. Da sind wir in der Welt des Peter Putz und seiner Sammlung von gegenwärtig über 250.000 Fotografien, einer der größten privaten Bilddatenbanken Österreichs, zahlreichen Publikationen, einer Webseite, von Ausstellungen und zahllosen Aktivitäten. Ein Kompendium von allem und jedem, dessen Untertitel der Publikation von 2012 The Eternal Archives 1980 – ∞ ironischer ist, mit seiner zeitlichen Fixierung der Unendlichkeit, als der Titel der aktuellen. Auf rund 200 großformatigen Bildseiten sind hier, in der Auswahlpublikation, innerhalb eines Layout-Rasters, Schwarz-Weiß-Fotos und Farbfotos zu knapp beschrifteten weiter aber unkommentierten 26

Tableaus zusammengestellt, in einer scheinbar willkürlichen Reihenfolge, die meisten von ihnen jeweils mit einer oder mehreren Seiten zu einem Sujet zusammengefasst. Eine Art statistischer Sichtung, die ich nicht mache, würde Vorlieben und Obsessionen sichtbar machen und die Frage stellen, was alles dennoch aus der Welterfassung des Fotografen ausgeschlossen bleibt. Ja, da geht es um die immer verfehlte Totalität des Sammelns, sie würde Zufälliges und Absichtsvolles, aus Anlässen und aus Intentionen Entstandenes entschlüsseln. Die Bitte, fotografiert zu werden, die Teilnahme an Veranstaltungen, die Dokumentation von Demonstrationen, politischideologisch motiviertes Fotografieren gibt es, und alle vielen Momente, von denen Peter Putz sagt: „Die Dinge suchen mich, nicht ich sie“. Allerweltsdinge. Man könnte versucht sein, das Wort so wörtlich zu nehmen, dass es für eine Erfassung der Welt durch ihre Dinge steht. Man könnte an Bouvard und Pécuchet denken, die aber die Welterfassung praktisch betrieben und ebenso scheiterten, wie ihr Erfinder, Gustave Flaubert, der den Roman unvollendet liegen lassen musste. Oder an das Mundaneum (Paul Otlet und Henri La Fontaine), diesen Großversuch, das Weltwissen zu verzetteln und zu verschlagworten, ein Versuch, der Le Corbusier zu einem Projekt eines unendlich wachsenden Museums inspiriert hat. Oder an Peter Greenaways 100 Objekte, die von der Welt erzählen, die Ausstellung, die seinem eigenen Bekunden nach von der hybriden Vorstellung inspiriert ist, man könne mit einer Hand voll einer Weltraumsonde mitgegebener Text- und Bilddaten Außerirdischen ein Verständnis für „uns“ vermitteln. Man könnte auch an das Musée sentimental Daniel Spoerris denken, das die Willkür und Zufälligkeit der Auswahl und der Zusammenstellung der Dinge unter einem strikten Ordnungsprinzip verbirgt. Dann selbstverständlich an Marcel Broodthaers Der Adler vom Oligozän bis heute, also an sogenannte Künstlermuseen, die ihr „Vorbild“, die Institution Museum unterminieren, indem sie die Fragwürdigkeit seiner Grundlagen sichtbar machen. Das Ewige Archiv ist freilich weder enzyklopädisch noch repräsentativ und auch nicht historisierend, wie etwa ein anderer über Dinge, Museumsobjekte, unternommener Welterfassungsversuch, Neil MacGregors Buch, in dem Objekte des British Museum eine (Welt) geschichte erzählen sollen (Geschichte der Welt in 100 Objekten). Es ist auch keine animistische Belebung der Dinge durch einen Künstler, der die Welt „nach seinem Bild“ umformt, wie zum Beispiel August Walla, der Sessel, Schreibmaschinen, beteerte Straßen, Bäume, Zimmerdecken, Schreibtischlampen, Trafohäuschen, Betten, Türen, Hütten oder auch die Steine der Schotterbänke an der Donau bemalte. Dennoch tendiert auch diese Sammlung von Fotografien und der Umgang mit ihnen, ein „Weltmuseum“ in dem Sinne zu sein oder erst zu werden, als es eine Totalität aus sich heraus generiert, die zwar die empirische Welt aufnimmt, in akribisch festgehaltenen Ausschnitten, aber sie als Material verwendet, aus dem etwas Neues entsteht, ein idiosynkratischer und narzisstischer Kosmos. Dass Gsellmanns Weltmaschine doppelseitig in der Publikation auftaucht, ist vielleicht kein Zufall. Ein Kosmos, von dem im Übrigen sein Autor listigerweise behauptet, der bestünde auch unabhängig von ihm und würde von ihm gleichsam nur registriert, aufgeschnappt, festgehalten werden.


Dass das Welt-Bauen im Zentrum steht, daran lässt Peter Putz im Gespräch keinen Zweifel. Fragen wie: „Wie kann ein Einzelner mit der Abbildung der Welt umgehen? Wie kann er die Welt verstehen? Wie kann ich mir die Welt erklären?“, fallen rasch hintereinander. Ich füge hinzu: „Wie kann ich mich vor der Welt schützen und vor ihrem Anblick?“ Peter Putz hinterlässt keine, zieht keine Spuren, er zieht sich auf die Rolle des unsichtbaren, anonymen „Mannes hinter der Kamera“ zurück, der scheinbar ohne Interesse und Leidenschaft den Dingen Bilder gibt. „Sie entdecken mich“. Er ist Flaneur, dessen Bewegung durch die Stadt in dem Sinne absichtslos scheint, als sie kein Ziel hat und auch nicht wie das touristische Flanieren auf Sehenswürdiges aus ist, also schon gar nicht auf vorcodierte, mit Bedeutung und Wert schon autoritativ versehene Objekte. Gibt es kein Fotografieren aus Vorsatz? Doch. Da gibt es Ensembles von dokumentarischen Fotografien, von Kundgebungen oder Demonstrationen. Die leisten das, was ein bestimmter fotografischer Blick leisten kann, nämlich das Symptomatische, nicht das Intentionale einer Szene festzuhalten. Der 1. Mai der Wiener Sozialdemokratie ist ein politisches Ritual, an dem die jüngsten ökonomischen und großpolitischen Unwetterwände nicht spurlos vorübergegangen sind. Ebensowenig wie die Abnutzungserscheinungen, die ein dutzendfach vollzogenes oder auch nur mitgemachtes Ritual nun einmal mit sich bringt. Das sieht man auf den Fotos des Ewigen Archivs. Die Verdichtung eines solchen Festtages auf eine Zusammenstellung von Gesten, Fahnen, Handhabungen, Blicken, Begrüßungen, Parolen usw., also die Reduzierung auf das Alltägliche im Nicht-Alltäglichen, macht etwas sichtbar, was auf „Höhepunkte“ konzentrierte Medien- und Bildberichterstattung nie sieht. Da Peter Putz dieses Fest des 1. Mai immer wieder besucht hat und es mit Bildern von Maifeiern in anderen Ländern konfrontiert, etwa aus Polen oder Paris, wo er eine Veranstaltung Le Pens besucht hat, wird das Archiv hier „historisch“, was es sonst kaum wo ist. Das gilt selbstredend auch für die Aufnahmen von Demonstrationen, bei denen wiederum nicht in erster Linie das Ereignis in seiner Einmaligkeit Thema ist, sondern das Verhalten der Demonstranten, der Zuschauer, der Polizei. Peter Putz ist nicht auf jene sensationellen Fotos aus, auf Gewaltsamkeit etwa, die in der Medienberichterstattung manchmal der erste und einzige Grund zu sein scheint, von einer Demonstration überhaupt zu berichten. Die Zusammenstellung von Fotos erlaubt es, stereotype Muster zu entdecken. Die Fotos von Bettlern oder Sandlern zeigen solche Muster, und ich habe mich gefragt, ob es da tatsächlich bestimmte körpersprachliche Muster gibt oder ob sie Resultat der Auswahl und Zusammenstellung sind. Mit dem Kern der intentional dokumentarischen Fotos bilden viele solcher Tableaus durchaus so etwas wie eine Physiognomie der Republik. Manchmal stelle ich mir ein „Republikmuseum“, wie es in Österreich nun schon an die zwei Jahrzehnte diskutiert wird, so vor: nicht als monumentale Geschichtserzählung, nicht als nationales Großnarrativ (ohne allzu große Konfliktfreudigkeit), sondern als

Tableau (1. Mai 1973) aus: Das Ewige Archiv · Heavy Duty XS, 2012

Edelsbach | AT · 2009 Weltmaschine: Franz Gsellmann

Tableau (Weltmaschine) aus: Das Ewige Archiv · Heavy Duty XS, 2012

Wien | A · 2010

Tableau (Presskammer) aus: Das Ewige Archiv · Heavy Duty XS, 2012

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eine wesentlich von „Bildern“ im weitesten Sinne erzählte oder besser collagierte Vernetzung von Ereignissen, die eher einer kugelförmigen Dramaturgie (Alexander Kluge) denn einer linearen folgen. Früher hat man so etwas „Geschichte von unten“ genannt, die Geschichte der „kleinen Leute“, aber alle diese Wörter sind schwammig geworden, sind schief und ungenau. „Mich interessiert nicht das einzelne Bild“, sagt Peter Putz, und überraschenderweise auch: „Ich bin kein Fotograf“. Er, der die Zeit seiner Arbeit als Grafiker im ORF und die Zusammenarbeit mit Neville Brody als wichtige Inspiration seines Tuns nennt, sieht sich wohl eher als Arrangeur, den die Beziehung von Bildern untereinander interessiert und erst so etwas Signifikantes über die Zeit, in der sie entstanden sind, oder über unsere Gegenwart aussagt. Dieser Verzicht auf das Erzählen, die Geschichte, das Anekdotische, das man den Dingen zu entnehmen glaubt (meist irrtümlich – sind es nicht immer Projektionen, Deutungen?), die man vermeint in Dingen finden zu können, wird im manipulierenden Eingriff überwunden. Erst die Auswahl der Bilder und ihre Konfrontation macht sie interessant. Wenn ich dabei höre, wie Peter Putz diese Arbeitsweise schildert und gleichzeitig erzählt, dass das aus der Beschäftigung mit den Medien, mit den Fernsehbildern, mit den enormen, inzwischen durch das Internet tausendfach multiplizierten Bilderfluten inspiriert ist, also auch medienkritisch, denke ich an die Verwandtschaft zur Arbeitsweise, vor allem wo sie politisch-ideologisch motiviert ist, von Harun Farocki. In der Auswahl und Zusammenstellung ist aber Peter Putz weit weniger variabel als er. Meist bildet er Serien, innerhalb derer das Sujet sich von Bild zu Bild nur wenig verändert, fast wie in einem Film oder in einem Daumenkino, wenngleich immer wieder auch Nachbarschaften entstehen, wo wir uns dem Aufblitzen einer Erkenntnis, einer rätselhaften Frage oder auch des Lachens nicht erwehren können. Es sind die Schichten des Lebens, in denen sich unsereins aufhält, wenn wir in dem Fotoband blättern, als Durchschnittsösterreicher, der es sich in seinem Alltag einrichtet und manches einblendet und vieles ausblendet, und sich überraschen oder auch befremden lässt von dem, was er vergessen hat. Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk hat mit seinem Museum der Unschuld einen Gegenentwurf gemacht zu jenen Museen, die eine Geschichtsepoche oder einen Staat oder ein Volk darstellen und plädiert für ein Museum der individuellen Geschichten derer, die „unschuldig“ sind. Das mit der Unschuld mag man bestreiten und man mag die Tendenz zur Idyllisierung seitens seines Museumsexperiments goutieren oder nicht. Es schließt alles an Katastrophischem, an Schmerz, an Unterdrückung, Missachtung, Rechtlosigkeit usw. aus, indem es sich auf den privatesten aller Schmerzen konzentriert: eine scheiternde Liebe. Sein Satz aus seinem kleinen Museumsmanifest führt uns zurück zum Ewigen Archiv, das fast nichts (Auto)Biografisches und zum Unterschied zum Museum der Unschuld auch nicht individuelle Spuren verfolgt. Pamuk: Ein Museum soll daran gemessen werden, „ob es in seiner Herangehensweise einzelnen Schicksalen gerecht wird oder nicht.“ Nun ist das Projekt von Peter Putz kein Museum, aber in der Art und Weise wie er Menschen fotografiert, wobei er darin sehr zurückhaltend ist und das Recht von jedermann auf das eigene Bild respektiert, gibt es ein Paradox zwischen Sachlichkeit des Abbildens und Empathie der Wahl des Sujets. Das erlaubt ihm, abzubilden, was die Gesellschaft Menschen antut und was Menschen sich und der Gesellschaft antun. 28

Bei Pamuks Museumsprojekt, das ja gleichzeitig mit einem gleichnamigen Roman entstanden ist, wird der Widerspruch zwischen individuellem Sammeln und Anspruch auf öffentliche Wahrnehmung deutlich. Je individueller und eigensinniger ein Sammler ist, desto schwieriger fällt, wenn sie überhaupt beabsichtigt ist, die Transformation in die Öffentlichkeit. Je selbstbezüglicher die Sammlung war, desto schwieriger fällt die „Übersetzung“. Ein Sammler begründet Wahl und Zusammenstellung selbstbezüglich, und es ist die Frage, wie und ob überhaupt eine gesellschaftliche Legitimation gefunden werden kann, die die alte, private Intention nicht zerstört und dennoch öffentlichen Erwartungen und Notwendigkeiten entspricht. Bei Pamuk ist dieses Problem verschärft, denn das Museum bezieht sich auf vertrackte und inspirierende Weise – was ich hier nicht ausführe – auf den Roman, auf die Liebesbeziehung zweier junger Bewohner Istanbuls, also auf Fiktion. Auch bei Peter Putz steht bei einem Teil der Bilder, beileibe nicht bei allen, die individuelle Sicht dem öffentlichen Interesse entgegen. Der Kraftakt, etwas, was notorisch übersehen wird, zu sehen, zu geben, Aufmerksamkeit zu erzeugen, wird wohl nicht immer gelingen. Diese Sprödigkeit steht bedauerlicherweise der Rezeption der Arbeiten von Peter Putz gelegentlich im Weg. „Kunden“, die sich auf die Flucht vor der Auseinandersetzung mit dem Werk begeben, rufen in der Not dann schon mal das Ende der Fotografie aus: „Es ist eh schon alles fotografiert!“ Der private Archivar muss keine Selbstzensur üben und er kann bei einer selbst verantworteten Publikation auf Bilder zurückgreifen, die in offiziöser Hinsicht kaum kommuniziert würden. Beim Blättern im Band geht mir ein ganz anderes Fotobuch durch den Kopf, das eben in diversen Zeitungen rezensiert wird und das ich nur in Ausschnitten kenne. War Porn, von Christoph Bangert, Kriegsfotografien, die keine Zeitung druckt, die kein TV-Sender übernimmt. Man kann nicht so ohne weiteres sagen, dass sie das wahre Bild des Krieges zeigen, aber sie machen das Äußerste an Aggression, das er entfesselt, ansatzweise sichtbar, etwa so wie die entsetzlichen Fotos aus Abu Ghraib, die wir ja nicht alle und nur zensiert, teilweise unkenntlich gemacht, zu sehen bekommen haben. Würde eine ähnliche Radikalität der Fotografie im sozialen Raum ähnliche Effekte haben wie die eben genannten aus dem irakischen Foltergefängnis des US-Militärs? Peter Putz ist fasziniert von Grenzüberschreitungen, und ich glaube, ich vermute, ich ahne nur, auf doppelte Weise. Es ist einerseits das „Seht-Hin!“, das ihn antreibt, und andrerseits eine Art von Austasten der eigenen Grenzen. Wenn man das Ewige Archiv mit seiner älteren Publikation Virtual Triviality vergleicht, fällt auf, um wie viel stärker dort das Verletzen, Zerstören, die Entstellung, der Zusammenprall von Organischem und Technischem, das Töten, die phallische Aggressivität präsent war. Und um wie viel stärker dort durch die – sehr aufwendige, fast einem Künstlerbuch vergleichbare Gestaltung, also eine spröde Ästhetisierung –, das alles gerade noch erträglich machte. Da nützt ihm die Kamera, hinter der er sich schützen könnte, wenig. Auch im Ewigen Archiv gibt es einschlägige Fotos, Schweineschlachten, von Unfällen aufgerissene Autos, Serien von Erbrochenem auf dem Asphalt, das blutige Töten von Fischen auf dem Großmarkt, blutige Handschuhe und Einwegspritzen von Drogensüchtigen, tote Tiere, von Autoreifen aufgequetscht, und, in extremer Nahsicht besonders unappetitlich, folienverpacktes Geflügel, wie es wohl viele von uns ohne Bedenken im Supermarkt kaufen.


Aber er ist milder geworden, mit uns und mit sich, er gönnt uns auch lange Fotostrecken, wo es idyllisch, kurios, schräg, witzig, merkwürdig zugeht. Ein Künstlerfreund bei der vertieften Arbeit, bunte rätselhafte Zeichen, alberne Street-Art, gestapelte Sessel, knallgelbe Postwägelchen, Menschen in karnevalesker Verkleidung, Touristen, Straßenarbeiter, typografische Fundsachen, ein Feuerwehreinsatz, ein Buswartehäuschen aus Waschbeton ... und dann wiederum, unvermittelt ein drohender Einbruch in diesen Alltag, eine Serie von Überwachungskameras. Zu viel Harmlosigkeit lässt er nicht zu, der Archivar. Und ich könnte mir gut vorstellen, dass all dieses Material etwas noch nachdrücklicher leisten könnte, was es ja, wie gesagt, ohnehin in Teilen auch ist. Eine zeitdiagnostische Revue, die sich an den besten Stellen jeder Klischees und Vorformatierung in gängigen und eingängigen Medienformaten entzieht, ganz zu schweigen von all den Sujets, die kaum jemand wahrnimmt oder die der individuellen wie kollektiven Verdrängung unterliegen.

Sauerstoffschlauch in der Nase, ein Stück vom Schneidezahn fehlt, in und aus ihrem Körper führen Infusionen, Schläuche. Hautabschürfungen, geschwollenes Kiefer. Fange fast zu weinen an, bin fast unfähig zu sprechen, muß nach einiger Zeit den Raum verlassen. Gespräch mit dem Arzt, der sagt nicht viel, zählt nur auf, was war. Sicherlich einige Wochen Krankenhaus-Aufenthalt. Die Leber am Samstag genäht und geklebt, heute vormittag schmerzhafte Punktierung der Bauchhöhle – ein Liter Blut.

Oxygen tube in her nose, a piece of incisor missing. There are drips and tubes leading into and out of her body. Skin abrasions, swollen jaw. Almost start crying, almost incapable of speaking, after a while have to leave the room. A conversation with the doctor - he doesn´t say much -explains what´s wrong. Definitely several weeks in hospital. On Saturday, the liver was stitched and stuck together; this afternoon a painful aspiration of the abdominal cavity - one litre of blood.

High Definition TV

Indes steht dies, wenn es je zur Absicht des Autors gehörte, im Widerspruch zum „Weltbauen“. So wie sich Herr Gsellmann bei seiner Weltmaschine, die er irgendwo im steirischen Niemandsland ein halbes Leben lang baute, an allem und jedem bediente, Staubsaugermotoren, Nachttischlämpchen, Fahrradketten, Spielzeugraketen, Plastikblumen, Messingbuchstaben, Hausklingeln, HulaHoop-Reifen einmontierte, so gibt es auch im Ewigen Archiv Alles und Jedes. Vor der Gefahr des „Auseinanderfliegens“ ist die kuriose steirische Weltmaschine durch sinnreiche bewegliche Verbindungen und Transmissionen geschützt. Alles scheint mit allem in Verbindung zu stehen - auch eine Art von Harmonia Mundi. Beim Ewigen Archiv dagegen sehe ich die Gefahr, dass die Teile zu unverbunden bleiben, aber es ist ja auch kaum etwas heil. Mal Polen, mal USA, mal Wien, was nicht alles auftaucht! Mal Fotografien aus einer Erbschaft, mal Schnappschüsse auf Auftrag, mal Trivia, mal Großereignis. „Über das Kotelett in der Pfanne wird an den Schlachthöfen Chicagos entschieden“, so ein Satz Brechts oder ein ganz anderer, modernisierter, muss im Kopf des Archivars geistern.

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Gibt es ein Zentrum – außer der libidinösen Sammlerenergie, die alles in Gang setzt und hält? Bei der Gsellmannschen Weltmaschine gibt es eine auf Knopfdruck abrufbare Bewegung, zentrifugal, multipel. Eine „arbeitslose“ Maschine, die sich dreht, leuchtet, blinkt und klingelt. Und die nie fertig wurde und – ohne dass das ihr Schöpfer es je hätte ahnen dürfen – nie fertig werden durfte. Dann drohte das Schicksal, das den Sammler trifft, der das letzte, abschließende Stück erwirbt. Das ist die totale Implosion des antreibenden Begehrens. Das darf auch mit dem Archiv nicht passieren – eine Drohung und gleichzeitig eine Hoffnung, der der Archivar (gegen alle Wahrscheinlichkeit) standhält mit dem in 8 Punkt-Schrift fast unlesbar gesetzten Schlusssatz auf dem allerletzten Blatt des Buches: time is on my side.

Tableaux aus: Peter Putz, Virtual Triviality, 1994

G. F., 2014 Gottfried Fliedl, Kunsthistoriker, Germanist und Archäologe. In der Hierarchie seiner unübersichtlichen Interessen steht seit Jahrzehnten das Museum als schwer verständliche und oft auch schwer erträgliche Institution im Zentrum, was seinen Niederschlag in Lehr- und Beratungstätigkeit fand, in praktischer Ausstellungsarbeit, vielen Publikationen, in ungebrochen neugierigen Entdeckungsreisen in die Welt des Museums und der Ausstellungen und hartnäckiger wie hoffnungsloser Museumskritik. So entstand ein dilettierender und stets scheiternder Generalismus aus allem und jedem, den man in akademischer Verschleierung transdisziplinär nennen könnte und den er zuletzt am Landesmuseum Joanneum in Graz (aus dem ohne sein Zutun aber während seiner Anstellung ein Weltmuseum wurde) mit mittlerem Erfolg anzuwenden versuchte. Das alles findet seit einigen Jahren auch in einem museologischen Blog seinen Niederschlag: http://museologien.blogspot.co.at/ 29


Touring the ”Eternal Archives“ Gottfried Fliedl

Is there a distinction to be made between what in German are termed alltagsgegenstände, that is, objects of everyday life, and allerweltsgegenstände, that is, objects that are for no one anything special? The everyday object is perhaps one that flourishes only within the fenced-in area of a scientific discipline – the study of folklore, for example, or, as it has recently come to be called, European ethnology. The everyday object was discovered all of a sudden in a zone of history, the existence of which had until then hardly or only halfway been acknowledged by the historical disciplines: in the residuum, as it were, of the bigger stories. In this zone, it acquired the status of evidence of an overlooked normality, which in fact constituted the stuff of life, but not the stuff of the knowledge of historians. Sociologically, this was the emphatic discovery of a history beyond the history of rule and rulers, a history of simple, “lower” living conditions. Not that this world of objects or an interest in it had not already existed. In the evolution of historical scholarship, one encounters an interest in such things and in collecting them (witness, for example, the Germanisches Nationalmuseum in Nürnberg), before priority was definitively given to the written document as source material and the study of objects per se relegated to neighboring and accessory disciplines, such as art history or folklore studies. There too, however, there was selection and elimination, and whatever seemed insignificant as historical evidence, whatever seemed aesthetically uninteresting or inferior with regard to its technical production, was demoted to the rank of “non-thing”. Thus, in the thing-world too, a class society evolved, with its hierarchies, its distinctions, its fine discriminations – in the view of collectors, critics, scholars and curators as well. When and where this hierarchy began to fall apart and the trivial, the overlooked, the mass merchandise, the short-lived, the primarily functional, the unattractive, the ugly, the repulsive, the disgusting, the banal came within the radar range of attention that then made it all visible, documented it, assembled it or put it on display, is difficult to say. What is certain is that the greatest part by far of the thing-world – whether it can be called “everyday” or not is impossible to say – still remains “unseen”. In spite of the fact that it is present, visible, at hand under certain circumstances or at all times, or inescapably part of our environment. These are the non-things that slip through all the filter-grids of record-keeping, not considered to be a part of our cultural heritage, seen as being inaesthetic – functionally necessary as they may be – such as, for example, children’s playground equipment in a park, a machine for removing or processing certain kinds of rubbish, a noise-wall along a highway, ice rink installations, flattened aluminum cans lying on the asphalt, awnings over a market – all of which can be seen in the Eternal Archives. Here, we are in the world of Peter Putz and his collection of over 250,000 photographs, the largest private image database in Austria, numerous publications, a website, exhibitions and countless related activities. A compendium of the each-and-every, whose subtitle in the 2012 publication, The Eternal Archives 1980 – ∞, in fixing eternity within temporal bounds, is more ironic than the title of the current publication, The Eternal Archives ∞.

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On roughly 200 large-format pages of images, published here as a selection, in grid layout, both black and white and color photos have been collated into tableaux, with no commentary beyond minimal legends, in what seems to be random order, most of the images thematically grouped to fill one or more pages. A kind of statistical scrutiny, which is not my concern here, would reveal preferences and obsessions and would raise the question of what, in spite of everything, remains excluded from the photographer’s vision of the world. (Yes, once again the issue of the incompleteness of collections…) Such scrutiny would provide a key to what was accidental and what was intentional, to what resulted from outside causes and what was a product of deliberation. People asking to be photographed; people taking part in organized events; demonstrations documented; there is politically and ideologically motivated photography here; and those many moments about which Peter Putz says, “The things come looking for me, I don’t go looking for them.” Things that are for no one anything special – allerweltsdinge. One might be tempted to take the word literally as connoting a perception of the world (welt) through its things (dinge). One might think of Bouvard and Pécuchet, who went about trying to grasp the world in practical pursuits, but always failing in the end, just as their creator, Gustave Flaubert, failed when he had to leave the novel unfinished. Or of the Mundaneum (Paul Otlet and Henri La Fontaine), this grand endeavor that aimed at cataloguing the world’s knowledge on cards with keywords, an undertaking that inspired Le Corbusier’s project for a perpetually expanding museum. Or of Peter Greenaway’s 100 Objects to Represent the World, an exhibition that he himself said had been inspired by the hybrid fancy that with a handful of text and image data entrusted to a space probe we could enable aliens from another world to gain understanding for “us”. Or of Daniel Spoerri’s Musée sentimental, where the apparent arbitrariness and fortuity of selection and arrangement of things conceals a rigorous principle of order. One could also think, of course, of Marcel Broodthaers’ The Eagle from the Oligocene to the Present – one could, in short, think of all the so-called artists’ museums (künstlermuseen), which subvert their own “model” – the museum as an institution – by revealing how questionable its foundations are. The Eternal Archives are neither encyclopedic nor representative, nor do they historicize, unlike another example we could mention – an attempt to embrace the world by taking objects, museum objects, as a point of departure, namely, Neil MacGregor’s book, A History of the World in 100 Objects, in which objects in the British Museum are supposed to tell a story (of the world). Nor are the Eternal Archives an artist’s animistic attempt to endow things with life in order to reshape the world “according to his image”, such as, say, the work of August Walla, who painted the surface of chairs, typewriters, tar-covered streets, trees, ceilings, desk lamps, transformer towers, beds, doors, huts or stones lying on gravel bars along the Danube. At the same time, however, this collection of photographs, and their treatment by the author, tends to be, or is on its way to becoming, a “world-museum”, in the sense that it generates from within itself a totality, which, while being a record of the empirical world, meti-


culously captured in extracts, nevertheless uses these as material from which something new emerges, an idiosyncratic and narcissistic universe (it is certainly significant that Gsellmann’s Weltmaschine is given a double-page spread). A universe that exists, as the author cunningly puts it, independently of him, one that he only records, picks up, captures. Constructing a world is at the core of things here, something about which Peter Putz, in conversation, leaves no doubt. Statements like, “How can an individual deal with the idea of visually representing the world? How can he understand the world? How can I explain the world to myself?” follow in rapid succession. And here I add, “How can I protect myself from the world and from the sight of it?” Peter Putz leaves no traces, leaves no trail behind, he withdraws into the role of the invisible, anonymous “man behind the camera” who, seemingly without interest or passion, gives pictures to things. “They discover me.” He is a flâneur whose movement throughout the city seems but a wandering, since it has no particular goal; nor is this the flânerie of a tourist out to see the sights; there is, in other words, no intention whatsoever here to seek out objects that already have a set code, objects to which some authority has assigned meaning and value. There’s no premeditated photography here? Yes there is. There are assemblages of documentary photographs, photographs of rallies or demonstrations. They do the job that a certain kind of photographic eye can do. They capture the symptomatic, not the intentional, of a scene. The May Day of Vienna’s Social Democrats is a political ritual over which the recent economic and party-political storms have passed, not without leaving their marks. No less visible are the signs of wear and tear that such a frequently performed – actively or passively – ritual carries with it. We see all of this in the photos of the Eternal Archives.

Paris | F · 1er Mai 1990

Tableau (Le Pen) from The Eternal Archives · Heavy Duty XS, 2012

London | UK; Österreich · 2009 – 2012

Condensing such a public red-letter day into a collage of gestures, flags, things being wielded or set up, glances, handshakes, slogans, in other words, focusing on the everyday in a non-everyday context makes it possible to reveal something that the highlight-hunting media and photojournalists never manage to see. The fact that Peter Putz has often attended this May Day event and that he confronts it here with photographs of May Day celebrations in other countries (in Poland, for example, or in Paris, where he attended a Le Pen rally) suddenly lends a “historical” character to the Archives, something they lack almost everywhere else. It goes without saying that this also holds for the photographs of demonstrations, where, once again, it is not first and foremost the event in its uniqueness that is the focus, but rather the behavior of the demonstrators, of the spectators, of the police. Peter Putz is not out to get those sensation shots, photos of violence, for example, which sometimes seem to be the media’s first or only reason for reporting on a demonstration.

Tableau (surveillance) from The Eternal Archives · Heavy Duty XS, 2012

Juxtaposing photos makes it possible to discover stereotypical patterns. The photographs of beggars and homeless persons (urban vagrants) expose such patterns, and I have asked myself whether what we see here are in fact specific patterns of body language or, rather, the result of selection and assemblage.

Tableau (London) from The Eternal Archives · Heavy Duty XS, 2012

London | UK · 2007 – 2009

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With a core of photos that are intentionally documentary, many of these tableaux create what one might truly call a physiognomy of the Republic. Sometimes I imagine a “museum of the Republic” (as it has been referred to in discussions in Austria for some two decades now) in the following way: not as a monumental recounting of history, not as a national grand narrative (without too much emphasis on combativeness), but rather as a cross-linkage of events, told, or even better, collated essentially by means of “pictures” in the broadest sense, adhering to a dramaturgy that is more spherical (Alexander Kluge) than linear. One used to call something like this “history from below”, history of the “common people”, but all these terms have become a bit woolly, they are in fact ill-fitted and vague. “I’m not interested in the individual picture,” says Peter Putz, and also, surprisingly, “I’m not a photographer.” He, who refers to the years he spent working as a graphic designer for the ORF (Austrian Broadcasting) and his collaboration with Neville Brody as an important inspiration for his work, sees himself more as an arranger interested in the interconnectivity of images and this interconnectivity itself as being what allows the images to express something significant about the time in which they were produced or about the present. He dispenses with story-telling – the story, the anecdotal that we imagine can be extracted from things (a notion that is usually fallacious – aren’t these always projections, interpretations?), this story that can supposedly be found in things is superseded by manipulative intervention. It is only the choice of images and their juxtaposition that make them interesting. When I hear Peter Putz describe how he goes about his work and at the same time tell how this was all inspired by his work in the media, by his work with television images, with the enormous flood of digital images that has in the meantime been multiplied a thousandfold by the internet – and here he can be critical of the media – , I think of the affinity, as far as his approach to his work is concerned, especially where it is politically and ideologically motivated, with Harun Farocki. However, in selecting and collating, Putz is not nearly as variable as Farocki. He usually constructs series in which the subject changes only slightly from image to image, almost as in a film or in a flip-book, although we keep finding ourselves unable to resist a flash of recognition, a puzzling question – or a laugh. These are layers of life in which we linger, as we leaf through the photo album, average Austrians, situating ourselves in our daily worlds, taking in certain things, blocking out others, and allowing ourselves to be surprised or disconcerted by things we have forgotten. The Turkish author, Orhan Pamuk, with his Museum of Innocence, makes a counter-statement to museums that present a historical epoch or a state or a people, and makes an appeal for a museum of individual histories, of histories of “the innocent”. The notion of innocence is debatable, and we may or may not appreciate the tendency of Pamuk’s museum experiment to romanticize – it excludes everything catastrophic, everything painful, oppressive, all disregard for or contempt of rights, etc., by concentrating on the most private of all pain: thwarted love. A phrase taken from his little museum manifesto brings us back, however, to the Eternal Archives, whose purpose is in almost nothing (auto)biographical, nor do the Archives, unlike the Museum of Innocence, lead us along the tracks of individuals. In Pamuk’s view, a museum should be judged according to “whether or not in its general approach it does justice to individual fates and fortunes.” Peter Putz’s project does not purport to be a museum, but in the way he photographs people (showing

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discretion and also respect for each person’s right to decide about being photographed), there is a paradox between the objectivity in photographing and the photographer’s empathies in his choice of subjects. This allows him to portray what society does to people and what people do to themselves and to society. Pamuk’s museum project, which dates from the same period as his eponymous novel, points up the contradiction between individual collecting and the claim to public attention. The more individual and self-willed the collector, the more difficult the question – should it even arise – of making the shift to the public sphere. The more self-referenced the collection, the more difficult the “translation”. The collector’s reasons for selecting things and putting them together are self-referenced, and the question arises whether it is at all possible to find a social legitimization that does not destroy the original, private intention, while at the same time addressing public expectations and necessities. In the case of Pamuk, the problem is rendered even more complex by the fact that, in an intricate and inspiring way (on which I will not elaborate here), the Museum makes reference to the novel, to a love relationship between two young people who live in Istanbul, it makes reference, in other words, to fiction. Similarly, with Peter Putz, in some but by no means all of his pictures, there is a dichotomy between the individual eye and the eye for things of public interest. The great effort to give us something to see that has been grossly overlooked, the great effort to create attention does not, of course, always succeed. Regrettably, this frailty is occasionally an obstacle to the reception of Peter Putz’s work. “Customers” who dodge confrontation with this work proclaim in distress the end of photography: after all, everything has already been photographed. The private archivist is under no obligation to exercise self-censorship, and when publishing on his own responsibility, he can draw on pictures that would hardly stand a chance of reaching the public through more official channels. As I leaf through the volume, quite another book of photographs comes to mind, one that has received a number of reviews in the newspapers and which I only know from excerpts: War Porn (by Christoph Bangert), war photographs that no newspaper will print and no TV network will use. It would be an oversimplification to say that these photographs present the true picture of war; but to a certain extent, they make visible the extreme aggression that war unleashes, as do, for example, the horrific photographs from the Abu Ghraib prison, which we have never been able to see in their entirety, and those that we have been allowed to see have been censored (in some cases beyond recognition). Would a similarly radical photographic approach in the social realm have effects similar to those produced by the photographs just mentioned, the photographs from the US military’s torture prison in Iraq? Peter Putz is fascinated by transgressions of limits, and I think, I suspect, I have the feeling that the fascination is twofold. On the one hand, he is driven by the “Look at this!” impulse, and, on the other, he is sort of probing his own limits. If we compare the Eternal Archives with one of Putz’s earlier publications, Virtual Triviality, what is striking about the earlier book is the much stronger presence of harm, destruction, deformation, the clash between the organic and the technical, killing, phallic aggressivity. And how much stronger too a difficult aestheticization (achieved by means of very elaborate design, almost comparable to that of an art book), which made it all just barely tolerable. If he was looking for protection behind the camera, he certainly found little.


In the Eternal Archives there are photos that are relevant in this respect: the slaughtering of a pig, wrecked automobiles, series of vomit on the asphalt, bloody scenes of fish being killed at the market, blood-smeared gloves and drug addicts’ disposable syringes, animals flattened by automobile tires, and, extremely close up, particularly unappetizing, plastic-wrapped poultry, the kind that so many of us buy at the supermarket without giving it a thought. But he has become milder, with respect to himself and with respect to us; and he also allows us to enjoy long stretches of photos where things are idyllic, quaint, weird, funny, odd. An artist friend engrossed in his work, colorful, cryptic signs and symbols, ludicrous street art, stacks of chairs, bright yellow mail carts, people in carnivalesque costumes, tourists, street workers, typographical curiosities, firefighters in action, a bus-stop shelter made of exposedaggregate concrete… and then, suddenly, a threatening intrusion into this everyday life – a series of surveillance cameras. He is not one to allow too much innocence, this archivist. And I could easily imagine all this material achieving something even more forceful, something that, as I have said, it already is in parts. A timediagnostic revue that defies, in its best spots, all the clichés and all the pre-set, customary, easy-to-grasp formats that we know from the media, not to mention what we see of all the subjects that normally escape nearly everyone’s notice or that are individually or collectively repressed. At the same, however, all of this flies in the face of what we have called “constructing a world” (if indeed such a notion has ever been part of the author’s intention). As in the case of Mr. Gsellmann, who, somewhere in Styrian no-man’s-land, spent half his life building his Weltmaschine, making use of just about everything imaginable, piecing together vacuum cleaner motors, night-table lamps, bicycle chains, toy rockets, plastic flowers, brass letters, doorbells, hula-hoops…, in the Eternal Archives too there is just about everything imaginable. The bizarre Styrian Weltmaschine is safeguarded from the danger of flying apart by an ingenious system of movable links and line shafts. Everything seems to be connected to everything – it might also be called a kind of harmonia mundi. In the case of the Eternal Archives, however, I see the danger of the parts remaining too unconnected, but then again, there is hardly anything here that belongs all in one piece. One minute it’s Poland, the next it’s the USA, then Vienna – what don’t we get to see! In one place it’s a photographic legacy, in another it’s requested snapshots, here it’s trivia, there a huge event. Brecht’s phrase about the pork chop in the frying pan depending on decisions made in the stockyards of Chicago, or some other phrase, updated, must haunt the mind of the archivist. Is there a center here – other than the collector’s libidinous energy, which sets everything in motion and keeps it all moving? In the case of Gsellmann’s Weltmaschine, there is movement – centrifugal, multiple – which is triggered by the push of a button. A machine “without employment”, one that spins, lights up, flashes and chimes. And one that was never finished, nor – something its creator could never have allowed himself to suspect – was it destined to be finished. Because then it would have been threatened by the fate that meets the collector who acquires the last, the final piece for his collection. The fate of total implosion of the motivating drive. This must not happen to the Archives – and that is both a threat and a hope, which the Archivist defies (against all probability) with the closing phrase on the very last page of the book, set almost illegibly in 8-point type: time is on my side.

Tableaux from: Peter Putz, Virtual Triviality, 1994

Gottfried Fliedl – Art historian, German philologist and archaeologist. Predominant in the hierarchy of his boundless interests is the museum as an institution that is both difficult to understand and often difficult to endure, a standpoint that has been reflected in his activity as a teacher and as a consultant, in practical exhibition work and numerous publications, in the unabated curiosity with which he has journeyed throughout the world of museums and exhibitions, and in museum criticism, which has been as pertinacious as hopeless. Thus evolved a dilettantish and constantly foundering general interest in just about everything, which, academically disguised, could be referred to as transdisciplinary and which Fliedl recently attempted, with moderate success, to put into practice at the Joanneum provincial museum in Graz (which, without any effort on his part but during his exhibition, became a world museum). For the past few years, all of this has also been finding expression in a museological blog: http://museologien.blogspot.co.at

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Über das Archivieren des Ephemeren Ingram Hartinger

Schon allein der Titel des Buchs will nicht aus den Dunkelwelten des Universums kommen. New Stuff sagt modern und zeitgerecht: Hienieden wird fortgesetzt, es gibt das Vorher, den Anfang mit allem – und wer den Beginn der Eskapade, der ganzen Bildgeschichte versäumt und nicht kennt – selber schuld. Es geht bei New Stuff in seiner apostrophierten Kontinuität nicht um billige Vertrauensbildung, dass hier ein Werk etwa und nicht das Produkt einer Eintagsfliege im Entstehen ist, nein, die Fütterung mit neuem Material, das Hinzufügen neuer Daten in den ohnehin schon prallen Speicher ist simpel gemeint, nichts sonst. Kurz ist das Leben, ewig sein Archiv. Wir sind hier – erinnern wir uns! – auf der Erde, wenn auch als Megahaufen stumpfsinnig von uns selbst verehrt. Er könnte auch heißen: „Die nächste Welt, bitte“, um Abwechslung zu schaffen, aber so heißt der vorliegende Band mit seinen zahllosen Bildchen und Geschichtchen nun einmal nicht. Die ständige Wiederholung ist gefragt – damit ein Wesentliches endlich hinterfragt sei. Und dann kann man sich fragen, ob das mit dem Additiv, mit der Wiederholung, der Serie und dem Kompilieren ewig so weitergehen kann und wohin das führen wird. Das neue/alte Material mit utopisch unterentwickelter Epidermis schaut einem unverhüllt entgegen: als erbarmungslose Variantenproduktion, als Produkte einer materialistischen Philosophie, als enttarntes Muster eines sozialen Zusammenhangs. Es gibt ein Misstrauen gegen das Bild, das dem Bild nicht das Mindeste glaubt. Die mythologische Sprachanbetung weiß, was das Wort betrifft, selbst davon ein Liedchen zu singen. Wort und Bild sind auf Dauer in die Binsen gegangen. Übrig bleiben die Dinge, die Binsen und verschiedene pathologische Anatomien. Um jene Dinge geht es in diesem Buch, die beweiskräftiger sind als jedes Vertuschungsmanöver des totalitären Zeitgeists. Beim Blättern im Buch: „Das alles hat man doch schon irgendwo gesehen. Dem ist man erst kürzlich begegnet.“ Aber man täusche sich nicht. Es gibt das Lineare nicht – außer im Denken. Und dieses macht Angst. Alles ist hier auf der Flucht. Das Archivieren selbst scheint als Vorgang, als selbstreferenzielles Muster und Monster hingegen ewig und ohne Alter zu sein, keine Radiocarbonmethode ließe sich hier anwenden. Die ganze Welt ist nämlich ein Archiv, wiewohl die vorgefundenen, gegebenen Gegenstände sich datieren lassen, in allen Höhlen des Amazonas liegen sie herum und auch sonst wo. Selbst wo kein Mensch ist, ist noch ein zu Archivierendes im Außen, ist ein Alter. Externe Medien, als da sind: Knochen, Knorpel, Sehnen, Bänder oder die Federn des Vogels Garuda, schließlich jede Menge Anorganisches. Irgendein Gegenstand war immer als erster da, von da an ein Regieren. Man vergisst im Alltag nur immer wieder die vielen kleinen Hinweise. Dem Archiv verschrieben.1) „Nichts ist weniger sicher, nichts weniger eindeutig heute als das Wort Archiv“ und nichts „trüber und verwirrender heute als der in diesem Wort Archiv archivierte Begriff“, gesteht Derrida. Der Titel des französischen Originals lautet übrigens Mal d’archive und ist vieldeutig. Der Begriff „mal“ – Mühe, Weh, Leid, das Übel, das Böse – kann einerseits im Genitivus subiectivus wie auch obiectivus mit dem des Archivs verbunden sein, also ein dem Archiv inhärentes Übel oder gar das Archiv selbst als Übel 34

bezeichnen, andererseits – wie etwa in „mal du pays“ – auf eine Sehnsucht, ein Begehren hinweisen, womit sich die Verquickung mit der Psychoanalyse ergibt: Freuds Unbewusstes wurde von Derrida als Entwurf für eine Archiviologie gelesen. Daraus folgt die mediale Speicherung als fatale Wiederholung. Kein Archiv ohne „Draußen“, wobei „Draußen“ einen „externen Träger“ (Derrida) meint. Genau hier kommt nach Derrida Psychoanalyse ins Spiel: „Wenn es kein Archiv gibt ohne Konsignation an irgendeinem äußeren Ort, der die Möglichkeit der Memorisierung, der Wiederholung, der Reproduktion oder der Re-impression sicherstellt, so sollten wir uns zudem in Erinnerung rufen, dass die Wiederholung selbst, die Logik der Wiederholung, ja der Wiederholungszwang nach Freud untrennbar bleibt vom Todestrieb. Also von Destruktion.“2) Und damit ist das „mal d’archive“ festgestellt: „Der Todestrieb [...] bedroht [...] jede Prinzipalität, jedes archontische Primat, jedes Begehren nach einem Archiv. Wir werden dem später den zusätzlichen Namen le mal d’archive, ‚das Archivübel’, geben.“3) Das Draußen, eine gewisse Äußerlichkeit: die Einkaufswägelchen des Supermarkts, ineinandergeschoben und geschützt durch Plexiglaskojen. Wenn das Archiv etwas bewahrt, muss es materiell verräumlicht sein. Denn erst mit dieser Verräumlichung wird es wiederholbar, und es ist die Wiederholbarkeit, über die wir bewahren. Wiederholung ist jedoch in der Dekonstruktion kein einfacher Vorgang, im Gegenteil. Wiederholbarkeit ist die Voraussetzung für das Speichern, aber sie stellt zugleich den Inhalt nicht still, denn der Wiederholung ist gemäß der Theorie der Dekonstruktion selbst ein Moment der Entfremdung immanent. Es ist immer ein Erbe anzutreten. Mitten im „Archivübel“ – die Versuchung sondergleichen –, also mitten in den Wäldern Amazoniens, entdeckt mit schwellender Brust ein gewisser Humboldt Pflanzen, Steine und Tiere. Er jauchzt, bringt alles heim, will nichts verkomplizieren. Die errichteten Archive als Simulationen des Diesseits. Und heutzutage? Die zu Unrecht verschrienen und pathologisierten Messies mit ihren Sammlungen von alten Plastiksäcken, Zeitungen, Tellern, Knöpfen, halb zerfallenen Borkenkäfern, Wärmedämmmitteln, Schaufensterpuppen, Gartengerät, Bleistiften, Colaflaschen, Batterien, Bilderrahmen, Readers-Digest-Heften, Kohleresten, Ölkannen, Zimbeln, Scheißspateln, Weihrauchschalen, Apfelkernen und dergleichen mehr – auch sie sind die Archivare der Gegenwart, und die Dialektik der Unzähmbarkeit der Dinge steht nicht still. Ganz neu fängt im Leben gar nichts an. Man wird dieses Anhäufen, dieses Kompilieren nie mehr vergessen. Ganz verschollen geht selten etwas. Ins scheinbar Ewige hinein archiviert versetzt das Archiv einen in die unangenehme Lage, über den Wahnsinn der Warenwelt und der wahren Welt nachzudenken. Wir leben nun einmal in Bad Ischl, Poznan´, Wien, Saalfelden, Gmunden, Klagenfurt und Langwies. Geht man um die Sachen herum, dann das meist sehr. Die Grammatik der Bilder macht wie im Sprechen und Schreiben Vorschriften. Wir sprechen nun einmal eine Sprache. Diese Sprache haben wir mitgenommen, mit ihr arbeiten wir. Die Bilder, inflationär und heimtückisch, werden hingegen immer mehr das Mittel, um Anschauung zu kaufen. Dem will sich ein


absichtsloses, unschuldiges Kompilieren entgegenstemmen. Ein Wegtun des Drückenden, Falschen, Hemmenden wird dann unmöglich, im Gegenteil. New Stuff reiht nicht nur aneinander, setzt nicht nur Inkompatibles in Beziehung, New Stuff will den ganzen Unsinn unserer Scheinwelten aufbrechen. Großes Vorhaben, das zweifellos zum Scheitern verurteilt ist. Der Tag wird immer grauer, und der kleine Maxi darf nur noch schwefeln und nebeln. Fernab eines ideologischen Wischiwaschis will das Ewige Archiv hin- und verweisen, um den Bilderbrei leicht zu verändern. Auf der Breitseite der Bildwelten kann nichts verwischt werden. Längsseitig befindet sich selbstverständlich Neuland. Dieses betritt PP mit Humor und Schärfe. 20. März 2014 – Da liegt der tote ukrainische Soldat. Ein Hund bellt ihn an. Niemand weiß, wie der Soldat heißt. Ein Kind kommt daher. Dem erzählte der Soldat, als er noch lebte, eine Geschichte. Der Wald, in dem der Soldat liegt, weint. Das in eine Schlucht gefallene Dorf in der Nähe beherbergt einen alten Morgen. Da liegt der Soldat. Knochen. Das Vaterland will nicht mehr Fleisch werden. Ihr könnt säen, was immer ihr wollt, da fließt kein Bach mehr, da gibt es kein Wasser. Komm, Südwind, berühre die Wurzeln der Erde.

1) Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997. Dieser Text, geschrieben im thematisch etwas schwer zu verfolgenden, sprunghaften Stil, den Derrida in den Neunzigerjahren pflegte, wurde erstmalig am 5. Juni 1994 in London auf dem internationalen Kolloquium Memory: The Question of Archives vorgetragen. Er trug ursprünglich den Titel Le concept d’archive. Une impression freudienne und verweist damit auf Derridas früheren Text, Freud und der Schauplatz der Schrift. 2) a.a.O., S. 22 3) a.a.O., S. 26

I. H., 2003 Ingram Hartinger, geb. in Saalfelden, lebt seit 1979 in Kärnten. Gedichte, Prosa, Essays, Radioarbeiten; zuletzt erschienen: Das verschmutzte Denken, Klagenfurt 2014

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On Archiving the Ephemeral Ingram Hartinger

The very title of the book tells us that this is nothing that comes from the obscurities of the universe. In modern language, in a language that fits the times, “New Stuff” is a way of saying: Here below, we just keep moving on – there is what came before, what it all started with, and those who missed out on the beginning of the escapade, those who don’t know how the whole picture-story began, have only themselves to blame. “New Stuff”, in its apostrophized continuity, is not a lame attempt at convincing us that “a work” is in the making here, rather than merely the day’s work of a mayfly. No, the feeding of new data, the addition of new material to an already replete stock is done here with artless intent, simply. Life is short, its archive eternal. Here – we must remember – we are on Earth, if only as a mega-heap of fatuous self-admirers. For the sake of change, the title might also have been “The Next World, If You Please”; but that is not what it is called, this volume with its countless little pictures and all the little stories it has to tell. Constant reiteration is called upon here in order to call basic things into question. But then we can ask ourselves whether the additives, the reiteration, the series, the compiling can go on forever – and where it will eventually lead. The new/old material, with its utopistically underdeveloped epidermis, looks straight at you undisguised – a relentless production of variants, products of a materialistic philosophy, an exposed pattern of a social interrelationship. There exists a distrust of pictures that doesn’t believe the slightest thing pictures have to tell. As for words, mythological languageworship has a thing or two to say even about them. Word and picture have gone up in smoke for good. What remains are the things themselves, the smoke, and various pathological anatomies. These things are precisely what this book is about, things that constitute evidence more conclusive than any cover-up maneuvers of the totalitarian zeitgeist. One leafs through the book, “But I’ve seen all of this somewhere. I came across it just recently.” But let there be no mistake. There is no such thing as the linear – except in thought. And this frightens us. Everything here is fleeting. The act itself of archiving, as a procedure, as a self-referential model and monster, seems, by contrast, eternal and ageless, no radiocarbon method can be applied here. The whole world is, after all, an archive – objects encountered by chance, preexisting objects, datable as they may be, lie scattered about in all the caverns of the Amazon, and elsewhere. Even where there is no human being, there is something to be archived on the outside, there is an age. External mediums such as bones, cartilage, tendons, ligaments or Garuda feathers, not to mention endless quantities of the inorganic. Some object or other was always there first, and the objects then took over. But in our everyday lives, we keep losing sight of all the little reminders of this. Archive fever.1 “Nothing is less reliable, nothing is less clear today than the word ‘archive’ ”, and nothing “more troubled and more troubling today than the concept archived in this word ‘archive’ ”,2 as Derrida confesses. The title of the work in the French original is, incidentally, “Mal d’Archive” and is ambiguous. On the one hand, the notion of “mal” – trouble, ache, suffering, evil, malice – can be 36

combined with that of “archive” both in a subjective genitive and in an objective genitive relationship, in other words, it can signify an evil inherent in the archive, or the archive itself seen as an evil; on the other hand – as in the expression “mal du pays” – it can refer to a longing, a yearning, which links it to psychoanalysis: Freud’s unconscious was construed by Derrida as a blueprint for an “archiviology”. Hence, storage in the various forms of media seen as fatal repetition. There is no archive without an “outside”, “outside” signifying “external substrate” (Derrida). This, according to Derrida, is precisely where psychoanalysis comes in: “If there is no archive without consignation in the external place which assures the possibility of memorization, of repetition, of reproduction, or of reimpression, then we must also remember that repetition itself, the logic of repetition, indeed the repetition compulsion, remains, according to Freud, indissociable from the death drive. And thus from destruction.”3 And here we have it, then, the “mal d’archive”: “The death drive […] threatens […] every principality, every archontic primacy, every archival desire. It is what we will call, later on, le mal d’archive, “archive fever”.4 The outside, a certain exteriority: supermarket shopping carts telescoped in plexiglass shelters. If the archive is to preserve, it must be materially spatialized. For only through spatialization can anything become repeatable, and it is by virtue of repeatability that we preserve. In deconstruction, however, repetition is no simple process – on the contrary. Repeatability is the precondition for storage; but this does not mean that content is rendered immutable, for according to the theory of deconstruction, there is even an aspect of alienation intrinsic to repetition. One is always coming into an inheritance. In the midst of “archive fever” – supreme temptation –, in the midst, that is, of the Amazon forests, a certain Humboldt, with swelling breast, discovers plants, rocks, and animals. He rejoices, brings everything home, wants to keep things simple. Archives erected – simulations of the world we live in. And today? The “messies”, compulsive hoarders of undeserved ill repute, unjustly pathologized, with their collections of old plastic bags, newspapers, plates, buttons, half-decomposed bark beetles, bits of thermal insulation, mannequins, garden tools, pencils, cola bottles, batteries, picture frames, issues of Reader’s Digest, burnt coals, oil cans, cymbals, dung scoops, incense bowls, apple cores, and all the rest – they too are the archivists of the present, and the dialectic of the indomitability of things forges ahead. Nothing in life begins totally from scratch. This amassing, this compiling is here to stay. Rarely does anything disappear without a trace. The archive, itself archived into something seemingly eternal, puts us in the uncomfortable position of having to reflect on the madness of the world of goods (der Warenwelt) and the real world (der wahren Welt). We live in Bad Ischl, Poznan, Vienna, Saalfelden, Gmunden, Klagenfurt and Langwies. When we go around things, we don’t do it by halves. Like the grammar of speaking and writing, the grammar of pictures generates rules. And indeed we speak a language. We have appropriated this language, we work with it.


Pictures, on the other hand, inflationary and insidious, are increasingly becoming the means of payment in the commerce of perception. A compilation that lacks all intention, an innocent compilation, makes a stand against this. It is then no longer possible to remove from sight the oppressive, the false, the inhibiting – on the contrary. “New Stuff” does not merely juxtapose, it does not merely place incompatibles in a relation. “New Stuff” seeks to crack the shell around the whole absurdity of our illusory worlds. Quite an undertaking – and doomed to failure, no doubt. The long and the short of it is that these image worlds allow nothing to be obliterated, and, consequently, they lead us to new ground. Peter Putz treads this new ground with humor and acuity. 20 March 2014 – There lies the dead Ukrainian soldier. A dog barking at him. Nobody knows the soldier’s name. A child appears. While the soldier was still alive, he told the child a story. The woods in which the soldier lies are crying. Nearby, a village fallen into a ravine is host to a morning that is already old. There lies the soldier. Bones. The native land is tired of becoming flesh. You can sow whatever you like, no longer does a stream flow here, there is no water. Come, south wind, let the roots of the Earth feel your touch.

1) Jacques Derrida, Archive Fever: A Freudian Impression (original title: Mal d’Archive: une impression freudienne). Translated by Eric Prenowitz. Chicago: University of Chicago Press, 1996. This text, written in the style characteristic of Derrida in the 1990s – thematically somewhat disjointed and difficult to follow – was first presented as a lecture on 5 June 1994 in London during an international colloquium: “Memory: The Question of Archives”. The text was originally entitled “Le concept d’archive: une impression freudienne”, which pointed to an earlier text by Derrida, “Freud et la scène de l’écriture”. 2) Op. cit., p. 90 3) Op. cit., pp. 11-12 4) Op. cit., p. 12

Ingram Hartinger, born in Saalfelden, has been living in Carinthia since 1979. Poetry, prose, essays, radio features. Recently published Das verschmutzte Denken (Klagenfurt, 2014).

Gmunden | AT · 2012

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Ein anderes Licht? Shawn Bryan

Ich vermute, es macht nur dann Sinn, Aufzeichnungen von Geschehnissen zu behalten, wenn man genau das beabsichtigt: sie zu behalten. Es gab Orte in meinem Leben, an denen ich zu gewissen Zeiten selbst das Gefühl hatte, etwas behalten, etwas festhalten zu müssen. Polen beispielsweise, ein Land, das ich mehr als einmal „Heimat“ genannt habe in den vergangenen 36 Jahren, um genau zu sein, seit meinem ersten Besuch im Jahre 1978. Die Aufzeichnungen, welche ich aufbewahre, sind meist aufgeschriebene. Mit dem Gedanken, möglicherweise einige meiner bewahrten Zeiten und Orte zu dem vorliegenden Band des Ewigen Archives beizutragen – dessen Autor übrigens ebenfalls längere Zeit im Polen der späten 1970er Jahre gelebt hatte –, habe ich meine Archive durchgeblättert und einen mit Mai 2007 datierten Eintrag gefunden. Heute, sieben Jahre später, habe ich das Bedürfnis, ihn neu zu betrachten, um zu sehen, ob er sich – unter anderem Licht – verändert hat. Ich sehe, dass ich diesem Eintrag, nachdem ich ihn verfasst hatte, sogar einen Titel gegeben habe: „Harmlos“ – Nach fünf Monaten ist der große, diagonal durchgestrichene Davidstern mit der Inschrift Anty-Jude („Jude“ auf deutsch geschrieben) auf einer Betonmauer neben der Einfahrt zu einer Wohnsiedlung am südlichen Stadtrand von Krakau endlich unter einer frischen Schicht grauer Farbe verschwunden. Die Siedlungsverwaltung war also im Frühling schließlich doch imstande, den zu Weihnachten erschienenen Antijuden-Stern übermalen zu lassen. Das Graffiti war ungefähr einen Meter hoch, eineinhalb Meter breit und es war das einzige, das an dieser Stelle zu sehen war. Man hätte es auch schwer übersehen können: Die Haupteinfahrt zur Siedlung mündet zwischen einer Bus- und einer Straßenbahnhaltestelle gleich vor dieser Mauer in eine dicht befahrene Landstraße. Kaum eine Woche nach seinem Verschwinden ist das gleiche Graffiti wieder aufgetaucht, dieses Mal an der Wand neben dem Aufzug am Eingang eines Wohnhauses in der Nähe. Und beim Betreten des Aufzugs trifft man sie wieder: durchgestrichene Davidsterne und Anty-Jude. Diese groben Filzstiftzeichnungen bedecken alle drei Wände des Aufzugs und sogar die Falttür. Auch hier, wie am Hauseingang, sind es die einzigen Graffitis, die man sieht. Frau Pawłowska, Mutter eines vierzehnjährigen Gymnasiasten, erzählt gern von ihrem Sohn, der „nur für den Fußball lebt.“ Sie hat auch nichts dagegen. „Lieber das, als sich mit den Junkies herumtreiben“, sagt sie. Die Mannschaft, für die er – wie die Mutter sagt – lebt, heißt Wisła. Wie alle Welt in Krakau weiß, sind die Todfeinde der Wisła-Fans jene der Mannschaft Cracovia. Mit dieser Rivalität ist nicht zu scherzen. Nach einem Spiel zwischen den beiden Mannschaften im März 2005 wurde ein junger Bursche, der den Wisła-Schal trug, von Cracovia-Fanatikern auf offener Straße getötet. Von ihrem Auto aus sahen sie ihn auf dem Gehsteig gehen, einer von ihnen sprang aus dem Auto und versetzte dem Jungen den tödlichen Messerstich, dann verschwanden sie. Kurz danach hat sich das Wisła-Lager gerächt. Sein Opfer hat das Glück gehabt, zu überleben, aber nur dank einer Polizeiwache vor seinem Spitalzimmer. Frau Pawłowska erklärt weiter: Für die Kumpels ihres Sohns, die alle selbstverständlich auf Wisła schwören, sind die Cracovia-Spieler und ihre Fans bloß die Juden, auf Polnisch Żydzi. Entsprechend ihrem eigenen Code verwenden viele Wisła38

Treue eben diesen Namen für den Feind. „Einfach so, ohne Grund!“, sagt die Mutter des Gymnasiasten. Trotz der Bemühungen vieler Mauerbesitzer, ihr Eigentum vor Sprühdosen und Filzstiften zu schützen, bleiben die durchgestrichenen oder gar am Galgen aufgehängten Davidsterne mit dem Spruch Anty-Jude oder Jebać Żydów („F... die Juden“) hartnäckig an der Stadtlandschaft haften. Weniger im Stadtzentrum, wo es viele Touristen gibt, sehr wohl aber am Stadtrand, und noch mehr in den Vororten. Ortsfremde, die sich Sorgen machen könnten über all diese auf Mauern „hingerichteten“ Davidsterne – kaum eine dreiviertel Stunde Autofahrt von Auschwitz –, sollen sich offenbar durch die einfache Erklärung von Eingeweihten beruhigen lassen: „Das ist nur ein Graffiti-Krieg zwischen Fans von zwei Fußballmannschaften.“ Es gibt in Polen auch andere Graffitis, Graffitis, die mit Fußball nicht das Geringste zu tun haben, Graffitis in einem Stil, der schon in ganz Europa klassisch geworden ist, zum Beispiel: Polska dla Polaków! (Polen für die Polen!) Als ob man hier in einem Einwanderungsland wäre. Und abgesehen davon: Was für ein Schlag ins Gesicht dieses gastfreundlichen Volkes. Ich sehe all dies jetzt wieder in der Erinnerung vor mir. Die Betonmauer, der tätowierte Aufzug, die Mutter des Gymnasiasten, das alles war im Jahr 2007 und auch früher. Jahre, in denen viele Polen von ganz hohen Instanzen grünes Licht dafür bekommen haben, ihre Frustrationen und Phobien hemmungslos öffentlich auf Sündenböcke abzuladen, genau wie es die da oben taten. Aber Gott sei Dank ist jene Zeit – mehr oder weniger – vorbei. Also könnte man sich fragen, ob es einen Sinn hat, heute über diese Graffitis zu schreiben. Sind sie überhaupt noch da? Und was heißt „da“? Auf welcher Mauer genau? Man könnte sich weiter fragen, ob das Problem noch aktuell ist, die politische Lage hat sich ja in Polen in der Zwischenzeit geändert. Das stimmt einigermaßen. Aber das Grundproblem ist leider immer noch aktuell. Und hier ist keineswegs nur Polen gemeint. Es gibt ja überall Mauern.

S. B., 2014 Shawn Bryan verließ im Jahr 1968 Los Angeles, Kalifornien, um seine Gymnasialzeit in Frankreich abzuschließen. Als Linguistik-Student absolvierte er das baccalauréat am Lycée Louis-le-Grand in Paris, dann studierte er Slawistik und Indoeuropäische Linguistik an der Sorbonne und der University of Chicago. Zusätzlich zu seinen Aktivitäten am Theater und als Lehrender veröffentlichte er in verschiedenen europäischen periodischen Publikationen Essays und Kurzgeschichten, viele von ihnen in Zusammenhang mit den Umbrüchen und Transformationen in Ost- und Zentraleuropa gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Von 2004 bis 2005 wurde ihm das außerordentliche Privileg zuteil, eine eigene monatliche Kolumne für Polens erstes LGBT Internet-Magazin Innastrona zu verfassen – eine Kolumne in Form von persönlichen Erzählungen, die Last-Tram Notebook (Letzte-Tramway-Notizbuch) betitelt waren. Seit 1968 hat er vornehmlich in Paris, Wien und Krakau gelebt.


A Different Light? Shawn Bryan

I suppose it makes sense to keep a record of things only if you intend to do exactly that – keep it. There have been places in my life where, at times, I have felt the keeping need myself. Poland, for example, a country that I have called home more than once over the past thirty-six years, that is, since my first visit in 1978. The records I keep are mostly written. With the thought of possibly contributing one of these kept times and places of mine to the present volume of the Eternal Archives – whose author, by the way, also happens to have spent quite a bit of time in Poland in the late 1970s – I was recently browsing through my files, and I came across an entry dated May 2007. Today, seven years later, I have the urge to hold it up to the light to see if it (the light) has changed. I see that after writing the piece I even gave it a title:

to the local urban landscape. Less in the city center, where there are a lot of tourists, more on the edges of town, and more still in the suburbs. Out-of-towners who might be alarmed by the sight of all these Stars of David “executed” on walls – a mere 45-minute drive from Auschwitz – are apparently supposed to be relieved to learn from locals in the know that this is “only a graffiti war between the fans of two soccer teams”.

“Harmless” – The diagonally slashed Star of David with the inscription anty-Jude (“Jude” in German) that had been scrawled on a concrete wall at the entrance to a housing complex on the southern edge of Cracow, has, after five months, finally disappeared under a fresh layer of grey paint. The local housing management must finally have found the means, in the spring, to have the anti-Jew star – on the wall here since Christmas – painted over. The graffiti was approximately three feet high and five feet wide, and it was the only graffiti in sight at this spot. It would have been difficult not to see it: here, between a bus stop and a tram stop, the main access to the housing complex opens into a heavily trafficked avenue.

I see all of this before me now in my memory. The concrete wall, the tattooed elevator, the schoolboy’s mother. The year 2007. That was a year, or rather, those were years in which Poles were given the green light from way up high to unload their frustrations and fears onto scapegoats, without scruple, publicly, just as so many of those way up high were doing at the time. But, thank heavens, those times are behind us now, more or less. So maybe the question could be asked whether it makes sense to write about this graffiti today. Is it even still there? But what does “there” mean? On which wall exactly? The question could also be asked whether the problem itself is still of current concern – the political situation in Poland has changed since then. That is true, more or less. But the basic problem will unfortunately always be of current concern. And here I don’t mean just Poland. After all, there are walls everywhere.

Hardly a week after disappearing, the same graffiti has reappeared, this time on a wall next to the elevator in a nearby apartment building. You step into the elevator, and there they are again: Stars of David, struck through with a diagonal, and anty-Jude. Crudely done with a black marker, the graffiti covers all three walls of the elevator as well as the folding door. Here too, as in the entrance to the building, this is the only graffiti you see. Mrs. Pawłowska, mother of a fourteen-year-old schoolboy, gladly talks about her son, who “lives for soccer”. This is all right with her. After all, “It’s better than hanging out with the junkies,” she says. The team that he, as she puts it, “lives for” is called Wisła. As everyone in Cracow knows, the mortal enemies of the Wisła fans are the Cracovia fans. This rivalry is no joke. In March 2005, after a game between the two teams, a young boy wearing a Wisła scarf was killed in broad daylight by Cracovia fanatics. From their car, they saw him walking down the busy street, one of them jumped out of the car with a knife and stabbed the boy, and they vanished. Shortly afterwards, boys from the Wisła side took their revenge. (Their victim had the good fortune to survive, but only thanks to a police guard in front of his hospital room.) Mrs. Pawłowska explains further: for her son’s pals, who – need it be said? – are all Wisła true and blue, Cracovia and its supporters are simply the Jews, in Polish Żydzi. In their established code, this is the name that Wisła fans like these use for the enemy. “For no particular reason,” says the schoolboy’s mother. In spite of efforts on the part of owners of walls to protect their property from spray cans and felt markers, the crossed-out Stars of David – or Stars of David hanging from gallows – with the slogan anty-Jude or Jebać Żydów (“F… the Jews”) seem to cling stubbornly

You see other graffiti too, graffiti that has absolutely nothing to do with soccer, graffiti, for example, in a style that has become classic all over Europe: Polska dla Polaków! Poland for the Poles. As if this were a country of immigrants. And besides, what a slap in the face for this hospitable people.

Wien, 2014 Shawn Bryan left Los Angeles, California, in 1968 to finish his secondary education in France. A language scholar, he took the baccalauréat at the Lycée Louis-le-Grand in Paris, then studied Slavic and Indoeuropean linguistics at the Sorbonne and the University of Chicago. In addition to his activity in theater and in teaching, for years he has been contributing to various European periodical publications as author of essays and short stories, many of which have been connected with the upheavals and transformations in Eastern and Central Europe in the latter part of the 20th century. From 2004 to 2005 he was given the exceptional privilege of writing his own monthly column for Poland’s first LGBT web magazine, Innastrona, a column that took the form of personal narratives entitled Last-Tram Notebook. Since 1968 he has lived primarily in Paris, Vienna and Cracow. 39


August Sander, 1942

Die Welt hat sich verändert. Information wird auf neuartige Weise übermittelt, auch die Fehlinformation entwickelt eigene Methoden. John Berger*

Woher kommen Bilder, was tun sie hier, wohin gehen sie? Peter Putz Ein Mann mit Arbeitsschürze sitzt an einem schmalen Tisch und schaut auf ein aufgeschlagenes Buch. Das Zimmer karg. Die Bildunterschrift: Politischer Häftling, 1942. Der abgebildete Mann ist Erich Sander, der 1935 von den Nationalsozialisten wegen seiner Mitgliedschaft bei der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, fotografiert hat ihn sein Vater August Sander. Erich Sander starb kurz vor Ende der Haftzeit am 24. März 1944, weil ihm ärztliche Hilfe verweigert worden war. Das Foto – in der Mappe Politische Gefangene – ist Teil des umfangreichen Gesamtprojektes Menschen des 20. Jahrhunderts von August Sander und wurde erst lange nach dem Tode des Fotografen veröffentlicht. Die Vorstellung, als Vater den eigenen Sohn im Gefängnis zu fotografieren, fotografieren zu müssen, treibt mir Tränen in die Augen. 1983, im Jahr, in dem mein Bruder Rupert in Japan unterwegs war, starb völlig überraschend unser Vater. In der Zeit vor Internet und Mobiltelefon war die einzige Möglichkeit, zu versuchen, mit ihm in Kontakt zu kommen, Briefe poste restante (postlagernd) an verschiedene Postämter der Städte zu senden, in denen er sein hätte können. Ich habe den toten Vater fotografiert, auch um meinem Bruder die Möglichkeit zu geben, sich nach seiner Rückkehr ein Bild zu machen vom Vater bzw. ein letztes Bild zu haben. Das Bild eines Toten als Erinnerung an den Lebenden? Mein Großvater Johann Promberger hat in den 1920er Jahren Verstorbene fotografiert. Einige Glasnegative sind erhalten geblieben aus einer Zeit, als es am Land üblich war, verstorbene Familienmitglieder einige Tage im Haus aufzubahren. Ein Fotograf wurde gebeten, ein letztes Bild zu machen. Auf einem Dachboden Jahrzehnte lang gelagerte Glasnegative lassen das Bild von Toten wieder entstehen. Warum Fotos sammeln? Warum Bilder machen, aufheben, ordnen, anschauen, diese neu und anders ordnen? Warum versuchen, Zusammenhänge herzustellen? Ist es ein Aufbäumen gegen das Vergessen, den drohenden, den bereits eingetretenen Tod? 40

Wieder aufgefundene Fotos: vom Vater aus seiner Zeit in Mosul/Irak 1958, vom Großvater Glasnegative aus der Zeit 1905 bis 1925. Fotografien werden immer wieder an mich herangetragen, werden mir geschenkt oder ich finde sie. Wie gehe ich mit Fotos um, deren Autorin, deren Autor nicht mehr befragt werden kann? Wie stelle ich Bilder zusammen, welche Geschichten erzähle ich, wie kann ich vorgehen, um den Bildern und deren Urhebern zu einem einigermaßen authentischen Nachleben zu verhelfen? Bilder rotieren ohne Unterlass: In „sozialen Netzwerken“ werden Texte, Fotos und Videos automatisiert herangespült, gesteuert von Algorithmen. Was wird aufgezeichnet, was neu – von mir/von anderen – eingespeist in die Bildermaschine? Wo stehen die Datenfarmen und Datenminen? Wieviel kosten Bilder? Wer verkauft sie, wer verdient daran, wer bezahlt dafür? Ich „überwache“ in gewisser Weise mein Leben und das Leben einiger anderer, ich fotografiere Freunde und Bekannte oft über lange Zeit immer wieder und stelle die Fotos zu Zeitraffer-Porträts zusammen, auch, um Veränderungen sichtbar zu machen. Das Ewige Archiv ist ein Versuch der Bestandsaufnahme des entschwindenden Lebens, ist ein Aufsammeln von Bildsplittern einer in weiten Teilen sich auflösenden, fragmentierten Welt. Während diese Zeilen geschrieben werden, wird Gaza bombardiert, sehe ich Bilder von verletzten Frauen, Männern und Kindern, zusammengekauert in den Trümmern der zerstörten Straßen und Städte. Ich schaue aus dem Fenster meines zeitweiligen Arbeitszimmers in ein bewaldetes Tal, auf Wolken, in den Himmel – eine rauhe Idylle im Salzkammergut, in dem ich aufgewachsen bin. Vor rund 70 Jahren kamen im Konzentrationslager Ebensee (ca. 5 km entfernt) mehr als 8.000 Menschen ums Leben. Am Nachbargrundstück wird der neue Swimmingpool einbetoniert.

*) John Berger, Mit Hoffnung zwischen den Zähnen, Berlin 2008


Johann Promberger, 1920

The world has changed. Information is being communicated differently. Misinformation is developing its techniques. John Berger*

Where do pictures come from, what are they doing here, where are they going? Peter Putz A man wearing a work apron, sitting at a small table, looking at an open book. The room sparsely furnished. Caption: political prisoner, 1942.

Again – photos that were found: photos taken by my father in 1958, when he was in Mosul, Iraq, and glass negatives of photos taken by my grandfather in the years 1905 – 1925.

The man in the photograph is Erich Sander, sentenced in 1935 by the National Socialists to 10 years imprisonment for his membership of the Socialist Workers’ Party of Germany. The photograph was taken by his father, August Sander. On March 24, 1944, shortly before the end of his prison term, Erich Sander died, after being refused medical assistance. The photo – from the portfolio labeled “Political Prisoners” – is part of August Sander’s vast project, People of the Twentieth Century, and was not published until long after the photographer’s death. The thought of a father photographing his own son, of him having to photograph his own son in prison brings tears to my eyes.

Photographs are always being brought to my attention, sometimes they are given to me as presents, sometimes I find them. How do I make head or tail of photos when the person who took them is no longer here to tell me things I need to know? How do I go about putting images together? What stories do I tell? What can I do to help ensure that images and the memory of those who produced them survive with a reasonable degree of authenticity?

In 1983, the year in which my brother Rupert was traveling in Japan, our father died totally unexpectedly. In the days before the Internet and mobile telephones, the only way to try to get in contact with my brother was to send letters via poste restante to various post offices in the cities where he might have been at the time. I photographed my dead father, partly so that my brother, on his return, could have an idea of how our father looked when he died, a last picture. A picture of the dead as a memory of the living? In the 1920’s, my grandfather, Johann Promberger, photographed dead people. A few glass negatives have survived, negatives that date from a time when it was customary in rural areas for deceased members of the family to be laid out for viewing in the home for a few days before burial. A photographer would be brought in to take a last photograph. Glass negatives that were stored away in an attic for decades now bring back (a picture of) the dead. Why collect photos? Why take pictures, why keep them, arrange them in some kind of order, look at them, rearrange them in a new, different order? Why try to establish connections? Is it to ward off the prospect of oblivion? To resist the threat of death? To rebel against a death that has occurred? *) John Berger, Hold Everything Dear. Dispatches on Survival and Resistance (London: Verso, 2007)

We live in a constant swirl of images: in social networks, texts, photos and videos come at us in automated surges driven by algorithms. What gets recorded? What new data gets fed – by me/by others – into the image machine? Where are the data farms and the data mines located? How much do images cost? Who buys them? Who makes money off them? Who pays for them? In a sense, I monitor my life and the lives of a few other people. I often photograph friends and acquaintances over long periods of time then put the photos together as time-lapse portraits, if for no other reason, to show the changes that take place. The Eternal Archives are an attempt at taking stock of life as it slips away from us, it is a gathering of visual bits and pieces of a world that in many parts is disintegrating, fragmented. As I write these lines, Gaza is being bombed. I see pictures of wounded men, women and children, huddled up together in the rubble of streets and cities that are being destroyed. I look out the window of the room in which I happen to be working at the moment; I look at the wooded valley, the clouds, the sky – a harsh idyll in the Salzkammergut, where I grew up. Some 70 years ago, more than 8,000 people perished in the Ebensee concentration camp (about 5 km from where I am sitting). On the property next door, a coat of cement is being put on the new swimming pool.

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Präsentation 2012

WIEN MUSEUM KARLSPLATZ 42


Review: Das Ewige Archiv · The Eternal Archives · Heavy Duty XS

Inescapably Unalterable Infinities Attention, provocation! By means of forensically precise photography, artist Peter Putz confronts the viewer with traces of everyday activity permanently preserved. The Eternal Archives, established in 1980, can be understood as a dynamic encyclopedia of contemporary identities. The focus of the present, multifaceted irritation lies in its documentation of people’s habitats – divergent, transcontinental. The unspectacular, the obvious things of our planet are what the photographer – a native of Ebensee, Austria (1954) – collates in dense, heavily loaded tableaux as manifestations of everyday life: façades, signs, trashcans, garbage trucks, porta potties, shopping carts. Things harvested and things bundled up, things cooked, things vomited. Parish fairs, firemen’s fairs, street demonstrations, but also places of collective lust: peepshows, gambling dens. Places of rest, refuges for the individual. Demonstrations of mass and power. The loneliness of the country road, the finite nature of time. Fish and meat, fruit and vegetables, raw, cooked or left to rot. Wild, chaotically convoluted, intensely arranged. All in all, however, it is precisely this (superficially) arbitrary character, this powerful concatenation of an enormous amount of photographs that reveals the intention of the artist. A visualization of our world, of our everyday universe with its glut of stimuli, its constant flood of images, its saturation. What this unique album communicates is nothing other than visualized social criticism. What is being addressed is social disorder, which finds itself causally reflected or distorted here in ordered arrangement. One facet of existence is the unalterable course of all that is earthly, the consistent cycle of things, the supply chain of breeding, consumption, excretion and disposal. De facto, Peter Putz succeeds in producing an intense, forceful visualization of the transitory nature of things. Gregor Auenhammer Peter Putz, Das Ewige Archiv. The Eternal Archives. 1980 – ∞. Heavy Duy XS. Euro 29. 240 pages. Ritter Verlag, Vienna, 2012. 43


2012 Peter Putz

DAS EWIGE ARCHIV The Eternal Archives · 1980 – ∞

Heavy Duty XS 240 Seiten · pages, deutsch · english Hardcover, Schutzumschlag · dust jacket Ritterverlag, Wien · Klagenfurt, 2012 www.ritterbooks.com 100 Tableaus: Peter Putz 7 Essays: Friedrich Achleitner, Richard Bellet Robert Del Tredici, Peter Gorsen Peter Putz, Timm Starl Marlene Streeruwitz Extra-Tableau: Hannes Reisinger

Peter Putz

DAS EWIGE ARCHIV The Eternal Archives · 1980 – ∞

Heavy Duty XS

R I T T E R1



MI & (lano) = MI & (stelbach). Friedrich Achleitner Soweit noch nicht in der Globalisierung der Autokennzeichnung abstrakte Ziffern- und Buchstabensysteme praktiziert werden, kommen sich Städte und Regionen, die nichts miteinander zu tun haben, oft zum Verwechseln nahe. Aber das ist nicht das Thema. Die elektonische Wahrnehmung ist schon lange nicht mehr vom Auge des Polizisten abhängig, und so kann man nicht mehr Milano mit Mistelbach verwechseln. An die Wunschkennzeichen, eine austrakische Spezialität (?), hat man sich gewöhnt. Als sie im Stadtbild auftauchten, brachten sie etwas Erfrischendes in den Zeichenmüll der verwalteten und umworbenen Welt. Zum „verbuchstabierten Netz“ der Länder, Regionen und Städte kam etwas Neues hinzu, sozusagen eine private, ja intime Ebene. Der Eitelkeit der Schlittenkapitäne waren keine Grenzen mehr gesetzt. besonders beliebt hinter Kose- und Spitznamen war die Nummer 1. „LAUSI 1“ konnte nur aus Klagenfurt stammen. Da war gleich der Klausi mit im Spiel. Wer ihn kannte war gerührt, freute oder ärgerte sich. „GAGGI 1“ war wiederum für eine besondere Art der Fantasie gedacht. Manches stürzte in Tautologisches ab: „FIRST 1“, na ja, ein Zimmermann wirds schon nicht sein. Es outeten sich auch Selbstironiker: „NARR 1“, „WEDL 1“, „ASS 1“, „PROF 1“ (gnadenlos). Eine höhere Stufe (in Nähe der „konkreten poesie“) erreichten zweideutige Verbindungen mit den Kennbuchstaben der Städte, etwa „W & EDEL“. Da führte in der Kombination das Wunschdenken direkt in die harte Wirklichkeit über. Es gibt auch intelligente Konstellationen: „REIF 1“ = Reifenhändler mit Matura. Hat ein „JANDL 5“ noch etwas mit Literatur zu tun? Man muss nicht erwähnen, dass es sich überwiegend um Männer handelt: Eitelkeit ohne Humor: Oder noch ärger, Eitelkeit mit Humor (unfreiwilliger mit eingeschlossen). Eine Tafel mit „WIEN 1“ mit einem MU voraus, voll ausgeschrieben „MU & WIEN 1“, kann nur von einem Mann sein. Bei Angebereien wie „K & HAPPY 4 „ überrascht nicht die Herkunft. Nach „MUT 1“, „FESCH 1“, „ART 1“, „Jus 1“ muss mann gestehen, dass „DUDI 1“, „PIMPI 1“, „HASI 1“, „SPATZ 1“, „TUTI 1“, „KUKI 1“ oder „BUBI 1“ rührende Sympathie verdienen. Ich habe die Beispiele einer Montage von Peter Putz entnommen. Die Welt der Wunschkennzeichen führt natürlich in ein viel größeres Reich freudianischer Hochleistungen und Ausrutscher. Neben der grafischen Ebene mit Buchstaben- und Zahlenkombinationen (W 11111) erschließt sich geradezu ein semantischer Kosmos. Neben einer Ethnographie und Soziologie des globalen Fuhrparks, schmuggeln sich Ebenen der Selbstdarstellung und Inszenierung von Befindlichkeiten in einen Verwaltungsmechnismus ein, der seinesgleichen sucht. Das Paradoxe daran ist, dass die scheinbare Notwendigkeit der Nummerierung des Menschen sich in ein Spielfeld der Lust der öffentlichen Selbstbespiegelung verwandelt, das gnadenlos alle Höhen und Tiefen menschlicher Fantasie ausstellt. Und das auf eigene Kosten.

Tableau für Friedrich Achleitner zum 80. Geburtstag. 2010 (Detail) Tableau for Friedrich Achleitner‘s 80th birthday. 2010 (detail)

Prof. Friedrich Achleitner, geboren 1930 in Schalchen, Oberösterreich, Mitglied der Wiener Gruppe, zahlreiche Auszeichnungen. Bis 1998 Professor an der Universität für angewandte Kunst Wien. Als Literat ein Hauptvertreter des modernen Dialektgedichts und der Konkreten Poesie, (u.a. quadratroman) als Essayist ein bedeutender Kritiker und Chronist der modernen Architektur. (Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert) 46


MI & (lano) = MI & (stelbach). Friedrich Achleitner

Wunschkennzeichen, Departement Bauen und Wohnen, 2012 (für Friedrich Achleitner, Sonja Gasparin und Beny Meier) Vanity plates, theme: architecture and construction, 2012 (for Friedrich Achleitner, Sonja Gasparin and Beny Meier)

In the globalization of automobile license numbers, so long as abstract numbering and lettering systems have not become general practice, cities and regions that have nothing to do with each other can often be confused. But this is not the issue here. Electronic recognition has long since ceased to depend on the eye of the policeman, and Milan can no longer be mistaken for Mistelbach [a small town in Lower Austria, often jokingly referred to as the birthplace of policemen]. We’ve gotten used to vanity plates, perhaps they’ve even become something of an “Austriak” specialty. When they made their appearance in the urban landscape, they added a refreshing touch to the rubbish heap of symbols used in a world where we are constantly being managed and solicited. The “alphabetized network” of regions and cities suddenly acquired a new aspect, a private, even intimate character, so to speak. Drivers of big fancy cars could now indulge their vanities. A particular favorite was the number 1 after nicknames and pet names. “LAUSI 1” could only be from Klagenfurt, with a Klaus obviously in the picture here [add K on the left for Klagenfurt, also Lause = louse]. How touching or annoying to anyone who might recognize him. “GAGGI”, on the other hand, seems to have been meant to appeal to a particular kind of imagination [Gaggi = children’s slang, “poo poo”]. Some of these smacked of tautology: “FIRST 1” – could this possibly be [First = roof ridge] a carpenter? Then there were those who saw a chance to make fun of themselves (without mercy): “NARR 1” [Narr = fool], “WEDL 1” [Wedl = jerk], “ASS 1”, “PROF 1”. More sophisticated (approaching “concrete poetry”) were those that, combined with the letter symbol for the city, could be understood as having a double meaning, such as “W & EDEL” [W = Wien, edel = noble, (Staub)wedel = feather duster], a combination that directly links ambition and hard reality . There are also intelligent combinations: “REIF 1” = someone who sells tires [Reifenhändler] and has a high-school diploma [Reifeprüfung = final examinations before graduation]. Can “JANDL 5” possibly have anything to do with literature [Ernst Jandl, Austrian author and poet, 1925-2000]? It hardly needs to be said that in most cases we’re dealing with men: vanity without humor, or worse,

vanity with humor (including unintentional). A plate with “WIEN 1” preceded by “MU”, that is, “MU & WIEN 1”, can only belong to a man. In the case of a show-off like “K & HAPPY 4”, there’s nothing surprising about the geographical origin [K = Klagenfurt, in Carinthia, Carinthians being known for their joviality]. In contrast to “MUT 1” [Mut = courage], “FESCH 1” [fesch = elegant, smart], “ART 1”, “JUS 1” [Jus = law studies], we have to admit that “DUDI 1” [dudi = approximately “goo goo” in baby language], “PIMPI 1” [Pimpi = something small, particularly the penis in children’s language], “HASI 1” [bunny], “SPATZ 1” [sparrow, also slang for penis], “TUTI 1” [slang for a woman’s breasts], “KUKI 1” [affectionate form of direct address] or “BUBI 1” [little boy] all deserve a smile… I’ve taken these examples from a montage by Peter Putz. The world of vanity plates [in German “Wunschkennzeichen”, literally “wish identification signs”] leads us quite naturally into a far greater realm of high performance and failure in the Freudian sense. Beneath a surface of graphic symbols – letter and number combinations (W 11111) – an entire semantic universe lies hidden. In the great vehicle fleet of the world, which can be looked at ethnographically and sociologically, there are also levels of self-image projection and public exposure of sensitivities that smuggle themselves into the general scheme of a coping mechanism in search of an ally. The paradox is that the apparent need to classify human beings numerically has become a game in which one’s desire to present a public image of oneself mercilessly reveals all the heights and depths of human imagination – at one’s own expense.

Prof. Friedrich Achleitner: Born in 1930 in Schalchen, Upper Austria, member of the literary Wiener Gruppe, recipient of numerous awards. Until 1998 professor at the University of Applied Arts in Vienna. As a literary figure, he has been a major proponent of modern dialect verse and of concrete poetry (notably the quadratroman, “square novel“), and as essayist has been a significant critic and chronicler of modern architecture (Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert / Austrian Architecture in the 20th Century). 47


L’écho des photos, le poids des maux Richard Bellet « La République protégeant les fachos »… Telle pourrait être, en usant d’une certaine mauvaise foi, la légende de cette photo qui accroche l’œil, là, en haut à gauche. Flash-back : nous sommes en 1990. Sous ses allures de banale librairie parisienne, Ogmios, sise au 10, rue des Pyramides, est une curiosité. En ses murs, le Dieu de la mythologie celtique gauloise accueille néonazis, négationnistes, ex-collabos, adeptes du druidisme et autres tenants de l’aryanisme… Une belle brochette de l’extrême droite militante, pour la plupart révisionnistes assumés venus ici se ressourcer, à la quête de médailles du maréchal Pétain, de figurines en plomb du Führer ou, plus attrayants encore car interdits à la vente, de Mein Kampf ou du Protocole des sages de Sion, que le libraire ira, plié en deux, chercher dans quelque tiroir secret… Ogmios est aussi, alors, connue pour ses sympathies pro-arabes ; raison de plus pour être dans le collimateur des militants sionistes parisiens qui, ce jour de mai 1990, décident de « faire une descente » sur la librairie. Expédition rituelle qui se soldera par quelques bris de vitrine et cet impressionnant déploiement de forces de l’ordre. Casques, boucliers et matraques comme à la parade…

Paris | F · 1990

Librairie Ogmios, Paris, 1990

1990 – 2011… Deux bonnes décennies nous séparent de cette série de clichés « putziens ». Des instantanés, pris sur le vif, qui à travers le prisme des défilés d’un printemps français, nous rappellent les mauvaises « humeurs » de l’époque. Colère et écœurement après la profanation de 34 sépultures au cimetière juif de Carpentras, dans le Vaucluse ; 200.000 personnes, dont le président de la République François Mitterrand, manifestent ce 14 mai 1990 entre République et Bastille. Démonstration « historique » alors que le Front national, soupçonné d’être à tout le moins l’inspirateur de Carpentras, fait un carton dans les urnes. A quelques jours de là, ce sont les employés de la Ville de Paris chargés du nettoyage qui, blacksblancs-beurs mêlés, banderoles au vent, arpentent à leur tour le pavé. Nous ignorons leurs revendications, aimons imaginer qu’ils ont alors, d’un coup de balai magique, fait disparaitre l’extrême droite du champ politique hexagonal.

Paris | FR · 1990

Carpentras demo, Paris, 1990

R. B., 1990

1990 – 2011… Deux décennies et une relève familiale à la tête du Front national. Le Pen toujours, Jean-Marie hier, sa fille Marine aujourd’hui. Le vieil antisémitisme français, remâché, usé jusqu’à la corde, désormais remplacé dans la marmite frontiste par une tambouille islamo-musulmane autrement efficace. Marine en cuisine, une jeune chef qui abandonne les recettes les plus éculées du père pour mieux faire lever les peurs de son temps. Une redoutable stratège qui sait aujourd’hui, image oblige, bouter hors du son parti les nazillons un peu trop voyants. Mais qu’on y prenne garde : derrière le masque, c’est encore et toujours l’obsession de l’étranger qui pointe, le rejet de l’autre qui transpire. R. B., 2011

[Der Titel des Autors für diesen Essay: « L’echo des photos, le poids des maux » kann als Anspielung an den sehr bekannten Slogan des Pariser Magazins Paris Match verstanden werden: « Le poids des mots, le choc des photos » – Das Gewicht der Wörter, der Schock der Fotos.”] [The author’s title for the present essay, « L’echo des photos, le poids des maux » can also be understood as playing off the well-known slogan launched by the Paris magazine Paris Match: « Le poids des mots, le choc des photos » – The weight of words, the shock of photos.] 48

1990 – 2011… L’écho des photos, le poids des maux. Et l’extrême droite française, vivace, de s’être enracinée dans les allées de la République.

Richard Bellet, journaliste, a travaillé pour l‘hebdomadaire L‘Evénement du Jeudi de 1986 à 1994, au sein des services Société et Politique. Il a notamment suivi l‘extrême droite française et particulièrement la montée du Front National. En 1994, il rejoint la rédaction de l‘hebdomadaire Le Journal du Dimanche comme grand reporter. Il est aujourd‘hui rédacteur en chef adjoint du service Société.


Echo der Photos, Gewicht des Bösen Richard Bellet

The Echo of Photos, the Weight of Evil Richard Bellet

« Die Republik schützt die Faschisten » . . . so könnte etwas böswillig der Text zu dem Foto lauten, das links oben den Blick des Betrachters auf sich zieht. Flash-back: Wir schreiben das Jahr 1990: Die unscheinbare Buchhandlung Ogmios in der rue des Pyramides nr. 10 ist ein Kuriosum. Der Gott der keltisch-gallischen Mythologie heißt in ihren vier Wänden Neonazis, Negationisten, ehemalige Kollaborateure, Druidenanhänger und andere Verteidiger des Ariertums willkommen. Zahlreiche militante Rechtsradikale, die meisten davon deklarierte Revisionisten, finden sich hier ein: auf der Suche nach einer Medaille von Maréchal Pétain, nach Führer-Zinnfiguren, oder – noch gefragter da unter Verkaufsverbot (verboten) – nach Büchern wie Mein Kampf oder Protokolle der Weisen von Zion, die der Buchhändler unter dem Ladentisch aus einer geheimen Schublade hervorholt. Ogmios ist auch berühmt für seine pro arabische Einstellung; ein Grund mehr, um die zionistischen Aktivisten in Paris zu erzürnen, die an jenem Frühlingstag 1990 die Buchhandlung „besetzen“: Eine Aktion, die mit etwas Glasbruch und eben jenem beeindruckenden Polizeiaufgebot endet: Helme, Schutzschilde, Knüppel, . . . wie bei einer Militärparade.

“The republic protecting the fascists”… this could well be – perhaps with a touch of malice – the subtitle of this eye-catching photo, the one up there on the left.

1990 – 2011: Gut zwei Jahrzehnte sind seit der Photoserie von Peter Putz vergangen. Diese Momentaufnahmen aus der Mitte der Demonstrationen und Defilees eines Pariser Frühlings rufen die „Verstimmungen“ jener Zeit in Erinnerung. Zorn und Ekel nach der Schändung von 34 Gräbern auf dem jüdischen Friedhof von Carpentras im Vaucluse (Provence); 200 000 Menschen, unter ihnen der Präsident der Republik François Mitterrand, demonstrieren an diesem 14. Mai 1990 zwischen Place de la République und Place de la Bastille. Eine « historische » Demonstration - während der Front national, den man als Anreger hinter den Vorfällen von Carpentras vermutet, große Wahlerfolge feiert. Die Angestellten der Pariser Müllabfuhr, Schwarze, Weiße, Araber – buntgemischt, gehen wenige Tage später mit Transparenten auf die Straße. Ihre Forderungen sind uns nicht bekannt, aber man wünscht sich insgeheim, sie könnten mit einem Zauberbesen die extreme Rechte einfach zum Verschwinden bringen.

1990 – 2011: More than two decades have gone by since Peter Putz produced this series of photographs. These snapshots, taken from the midst of demonstrations and marches in a Parisian spring, are evocative of the atmosphere of discontent at the time. Anger and repulsion following the desecration of 34 graves in the Jewish cemetery of Carpentras, in the Vaucluse (Provence); 200,000 people – among them the President of the Republic, François Mitterrand – demonstrate on this 14th of May 1990, marching from the Place de la République to the Place de la Bastille. A “historic” demonstration. Meanwhile, the Front National – suspected of being behind what happened in Carpentras – hauls in the votes at the elections. A few days later, Paris sanitation workers – black, white, Arab, all together, banners flying – take to the streets. We don’t quite know what their demands are, but as we watch them, we like to imagine that they’ve managed to rid the French political hexagon of the extreme right with one great sweep of a magic broom.

1990 – 2011: Zwei Jahrzehnte und eine familiäre Ablöse an der Spitze des Front National: Immer noch Le Pen, gestern Jean-Marie, heute seine Tochter Marine. In der ideologischen Küche des Front National köchelt der alte französische Antisemitismus endlos und wird nun teilweise ersetzt durch den zur Zeit so zugkräftigen Antiislamismus. Marine, die junge Chefin des Front National, kocht nicht mehr mit den alten Rezepten des Vaters, sie verwendet neue, um die aktuellen Ängste noch besser zum Gären zu bringen. Eine gefährliche Strategin, die es versteht, aus Imagegründen die zu auffälligen jungen Neonazis aus der Partei hinauszuwerfen. Aber Achtung: Hinter dieser Maskerade verbirgt sich – eher schlecht als recht – nach wie vor die alte Fremdenfeindlichkeit. 1990 – 2011: Echo der Photos, Gewicht des Bösen. Und die extreme Rechte in Frankreich so lebendig, dass sie im Schoß der so „fruchtbaren“ Republik Wurzeln geschlagen hat.

1990 – 2011: Two decades later – a changing of the guard, one Le Pen replaces the other at the head of the Front National. A family affair – yesterday Jean-Marie, today daughter Marine. The familiar old French anti-Semitism, chewed and re-chewed down to the bone, now being replaced in the Front National’s pots by a kind of anti-Islamic/Muslim slop, which also has its effectiveness. In her cooking, chef Marine, the young new head of the Front National, no longer goes by her father’s recipes, she has some of her own, and she uses them to bring out not the flavors but the fears of her time. She is a dangerous strategist, good at finding pretexts to exclude over-conspicuous neo-Nazis from the party. But beware. The same old obsessive xenophobia lies hidden behind the mask.

Richard Bellet, Journalist, war von 1986 bis 1994 bei dem Wochenmagazin L’Evénement du Jeudi in der Abteilung Gesellschaft und Politik tätig, im besonderen für die Berichterstattung über die extreme Rechte in Frankreich und den in jenen Jahren steigenden Erfolg des Front national zuständig. Seit 1994 arbeitet er als „grand reporter“ bei der Wochenzeitung Le Journal du Dimanche und ist stellvertretender Chefredakteur der Abteilung Gesellschaftspolitik.

Flashback: The year is 1990, the unprepossessing bookshop Ogmios at number 10, rue des Pyramides, is something of a curiosity. Within its four walls the god of Celtic-Gallic mythology welcomes neoNazis, negationists, former collaborators, adepts of druidism and other sundry advocates of Aryanism. Many militant radicals, most of them declared revisionists, meet here, in search of an old Pétain medal, tin figures of the Führer or – even more sought after because their sale is prohibited – books such as Mein Kampf or The Protocols of the Elders of Zion, which the bookseller stoops to pull out of a secret drawer behind the counter. Ogmios is also known for its pro-Arab leanings, which also infuriates the Paris activists who, on this spring day in 1990, “occupy” the bookshop, an action that ends with a bit of broken glass and an impressive police presence that we know only too well: helmets, riot shields, blackjacks… a military parade of sorts.

1990 –2011: The echo of photos, the weight of evil. And the French extreme right is still taking root along the avenues of the republic.

Richard Bellet is a journalist. From 1986 to 1994 he wrote for the Political and Social Issues section of the weekly L’Evénement du Jeudi, concerning himself in particular with the rise of the extreme right in France. Since 1994 he has been working as foreign correspondent for the weekly Le Journal du Dimanche and is deputy editor-in-chief of the Social Issues section. 49


Photographing the Bomb: what kept me going Robert Del Tredici

Before today’s dread triple meltdowns, spent fuel disintegrations, and oceanic radiation dumpings from Fukushima there was a full core meltdown and global fallout from Chernobyl, and a partial core meltdown at Three Mile Island. It was the least of these three nuclear catastrophes that pulled me into the charmed infernal circle of the fissioned atom. A month after TMI, I went, out of curiosity, to the towns around the smoldering reactor. I kept going back out of rage as I watched people getting turned inside out in slow motion by a force as invisible and malign as it was enormous. I felt radioactivity settling over the region like a new law of gravity, bringing with it quiet pandemonium and a hundred kinds of heartbreak. The nuclear industry, for its part, made every effort to smother its ruined reactor in lies. After Three Mile Island I wondered what life might be like in the shadow of those other, older reactors that for 30 years had been making materials for the Bomb. I learned that the USA had twelve H-bomb factories, each one of which did something different, together turning out, on average, six new Bombs a day. I also learned that the air space directly over these plants was not restricted – so for $50 an hour I could rent a local pilot with plane and shoot aerials. I found out as well that each Bomb plant had a PR man on the ground whose job it was to interface with members of the press. I was raised a Catholic. At 6 years old, in the first grade, I decided to become a priest. The training began at age 14. It lasted twelve years. I lasted eight. In my seventh year it began to dawn on me that my Holy Mother the Church was rotten to the core. One year later I staggered out of the place, a ruined soul. It took me nearly two decades to recover. For the longest time I felt that in my chest there was something like a solid block of rocket fuel that would never dissolve. Then I connected with the Bomb. The US nuclear weapons complex has a few things in common with the Roman Catholic Church. Both are hierarchies at whose peak sits the Hidden Ineffable One that can either save or destroy. In neither institution does nature 50

Photos: © Robert Del Tredici

Howard Morland‘s Model of a Modern H-Bomb Warhead, Washington, D.C.

take its course. Judgment, with no jury, settles matters from above by regimes that believe they are absolutely right and will remain right absolutely ’til the crack of doom – and they have the firepower to prove it. And both speak to their assembled millions in radiant symbols while using veils and masks and curses and mirrors to defy dissent, pacify doubt, and enthrall believers. I was not aware of these connections when I went after the Bomb. Yet a number of pictures I shot in the first years of the project had an eerily Biblical quality. When, early on, I photographed Howard Morland on the steps of the Supreme Court holding up his life-size model of the modern H-bomb warhead, my picture ended up being a dead ringer for Moses on the mountain with the tablets of the law. When I shot Richard Rhodes holding this glass paperweight he’d made to match the size of the ball of plutonium in the Nagasaki bomb, I got an image that told the story of Adam in Eden all over again. In an aerial foray 2,000 feet above the Savannah River Plant, I looked down onto the “L” plutonium-production reactor and saw the mirror-image of a medieval cathedral. I decided that to capture all twelve H-bomb factories, I would take whatever time it needed. It took six years. By the time I was three years into it, friends began asking me why I wasn’t burning out. I did not have a clear answer. But as I thought about it, I noticed that my big black block of rocket fuel had silently self-ignited and was now burning slow and steady. And every time I nailed one more factory I felt a little lighter. So it was that halfway through the project I began to realize I was settling a very old score: lifting the curtain on the kinds of inspired illusions, subtle deceptions and outrageous falsehoods that had held me spellbound at an early age. It was happening again, only now it was through a different agency, on a vaster playing field, with a similar strategy but other means, and it was putting on a fast track to extinction the whole damn planet.

The “L“ Plutonium Production Reactor, Savannah River Plant, South Carolina Robert Del Tredici has been photographing the nuclear age since 1979. His first book, The People of Three Mile Island, explored nuclear power gone awry. His second, At Work in the Fields of the Bomb, documented the US nuclear weapons industry. In 1987 Del Tredici founded The Atomic Photographers Guild. He has documented the Soviet Bomb program and produced three books for the US Department of Energy on the clean-up of the US nuclear weapons complex. He has exhibited internationally and lives in Montreal, where he teaches Animation and documents the nuclear industry.


Die Bombe fotografieren: was mich weitermachen ließ Robert Del Tredici Schon vor den derzeit so gefürchteten dreifachen Kernschmelzen, den Verstrahlungen von verbrauchtem Brennstoff und den radioaktiven Dumpings im Ozean nach Fukushima gab es eine vollständige Kernschmelze und das Fallout von Tschernobyl (1986) und eine partielle Kernschmelze in Three Mile Island (1979). Es war die geringste von diesen drei Katastrophen, die mich schließlich in den verführerischen Teufelskreis des gespalteten Atoms zog. Einen Monat nach Three Mile Island ging ich, nur aus Neugier, zu den Städtchen und Dörfern rund um den noch glimmernden Reaktor. Dann musste ich noch öfters zurück, schon aus Wut, da ich sah, wie die Menschen dort in Zeitlupe innerlich zerrissen wurden von einer Kraft, die genau so unsichtbar und bösartig wie ungeheuer war. Ich spürte, wie die Radioaktivität, gleichsam einem neuen Gesetz der Schwerkraft folgend, über der Region absank und mit sich ein stilles Pandämonium und hunderte Arten von Herzleid mit sich brachte. Die Atomindustrie bemühte sich ihrerseits hartnäckig, ihren zerstörten Reaktor in Lügen zu hüllen. Nach Three Mile Island versuchte ich, mir vorzustellen, wie es auch für jene Menschen sein könnte, die im Schatten der noch älteren Reaktoren lebten, Reaktoren, die schon seit 30 Jahren Bombenstoff erzeugten. Ich erfuhr, dass es in den Vereinigten Staaten zwölf Wasserstoff-Bombenfabriken gab, jede einzelne mit einer eigenen Aufgabe, alle zusammen mit einem Auswurf von durchschnittlich 6 neuen Bomben pro Tag. Ich erfuhr weiter, dass der Luftraum unmittelbar über diesen Fabriken nicht gesperrt war – was hieß, ich konnte für 50 Dollar die Stunde einen örtlichen Pilot mit Flugzeug mieten und Luftaufnahmen schießen. Außerdem fand ich heraus, dass jede dieser Produktionsstätten einen PR-Mann vor Ort hatte, dessen Aufgabe der Umgang mit Medienmenschen war. Ich wurde katholisch erzogen. Mit sechs Jahren, noch in der ersten Klasse, beschloss ich, Priester zu werden. Die Ausbildung trat ich schon mit vierzehn an. Diese dauerte zwölf Jahre. Nur acht davon habe ich es aushalten können. In meinem siebten Jahre fing es an, mir einzuleuchten, dass die Heilige Mutterkirche bis in den Kern verrottet war. Ein Jahr später stolperte ich da heraus, meine Seele nur noch in Trümmern. Ich brauchte dann fast zwanzig Jahre, um mich zu erholen. Eine lange, sehr lange Zeit war mir, als hätte ich so etwas wie einen Block festen Treibstoffes in der Brust, der sich einfach nicht auflösen wollte. Und dann erschien mir in ihrer ungeheuren Bedeutung – die Bombe. Der US-Atomwaffenkomplex hat einiges mit der römisch-katholischen Kirche gemeinsam. Beide sind Hierarchien, auf deren Spitze der verborgene Unnennbare sitzt, der entweder retten oder vernichten kann. Weder die eine noch die andere Institution wagt es, der Natur ihren freien Lauf zu lassen. Alles wird durch Urteil geregelt, das – ohne Geschworene – ganz oben gefällt wird, und die Mächtigen da oben sind der festen Überzeugung, dass sie vollkommen Recht haben und immer vollkommen Recht haben werden bis zum furchtbaren, endgültigen Morgengrauen – und sie besitzen auch die Feuerkraft, dies zu beweisen. Und sie alle verwenden strahlende Symbole, um zu ihren versammelten Millionen zu sprechen, während sie Schleier und Masken und Flüche und Spiegel brauchen, um sich Meinungsverschiedenheiten zu widersetzen, Zweifel zu beruhigen und Gläubige zu begeistern.

Dieser Verbindungen war ich mir noch nicht bewusst, als ich begann, hinter der Bombe herzujagen. Doch hatten einige der Aufnahmen, die ich in den ersten Jahren des Projekts schoss, etwas unheimlich Biblisches an sich. In jener Anfangszeit fotografierte ich Howard Morland, als er auf den Stufen vor dem United States Supreme Court stand und der Öffentlichkeit ein lebensgroßes Modell eines modernen H-Bombensprengkopfes zeigte. Beim Betrachten meines Fotos konnte ich nicht umhin, Moses auf dem Berg mit den Gesetzestafeln zu erkennen. Als ich ein Foto von Richard Rhodes schoss, der eine Glaskugel in der Hand hielt, eigentlich einen von ihm erzeugten Briefbeschwerer in der genauen Größe der Plutoniumkugel, die sich in der Nagasakibombe befand, bekam ich ein Bild, das die Geschichte von Adam in Eden aufs Neue erzählte. Während eines Streifzuges ungefähr 600 Meter über der Produktionsstätte am Savannah River schaute ich hinunter auf den „L“-Reaktor für Plutoniumerzeugung und sah das Spiegelbild einer mittelalterlichen Kathedrale. Um alle zwölf H-Bombenfabriken auf Film festzuhalten, entschloss ich mich, mir so viel Zeit zu nehmen, wie ich mir eben nehmen musste. Nehmen musste ich mir sechs Jahre. Schon nach drei Jahren fingen Freunde an, mich zu fragen, wieso ich noch nicht ausgebrannt war. Darauf hatte ich keine klare Antwort. Aber je mehr ich daran dachte, desto deutlicher merkte ich, dass sich der große schwarze Block festen Treibstoffes, den ich in mir trug, schon lautlos von alleine angezündet hatte und langsam und ruhig vor sich hin brannte. Und jedes Mal, bei dem es mir gelang, noch eine Fabrik zu erwischen, fühlte ich mich ein bisschen leichter. So begann mir bewusst zu werden, als ich schon die Hälfte des Projekts hinter mir hatte, dass ich im Begriff war, eine sehr alte Rechnung zu begleichen, und zwar ging es mir im Stillen darum, jene inspirierten Illusionen, jene subtilen Enttäuschungen und unverschämten Unwahrheiten zu enthüllen, die mich in so jungem Alter verzaubert hatten. Und jetzt wiederholte sich dasselbe, nur dass die Behörden nicht dieselben, das Spielfeld viel größer, die Strategie eine ähnliche aber die Mittel schon andere waren, und das alles drängt nun den ganzen verdammten Planeten auf einen Weg zur schnellen Vernichtung.

Robert Del Tredici fotografiert seit 1979 alle Aspekte des Nuklear-Zeitalters. Sein erstes Buch, The People of Three Mile Island, befasste sich mit außer Kontrolle geratener Kernkraft. Sein zweites, At Work in the Fields of he Bomb, dokumentierte die Atomwaffenindustrie der Vereinigten Staaten. 1987 gründete Del Tredici die Atomic Photographers Guild. Er hat das Atombomben-Programm der Sowjetunion dokumentiert und verfasste für das US Department of Energy drei Bücher, die sich mit der Sanierung des amerikanischen Kernwaffenkomplexes beschäftigten. Ausstellungen weltweit. Er lebt in Montreal, wo er Geschichte des Animationsfilms unterrichtet und die Atomindustrie weiter dokumentiert. 51


Photographing the Bomb. All Photos: © Robert Del Tredici · www.atomicphotographers.com

Wonderland Kalkar. A fast breeder reactor was built in Kalkar, Germany in 1985, but it never worked, so a Dutch entrepreneur bought the plant and turned it into an entertainment park. This rising spinning ride inside the plant‘s main cooling tower is one of Kalkar‘s more popular attractions. Kalkar, Germany. 28 October 2011.

Hiroshima Buddha. This bronze Buddha was melted by heat from the exploding Hiroshima bomb. Hiroshima Peace Museum, Hiroshima, Japan, 13 November 1984

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Terminal Guidance. A saleswoman displays Goodyear‘s contribution to the nuclear arms race: the Pershing II gyroscopic all-weather radar/video system that synchronizes embedded maps with real-time Earth surface patterns to guide an H-bomb warhead to its pre-targeted terminal destination. Weapons Bazaar, Sheraton Hotel, Wash. D.C. 15 October 1986.


Maids of Muslyumovo. The Chelyabinsk reactor made plutonium for the first Soviet A-bomb. The Soviets were in a hurry, so they dumped high-level liquid nuclear waste into the Techa River. Many villagers downstream fell ill and died. Secrecy reigned. 40 years later, women from nearby Muslyumovo learn the truth as they watch Westerners measure radiation levels in the water that flows past their town. Techa River, Muslyumovo, Chelyabinsk, Russia. 17 March 1991.

The “N“ Tunnel. This 875-foot underground steel pipe will catch and test radiation coming off an exploding nuclear warhead. Tapered Line-of-Sight Pipe, Rainier Mesa, Area 12, Nevada Test Site, Nye County, Nevada. 29 October 1984.

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Salvador Dalís fabulierte Wahnwelt im Vergleich mit Hans Prinzhorns „Bildnerei der Geisteskranken“. Ein Annäherungsversuch Peter Gorsen Die große poetische Faszination, die Phänomene des Wahnsinns auf den Surrealismus ausübten, ist allgemein bekannt. Das künstlerische, literarische, philosophische Terrain, auf dem in den 20er und 30er Jahren die Begegnung zwischen den getrennten Welten von „Realität und Irrealität, Vernunft und Unvernunft, Reflexion und Impuls, Wissen und ‚gegebenes’ Nichtwissen, Nützlichkeit und Nutzlosigkeit“ stattfinde, wie Breton im Zweiten surrealistischen Manifest von 1930 ankündigte, präsentiert sich heutigen historischen Rekonstruktionsabsichten als ein vielversprechendes, weitgehend noch unerforschtes Gebiet. Eine Annäherung von Surrealismus und Wahnsinn, wenn nicht vielmehr Überwindung ihrer ungleichen Realitäten, erhoffte Breton von der Methode des dialektischen Materialismus und er fügte kritisch hinzu, man könne nicht zugeben, „dass die dialektische Methode sich in gültiger Weise nur auf die Lösung sozialer Probleme anwenden ließe. Das ganze Streben des Surrealismus geht dahin, ihr Anwendungsmöglichkeiten zu liefern, die – keineswegs rivalisierend – den allernächsten Bewußtseinsbereich angehen. Ich sehe einigen bornierten Revolutionären zum Trotz wirklich nicht ein, weshalb wir verzichten sollten, /.../ die Probleme der Liebe nämlich, des Traumes, des Wahnsinns, /.../ aufzugreifen.“ Die surrealistische Koketterie mit dem Wahnsinn und anderen Grenzphänomenen wurde allein dadurch noch nicht überzeugender, dass der mit psychopathologischen Phänomenen bestens vertraute Max Ernst das unter deutschen Künstlern Aufsehen erregende Werk Hans Prinzhorns „Die Bildnerei der Geisteskranken“ von 1922 sogleich nach Erscheinen in die Pariser Kaderschmiede der surrealistischen Bewegung brachte. Ganz abgesehen davon, dass der zu Lebzeiten der Surrealisten unübersetzte Band nicht wirklich gelesen und nur über den üppigen Bildteil freilich enthusiastisch aufgenommen wurde, stießen Prinhorns Denken, seine teils noch aus psychiatrischer Diagnostik stammende Nomenklatur, die der Ausdruckslehre von Ludwig Klages und Edmund Husserls „Wesensschau“ folgenden Ausführungen im Surrealismus auf keine merkliche Resonanz. Hier behaupteten eine subversive, ganz um den Begriff des Unbewussten auf Kosten des autonomen Ichs zentrierte Diskussion der Freudschen Theorie und Jacques Lacans Exploration der Paranoia als kreative geistige Aktivität den avantgardistischen Diskurs mit dem Wahnsinn. Damit wurde das psychiatrische Krankheitsbild der Paranoia als ein auf Vorurteilen und „falschen Prämissen“ (Kraepelin) beruhendes Wahnsystem stark angezweifelt, wenn nicht hinfällig. Um es gleich vorweg zu sagen, weder die halluzinatorischen Frottagen Max Ernsts (seit 1925), noch die „kritisch-paranoische“ Malerei Salvador Dalís (seit 1929), auch nicht die geschriebenen, teilweise gezeichneten Simulationen des Wahns durch Robrt Desnos („Le génie sans miroir“, 1924), André Breton und Paul Eluard (L’Immaculée Conception, 1930), Versuche also einer kunsttheoretischen, ästhetischen Einbindung psychopathologischer Phänomene in das von der dialektischen Methode bewegte materialistische Denksystem des Surrealismus, konnten oder wollten sich nicht einfach in Prinzhorns Bildkommentare einstimmen lassen.

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Unveröffentlichter Teil des Vorwortes eines Beitrags in: Thomas Röske/Ingrid von Beyme (Hg.): Surrealismus und Wahnsinn, Heidelberg 2009

Peter Gorsen, Prof. em., Dr. phil., Kunst- und Mentalitätshistoriker mit Forschungsschwerpunkten im 19. und 20. Jhr.; 1970 Mitbegründung der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation; 1973 – ‘76 Dozent für Kunst- und Visuelle Kommunikation an der Justus-Liebig-Universität Gießen; 1997 – 2002 Ordinarius für Kunstgeschichte an der Universität für angewandte Kunst Wien; Zahlreiche Veröffentlichungen im Grenzbereich von Kunst und Psyche, zuletzt: Das Nachleben des Wiener Aktionismus, Klagenfurt 2009; Salvador Dalís fabulierte Wahnwelt im Vergleich mit Hans Prinzhorns Bildnerei der Geisteskranken. Ein Annäherungsversuch, in: Thomas Röske/Ingrid von Beyme (Hg.): Surrealismus und Wahnsinn, Heidelberg 2009.


Salvador Dalí’s Fable-like World of Madness and Hans Prinzhorn’s “Artistry of the Mentally Ill.“ An Attempt at Comparison Peter Gorsen It is widely known that phenomena of madness held a great poetic fascination for the Surrealists. In the 1920’s and 1930’s, as signaled by Breton in the Second Surrealist Manifesto in 1930, an encounter took place between the separate worlds of “reality and unreality, the rational and the irrational, reflection and impulse, knowledge and “given” non-knowledge, usefulness and uselessness”, and the artistic, literary, philosophical terrain on which they came together appears to historians today to be a promising, still largely unexplored field for research endeavor. Breton had hopes that the methods of dialectical materialism would enable Surrealism and madness to converge, or, rather, to overcome whatever seemed to distinguish the one reality from the other, and he added, critically, that it was inadmissible “that the dialectical method, if it is to be valid, should be used exclusively for the solution of social problems. The entire aim of Surrealism is to provide the dialectical method with possibilities for application that – each in its own legitimate way – lead to the most immediate realms of consciousness. Unlike a few narrow-minded revolutionaries, I see no reason why we should consider problems of love, dreams, madness /…/ beyond our sphere of action.” The Surrealists’ coquetry with madness and other border phenomena gained little additional credence from the fact that someone as familiar with psychopathological phenomena as Max Ernst personally introduced Hans Prinzhorn’s Artistry of the Mentally Ill to the leading proponents of the Paris Surrealist movement as soon as the book was published in 1922, a work had already created something of a sensation among German artists. Aside from the fact that the book, which was never translated during the lifetime of the Surrealists, was never really read and was appreciated – albeit enthusiastically – only for its abundant illustrations, Prinzhorn’s thought process, his use of a nomenclature taken partly from psychiatric diagnosis, his echoing of Ludwig Klages’ expression-research and Edmund Husserl’s “eidetic vision” had, in the end, little if any impact on Surrealism. Here the avant-garde discourse with madness was dominated, on the one hand, by a discussion of Freudian theory, subversive in character and totally centered on the concept of the unconscious at the expense of the autonomous “I” and, on the other hand, by Jacques Lacan’s exploration of paranoia as a creative activity. As a result, the prevailing psychiatric picture of paranoia as an illness was viewed as a delusion-system based on preconceived ideas and “false premises” (Kraepelin) and was seriously questioned, if not declared outright invalid. The fact of the matter is, neither Max Ernst’s hallucinatory frottages (from 1925 on), nor the “critical-paranoid” paintings by Salvador Dalí (from 1929 on), nor the written, and in part graphic, simulations of madness by Robert Desnos (“Le genie sans mémoire”, 1924), André Breton or Paul Eluard (L’Immaculée Conception, 1930), none of these art-historical, esthetic attempts at incorporating psychopathological phenomena into a system of thought so strongly influenced by the dialectical method as that of Surrealism ever managed to – or were even intended to – reflect or agree with Prinzhorn’s commentaries of the “artistry of the mentally ill”.

Previously unpublished part of a foreword to: Thomas Röske/Ingrid von Beyme (Hg.): Surrealismus und Wahnsinn, Heidelberg 2009

Peter Gorsen, professor emeritus, PhD, art historian and historian of mentalities, research focusing on the 19th and 20th centuries; in 1970 he was one of the founders of the journal Ästhetik und Kommunikation; from 1973 to 1976 he lectured in art and visual communication at the Justus-Liebig-Universität in Gießen, Germany; from 1997 to 2002 he held the Chair of Art History at the University of Applied Arts in Vienna; numerous publications dealing with the border region between art and the psyche, recently: Das Nachleben des Wiener Aktionismus, (The Legacy of Viennese Actionism), Klagenfurt, 2009; Salvador Dalís fabulierte Wahnwelt im Vergleich mit Hans Prinzhorns Bildnerei der Geisteskranken. Ein Annäherungsversuch in: Thomas Röske/Ingrid von Beyme (ed.), Surrealismus und Wahnsinn, Heidelberg, 2009.

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Das Archiv der Fotografie Timm Starl Das Archivalische ist ein konstitutionelles Element des Fotografischen. Man möchte sagen: Die Fotografie kann nicht anders, als im Augenblick der Aufnahme alle sichtbaren Erscheinungen aufzuzeichnen, die sich vor dem Objektiv befinden. Wobei vollkommen unerheblich bleibt, welches Motiv von den Fotografen und Fotografinnen jeweils gewählt worden ist. Auch was sie gar nicht wahrgenommen haben, geht gewissermaßen zufällig ins Bild ein. Dieses Nebeneinander wird jedoch beim Betrachten nicht als chaotisch aufgefasst, auch wenn es gelegentlich surreale Züge aufweist, sondern als adäquater Ausdruck eines bestimmten Augenblicks verstanden. Schließlich verdankt es sich der höheren Ordnung einer chemisch-physikalischen Reaktion im Moment der Belichtung. Zudem gehört es zu den Fähigkeiten der Betrachter von Fotografien, alle Abstraktionen – Verkleinerung, Verflachung, Verzerrung – zu missachten und sich trotz der Verfremdungen eine Vorstellung des Realen zu machen. Einmal davon abgesehen, dass die Summe der Gegenstände, die sich im realen Blickfeld befinden, generell nicht als Chaos wahrgenommen werden. Bevor nämlich das Erkennen eintritt, muss der menschliche Blick manches übersehen, weil die Vielzahl der Details das Auffassungsvermögen übersteigt. Er extrahiert und rekonstruiert, bevor das Erkennen eintritt, wobei die Folie der Erinnerungen als Filter dient. Doch kennt die Fotografie nicht nur das Archivalische im Bild, sondern ihre Produkte eignen sich auch als Bilder vorzüglich zur Darstellung von gleichartigen Gegebenheiten und aufeinanderfolgenden Entwicklungen. Nun sind es nicht mehr die Benutzer der fotografischen Apparatur, die etwas bildlich festhalten, sondern Wissenschaftler, Künstler und Archivare, die Fotografien mit bestimmten Inhalten oder Ausdrucksweisen sammeln und einem Archiv einverleiben. Mit dem Thema und den Absichten sind Kategorien vorgegeben, die jedem Bild einen Rang verleihen: nach Inhalt, Herkunft, Alter, Größe, Präsentationsform des Bildgegenstandes und des Bildträgers. Dieses System verdeckt die in einer Hinsicht chaotischen Züge des Archivs: Denn nun sind Bilder und ihre Objekte, die aus unterschiedlichen Zeiten und Orten stammen und andersartigen Gebrauchsweisen dienten, in einen neuen Zusammenhang gestellt und angesichts ihrer ehemaligen Funktion enthistorisiert. Das einzelne Lichtbild, das sich auf einen gewesenen Augenblick beruft, ist in einen Raum getreten, der auf Dauer angelegt ist. Es begibt sich aus den Bedingtheiten einer bestimmten Gegenwart in jenen unumstößlichen einer Sammlung und wird damit einer Geschichte ausgeliefert, die erst noch zu formulieren ist. Archive versammeln Objekte und Bilder (von Objekten), um diese zu bewahren, zur Schau zu stellen, mit ihnen zu forschen, sie als Vorlagen zu verwenden und für Argumente einzusetzen und vereinzelt, um das Archivalische an sich zu reflektieren. Unabhängig vom jeweiligen Zweck sind es durchwegs gestaltende Maßnahmen, denen das Material ausgesetzt wird. Ob ein Bild Eingang in ein Archiv findet, folgt einem Akt der Auswahl, was bedeutet, dass andere Bilder unberücksichtigt bleiben. Nachdem jedes fotografische Bild auf etwas weist, das vergangen und nicht anwesend ist (den früheren Gebrauch, den ehemaligen Augenblick) und einem kompositorischen Kalkül entspringt (Ausschnitt, Einstellung, Ausarbeitung), eignet es sich gleichermaßen für historische wie für künstlerische Entwürfe. Mit der Fotografie als Archiv lassen sich Spuren sichern, Ereignisse verdeutlichen, Progressionen nachvollziehen, 56

Parallelen aufdecken, Ähnlichkeiten nachweisen, Absurditäten herausstellen, Besonderheiten betonen – und ebenso Vorbilder übernehmen, Verfremdungen mittels Überarbeitung vornehmen, fiktive Zusammenhänge herstellen. Bereits die Pioniere erkannten das archivalische Potential des neuen Mediums. Louis Jacques Mandé Daguerre platzierte 1839 versteinerte Muscheln und Schnecken auf einem Regal, um sie in einer Daguerreotypie festzuhalten. William Henry Fox Talbot nahm zwischen 1839 und 1844 mehrfach Teile seiner Bibliothek auf. Dabei operierten die Protagonisten nach dem jeweils technischen Vermögen ihrer Verfahren: Die Daguerreotypie lieferte ausschließlich Unikate, und ihr Erfinder stellte archäologische Einzelstücke zur Schau. Talbot erfand das Negativ/Positiv-Verfahren und eröffnete den Weg zum massenmedialen Einsatz – die fotografierten Bücher stehen auch für den Verweis auf die Reproduktionsmöglichkeit der Drucktechnik. Es waren im Übrigen die ersten fotografischen Wiedergaben eines Archivs. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde es üblich, Kunstsammlungen fotografisch zu dokumentieren, und wenn ein Werk nicht transportabel war, stellte man gelegentlich dessen Reproduktion aus. In Fotoateliers entstanden außerdem Ansichten von posierenden nackten Modellen, die von Künstlern erworben und in ihr Archiv einverleibt wurden, um diesem bei Bedarf Vorlagen für gemalte oder gezeichnete Arbeiten entnehmen zu können. Der Dresdner Fotograf und Fotolehrer Hermann Krone fertigte ab den 1870er/80er Jahren von allen gängigen Verfahren seit der Frühzeit des Mediums Muster oder besorgte sich welche und schöpfte aus diesem Fundus die Abzüge zu einem „Historischen Lehrmuseum für Photographie“, mit dem er seinen Unterricht gestaltete und das er 1893 öffentlich machte. Der Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Aby Warburg entwarf in den 1920er Jahren die Tafeln für seinen Bilderatlas „Mnemosyne“ gleichfalls als Mittel der Demonstration auf Vorträgen und Ausstellungen. Doch anders als Krone, der noch dem materialistischen Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts anhing, argumentierte Warburg ikonologisch, um die Darstellungen der Antike in der Kunst der Renaissance wiederzufinden, und begnügte sich nicht allein mit fotografischen Wiedergaben aus dem Bereich der Kunstproduktion, sondern ebenso der Massenkultur. Insofern stellte er mit einem solchem Vorgehen auch die gängigen Konventionen der Kunstgeschichte in Frage. Abgesehen von der Erweiterung des Spektrums an Bildgegenständen sowie der Techniken der Aufzeichnung und Speicherung fand das 20. Jahrhundert neue Methoden des Umgangs mit den Bildern und ihrem öffentlichen Einsatz. Insbesondere sind es bildende Künstler und Künstlerinnen nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, die oftmals Ansichten von alltäglichen Dingen und Ereignissen zum Ausgangspunkt der Überlegungen nahmen und mit ihren Darstellungen zugleich den Archivbegriff neu formulierten. So sammelte beispielsweise der französische Konzeptkünstler Christian Boltanski in den 1970er Jahren Familienfotos aus privater Provenienz, stellte aus den Konvoluten fiktive Biografien zusammen und publizierte diese. Eine der Konzeptarbeiten des Deutschen Hans-Peter Feldmann, der ebenso Alltagsgegenstände wie Fotografien von geläufigen Dingen und Vorkommnissen sammelt, bestand 1974 darin, „[a]lle Kleidungsstücke einer Frau“ abzulichten und die Bilder auf


Symposien und Ausstellungen zu präsentieren. Der Linzer Schriftsteller und Herausgeber einer Literaturzeitschrift Heimrad Bäcker fotografierte auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen über mehrere Jahre die Relikte ehemaliger Bauten und verfolgte deren steten Verfall. Die Aufnahmen stellen eigentlich Kryptogramme dar, indem sie auf etwas deuten, das nicht sichtbar und längst verschwunden ist, aber in jedem Betrachter Bilder provozieren, die er mit sich trägt. Eine Serie bildlicher Andeutungen trifft auf das Archiv des Gedächtnisses. Der Radius der Inanspruchnahme von Archiven durch Künstler und Künstlerinnen ist mit den angeführten Beispielen nur ansatzweise umrissen. „Das Ewige Archiv“ von Peter Putz hat von Beginn an die seit der Frühzeit der technischen Bildmedien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis heute aufgetretenen Arten des Sammelns als Bild und im Bild quasi in Zeitraffer vollzogen. Zugleich hat sein Schöpfer verschiedenartige Speicherungstechniken und Publikationsmittel eingesetzt und sich einer massenmedialen Artikulation befleißigt. Zunächst wurde mit gedruckten Fotos und eigenen Aufnahmen hantiert, dann sind weitere Bildträger gewählt worden, bis der aktuelle Bestand mehr als 200.000 digitale, rund 5.000 analoge Fotos sowie 900 digitale Videos und 7 analoge Filme umfasst. 1987 fungierte eine Holzkassette als Speicher, die 33 Foto/Text-Kombinationen als Druckgrafiken versammelte, in den 1990er Jahren folgten illustrierte Broschüren und Bücher, im 21. Jahrhundert finden wir eine allgemein zugängliche Website, mit der die Öffentlichkeit konfrontiert wird. In der Regel werden Erscheinungen als Bilder zu anderen ins Verhältnis gesetzt, manchmal um einen Titel oder eine Textpassage ergänzt, gelegentlich sind gezeichnete Aperçus einoder angefügt. Der ehemalige Kontext ist verschwunden, ein neuer hergestellt. Putz geht mit offenen Augen durch den bunten Kosmos des Alltags, entnimmt ihm Einzelheiten meist trivialer Art, manchmal auch seltsamer Form, entbindet sie der seinerzeitigen Bedeutung und konfrontiert sie gewöhnlich mit seinesgleichen, reiht gleichartige Motive zueinander oder zeigt Widersprüchliches auf. Er seziert, kombiniert und polemisiert. Was gesehen wird, erhält ein passendes Maß und jenes Format, das die Gegenüberstellungen verlangen, um eingängig zu sein. Die Diktion ist ironisch oder erregt oder auch voller Zorn, niemals abgeklärt oder belehrend. Was gemeint ist, lässt sich ohne weiteres verstehen. Gelegentlich fällt der Blick des Arrangeurs auf sich selbst und er tritt bildlich auf, nachdem die Kamera in einen Spiegel gerichtet oder der Selbstauslöser betätigt worden ist. Dann befindet sich Peter Putz auch augenscheinlich inmitten einer Welt, die ebenso seine wie unsere ist. Er hat sie zu unserer Einsicht entworfen.

Fotogeschichte, Jg. 8, 27, Frankfurt a. M., 1988

T. S., 1988 Dr. h.c. Timm Starl, geb. 1939 in Wien, freier Kulturwissenschaftler, Fotopublizist und Ausstellungskurator, Gründer (1981) und Herausgeber (bis 2000) der Zeitschrift Fotogeschichte, Ausstellungen und Veröffentlichungen vorwiegend zu fotohistorischen Themen, arbeitet an einer Theorie der Fotografie (www.kritik-der-fotografie.at/), lebt in Wien und im Weinviertel. 57


The Archive of Photography Timm Starl Archiving is a constitutional element of photography. One might say that photography can do no more than record everything visible that finds itself in front of the lens at the time the photograph is taken, the motif chosen by the photographer being completely immaterial. Even things of which the photographer was totally unaware find their way into the picture, coincidentally, as it were. This juxtaposition is not regarded by viewers as chaotic, even when it occasionally proves to have surreal traits. On the contrary, it is understood as being an appropriate expression of a specific moment. In the final analysis, it owes a debt to something of a higher order, to a chemical and physical reaction at the moment of exposure. In addition, viewers’ skills include the ability to imagine the real, despite alienation, and to ignore all abstraction—size reduction, flattening, distortion. Moreover, the fact is that, taken together, all objects that find themselves in the actual visual field are generally not perceived as chaos. Indeed, even before recognition can take place, the human eye has to overlook many things, because the multiplicity of details exceeds the brain’s ability to process them. The eye extracts and reconstructs before recognition can take place, the memory membrane serving as a filter. Nevertheless, photography does not only acknowledge the archival in the image, it produces images that also serve exceptionally well to depict situations that are similar to each other and sequential developments. Nowadays, it is no longer those who use photographic apparatus to capture pictorial images, but scientists, artists and archivists who collect photographs with specific contents or modes of expression and integrate them into archives. Subject matter and purpose determine categories in which every image is ranked according to content, origin, age, size and form of presentation, both of subject matter and of photographic material used. This system conceals aspects of archives that are in a sense chaotic, because after their incorporation into an archive the images and the objects photographed, which come from various times and places and may once have served different purposes, are given a new context and thus divested of their prior historical function. The individual exposure that invokes a past moment has entered a space that is predicated on duration. From the conditionality of a specific present it passes into the immutability of a collection and becomes subjected to a history that remains to be formulated. Archives collect objects and images (of objects) so that they can be preserved, exhibited, used in research, used as reference material and as support in discussion and also, occasionally, as a basis for reflection on archiving per se. Irrespective of specific purpose, the ways in which the material is processed invariably focus on form of presentation. Whether an image finds its way into an archive depends on an act of selection, which means that other images are ignored. Since every photographic image indicates something that is past and no longer present (a former use, a prior moment in time) and springs from a compositional calculation (framing, settings, processing), it can serve both historical and artistic purposes equally well. Photography in the form of archives allows traces to be preserved, events to be clarified, progressions explained, parallels discovered, similarities proven, absurdities exposed, peculiarities emphasized, and it allows examples to be followed, alterations to be made by reworking the original, and fictitious connections to be invented. 58

Even the pioneers recognized the archival potential of the new medium. In 1839, Louis Jacques Mandé Daguerre arranged petrified shells and snails on a shelf in order to capture them in a Daguerreotype. Between 1839 and 1844, William Henry Fox Talbot frequently photographed parts of his library. In both cases the protagonists operated according to the technical potential of the processes used: with the Daguerreotype process, it was exclusively unique images that were produced; its inventor exhibited, therefore, individual archaeological images. Talbot invented the negative/positive process and opened the way to mass media use; thus, the books he photographed can also be seen as a reference to the reproductive potential of printing techniques. They were, in fact, the first photographic recordings of an archive. During the nineteenth century, it became commonplace to document art collections photographically, and if it was impossible to transport a work, a reproduction was occasionally exhibited in its place. In addition, photographs of posing nudes were taken in studios, and these were then acquired by artists and incorporated into their own archives so that they could be used as “models” for paintings or drawings. At the end of the 1870’s and the beginning of the 1880’s, Dresden photographer and teacher of photography Hermann Krone began producing—or acquiring—images that exemplified all the available techniques invented since the beginning of photography, and prints from this collection then served as the basis for a “Historical Educational Museum of Photography” which he used in his teaching and opened to the public in 1893. In the 1920’s, art historian and cultural theorist Aby Warburg designed the tableaux for his pictorial atlas “Mnemosyne”, which he used for demonstration both in lectures and exhibitions. Warburg, however, did not share Krone’s belief in material progress, so prevalent in the nineteenth century, but argued from an iconological point of view that the imagery of antiquity was very much present in Renaissance art. In doing so, he not only made use of photographic reproductions of works of art but included images from mass culture as well. In this respect, his methodology also called into question art-historical conventions prevailing at the time. Apart from the broadening spectrum of pictorial subjects and the technical advances made in image recording and storage, the twentieth century also saw the development of new ways of using photographs, new visions of their possible public use. Visual artists after the Second World War in particular often took images of everyday things and events as a conceptual starting point and with the works they produced also reformulated the notion of archive. Thus, in the 1970’s, French conceptual artist Christian Boltanski collected private family photos, bundled them together into fictitious biographies then published them. One of the conceptual works, dated 1974, of the German Hans-Peter Feldmann, also a collector of everyday objects such as photographs of commonplace things and events, consisted of a photographic representation of “the complete wardrobe of a woman”, which he presented at symposia and in exhibitions. Heimrad Bäcker, a writer from Linz and publisher of a literary magazine, photographed over a period of many years the remains of buildings that once stood on the site of the concentration camp Mauthausen, thus documenting their gradual disintegration.


The photographs are in fact cryptograms in the sense that they draw attention to something that has long since become invisible, photographs, however, that summon up images that each viewer carries in his or her inner self. A series of pictorial allusions encounters the archive of memory. The extent to which archives serve artists can only be sketchily indicated here. From the very outset, Peter Putz’s ETERNAL ARCHIVES have been a collection of pictures, a collection in pictures, a collection in every sense of the word since the beginnings of technical image production in the first half of the nineteenth century up to the present, all of it, so to speak, in time-lapse sequence. Also, in the ARCHIVES Putz has employed various kinds of storage technology and means of publication, and has made a point of engaging the mass media in the endeavor. It all started with photos already printed and with Putz’s own. Then, other image-bearing media were brought into it as well, leading to a present stock of more than 200,000 digital and 5.000 analogue photographs as well as 900 digital videos and 7 analogue films. In 1987, a wooden box served as a storage container for the 33 photo/text combinations that had been collected as prints. In the 1990’s, these were followed by illustrated booklets and books, and in the twenty-first century we find a website that is accessible to all and interfaces with the public. As a general rule, new pictures are placed in context with others, at times supplemented by a title or a short text. Occasionally aperçus are inserted or added. The former context metamorphoses into a new one. Putz wanders through the colorful cosmos of everyday life with open eyes and extracts from it details, usually of a trivial sort, sometimes strange in form, details which he detaches from their original context and then usually confronts with others that are in some way similar; he orders them in kindred series, points out contradictions. He dissects, he combines, and he provokes debate. Each image is given an appropriate size and a format that enables the viewer to appreciate its juxtaposition with others. The diction is ironic or excited, sometimes angry, never settled or didactic. Whatever the case, the meaning is always clearly understood. Sometimes the arranger’s gaze falls on himself, and he can be seen in a mirror at which he has aimed his camera, or he uses a self timer. Then Peter Putz seems to find himself in a world that is as much his as ours. He has created it to provide us with insight.

Fotogeschichte, Jg. 8, 27, Frankfurt a. M., 1988

T. S., 2011 Dr. h.c. Timm Starl, born 1939 in Vienna, freelance cultural theorist, photo publisher and exhibition curator, until the year 2000 publisher of the magazine Fotogeschichte, exhibitions and publications, dealing mainly with the history of photography. Presently working on a theory of photography (www.kritik-der-fotografie.at/). Lives in Vienna and the Weinviertel. 59


Occupy Marlene Streeruwitz Auf der 31. Straße. Zwischen der 9. und der 10. Avenue. Ein homeless hat sich an die Mauer zum Parkplatz da ein Haus gebaut. Es ist aus Pappe mit Plastikmüllsäcken überzogen. Das Dach ist mit blauem Klebeband an die Mauer geheftet. Das Haus hat zwei Räume zum Unterkriechen. Voriges Wochenende baute der Mann an einer Art Veranda. Das Wetter in diesem November ist außergewöhnlich warm und ein Vordach aus durchsichtigem Plastik zum Darunter Hocken am Tag durchaus angebracht. Früher wohnte der Mann oben auf der 9. Avenue an der Mauer. Da zog aber im Sommer ein Billigbusunternehmen ein. Lange Schlangen von anstehenden Reisenden vor den Bussen am Gehsteig würden einem Pappendeckelhaus zusetzen. Die Anstehenden konkurrieren um billige Busplätze nach Boston, Toronto oder Chicago. Wer da steht, kommt mit. Wer sich nicht einmal das billigste Flugticket leisten kann oder den meist teureren Zug. Der muß anwesend sein, um den Platz zu besetzen. Frau kann dann auf dieser Seite auf dem breiten Gehsteig der Ostseite der 9. Avenue nicht gehen. Keine Person würde Platz machen. Die Angst, damit den Platz zu verlieren, der zum Billigsttransport führt. Diese Angst ist größer als die sonst so selbstverständliche amerikanische Freundlichkeit. Die Augen werden zwar niedergeschlagen, wenn der Durchgang verwehrt wird. Und es ist eher Resignation als Aggression, die sich einer da in den Weg stellt. Aber es wird nicht gewichen. Frau könnte sich als Vordrängerin herausstellen. Den Mann im Pappendeckelhaus wollten diese Reisenden nicht sehen. Zu nahe ist die Möglichkeit, von einer Person, die mit Billigstbussen reisen muß, zu einer Person zu werden, die gar nicht mehr reisen kann. In einem Pappendeckelhaus unterkommen zu müssen. Das ist dann nur eine der anderen Ängste mehr, mit denen 99% der Amerikaner und Amerikanerinnen leben müssen. Es gibt keinen Unterschied mehr. Mittelstand oder nicht. Das eine Prozent der Habenden hat es geschafft, alle anderen zu gleichen zu machen. Das mag sich als der wirkliche politische Fehler der Plutonomie der USA herausstellen. Die Steuerzahler zum Bezahlen der Spielschulden so heranzuziehen, dass die Steuerzahler als Besitzer der bankrotten Banken zu einer Klasse der Ausgebeuteten geformt wird, die das dann auch im eigenen Leben zur Kenntnis nehmen muß. Das Pappendeckelhaus, das nur noch von Klebeband festgehalten wird. Das ist dann sehr sichtbar der Ausdruck einer drohenden Zukunft. Die meisten schlagen noch die Augen nieder, wenn frau ihre Armut sehen kann. Wie da, wo es um diese Billigstangebote geht. Wenn Personen vor Supermärkten kampieren, um als erste an die wirklichen Angebote zu kommen, die dann ohnehin nur von Mitternacht bis 6 Uhr früh zu haben sind. Danach gelten wieder die normalen Preise und nur noch die Illusion treibt die Kunden in die Geschäfte. Dieser Run auf Billigstangebote. Das ist nicht mehr Zurichtung. Das ist Züchtigung. Der Körper selbst muß eingesetzt werden. Die rennenden und sich bekriegenden Massen beim Start der Weihnachtssaison. Die stehenden und nicht weichenden Reisenden vor den Billigstbussen angestellt. Es gibt nur noch diese eine Bestimmung. Unausweichlich muß der Körper zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sich einer vorbestimmten Haltung unterordnen um an das Billigstangebot zu kommen. Laufen oder stehen. In der Logik der postderegulierten Verwirtschaftlichtheit muß die Person diese Züchtigung auch noch selber an sich selber vollziehen. Das zieht das Zerbrechen der Selbstachtung nach sich. Denn. Es geht längst nicht mehr um Konsum. Für Millionen von amerikanischen Bürgern geht es längst um das Überleben im Täglichen. Und. Der Schritt vom 60

schamerfüllt vorgetäuschten Mittelstand in die vollkommene Geldlosigkeit ist winzig und die Folgen aber umfassend. Die Hilflosigkeit wird durch eine Flut von Gesetzen der letzen 20 Jahre nur noch erhöht, in denen dem Geld- und Versicherungssektor ermöglicht wurde, das Kleingedruckte in den Verträgen nur noch zu ihren eigenen Gunsten drehen zu können. Demokraten und Republikaner. Wer regierte machte da keinen Unterschied. In der Geschichte der USA gibt es immer wieder den Versuch, eine dritte Partei zu begründen. Immer wieder wurden Bewegungen gegründet, die dann, wie die Tea Party heute, in einer der beiden großen Parteien integriert wurden. Andere Bewegungen wurden vom Establishment erfolgreich niedergehalten. Occupy Wall Street ist eine solche Bewegung. Immer geht es um Erneuerung. Immer gibt es die Berufung auf die Verfassung. Das erinnert ein wenig an die Entwicklungen in den christlichen Religionen. Nur. Da ging es noch um anderes. In diesem Augenblick der Geschichte der USA geht es einfach ums Geld. Und weil es ums Geld geht, geht es ums Leben. Occupy Wall Street geht es um ein Leben, das nicht durch das Geld definiert wird. Das Leben soll wieder durch die Grundrechte seinen Wert bekommen. Einen Wert an sich. Es geht darum, sich von der Scham zu befreien, die die geltende kapitalistische Kultur über alle verhängt, die es „erwischt“ hat. Alle, die ihr Geld verloren haben. Alle, die also arm sind. Die sollen durch die Selbstzensur der Scham aus der Gesellschaft verschwinden. Die dürfen sich dann vor Supermärkten um die, ihnen vorgeworfenen Billigstangebote raufen. Trash. Gesellschaftlicher Müll sollen die dann sein und möglichst nicht mehr wählen. Man müßte sich ja auch ummelden und vom trailer home mag einem oder einer das nicht mehr so wichtig erscheinen. Sie sei sehr enttäuscht, sagt die schöne Clementine aus Paris, die in der UNO ein Praktikum macht. Sie sei enttäuscht, wie schäbig diese Leute da aussähen. In Zuccotti Park. Das wären ja irgendwie nicht sehr beeindruckende Personen. Am nächsten Tag begannen die Räumungen und Verhaftungen. Die schäbigen Personen kamen wieder ins Gefängnis und vielleicht kann man nach der dritten Verhaftung mit der Hilfe von pepperspray nicht mehr so richtig chic aussehen. Aber ich kenne das von den „Wandertagen“ in Wien in 2000. Die große Gruppe selbst macht einen oder eine ein bißchen schäbig. Das ist auch befreiend. Wir sind es nicht mehr gewohnt, eng zusammenzustehen. Die freigestellte Modefotografie hat unser Bildsehen geprägt und wir können in der Gruppe keine Details mehr erkennen. Es bedeutet also auch schon bildlichen Abstieg, sich in die Gruppe zu begeben. Als einzelne Personen. Das konnte ich Clementine sagen. Als einzelne Personen sind wir alle ganz fesch. In der Gruppe im Park. Beim Herumgehen. Oder die Straßen hinunter zu Brooklyn Bridge. Da zerfließen die Farben und alles wird unklar und dunkel. Die Gesichter nur noch helle Flecken. Die langen Haare der Männer sind schon längst wieder ungewohnt und die alten Ratschläge, zum Friseur zu gehen sind von den Bürgermeistern der „besetzten“ Städte zu hören. Clementine wollte auch ein Programm von Occupy Wall Street. Das wollen auch die Medien. Die Politik will das. Das Büro für Homeland Security will das ganz besonders. Terrorverdacht liegt ja immer in der Luft. Auch das kenne ich aus Wien. Es geht nicht darum, die Richtigkeit eines Programms zu diskutieren. Es geht darum, die Richtigkeiten leben zu können. Immer handelt es sich nämlich um Rechte, die längst garantiert sind. Rechte, die verbrieft sind. Im Fall der USA


und ist an sich schon eine Errungenschaft. Für den Mann im Pappendeckelhaus auf der 31. Straße wird das alles nicht mehr relevant werden. Er ist einer der über 40.000 homeless in New York. Er ist sich selbst überlassen und muß die beabsichtigte Vernachlässigung am anderen Ende des Spektrums leben. Jene gesellschaftliche Vernachlässigung, die denen aus dem 1 Prozent ihren Reichtum ermöglicht und da amerikanischer Traum genannt werden kann, bedeutet für ihn den Pappendeckelunterschlupf auf der 31. Straße. Und um die Ecke stehen die Billigstreisenden an. Sie befinden sich nicht mehr in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen. Sie sind dem Pappendeckelhaus näher als der 5 Straßen entfernten teuersten Wohngegend der Welt. Park Avenue. Ich gebe zu. Ich habe diesmal in New York Demonstrationstourismus betrieben. Wie seltsam und wie schön, dass wir auf diese Weise einander doch finden können. Unspektakulär. Unaufgeregt. Unwichtig. Aber alles in der Sicherheit des Rechts auf Würde. Das muß jetzt einmal reichen. Wozu sollte jemand sich als Märtyrer opfern und gewalttätig werden. Diese Sehnsucht nach gewalttätigen Revolutionen. Die wird hier nicht ausgelebt. Vielleicht auch, weil sich diese Bewegung aus den Erfahrungen der Bürgerrechtsbewegung und der Frauenbewegung entwickelt. Eine der Forderungen von Occupy Wall Street ist, das eigene Leben zu „besetzen“. Das war doch schon immer unsere Forderung. Wie schön, sie so lebendig und gelebt neu vorzufinden. Ich fand das beruhigend. Eine solche Angstlosigkeit. Ist das nicht weiterhin und wie immer die Grundlage für Befreiung. Darin wird dann ein solch unterschätztes Gefühl zum politischen Motor. Also. Besetzen wir einmal mehr unsere Leben. Es wird uns hier in Europa auch nicht schaden.

Photo: © Peter Rigaud / shotview

handelt es sich um Rechte, die in der Verfassung verankert, den Staat begründen sollten. Und immer geht es ganz einfach um das Recht auf ein Leben in Würde. Wie soll das noch diskutiert werden. Es geht doch um die Umsetzung. Und die wird von den Eliten in aller Macht verhindert. Diese Verhinderung ist lebensumspannend komplex und betrifft die tiefsten Schichten des Fühlens. Was soll eine Person da diskutieren. Es würde in die Selbsterklärung führen und da haben alle aus 68 gelernt. Es wird nicht geredet, es wird gehandelt. Im Fall von Occupy Wall Street wird auch viel ertragen. Immerhin ist das FBI, NYPD und das Bureau for Homelandsecurity mit der Verhinderung beschäftigt. Am Ende war es dann dieser langhaarige Trommler vor dem Haus des Bürgermeisters von New York. Der wohnt nicht in der Residenz, die in einem Park liegt und deshalb das Trommeln nur ihm gelten hätte können. Der Milliardär Bloomberg blieb in seinem townhouse. Occupy Wall Street wollte Tag und Nacht vor seinem Haus trommeln. Weil das aber den Schlaf der Kinder in dieser Straße gekostet hätte, wurde abgebrochen. Das könne man schließlich nicht machen, sagte der Mann in die Kamera und lächelte verlegen. Kinder müßten schlafen. Ob sie nun reich wären oder nicht. Es muß nicht eigens erwähnt werden, dass die derzeitige Situation in den USA Frauen spezifisch benachteiligt. Und wie immer. Migrantinnen noch einmal mehr. Die Programme für Geburtenkontrolle werden mittlerweile von einer Krankenversicherung abhängig gemacht. 19 Millionen Frauen sind nicht krankenversichert. Geburtenkontrolle und Lebensplanung. Das sind damit wieder Privilegien geworden. Diese Nachricht allein hat mich die 4 U-Bahnstationen von der 31. Straße hinunter zur Station World Trade Center fahren lassen. Wenn frau auf die Straße herauskommt. Rechts ist ground zero. Links Century 2001. Da raufen sich die Outlet-Touristen um die Schnäppchen der Designermode. Dann kommt links gleich Zuccotti Park. Der hieß früher Liberty Plaza Park. Da dürfen die Demonstranten auf und ab gehen. Sie dürfen nicht mehr biwakieren. Die Polizei läßt alle 7 Minuten eine Beobachtungskanzel aufsteigen, von der aus alle fotografiert werden. Masken sind dagegen eine kluge Maßnahme. Und von zeit zu zeit werden ein paar Personen verhaftet. Dazwischen hält auch einmal ein Prediger seine Predigt. Irgendwann dann schwillt die Menge an. Dann wieder wird es ruhig. Nervös ist da nur die Polizei. Denn. Es ist klug, dieses Demonstrieren in das jeweilige Leben so zu integrieren, dass keine Verluste entstehen. Es ist altmodisch von der Politik und den Medien zu verlangen, dass Personen sich diesen politischen Handlungen hauptberuflich widmen und jederzeit für Auskünfte zur Verfügung stünden. Es geht ja alles Demonstrieren gegen die politischen Klassen und gegen alle Parteien, die zu dem einen Prozent der Habenden gehören oder danach streben dazuzugehören. Wenn dann viele da sind. Dann sind das Personen jeden Alters, jeden Geschlechts und jeder Zugehörigkeit, die ihre Politik in ihren Alltag integrieren. Sehr oft sind das Studenten und Studentinnen, die dazwischen zu einer Vorlesung oder einem Seminar gehen und dann wiederkommen. Für die geht es um ihre Zukunft. Die meisten haben hohe Schulden aus den Krediten, mit denen sie ihr Studium finanzieren müssen. Und. Die meisten haben keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Und. Alle 99 % müssen in einer Balance von Wünschen und Möglichkeiten ihr Leben bestreiten. Occupy Wall Street ist da schon einmal ein wunderbar gelungenes Modell von Jobsharing. Ohne Hierarchie kann jeder und jede den Platz des oder der anderen ausfüllen. Das kann dann gelebte Gleichwertigkeit genannt werden

Marlene Streeruwitz, geboren in Baden bei Wien (NÖ). Studium der Slawistik und Kunstgeschichte. Freie Texterin und Journalistin. Freiberufliche Autorin und Regisseurin. Literarische Veröffentlichungen ab 1986. Lebt in Wien, Berlin, London und New York. Werke (Auswahl): Lisa‘s Liebe. Roman in drei Folgen. 1997; Waikiki Beach. Und andere Orte. Die Theaterstücke. 1999; Partygirl. Roman, 2002; Jessica, 30. Roman. 2004; Kreuzungen. Roman. 2008; Bildgirl.Collagen. 2009; Das wird mir alles nicht passieren. Wie bleibe ich FeministIn. 11 Erzählungen. 2010. (mit einer zum Buch gehörenden Website); Die Schmerzmacherin. Roman, 2011 61


Occupy Marlene Streeruwitz 31st Street. Between 9th and 10th Avenues. A homeless person has built himself a house up against the wall of a parking lot. It’s made of cardboard covered with plastic garbage bags. The roof is attached to the wall with blue adhesive tape. The house has two rooms that have to be crawled into. Last weekend the man was busy adding on a kind of porch. The weather has been unusually warm for November, and it must be a relief to be able to find some shelter during the day squatting under a transparent plastic canopy. The man used to live up on 9th Avenue, against a wall. But during the summer a low-cost bus company moved in. Long lines of travelers waiting on the sidewalk next to the buses would have overwhelmed a cardboard house. The people waiting in line are competing for cheap seats to Boston, Toronto or Chicago. First come, first served. People who can’t afford even the cheapest plane ticket, or the train, which is usually pricy. They actually have to stand here in order to get a seat. Which makes it impossible for a person to walk down the broad sidewalk on this east side of 9th Avenue. Not one of them would step aside to make room for her. Afraid to lose their place in line, a chance to travel cheap. This fear outweighs the otherwise customary American friendliness. True, their eyes look down when they block the way. And it’s resignation more than aggression that keeps them from budging. But no one steps aside. Maybe she’s trying to cut in. The people in line didn’t want to see the man in the cardboard house. He made it all too close, for people able to travel only on the cheapest buses, too close the possibility that they could someday no longer be able to travel at all. Having to live in a cardboard house. This is only one of the fears that 99% of Americans have to live with. There’s no difference anymore. Middle class or not. The one percent of the “haves” have succeeded in reducing everyone else to the same level. This could prove to be the true political mistake of plutonomy in the USA. Getting the taxpayers to pay the gambling debts so that the taxpayers, as owners of bankrupt banks, become a new class of the exploited who then inevitably realize the consequences for their own lives. A cardboard house held up only by adhesive tape. A very visible foretoken of a threatening future. Whenever a person sees others in their poverty, most of them avoid looking her in the eyes. As they do here, lining up for cheap bus seats. People camping out in front of supermarkets in order to be the first to get the real bargains, only to learn that the real bargains were only in effect from midnight to 6 a.m. After which it’s normal prices again and only an illusion continues to lure the customers in. This run on low prices. It’s no longer dressage. It’s corporal punishment. The body itself is forced into it. Everyone in competition or in combat, the masses, all at the starting line of the big race at Christmas time. Travelers standing in line for cheap bus seats and stepping aside for no one. All behavior is geared towards this and towards this alone. Inescapably, at a specific time in a specific place the body is forced to conform to specified behavior in order to have a chance for the lowest prices. Rush or stand in line. In the logic of post-deregulated commercialization, not only is this punishment, it is self-inflicted punishment. And self-respect, as a consequence, takes quite a beating. Because. Consumption has long since ceased to be the issue. For millions of American citizens it has become a matter of daily survival. And. From the shame-filled, middle-class disguise to total pennilessness the step is very small – but the difference enormous. The feeling of helplessness has only been exacer62

bated by a spate of legislation over the past 20 years that has provided the finance and insurance sectors with even more tools that enable them to twist the small print in contracts completely to their advantage. Democrats or Republicans. It doesn’t matter who is in power. There have been many attempts in US history to form a third party. Time and time again movements have emerged, which, like the Tea Party today, have then been incorporated into one of the two big parties. Other movements have successfully been kept at bay by the Establishment. Such a movement is Occupy Wall Street. Historically, renewal has always been at the center of things in these movements. And the Constitution has always been invoked. There are similarities here with developments in the Christian religions. Except. There it was about fundamental values. At the present moment in US history, it is all simply about money. And since it is all about money, it is all about life. Occupy Wall Street is about a life that is not defined by money. Life should find its value again in the respect of the fundamental rights. A value in itself. It is all about freeing ourselves from the feeling of shame that the prevailing capitalist culture has brought upon us, those of us who have been “caught ” in its net. All those who have lost their money. All those who are, in a word, poor. They’re supposed to vanish from society, self-censored by this feeling of shame. And then, in front of supermarkets, they can fight over the cheap bargains that are tossed to them. Trash. Society’s rubbish, that’s what they’re supposed to be – and preferably no longer voters. After all, once you’ve landed in a trailer home you would have to change your voting address; and anyway, seen from a trailer home, it all no longer seems so important, to man or woman. She is very disappointed, says pretty Clementine from Paris, who is doing a traineeship at the UN. She is disappointed to see how shabby these people look. In Zuccotti Park. Somehow they don’t seem to make much of an impression, she says. The next day the police started clearing and arresting. The shabby people found themselves sitting in jail again, and maybe it’s not so easy to look chic after being arrested for the third time with the help of pepper spray. But I know this from the “Wandertagen” in Vienna [weekly mass protests against the coalition government of the Austrian People’s Party and the far-right Freedom Party of Austria], in the year 2000. The mere fact of being in a big group makes a man or a woman look a bit shabby. It is also liberating. We are no longer accustomed to standing closely together in a group. Fashion photography, with its isolating and highlighting techniques, has had an impact on our image perception and we can no longer recognize details in the group. So joining the group also brings with it a downgrading of our visible image. As individuals. I could say that to Clementine. As individuals we all look terrific. In the group, in the park. Walking around. Or along the streets to Brooklyn Bridge. Here, the colors fade into each other and everything becomes vague and dark. The faces become nothing but bright spots. The men’s long hair went out of style a long time ago, and the mayors of “occupied” cities can again be heard telling them to go get a haircut. Clementine also wanted an Occupy Wall Street program. So do the media. So do the politicians. So especially does the Office for Homeland Security. The terror threat is always in the air. That too I know from Vienna. It’s not a matter of putting political dogma into writing. It’s a matter of living what is right. These are,


after all, basic rights that have been guaranteed for a long time. Formally guaranteed in writing. In the case of the United States, these are rights that are embedded in the Constitution and as such should be the foundation on which the State rests. And it is always simply a matter of defending people’s right to live in dignity. What is there to be discussed? The thing is now to put theory into practice. And this is obstructed by the elites with all the power at their disposal. This obstruction is complex in a way that involves all aspects of our lives and touches the deepest of our feelings. What is there for a person to discuss? This would lead to self-declaration, and here we’ve all learned from ‘68. The people haven’t come here to talk; they’ve come here to act. In the case of Occupy Wall Street, they also have to endure. The FBI, NYPD and Bureau for Homeland Security are, after all, busy obstructing things. For Clementine, in the end, it was this long-haired fellow with his drum in front of the mayor’s house. The mayor doesn’t live in the official residence, which stands alone in a park, where the drumming would obviously have been meant only for him. The billionaire Bloomberg stayed in his townhouse. Occupy Wall Street wanted to beat the drums in front of his house day and night. But since this would have disturbed the sleep of children who lived in this street, the drumming was stopped. Really, you can’t do that, said the man in front of the camera with an awkward smile. Children have to sleep. Rich or not. It hardly needs to be pointed out that the current situation in the USA particularly affects women. And as always. Immigrant women even more. In the meanwhile, birth-control programs have begun to be dependent on health insurance. 19 million women have no health insurance. Birth-control and life-planning. These too have now become privileges. This news alone made me take the subway four stations south, from 31st Street to World Trade Center. When a person comes up out of the subway onto the street. On her right is Ground Zero. On her left, Century 2001. Outlet tourists scrambling for designer bargains. And just after that, on the left, Zuccotti Park. It used to be called Liberty Plaza Park. Here the demonstrators are allowed to walk back and forth. They’re no longer allowed to bivouac. Every 7 minutes the police let someone climb up into an observation booth mounted on a crane to take photographs of everyone. Masks come in handy here. And from time to time a few people get arrested. In the meanwhile, a preacher delivers a sermon. At one point or another the crowd begins to swell. Then it calms down again. The only ones who are nervous are the police. Because. For everyone concerned, the intelligent thing is to integrate demonstrating into daily life in such a way that nothing is lost. It’s old-fashioned on the part of the politicians and the media to expect these people to devote themselves full-time to political activity and to always be available for comment. Of course, the demonstrating is aimed at the political classes and at all the parties that belong – or strive to belong – to that one percent, to the “haves”. Then, when a lot of people show up. They are persons of all ages, all genders, all persuasions, making their politics a part of their daily lives. Very often these are students who take time out to attend a lecture or a seminar and then come back. For them it’s their future that’s at stake. Most of them are up to their necks in debt with student loans. And. Most of them have no prospect of employment. And. All 99% must get on with their lives while trying to find a balance between wishes and real possibilities. Actually, Occupy Wall Street is a marvelously successful model of job sharing.

Without hierarchy, every man or woman can fill in for any other man or woman. So it can be called equality truly experienced and is in itself an achievement. For the man in the cardboard house on 31st Street, all of this is hardly relevant anymore. He is one of the 40,000 homeless people in New York. He has to fend for himself and is going to have to experience the deliberate neglect on that other end of the spectrum. That social neglect that makes the wealth of the one percent possible and is called the American dream – for him, it means a cardboard hut on 31st Street. And around the corner, people standing in line for cheap bus seats. People who are no longer situated halfway between two extremes. They are much closer to the cardboard hut than to the most expensive residential neighborhood in the world, five blocks away. Park Avenue. I admit, this time in New York I’ve been something of a demonstration tourist. How strange and how wonderful, nevertheless, that all of us can come together like this. Nothing spectacular. No excitement. Nothing momentous. But everything in the conviction that people have a right to dignity. By now, this alone should suffice. What’s the use of becoming a martyr and resorting to violence. This nostalgia for violent revolutions. There’s none of that here. Maybe because this movement grew out of the experiences of the civil rights movement and the feminist movement. One of the demands of Occupy Wall Street is that we “occupy” our own lives. But this was always our demand. How wonderful to find it here again fresh, so full of life, so much a part of people’s lives. I found that reassuring. Such a lack of fear. Hasn’t this always been and isn’t it still the basis for emancipation. And as such, this feeling of fearlessness, so underestimated, can become a political driving force. So. Let us occupy our lives once again. It wouldn’t do us any harm here in Europe either.

Wandertage in Vienna, 2000 – 2001 (s. tableaux page 136) Marlene Streeruwitz: born in Baden, near Vienna (Lower Austria). Studied Slavic languages and literatures, art history. Free-lance copywriter and journalist. Author and stage director. Literary publications since 1986. Lives in Vienna, Berlin, London and New York. Selected works: Lisa’s Liebe, serial novel, 1997; Waikiki Beach. Und andere Orte, plays, 1999. Partygirl, novel, 2002; Jessica, 30, novel, 2004; Kreuzungen, novel, 2008; Bildgirl. Collagen, 2009; Das wird mir alles nicht passieren. Wie bleibe ich Feministin, 11 short-stories, 2010 (including website); Die Schmerzmacherin, novel, 2011. 63


Was ich nicht fotografieren darf. Zeugenschaft oder Beweissicherung? Peter Putz Herbst 1972, Prater Wien, Flipperhalle. Ich beobachte eine Gruppe um einen Flipper stehender Spieler: Einer von ihnen bewegt Laden von Zündholzschachteln, die er sich zwischen die gespreizten Finger geklemmt hat, schnell über ein auf der Glasfläche des Flippers liegendes Kügelchen und lässt sie dann fallen. Die anderen wetten, unter welcher Lade das Kügelchen liegt. Der Einsatz: 100-SchillingScheine. Im Geist spiele ich mit und sehe zu meinem Erstaunen, dass alle Spieler meiner Meinung nach falsch setzen und verlieren. Meine Vermutungen hingegen, wo das Kügelchen liegen würde, wären alle richtig gewesen – demnach hätte ich schon eine Menge gewonnen, wenn ich nur mitgespielt hätte. Nach einigen Spieldurchgängen werde ich eingeladen, mitzuspielen. Innerhalb kürzester Zeit ist mein Geld weg, blitzschnell verspielt. Dann meine Armbanduhr: verloren. Ich werde getröstet: Ich könne ja alles schnell wieder zurückgewinnen, könne ja meine Kamera einsetzen! Stimmt: Um meinen Hals hängt – am Ledergurt im ledernen Futteral – tatsächlich die 2-äugige Rolleiflex meines Vaters. Eine schwere Entscheidung: Auf die Chance verzichten, das verspielte Geld und die verlorene Uhr (ein mir besonders wichtiges Erinnerungsstück) wieder zurückzugewinnen – sprich, alles loszulassen – oder mit letztem Einsatz versuchen, das Glück zu biegen? Nach innerem Zittern ein kurzes Aufleuchten: Die Kamera als Einsatz wäre mit Sicherheit in Kürze weg, also besser schmerzlich Geld und Uhr endgültig zurücklassen. Ich entziehe mich der Gruppe und den drängenden Zureden, wende mich ab und entferne mich. Aber, denke ich mir – ich will zumindest ein Foto haben, ein Foto machen vom Ort des Geschehens, von der Situation meines Verlustes und meiner Niederlage. Ich öffne das sperrige Lederfutteral, klappe den Sucherschacht der Rolleiflex hoch, stelle scharf auf die Gruppe um den Flipper und drücke auf den Auslöser der Kamera. Sofort bin ich umringt. „Host Du uns jetzt fotografiert? Gib’ ma sofort den Film her oder Du host an Bauchstich!“ Mit zittrigen Fingern also die Kamera aus dem Lederfutteral geschält, den noch unbelichteten Filmteil mit abgedecktem Objektiv verschossen, den Film zurückgespult, die Kamera geöffnet und den Film übergeben. Geld für den Film wird mir zugesteckt. Später höre ich vom Geldwechsler der Flipperhalle: Ich sei ja ein kompletter Idiot gewesen – die Gruppe hätte natürlich gemeinsame Sache gemacht. Was darf ich also fotografieren? Darf ich Männer fotografieren, die am helllichten Tag gegen Litfaßsäulen pissen? Auf der Straße liegende Besoffene? Dealer in der U-Bahn? Wenn ich schlafende Obdachlose fotografiere: Ist das Sozialpornographie und verstört meine gutmeinenden Freunde? Die Antwort darauf ist für mich einfach: Ja, ich darf alles fotografieren – weil ich auch alles anschauen darf und anschauen muss. Selbstverständlich darf ich das alles. Überhaupt keine Frage. Was darf ich nun veröffentlichen? Mitglieder eines Coca-Cola-Dosen verteilenden Rollkommandos – eines selbsternannten SWAT-Teams auf der Mariahilferstraße in Wien – wollten mir erklären, dass ich sie nicht fotografieren dürfe. Zum Teufel! Seit Jahren beobachte ich auf den Fahrten ins Studio in den U-Bahnen Drogendealer und Klientel, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ab und zu versuche ich, sie zu fotografieren. Ganz selten, 64

unscharfe Bilder aus tiefen Perspektiven. In Situationen wie diesen wünsche ich mir eine Augenkamera. Die später zusammengestellten Tableaus heißen dann etwa Traveling salesmen and their customers. Ein guter Freund rät mir dringend ab, diese Tableaus zu veröffentlichen. Würde das dem rechten Lager möglicherweise Beweismaterial für ihre unsäglichen Kampagnen zuspielen? Wozu fotografiere ich also, warum sammle ich? Wozu fotografiere ich flachgedrückte Red-Bull-Dosen auf der Straße? Weil pro Jahr rund 5 Milliarden Red-Bull-Dosen produziert werden? Ist es eine Beweisaufnahme für das Jüngste Gericht – wie ich vor Jahren einen Vortrag zum Thema genannt habe? Ebensee, 1979. Nach dem Tod meiner Großmutter Aloisia Promberger wurden beim Ausräumen des Dachbodens ihres Wohnhauses vom Maler Hans Kienesberger zwei Schachteln mit Glasnegativen ihres 1964 verstorbenen Mannes Johann gefunden und sichergestellt. Glasnegative mit Aufnahmen aus den Jahren 1905 bis 1925. Unter den Aufnahmen Porträts, Landschaftsaufnahmen, Fotos seines Arbeitsplatzes, der Saline Ebensee, seiner Arbeitskollegen, aber auch Fotos von aufgebahrten Toten, Erwachsenen und Kindern. Diese Negative habe ich später kontaktkopiert und über die Aufnahmen meine Diplomarbeit verfasst: Ein Versuch, für den Amateurfotografen Johann Promberger einen Platz in der Geschichte der Fotografie zu finden. Diese Fotografien bilden das Fundament des Ewigen Archives. Ein weiterer historischer Pfeiler ist der Nachlass meines Vaters Karl Abel Putz: Er hinterließ Dias, Negative und Fotos, die er im Irak in den Jahren 1958 und 1959 aufgenommen hatte, in der Zeit, als er eine österreichische Fachschule in Mosul mit aufbaute. Bis zum Sturz von König Faisal (1958), bis ein abgeschnittenes Ohr im Brief als Warnung an die Schule geschickt wurde. Als fotografische Dokumente verblieben Landschaftsbilder, Bilder von Menschen, Pferden – Aufnahmen ohne Bildunterschriften, ohne Namen, Ortsangaben und Datierung. Aus der Zeit gerissen, in Schachteln gelagert. Wie gehe ich um mit Bildern, zu denen jede authentische information fehlt? Was können Bilder überhaupt erzählen? Das sind Fragen, die Teil des Diskurses im Ewigen Archiv sind. Das Ewige Archiv wurde im Jahr 1980 von mir gegründet und versteht sich als dynamische Enzyklopädie zeitgenössischer Identitäten. Es ist die umfangreichste nichtkommerzielle Bilddatenbank Österreichs, mit einem Bildbestand ab dem Jahre 1905, mit Metadatenverzeichnis und detaillierter Beschlagwortung. Schwerpunkt ist die permanente fotografische Notiz: Spurensicherung des Alltags, Dokumentation und Vergleich unterschiedlicher Lebens- und Arbeitsräume: Wien und Montréal, Ebensee und Poznan´, London, New York, Berlin, Lissabon ebenso wie etwa Paris, Vandans, Mossul und Rom. Diese Aufzeichnungen verdichten sich zu größeren Bezugsräumen und bilden ein facettenreiches Gewebe verschiedenster Realitäten mit besonderem Augenmerk auf das SpektakulärUnspektakuläre. Bilder der Sammlung werden exemplarisch zu themenbezogenen Tableaus zusammengefasst. Das Ewige Archiv ist eine Markierung in der Zeit. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.


What I’m not allowed to photograph. Witness or collector of evidence? Peter Putz Autumn, 1972, Vienna Prater, pinball arcade. I observe a group of players standing around a pinball machine: one of them has a few empty matchboxes clamped between his fingers and moves them quickly over a little ball placed on the glass surface of the machine. He lets them fall. The players place their bets and try to guess which matchbox now covers the little ball. The stakes: 100-schilling bills. Mentally I play along, and I discover to my astonishment that the players’ guesses are always wrong – at least so it seems to me – and each time they all lose. My own silent guesses, however, are always correct; and I say to myself that if only I had played for real, I’d have won a load of money. After a few rounds, I’m invited to join in. In no time, all my money is gone. Then my wristwatch too – gone. But all is not lost, I’m told. I can easily win it all back – I can bet my camera! True. Hanging around my neck on a leather strap in its leather case is my father’s twin-lens Rolleiflex. A difficult decision: should I pass up a chance to win back all my lost money and the wristwatch (a particularly precious memento), pass up a chance to go for it all? Or should I make a final effort to force Luck’s hand? After a bit of quiet trepidation, a moment of good sense: if I staked my camera, it would be gone in seconds, so, as much as it hurts, I’d better just forget the money and the wristwatch. I step back from the group, they try to persuade me to stay, but I don’t listen to them, I turn and walk away. But then, a thought – I should at least take a photograph, a photograph of the scene, of the place and circumstances of my loss and defeat. I open the stiff leather case, pop up the Rolleiflex viewfinder, bring the group standing around the pinball machine into sharp focus and press the trigger. No sooner have I done so than I’m surrounded on all sides. “Did you just take a picture? Hand over the film, buddy, and now! Otherwise you get a knife in your gut!” So, my fingers shaking, I pull the camera out of the case, cover the lens, shoot the rest of the film – frame by frame, rewind, open the camera and hand over the spool. Someone shoves some money into my hand for the film. Later, the coin changer in the pinball arcade tells me I really must be an idiot – it was obvious to anyone that all those guys were in cahoots. So what am I allowed to photograph? Am I allowed to photograph men pissing on advertising pillars in broad daylight? Drunks lying in the street? Dealers in the subway? If I photograph homeless people sleeping, is this social pornography and will it offend my right-minded friends? For me, the answer is simple: Yes, I’m allowed to photograph everything – because I’m also allowed to see everything, because I must see everything. I can photograph everything. It’s obvious. No question about it. But what am I allowed to publish? Members of a Coca-Cola commando handing out free cans of Coke – a self-appointed SWAT-team on Vienna’s Mariahilferstrasse – tried to tell me I wasn’t allowed to photograph them. What the hell? For years I’ve been observing drug dealers and their clientele in the subway on my way to and from the studio, at all times of day and night. Once in a while I try to get them on film. Only very rarely, actually, and the shots are unfocused, taken from a deep angle. In

situations like these, I wish my eye had a built-in camera. The tableaux I later put together might be given titles such as “Traveling salesmen and their customers”. A good friend of mine hastens to talk me out of publishing these tableaux. After all, wouldn’t they be just what right-wingers need for their slur campaigns? So why do I take photographs? Why do I go on collecting like this? Why do I photograph flattened Red Bull cans in the street? Is it because roughly 5 billion Red Bull cans are produced every year? Do I see this as a taking of evidence for the Last Judgment, as I entitled a lecture on the subject some years ago? Ebensee, Upper Austria, 1979. After the death of my grandmother, Aloisia Promberger, the painter Hans Kienesberger, while cleaning out her attic, discovered and salvaged two boxes full of glass negatives that had belonged to her husband, Johann, who died in 1964. Glass negatives of photographs taken between 1905 and 1925. They included portraits, landscapes, photographs of the place where he worked – the saltworks at Ebensee – photos of his fellow workers, but also photos of the dead, adults and children. I later made contact prints from the negatives and wrote my diploma thesis on this material, with the title: An Attempt to Find a Place in Photographic History for the Amateur Photographer, Johann Promberger. These photographs are the foundation stone of the Eternal Archives. A further historical pillar in the structure is what I inherited from my father, Karl Abel Putz. He left me slides, negatives and prints, photographs that he took in Iraq in the years 1958 and 1959, when he was part of a team sent to build an Austrian professional training school in Mosul. Until the overthrow of King Faisal, until an amputated ear enclosed in a letter was sent to the school as a warning. Documented in photographs are landscapes, pictures of people, of horses – photographs without captions or titles, without names, dates or identification of locations. Removed from their temporal context, stored away in boxes. How do I deal with photographic material that totally lacks authentic data? Just how much can the pictures themselves tell us? These are some of the questions that form the discourse of the Eternal Archives. The Eternal Archives were founded by me in 1980, and can be understood as a dynamic encyclopedia of contemporary identities. They are Austria’s most comprehensive non-commercial database with images dating from 1905 and a metadata index with detailed keyword referencing. The focus is on photographic note-taking: preserving traces of everyday activity, documenting and comparing a variety of places where people live and work – Vienna and Montreal, Ebensee and Poznan, London, New York, Berlin Lisbon, as well as Paris, Vandans, Mosul and Rome. These photographic records interconnect to form a multi-faceted network of greatly differing realities, with particular attention being paid throughout to the profane, the normal, and thus pointing out its importance. Images have been aggregated into thematic tableaux. The Eternal Archives are a marking in time. No more – but also no less. 65


1994 Peter Putz

Virtual Triviality Das Ewige Archiv · The Eternal Archives 120 Seiten · pages; deutsch · english Hardcover, Schutzumschlag · dust jacket 300 x 240 mm Wien · Vienna, 1994 · www.ewigesarchiv.at 2 Essays: Gottfried Fliedl Monika Schwärzler

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Kritiken · Reviews: Virtual Triviality

02 / 1995

Peter Putz erhielt schon viele Preise für seine Film- und Videoarbeiten. Seit 1991 benutzt er den Computer als Werkzeug künstlerischer Arbeit.

04 / 1995 68


27. 1. 1995

45 / 2002

5. 4. 1995 69


Das Ewige Archiv Gottfried Fliedl

Archive sind – ähnlich den Museen oder Bibliotheken – Organe des kollektiven Gedächtnisses. Was sie bewahren ist Grundlage gesellschaftlicher Erinnerungsfähigkeit. Ihre Bedeutung erhielten diese Institutionen mit der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft: in dem Maß, in dem durch ihre Entwicklung, durch den ökonomischen und sozialen Fortschritt Tradition zerstört und Traditionsbewußtsein abgebaut wurde, schien die Erhaltung und Erschließung von Überliefertem „geschichtlichen Sinn“ (Joachim Ritter) – über den Traditionsbruch hinweg – zu ermöglichen. Die Beschleunigung des ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandels läßt immer rascher Vergangenheiten zurück, denen die Strategien der Musealisierung jene Dinge entnehmen, die als sinnliche Substrate von Vergangenheit zeugen sollen.

'Porträts' zielt nicht auf die Integrität der Personen, sondern auf ihre mit Hilfe tausendfach reproduzierter Abziehbild-Stereotype betriebene Maskierung – also auch auf Anonymisierung von hinter Charaktermasken verborgener Macht.

Was sich kompensativ diesem „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ (Alexander Kluge) entgegenstemmt, richtet sich gegen den 'Tod der Dinge', gegen die Entleerung ihrer Bedeutungen, gegen die Zerstörung ihrer Funktionen, gegen ihr spurloses Verschwinden – doch um den Preis, ihre Entfunktionalisierung im Museum endgültig stillzustellen und dort zum irreversiblen Faktum zu machen. Diese prekäre 'Dialektik des Musealen' läßt Vergangenes nur als Vergangenes zu und spaltet es so von lebendiger ästhetischer, historischer und politischer Erfahrung ab. Als antiquarisches Bewußtsein fetischisiert und verdinglicht es jene potentielle Erfahrung, die die in den Objekten „inkorporierten Lebensspuren“ (Gottfried Korff) wieder entbinden und sozialem Gebrauch zugänglich machen könnte. Die Dialektik des Musealen, die Stillegung des Geschichtlichen, wird im „Ewigen Archiv“ umgekehrt und als List gegen die massenmediale Geschichtsvergessenheit selbst gewendet; dabei bedient es sich jener Mittel, die in der Geschichte der Moderne als Mittler der Kritik und der Polemik vielfach erprobt wurden: da das Museum generell Objekte ihrem ursprünglichen funktionalen und symbolischen Gebrauch und Kontext entfremdet (und statt dessen 'Bildung' anbietet), ist es wirksam, den musealen Kontext zu entfremden, zu stören und zu durchkreuzen oder einen neuen herzustellen, um stillgelegte Bedeutungen wieder in Fluß zu bringen. Durch die vielfach wechselnden Bearbeitungsformen, denen die Fotos ausgesetzt werden: Montage, Collage, Zerschneidung und Verkehrung, Kommentierung, Einfärbung und Formatänderung, Überzeichnungen und Verdoppelungen nageln sie die Aufmerksamkeit des Betrachters mit den Mittel der Ironie und des Schocks fest und attackieren dessen massenmedial dressierte Gleichgültigkeit gegenüber der Bilderflut: Gerade als öffentliche – durch ihre mediale Gleichförmigkeit, massenhafte und rasend wechselnde Reproduktionen – hatten die Bilder ihre Kraft eingebüßt; jetzt erhalten sie durch ihre 'Privatisierung' etwas von ihrer verletzenden Kraft zurück.

Die Ambivalenz von authentischem Abbild und ästhetischer Verfremdung läßt die von aufblitzendem Erschrecken und ästhetischer Besänftigung offen. Nirgends verläßt sich das „Ewige Archiv“ auf die Gleichsetzung des ‘Ich-bin-dabei-gewesen' mit dem 'So-war-es'. Dem Betrachter wird nicht erlaubt, bloß den massenmedialen Blick zu beerben, vor dem sich alles Inhaltliche auf den 'sex appeal' des sinnlichen Reizes der ihrer inhaltlich-funktionalen Bestimmung entleerten bloßen 'Sachen' verlagert.

Mit Gewitztheit, mit Listen und auch mit legitimem Zorn – aber nicht denunziatorisch – operiert der Archivar; einen Gutteil ihrer Wirkung beziehen die Abbildungen aus der ihnen impliziten Ästhetik und Bedeutung, die mit ihren eigenen Mitteln freigesetzt und sichtbar gemacht wird. Gerade weil nicht moralisiert wird, sondern die bornierte Versessenheit dieser Bildwelten auf Macht und Gewalt, Sexualität und Konsum, mit ihren eigenen Mitteln zurückgespiegelt wird, erhalten die Fotos ihre politische, ihre kommunikative und – partiell – ihre katarthische Kraft wieder. Auch die Entstellung von

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Die Simultaneität der Bilder als Massenmedien suggerieren eine verständnisvolle Verfügung über deren Bedeutung und eine Gleichzeitigkeit des Inkommensurablen, dem dennoch ein Anschein von Wahrheit verliehen wird, weil das fotografierte oder gefilmte Bild mit der 'abbildlichen', 'mechanischen' Authentizität unbedingter Zeugenschaft ausgestattet ist. Dem versucht sich das „Ewige Archiv“ zu entziehen, beziehungsweise versucht es die Entlarvung dieses Vorganges.

Massenmediale Wahrnehmung, die – wie empirische Untersuchungen zur Genüge zeigen – das Verhalten in Museen und Ausstellungen prägen, zeichnet sich durch zerstreute Wahrnehmung aus, in der jede Form des alltagsrelevanten Lernens mehr oder minder vermieden wird, wo 'expressives' Verhalten, das heißt, das 'DabeiGewesen-Sein' zum Wichtigsten und die Beschäftigung mit den visuell-sinnlichen Sensationsofferten spektakulärer Objekte und Arrangements zum Wesentlichen wird. Das „Ewige Archiv“ bedient sich der massenmedialen Bildsprache, ihrer Grammatik und der Gesetze ihrer Entwertung – ihrer Öffentlichkeit (die in Wirklichkeit nur formal aufrecht ist, sich in schierer Zugänglichkeit erschöpft) kann es jedoch nichts als seine Privatheit entgegensetzen.


The Eternal Archives Gottfried Fliedl

Similar to museums and libraries, archives are organs of collective memory. What they do is preserve the basis for the memorizing capacity of society. The importance of these institutions evolved together with bourgeois society. The more tradition was being destroyed through development and economic and social progress, and the more tradition consciousness was vanishing - the more the preserving and exploiting of the traditional seems to have made “historic sense“ (Joachim Ritter) – beyond the break of tradition. The acceleration of economic, social and cultural change places the present in the past at an ever increasing pace from which strategists of „museumisation“ draw objects that are meant to witness sensual substrates of the past. That which, in order to compensate, pushes against this “attack by the present on the rest of time“ (Alexander Kluge), directs itself against the “death of things“, against the emptying of its meaning and the destruction of its functions, against disappearance without trace. All this, however, at the price of the defunctionalisation of things and their final standstill in a museum which turns them into an irreversible fact. This precarious „dialectics of the museum-like“ allows for the past only as the past and splits it off from living aesthetic, historical and political experience. As an antiquarian consciousness it makes a fetish of and reifies that potential experience which could once more release and make accessible for social use the “traces of life inherent“ (Gottfried Korff) in objects. In the “Eternal Archives“, the dialectics of the museum-like, and putting a halt to the historical are reversed and cunningly applied to counteract mass-media forgetfulness of history itself. In so doing, means are used that have repeatedly proved themselves in the history of modernity as the voice of criticism and polemic. Since museums generally alienate objects from their original functional and symbolic surroundings and usage (offering “education“ instead), it is effective to alienate the museum-like context, to disturb it and cross it out, or to create a new one in order to bring frozen meanings back into flux. The photographs undergo all sorts of treatment: including montage, collage, cutting and reversing, commenting, colouring and changing format, superimposing and doubling. All these manipulations mesmerise the spectator through irony and shock and attack the indifference imposed by the mass media visá-vis a flood of pictures. It is exactly through the public, media ‚sameness‘, and the en mass extremely rapidly changing reproductions that the pictures have lost their power. Now, by “privatizing“ them, they have been reinvigorated with some of their pain.

The simultaneity of pictures as mass media suggests an understanding use of their meaning, together with the synchronicity of the incommensurable which, however, is given an appearance of truth for the photographed or filmed picture is equipped with the “image“ and mechanical authenticity of immediate witnessing. The “Eternal Archives“ tries to avoid, or rather demask, this process. The ambivalence of authentic image and aesthetic alienation leaves room for flashes of shock as well as aesthetic pacification. Nowhere does the “Eternal Archives“ rely on an equation such as „I was there“ and “This is what it was like“. The spectator is given no chance to merely use the inherited mass-media gaze which shifts all contents to the sex appeal of sensual stimulation of mere „things“ that have been completely deprived of their contents and functional purposes. Mass-media perception – and this has been sufficiently proven by empirical investigation – shapes people´s behaviour in museums and exhibitions and is characterized by dispersed perception. Here, any form of learning that is relevant in everyday life is more or less avoided, and “expressive“ behaviour in the sense of “having been there“ becomes the most important thing, while the occupation with the spectacular objects and arrangements that are visually and sensually displayed become the crucial factor. The “Eternal Archives“ makes use of mass-media picture language, and the grammar and rules of de-valuation deriving from it, but the only way it can respond to the publicness of the mass media (which, in reality, is only present in form and exploits its own sheer accessibility) ­is simply through its own privacy.

The archivist operates with wit, cunning and legitimate anger, yet never in a denunciating way. To a large extent, the pictures draw their impact from their implicit aesthetics and meaning which is released and made visible by itself. Since there is no moralising, but rather the simple-minded obsession of these picture worlds with power and violence, sexuality and consumerism is being mirrored by their own impulses, the photographs thus regain their political, communicative and, partly, cathartic strength. Thus, the distorted portraits of people, too, do not aim at harming a person´s integrity, but target their stereotyped thousandfold transfers and masks - thereby also rendering anonymous the power concealed behind character masks.

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Vom Vergnügen und Ungenügen an Oberflächen Monika Schwärzler

Die Suchsysteme des „Ewigen Archivs“ schlagen hauptsächlich bei Bildern und Textstücken aus der Medienwelt an und auch da sind sie selektiv. Taucht aber der Fund auf, so schließen sich die Archivtore unerbittlich über ihm. Es liegt Gefräßigkeit in diesem Mechanismus und auch Schonungslosigkeit. Siehe das Schlussdokument: Ein Freund des Archivars antizipiert die Situation, dass seine sehr persönliche Mitteilung im Archiv verschwinden wird. Als Bild des Archivs könnte der Raketensilo dienen, der sich zweimal in verzerrter Form unter dem Archivmaterial befindet. Er ist riesiges Loch, Öffnung, Stauraum in der Tiefe, kolossales Magazin, niemals von Hand ausgehobene Grube, tausend Meter unter dem Meeresspiegel angesiedelter Speicher. Für irdisches Kopulationsvermögen – siehe die dazu montierten Bilder von sexueller Penetration – ist dieses Gefäß eine Spur zu groß. Das würde Technik erfordern, „High Tech“. Schlünde und Löcher – und Mundhöhlen. Plastikklammern, die Mundhöhlen auseinanderspannen. Durch diese Einwirkung gewaltsam freigegeben, ist ein erschreckendes Kiefer, in dem die von Paradontose befallenen Zähne wie aufgescheuchte Tiere liegen. Kiefer sind normalerweise nur partiell sichtbar, nie in dieser Weise visuell verfügbar. Der/die voyeuristische Betrachter/in hat sozusagen einen Plastikfuß in der Mundöffnung, kann seinen/ihren unsentimentalen Blick erproben, sich das Grauen und den Ekel abgewöhnen und in ein Inneres starren, dessen Schließmuskulatur wie in einer Versuchsanordnung gelähmt ist. Mundhöhlen – und Brustkörbe. Brustkörbe leben davon, geschlossen zu sein und die Andeutung einer Höhle darunter genügt uns normalerweise vollkommen. Das Foto, auf das sich der Akquisiteur des Archivs versteift hat, wölbt dem/der Betrachter/in die geöffnete Brusthöhle entgegen. Man kann hineinschauen, sich sattsehen und seine Augen an das verbotene Dunkel dieser Höhle gewöhnen. Mund, Auge, Nase, Sexualöffnungen fungieren in den Bildern des „Ewigen Archivs“ als Einstiegs- und Abstiegsmöglichkeiten. Von hier beginnt man seine Reise unter Tag, von hier seilt man sich ab. Der Meister des Archivs wird umgetrieben von der Sucht, dahinter zu kommen, unter die Oberfläche zu gelangen, in Schichten vorzustoßen, die sich der restlosen Symbolisierung durch Bilder und Worte vielleicht entziehen. Wie sieht es unter der Haut aus? Was kommt zum Vorschein, wenn Ekzeme und Geschwüre die Oberfläche zerfressen? Wann stößt man an Grenzen? – Das Archiv bedauert mitteilen zu müssen, dass es bei diesem unter die Haut gehenden Verfahren leider nur weitere Bilder, neue Oberflächen sicherstellen konnte. In einem Text, den der Archivar an einen Baum in der Kärntnerstraße geheftet gefunden hat, spricht die unbekannte Autorin davon, dass sie wieder nicht „gelebt“, zum „Leben“ keine Kraft habe und nur das Notwendigste schaffe. Wie komme sie da raus? Die unter Anführungszeichen gesetzten Worte möchten aus dem Gefüge des Satzes herausfallen. Um das zu erleben, was die Anführungszeichen in eiserner Umklammerung halten, müsste man raus, nach oben, außen, auf und davon. Auf derselben Seite findet sich das Porträt von jemandem, der sein Gesicht direkt auf den Fotokopierer gelegt hat, um einen unverstellten Abdruck des Lebens zu erhalten. Mit Mühe entzifferbar ist das Fragment einer stark überbelichteten 72

Nase. In viele der Fotos sind Inserts, d.h. kleine, meist runde Bildelemente eingelassen. Es ist dies ein Montageverfahren, das Tiefe suggeriert. Hinter der „vordergründigen“ Bildebene existiert noch eine zweite, die vielleicht den Einstieg zu einer dritten offenhält. Die entsprechenden Fotos scheinen von kunstvoll arrangierten Ausschlägen befallen, einer Art Immunschwäche der Oberfläche. Teilweise wirken die Inserts wie Brennpunkte, fokussieren das Geschehen, bringen es auf den Punkt, sind Kommentare aus dem Off einer dahinter- oder davorliegenden Ebene. So etwa sind in die Bilder von einer Brustuntersuchung Makroaufnahmen einer Gebärmutter eingelassen. Aus einer Warenanordnung von Beate-Uhse-Artikeln springen wie Inseln Inserts von Kussszenen vor. Sind die Inserts einfärbig, wie in den Aufnahmen von den Bosnienkämpfern, so tritt der dünne Firnis-Charakter der Bilder überdeutlich hervor. Medienbilder sind hauchdünner Pixelauftrag auf einer Fläche und verdanken sich einem bloßen Anflug von Repräsentationswillen. Mit den Inserts, die weite Teile des Bildmaterials mitstrukturieren, ist so etwas wie das Ungenügen an der Oberfläche zum Programm erhoben. Eine Parallele zur Wut und dem Frust Lucio Fontanas bietet sich an, der die Leinwände seiner Bilder deshalb perforierte und aufschlitzte, weil er sich einfach nicht mit der Zweidimensionalität der Fläche abfinden wollte. „Pixelstorm über Asien“ – Breshnews Porträt zerstiebt in einem Wirbel von Bildpartikeln, der zugeordnete Text spricht von Verewigungspraktiken. Wenn sich Bilder rückwärts entwickeln und ihre imaginären Höhenlinien aufgeben, bleibt grenzenlose Flachheit zurück, keine Erhebung im Bildfeld, nichts, aus dem sich Monumente formen ließen. Die im „Ewigen Archiv“ aufbereiteten Bilder sind schön, gleichzeitig aber wird Schönheit dort als Oberflächenphänomen und Inszenierungsform abgelegt. ARTE und das Gesicht von Miss Sarajewo könnten zusammenpassen. Auf der Seite, die ironisch mit ”form follows function“ kommentiert ist, sieht man von der Polizei sichergestellte Waffen, die in kunstvolle Anordnung gebracht wurden. Die Seite mit den Nachtaufnahmen von Bomberangriffen auf Bagdad und der dazumontierten Küchenmesserreklame ist schön. Hier ist ästhetische Wirkung sozusagen messerscharf kalkuliert. In Beispielen wie diesem ist man in den Zentralen des Archivs durchaus in Einklang mit der Oberflächlichkeit des schönen Scheins und praktiziert große Kunstfertigkeit in der Bilderzeugung. Virtual Reality, ersehnter Zuwachs an Realität, fingerloses Drehen am Glücksrad, wird sicher eine mit unglaublichem Möglichkeitssinn begabte Virtual Triviality protegieren. Die Bildmembran über den Dingen schließt dann ihre Poren und Stiche ins Herz der Dinge fördern wunderschöne Gewebeproben in High Definition Colours zutage: weiteres Material für das „Ewige Archiv“.


Of Pleasure and the Insufficiency of Surfaces Monika Schwärzler

The searching systems of the “Eternal Archives” mainly avail themselves of pictures and pieces of text from the world of the media, however selectively. When a major finding has been made, the archive gates close inexorably above it. There is a certain gluttony in this mechanism, and an unsparingness too. See the final document: a friend of the archivist anticipates the situation in which his highly personal statement will disappear in the archive. The missile silo, which occurs twice in the material of the archives in distorted form, could serve as the picture of the archives. It is a huge hole, an aperture, a storage space in the depths, a colossal depot, a hollow that has never been excavated by hand, and a reposito-ry located a thousand meters below the sea. For earthly copulation – see the mounted pic-tures of sexual penetration in this context – this vessel is somewhat too big. This would require technique, “high tech”. Throats and holes – and oral cavities. Plastic clamps, which hold oral cavities open, Through this impact, violently released, there is a terrifying jaw in which periodontosis-stricken teeth lie around like startled animals. Usually, jaws are only partly visible. Never are they visually available in this way. The voyeuristic observers have, so to speak, a plastic foot in the oral cavitiy. They can test their unsentimental gaze, wean themselves away from horror and repulsion and stare into an inner space whose sphincter is paralysed as if in some experimental arrangement. Oral cavities – and rib cages. Rib cages are alive by virtue of being in a closed state, and, generally, an intimation of the cavity below by far suffices to indicate this. The photograph that the acquirer of the archives has insisted on, however, arches the opened-up rib cage out towards the viewer. You can look inside to your fill and habituate your eyes to the for-bidden darkness of this cave. In the pictures of the “Eternal Archives”, mouths, eyes, noses and sexual orifices function as places of entry and descent. These are where you set out on your journey underground, these are where you abseil downwards. The master of the archives is driven by the addic-tion to get behind and beneath the surface; advancing to layers which perhaps evade complete symbolization in pictures and words. What does it look like under the skin? What comes to light when eczema and ulcers eat up the surface? Where are limits encounte-red? – The archives regret to inform visitors that the procedure of stripping back the skin has unfortunately secured nothing but further pictures and new surfaces. In a text which was found by the archivist on a tree in Kärntnerstrasse, the unknown author speaks once more of not having “lived” and of having no strength for “life” and of only managing the basics. How can she extricate herself? The words put in quotation marks aim at falling out of the sentence structure. In order to be able to experience that which is being held by quotation marks as by steel clamps, one would have to get out, to the top, outsde,up and away. On the same page a portrait can be seen of somebody who has put his face directly onto a photocopier so as to receive an authentic imprint of life. After some effort, the fragment of a strongly over-exposed nose becomes deciphered.

Inserts, i.e. small and mostly round picture elements, have been inlaid into many of the photographs. This is a montage technique suggesting depth. Behind the “foreground” level of the picture there is a second level to be found, which might in turn even allow access to a third. The respective photographs appear to have been stricken with artistically arranged skin rashes, a kind of immune system weakness of the surface. In part, the inserts come across as focii which highlight events, make them concise, and are a commentary from off the scenes on the levels behind or in front. So, for instance, microscopic photographs of a uterus have been inserted into the pictures of a breast examination. Like inserted islands, images of people kissing each other spring from an arrangement of Beate Uhse sex toys. Where the inserts are monochrome, such as in the pictures of Bosnian fighters, the thin varnish character of the pictures comes over more than clearly. Images portrayed by the media are a filmy pixel coating on a surface and owe their existence to a vague hint of the will to be represented. The inserts co-structure large parts of the picture material. With them, something like the insufficient at the surface is raised to the level of a programme. One is reminded of the anger and frustration of Lucio Fontana, who perforated and slit open canvasses of his pictures because he simply was not prepared to accept the twodimensionality of surfaces. “Pixel storm over Asia” – Brezhnev’s portrait is pulverized in a whirlwind of picture particles, while the allocated text speaks of immortalisation practices. When the pictures deve-lop backwards and renounce their imaginary lines of height, a flatness beyond limits remains – no raised surfaces in the field of the picture, nothing from which monuments could be built. The pictures prepared in the “Eternal Archives” are beautiful, but at the same time their beauty is put aside as a surface phenomenon and a mise en scène. ARTE and the face of Miss Sarajevo could fit together. On the page which is commented upon ironically with the words “form follows function”, weapons secured by the police which have been arranged in an artistic order are shown. The page with the night exposures of air raids on Baghdad and mounted kitchen knife advertisement is beautiful. Here the aesthetic impact is, so to speak, calculated in a razor-sharp way. With examples like these, there is a consensus in the headquarters of the ar-chives with the superficiality of beautiful appearance, and high artistic skills of image generation are practised. Virtual reality, longed-for increase in reality, pushing of the wheel of happiness without using fingers will certainly encourage a virtual triviality with an unimagined sense of possibilities. The picture membrane will then close its pores, and stabs in the heart of the things bring to the surface the most beautiful samples of texture in highdefinition colour: further material for the “Eternal Archives”.

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1987 Peter Putz

DAS EWIGE ARCHIV Kassettenedition Auflage 99 Stück, signiert, nummeriert · edition of 99, signed, numbered. 33 Tableaus 315 x 455 mm in einer Holzkassette 33 tableaus in wooden cassette; 2 Siebdrucke auf Büttenpapier 2 serigraphies; 32 Offsetdrucke in insgesamt sieben Farben auf 340 g/m2 Invercoat-Karton; 32 offsetprints, 7 colours on 340 g/m2 Essay: Arnulf Rohsmann

Tableau der Kassettenedition DAS EWIGE ARCHIV, 1987, 31,5 x 45,5 cm; Offsetdruck in 7 Farben, signiert, nummeriert 74


Tableaux der Kassettenedition DAS EWIGE ARCHIV, 1987, 31,5 x 45,5 cm; Offsetdruck in 7 Farben, signiert, nummeriert 75


Tableaux der Kassettenedition DAS EWIGE ARCHIV, 1987, 31,5 x 45,5 cm; Offsetdruck in 7 Farben, signiert, nummeriert 76


1988

Begrüßung · Welcome Address: Dieter Schrage, Museum moderner Kunst Zum Ewigen Archiv · On The Eternal Archives: Dr. Arnulf Rohsmann, Landesgalerie Klagenfurt

Peter Putz, Premiere „Gelati per tutti“

Ausstellung · Exhibition:

Museum moderner Kunst Wien 77


Das Ewige Archiv Gottfried Fliedl

Augen auf! Ohren spitzen! – Mit diesem Imperativ, begleitet von zwei aggressiven Fotos, wird das ”Ewige Archiv” von Peter Putz eröffnet. Ein Archiv, eine Sammlung, ein ’Museum im Koffer’, das der massenmedialen Bildwelt zu Leibe rückt. Archive sind – ähnlich den Museen oder Bibliotheken – Organe des kollektiven Gedächtnisses. Was sie bewahren ist Grundlage gesellschaftlicher Erinnerungsfähigkeit. Ihre Bedeutung erhielten diese Institutionen mit der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft: in dem Maß, in dem durch ihre Entwicklung, durch den ökonomischen und sozialen Fortschritt Tradition zerstört und Traditionsbewusstsein abgebaut wurde, schien die Erhaltung und Erschließung von Überliefertem ”geschichtlichen Sinn” (Joachim Ritter) – über den Traditionsbruch hinweg – zu ermöglichen. Innerhalb der diskursiven Sphäre bürgerlicher Öffentlichkeit sollte sich kollektive historische und ästhetische Erfahrung an den ’Überresten’ des Geschichtsprozesses bilden – Erfahrung, die dem materiellen und idealen Fortschritt der Gesellschaft zugutekommen sollte. Anders als in traditionalen Gesellschaften – die die unveränderte Erhaltung von dingen über einen langen Zeitraum nur ausnahmsweise kennen – wurde nun die Sammlung, Bewahrung und Sicherung dessen, was man mit dem etwas zweideutigen Begriff des ’Kulturgutes’ (ein Begriff, bei dem sich immer der materielle Wert in den Vordergrund zu drängen scheint) benennt, zur Notwendigkeit und Verpflichtung. Die säkularisierte Idee des stetigen und irreversiblen geschichtlichen Fortschrittes erhob jeden historischen ’Rest’ auf gleiche Weise aus dem Status des Mülls in den des Dokuments. Diese Egalisierung ließ alles und jedes erhaltungswürdig erscheinen – und in der Tat ist kein Ende des sich stets beschleunigenden und ausdehnenden Musealisierungsprozesses abzusehen. Immer weitere und neue Geschichtsbezirke und Naturbereiche werden von ihm erfaßt. Die Beschleunigung des ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandels lässt immer rascher Vergangenheiten zurück, denen die Strategien der Musealisierung jene Dinge entnehmen, die als sinnliche Substrate von Vergangenheit zeugen sollen. Was sich kompensativ diesem „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit” (Alexander Kluge) entgegenstemmt, richtet sich gegen den ’Tod der Dinge’, gegen die Entleerung ihrer Bedeutungen, gegen die Zerstörung ihrer Funktionen, gegen ihr spurloses Verschwinden – doch um den Preis, ihre Entfunktionalisierung im Museum endgültig stillzustellen und dort zum irreversiblen Faktum zu machen. Diese prekäre ’Dialektik des Musealen’ lässt Vergangenes nur als Vergangenes zu und spaltet es so von lebendiger ästhetischer, historischer und politischer Erfahrung ab. Als antiquarisches Bewusstsein fetischisiert und verdinglicht es jene potentielle Erfahrung, die die in den Objekten ”inkorporierten Lebensspuren” (Gottfried Korff) wieder entbinden und sozialem Gebrauch zugänglich machen könnte. Musealisierung verleiht dem Überlieferten überzeitlich-ideale Gültigkeit als ’Erbe’ und entzieht es damit – in der Logik des dauerhaften Bewahrens befangen – dem lebendigen Gebrauch: Musealisierung besteht auf der Bewahrung unveränderter materieller Beschaffenheit des tradierten ’Kulturgutes’ und trägt dadurch zu seiner Enthistorisierung bei. Dieser totemistischen Praxis der ’Schatzbildung’, der es eher um Hortung, Bewahrung und Sicherung geht als 78

um gesellschaftlich folgenreiche Aneignung in kollektiven Lernprozessen, setzt das Archiv von Peter Putz sein ironisch-polemisches Adjektiv ’ewig’ als Vorzeichen entgegen. Womit es dieses Archiv zu tun hat, sind denn auch nicht die auratisierten hochkulturellen Artefakte, sondern der massenmediale Bildermüll, Treibgut abgenutzter Bildersprachen. Die zugleich fragile und nobilitierende Form der Holzkassette (eher für Gourmandisen als für ’Archive’ üblich) setzt dieses gefundene Material in einen Wahrnehmungszusammenhang, der dem, dem es zugemessen war, fundamental – und ironisch – widerspricht: Indem die ’Verpackung’ auch eine der ältesten typologischen Wurzeln des Archivs und Museums evoziert – Schatz und Schatzkästlein als Formen der Bewahrung materieller und symbolischer Werte vor unerwünschtem Zugriff –, hebt es das Bildmaterial aus dem trivialen Kontext von Zeitung, Werbung und Gebrauchsfotografie heraus. Die Sorgsamkeit der Aufbewahrung sättigt sich an der Idee antiquarischer Bewahrung und musealer Beweissammlung – und widerspricht ihr zugleich. Das für Augenblicke des zerstreuten Konsums berechnete Bild wird in die Rolle eines dauerhaften Dokuments gerückt. Anders als Museum und Archiv hat es das ’Ewige’ nicht mit dem Bewahren des ’historischen’, das heißt interpretationsbedürftigen Objekts zu tun, sondern mit der Kritik des Bewahrens um seiner selbst willen – und mit der Wiederherstellung eines ’Rahmens’, in dem die Bilder wieder interpretationsbedürftig und interpretierbar werden. Dieses Archiv entzieht sein Material der ursprünglichen Verwendung als rasch verbrauchbare visuelle Sensationen, um es – erst dadurch – der Kritik wieder zugänglich zu machen. Die Dialektik des Musealen, die Stilllegung des Geschichtlichen, wird im „Ewigen Archiv” umgekehrt und als List gegen die massenmediale Geschichtsvergessenheit selbst gewendet; dabei bedient es sich jener Mittel, die in der Geschichte der Moderne als Mittler der Kritik und der Polemik vielfach erprobt wurden: da das Museum generell Objekte ihrem ursprünglichen funktionalen und symbolischen Gebrauch und Kontext entfremdet (und statt dessen ’Bildung’ anbietet), ist es wirksam, den musealen Kontext zu verfremden, zu stören und zu durchkreuzen oder einen neuen herzustellen, um stillgelegte Bedeutungen wieder in Fluß zu bringen. Das geschieht hier nicht bloß durch die Wahl der Präsentationsform (Archiv; Schatulle), sondern durch die vielfach wechselnden Bearbeitungsformen, denen die Fotos ausgesetzt werden: Montage, Collage, Zerschneidung und Verkehrung, Kommentierung, Einfärbung und Formatänderung, Überzeichnungen und Verdoppelungen nageln die Aufmerksamkeit des Betrachters mit den Mitteln der Ironie und des Schocks fest und attackieren dessen massenmedial dressierte Gleichgültigkeit gegenüber der Bilderflut: Gerade als öffentlich – durch ihre mediale Gleichförmigkeit, massenhafte und rasend wechselnde Reproduktionen – hatten die Bilder ihre Kraft eingebüßt; jetzt erhalten sie durch ihre ’Privatisierung’ (im Archiv, das nur einen oder wenige ’Betrachter/innen’ zulässt) etwas von ihrer verletzenden Kraft zurück. Mit Gewitztheit, mit Listen und auch mit legitimem Zorn – aber nicht denunziatorisch – operiert der Archivar; einen Gutteil ihrer Wirkung beziehen die Abbildungen aus der ihnen impliziten Ästhetik und Bedeutung, die mit ihren eigenen Mitteln freigesetzt und sichtbar gemacht wird. (Aus Anlass der Vernissage wurde gerade


gegen die Banalität des verarbeiteten Materials polemisiert.) Gerade weil nicht moralisiert wird, sondern die bornierte Versessenheit dieser Bildwelten auf Macht und Gewalt, Sexualität und Konsum, mit ihren eigenen Mitteln zurückgespiegelt wird, erhalten die Fotos ihre politische, ihre kommunikative und – partiell – ihre katarthische Kraft wieder. Auch die Entstellung von ’Portraits’ (Menschlich betrachtet; Opernball afrikanisch) zielt nicht auf die Integrität der Personen, sondern auf ihre mit Hilfe tausendfach reproduzierter Abziehbild-Stereotype betriebene Maskierung – also auch auf Anonymisierung von hinter Charaktermasken verborgener Macht. Die Simultaneität der Bilder als Massenmedien suggeriert eine verständnisvolle Verfügung über deren Bedeutung und eine Gleichzeitigkeit des Inkommensurablen, dem dennoch ein Anschein von Wahrheit verliehen wird, weil das fotografierte oder gefilmte Bild mit der ’abbildlichen’, ’mechanischen’ Authentizität unbedingter Zeugenschaft ausgestattet ist. Auch dem versucht sich das ”Ewige Archiv” zu entziehen, beziehungsweise versucht es die Entlarvung dieses Vorganges: das Dabei-Gewesen-Sein am Tatort kann nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass weder der Tatort wiedergegeben ist, noch dass die Fotografie nichts über die Realität der Tat auszusagen vermag. Die nüchterne Abbildlichkeit des Trivialen maskiert hier ebenso sehr die durch Bildunterschrift oder Text avisierte ’Botschaft’ wie die Bilder der Gaskammer im KZ Maidanek die Vorstellung von der Massenvernichtung. Erst die Konfrontation mit dem collagierten Text (der seine eigene fragwürdige Authentizität besitzt) des Auschwitzkommandanten Höß und die Einblendung des Bildes des Autobahntunnels (Kolonnen machen den Tauerntunnel zur sanften Gaskammer) hebt das Grauenhafte aus dem vergleichgültigenden ’Normalzustand’ seiner warenästhetischen Verbreitung – in der auch noch das Entsetzlichste verwertbar ist – heraus und lässt die Geschichtsvergessenheit der Medien und die barbarische Gedankenlosigkeit der Sprache sichtbar werden. Als fester Bestandteil von Musealisierung kann sich Ästhetisierung hinderlich vor historisch-politische Erfahrung schieben; hier, im „Ewigen Archiv”, ist sie Werkzeug der Kritik: die Sorgfalt der Arrangements, die Konfrontation von Bildern unterschiedlichster Bedeutungsniveaus, das hart Zusammenschneiden von divergierenden Texten und Bildern lassen kein interesseloses und beiläufiges Anschauen zu. Mit den Fotos, die Josef Mengele in Brasilien selbst aufnahm, wird die Banalität der Formgelegenheit des privaten Schnappschusses mit den bedeutungsvollen Konnotationen des Namens Mengele zur Kollision gebracht. Es wird mit der Zeugenschaft der Fotografie operiert (er hat diese Fotos gemacht!); die Irritation angesichts des Widerspruchs von trivialem Sujet und Autor, muss vom Betrachter auf die wie ein Tapetenmuster vervielfältigten und die ’Schnappschüsse’ wie ein Passepartout umrahmenden Fotos der KZ-Leichenberge übertragen werden: er hat auch das gemacht. Doch das Spiel mit den ungleichen Bedeutungsebenen dehnt sich auch auf das Dokumentarische der Fotografien selbst aus. Die Ambivalenz von authentischem Abbild und ästhetischer Verfremdung lässt die von aufblitzendem Erschrecken und ästhetischer Besänftigung offen. Nirgends verlässt sich das „Ewige Archiv” auf die Gleichsetzung des ’Ich-bin-dabei-gewesen’ mit dem ’So-war-es’. Dem Betrachter wird

nicht erlaubt, bloß den massenmedialen Blick zu beerben – gerade dort, wo die Gesetze der Wahllosigkeit und Gleichgültigkeit der Medien ’beerbt’ werden: Che Guevara und Rudi Gernreichs ’topless’-Mode werden umstandslos so ’gleichzeitig’ reproduziert, wie eben ’Nachrichten’, ’Informationen’ und deren visuelle Umsetzung mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und Unvereinbaren wie selbstverständlich operieren. Die Pathosformel des (wandelbaren) Flügelaltares (mit Predella), die Profanierung des toten Christus (Mittelbild) und Sakralisierung des weltlichen Helden der Revolution, der – lebendig und tot – als ’Heiliger’ erscheint, die Verdoppelung des ’Aufbahrungsbildes’ (das für sich wiederum, mit seinen merkwürdigen Gesten, der erschreckenden Lebendigkeit des Blickes des Toten und mit seinem triumphalen Dokumentaranspruch – er ist es, er ist tot – eine Philosophie der Fotografie in nuce bietet), lassen eine Fülle von Lesarten zu; Sensationsgier, Lüsternheit und Voyeurismus werden langsam von Melancholie und Trauer durchdrungen und verdrängt, vorschnelle Identifikation und Glorifizierung werden durch die Montage von Bild und Text und durch das Ausrufungszeichen der revolutionären Parole relativiert. Manchmal genügt die bloße, nur leicht verfremdete Reproduktion: das Blankoformular, das für Ihre Sicherheit sorgt, antizipiert unausgefüllt mit seiner Leere und seinen bürokratischen Formeln jenen Katastrophenfall, der hier zum Anlaß eines Verwaltungsfalles, zur statistisch minimierbaren Größe wird. Der Angriff der Gegenwart richtet sich auch auf die Zukunft. Ein anderes Mal genügt scheinbar die bloße Verdopplung: im simplen Gag des Bilderrätsels (Das rechte Bild unterscheidet sich vom linken durch 5 Fehler) sorgt die seitenverkehrte Reproduktion für eine – wiederum auf die Wahrnehmung des Betrachters und auf das ’Authentische’ der Fotografie gerichtete – Verunsicherung. Erst auf den zweiten Blick erschließt sich dann, dass es sich um kurz nacheinander aufgenommene, nicht idente Fotografien handelt. In einem dritten Beispiel (Efasit-Lenin) erledigt ironische Konfrontation sowohl die Pathosformel der monumentalen Denkmalplastik als auch die ihr dienende konservatorische Anstrengung. Massenmediale Wahrnehmung, die – wie empirische Untersuchungen zur Genüge zeigen – das Verhalten in Museen und Ausstellungen prägt, zeichnet sich durch zerstreute Wahrnehmung aus, in der jede Form des alltagrelevanten Lernens mehr oder minder gezielt vermieden wird, wo ’expressives’ Verhalten, das heißt, das ’DabeiGewesen-Sein’ zum Wichtigsten und die Beschäftigung mit den visuell-sinnlichen Sensationsofferten spektakulärer Objekte und Arrangements zum Wesentlichen wird; dem tragen nicht nur die Fernsehästhetik oder die Bildwelten der Printmedien Rechnung, dem folgen inzwischen auch die sogenannten ’inszenierten’ Ausstellungen. Hatte man noch vor wenigen Jahren zumal den kulturhistorischen Großausstellungen vorgeworfen, populistisch Ideologie über die historischen Bildwelten transportieren zu wollen (Personalisierung, Orientierung auf Herrschaftsgeschichte, Legitimationsbeschaffung ’nach rückwärts’), so dürfte das Signifikante dieser ’massenmedialen’ Ausstellungen die zunehmende Verweigerung von Bedeutungen sein; alles Inhaltliche verlagert sich auf den ’sex appeal’ des sinnlichen Reizes der ihrer inhaltlich-funktionalen Bestimmung entleerten bloßen ’Sachen’. Herrschaft erhält sich in diesem kulturpolitischen Prozeß nicht durch die Herrschaft über Bedeutungszu79


weisung, sondern durch die Macht, Bedeutungen zu zerstören. Kolonisierung des (Geschichts)Bewusstseins wird über Neutralisierung der Wahrnehmung betrieben – also gerade durch die massensuggestive Veröffentlichung von Bildern, sei dies in den elektronischen oder in den Printmedien, sei dies in jenen Ausstellungen, die, als ’inszenierte’, Geschichtswelten zum bloßen Arrangement attraktiver Zeichen schrumpfen lassen. Das ”Ewige Archiv” bedient sich der massenmedialen Bildsprache, ihrer Grammatik und der Gesetze ihrer Entwertung – ihrer Öffentlichkeit (die in Wirklichkeit nur formal aufrecht ist, sich in schierer Zugänglichkeit erschöpft) kann es jedoch nichts als seine Privatheit entgegensetzen. Um das Kaufhaus der massenmedialen Bildwelten kritisieren zu können, muss sich das „Ewige Archiv” auf die fragwürdige Subversivität privater Kontemplation zurückziehen. Soweit es einen Kunstanspruch erhebt, nimmt es in Kauf, im exklusiven Besitz und Genuß, in der Ästhetisierung seiner Erinnerungsarbeit seinen Anspruch preisgeben zu müssen; gerade dort, wo ein Kunstanspruch erhoben wird, demonstriert das „Ewige Archiv”, dass nicht alles ’verwertbaren Sinn’ machen muss, der sich auch im raschesten Augenblick der Konsumation wohlfeil erschließen muss. Mit Eigensinn sperren sich private Obsessionen vorschnellem Einverständnis (lesson I – das letze Tableau in der Kassette) und geben einen Fingerzeig, dass auch nicht-instrumentalisierbare Phantasie bei der Archivarbeit mobilisiert werden muss. Die ’erste Lektion’ schickt uns zurück an den Ausgangspunkt. Die Archivarbeit beginnt erneut: Augen auf! Ohren spitzen! .

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The Eternal Archives Gottfried Fliedl

Open your eyes! Prick up your ears! – This imperative, accompanied by two aggressive photographs, opens Peter Putz’s “Eternal Archives”. An archive, a collection, a “portable museum” that grapples with the mass-media world of images. Archives – like museums or libraries – are organs of collective memory. What they preserve constitutes the basis of society’s ability to remember. These institutions acquired their significance as a result of the development of bourgeois society: to the extent that bourgeois society’s evolution, its economic and social progress, destroyed tradition and led to the disintegration of the awareness of tradition, preserving and interpreting what had been handed down from the past seemed to be a way – in spite of the break in tradition – to make a “sense of history” (Joachim Ritter) possible. It was thought that within the discursive, bourgeois public sphere collective experience of the historical and the aesthetic would thus be able to grow on the “remains” of the historical process – experience that would contribute to society’s material and non-material progress. Unlike the state of affairs in traditional societies – where the preservation of things over long periods of time without change is rather the exception –, collecting, preserving and safeguarding what are somewhat ambiguously termed “cultural assets” (a term that always seems to carry with it, above all, the connotation of material value) had now become a necessity and an obligation. The secularized idea of the constant and irreversible progress of history resulted in all historical “remains” being uniformly raised from the status of detritus to that of document. This equalization made anything and everything appear worth preserving – and indeed, there seems to be no end in sight to the constantly accelerating and expanding process of museumization. The spectrum of historical realms and natural areas included in this process is continually being redefined and broadened. With increasing speed, the acceleration of economic, social and cultural change causes past eras to fall by the wayside, eras from which the strategies of museumization extract the things that can serve as sensory substrata supposedly testifying to the past. The counter-effort meant to compensate for this “attack of the present on the rest of time” (Alexander Kluge) is an attempt to resist the “death of things”, the loss of their significance, the destruction of their functions, their disappearance without a trace – at the cost, however, of halting once and for all the gradual process of their loss of function and making that loss of function – in the museum – an irreversible fact. This precarious “museum dialectic” admits things of the past only as such, and thus divorces them from living, aesthetic, historical and political experience. A form of antiquarian consciousness, it fetishizes and reifies what could potentially be the kind of experience that could allow the “incorporated traces of life” (Gottfried Korff) present in these objects to release themselves and become of use to society. Museumization lends timeless, non-material validity to what has been handed down from the past – dubbed “heritage” – and, caught up in the logic of permanent preservation, thus withdraws it from active use. Museumization requires that surviving “cultural assets” be preserved in an unaltered material state and thereby contributes to depriving them of their historicity. In reply to this

totemic practice of “hoarding”, which has more to do with amassing, preserving and safeguarding than with acquisition in collective learning processes that can be of benefit to society, Peter Putz’s archives offer their ironic, polemical adjective “eternal” as a sign of things to come. Indeed, what these archives are concerned with are not the artifacts of high culture that have been endowed with an aura, but rather the mass-media clutter of images – the flotsam of imagery worn with use. The both fragile and ennobling form of the wooden box (more commonly used for delicacies than for “archives”) places this found material in a perceptual context that fundamentally – and with irony – contradicts the purpose it was initially intended to serve: equally being an evocation of the earliest types of archive and museum (the hoard and the treasure box being forms of safeguard against undesired access to things of material and symbolic value), the “packaging” singles out this photographic material from the trivial context of newspapers, advertising and industrial photography. The care with which the material has been stored is permeated by the idea of antiquarian preservation and museum-like collection of evidence – and at the same time flies in the face of that idea. The photo image designed for brief moments of distracted consumption finds itself being given the role of permanent document. Unlike the museum and the archive, the “Eternal Archives” are not concerned with preserving the “historical” object, that is, the object that requires historical interpretation, but rather with criticizing the practice of preservation for preservation’s sake – and with restoring a “framework” within which the photo images require reinterpretation and become reinterpretable. These archives divest their material of its original function, namely, that of providing short-lived, visual sensations; and only by doing so do they make it once again available for critical consideration. The museum dialectic, the freezing of the historical, gets turned around in the “Eternal Archives” and itself becomes a ruse aimed at the mass media’s forgetfulness of history; in this process, the “Archives” utilize means of conveying criticism and polemic that have been tried and tested throughout modern history: as the museum generally alienates objects from their original functional and symbolic use and context (and offers “education” instead), alienating the museum context, upsetting it and obstructing it, or recontextualizing, can be an effective way to reactivate meanings that have been rendered inoperative. It is not merely the choice of presentation form (archive, box) that makes this possible, but also the variety of forms of photographic processing involved: montage, collage, cutting and distortion, annotation, toning and change of format, exaggeration and reduplication – all of this, aided by a sense for irony and the shock effect, catches the attention of the viewer and attacks the indifference with which he or she – trained by the mass media – looks upon the great flood of images. The photographs, precisely because of their public character – their media uniformity, their reproduction in mass quantities and in successive, rapid mutations – had lost their forcefulness; but here, thanks to their being “privatized” (in an archive that allows access to only one or a few viewers at a time), they recover some of their ability to sting. The keeper of the archives goes about his work with cunning, with ruse and with legitimate anger – but without a denunciatory purpose. The photographs owe a good deal of their impact to their 81


implicit aesthetics and meaning, which are allowed to release themselves and become manifest on their own. (On the occasion of the opening of the exhibition*, what came under attack was precisely the banality of the processed material.) It is precisely because no moralizing is done here, but instead, the myopic focus on power and violence, on sex and consumerism is allowed to turn itself around and focus on itself, that the photographs recover their political, communicative and, in part, cathartic force. Also, “portraits” are distorted (Menschlich betrachtet/From a human point of view; Opernball afrikanisch/Opera Ball African style) not with the intention of damaging the integrity of individuals, but rather, in order to draw attention to the ways in which individuals are masked with the help of decal stereotypes reproduced by the thousands – which also means the anonymization of the power hidden behind character masks. The simultaneous aspect of images used by the mass media implies both an insightful grasp of what the images signify and a simultaneousness of the incommensurable, to which, however, there would appear to be a semblance of truth, since the photographic or film image is vested with the “true-to-life”, “mechanical” authenticity of absolute testimony. The “Eternal Archives” attempt to get away from this as well, or they attempt to expose the fallacy involved in this process: the fact of having been present at the Tatort/Scene of the crime is no longer allowed to detract from the fact that the photograph neither reproduces the scene of the crime nor has anything to tell us about the reality of the act. Here, the prosaic aspect of reproduced triviality does as much to obscure the “message” conveyed by the photo legend or the text as the photographs of the Gaskammer im KZ Maidanek/Gas chamber in the Maidanek concentration camp do to obscure our conceptualization of mass extermination. Only the juxtaposition of a pieced-together text (the authenticity of which is itself questionable) by Auschwitz commandant Höss and the insertion of a photo of a road tunnel (Kolonnen machen den Tauerntunnel zur sanften Gaskammer/Backed-up traffic turns the Tauern Tunnel into a mild gas chamber) succeed in emphasizing the atrocity against the background of the benumbing “normality” that goes along with the dissemination of atrocity as aesthetic merchandise (in which process even the most horrendous is exploitable) and allow the media’s forgetfulness of history and the barbaric thoughtlessness of language to become visible. As an integral part of museumization, aestheticization can supersede, in an obstructive way, the opportunity to gain historical and political experience; here, in the “Eternal Archives”, aestheticization is a tool for criticism: the care taken in the visual arrangement, the juxtaposition of images of the most diverse levels of meaning, the rigor with which the cutter has brought together divergent texts and images – all of this makes it impossible for the viewer to view the work with casual indifference. In the case of Fotos die Josef Mengele in Brasilien selbst aufnahm/Photos that Josef Mengele took himself in Brazil, the banality of the modus of the private snapshot is made to collide with the heavy connotations associated with the name Mengele. The photograph as witness is what is being dealt with here (he took these photos!); it is the viewer’s job to transfer his or her irritation at the contrast between the trivial subject and the author of these photographs to the photographs of mounds of 82

dead bodies in a concentration camp – photographs reproduced in the fashion of a wallpaper motif and framing the snapshots like a passe-partout: he also did that. However, the play with different levels of meaning also encompasses the very documentary character of the photographs. The ambivalence between authentic reproduction and aesthetic alienation leaves open the ambivalence between sudden horror and aesthetic appeasement. Nowhere do the “Eternal Archives” allow themselves to equate “I was there” with “That’s how it was.” The viewer is not allowed merely to inherit the mass media’s way of looking at things – precisely in situations where the media’s laws of indiscrimination and indifference are “inherited”. As if no explanation were necessary, Che Guevara is reproduced “simultaneously” with Rudi Gernreich’s “topless” fashion, in the same way that “news accounts”, “information reports” and their visual presentation forms deal with the non-simultaneous and the inconsistent, that is, as if simultaneity were self-evident. The pathos formula of the (convertible) winged altar (with predella), the profanation of the dead Christ (center photo) and the sacralization of the secular hero of the revolution, who – both dead and alive – appears as a “saint”, the repetition of the photograph of the “laying out” of the body (a photograph which, due to the strange gestures, the frighteningly live look in the dead man’s eyes, and the photograph’s triumphant, documentary claim (it’s him, he’s dead) in itself offers a philosophy of photography in nuce) render many interpretations possible; sensationalism, lasciviousness and voyeurism slowly become permeated with melancholy and sadness and are suppressed; hasty identification and glorification are kept in check by the montage of photo and text and by the exclamatory punctuation in the revolutionary battle cry. Sometimes mere reproduction – with slight defamiliarization – suffices: the printed form designed Für Ihre Sicherheit/For your security, left blank, anticipates, with its emptiness and its bureaucratic formulas, that disaster situation that will here become an administrative case, a set of dimensions reducible to mere statistics. The attack of the present is also directed at the future. In one instance, mere repetition seems to suffice: in the simple gag of the picture riddle (Das rechte Bild unterscheidet sich vom linken durch 5 Fehler/ Spot the 5 differences between the picture on the right and the picture on the left), the left-to-right inversion of the reproduction causes some bewilderment, which puts both the viewer’s perception and the “authenticity” of the photograph in question. Only at second glance does it become clear that these are two photographs taken one shortly after the other and that they are not identical. In a third example (Efasit – Lenin), ironic juxtaposition does the job of disposing both of the pathos formula of monumental aesthetics and of conservation efforts intended to serve it. Mass-media perception, which – as empirical studies have amply shown – strongly influences the ways in which we behave in museums and at exhibitions, is characterized by distracted perception, where every form of learning relevant to our daily lives is more or less deliberately avoided, where “expressive” behavior, that is, the “having-been-there” factor becomes the most important thing, and where top priority is given to being able to experience the visual, sensual thrills that spectacular objects and arrangements of objects


offer. All of this gets taken into account, as is manifest not only in the television aesthetics or the print-media imagery, but also in the so-called “staged” exhibitions that have in the meantime followed suit. If it is true that as recently as a few years ago major exhibitions devoted to cultural history in particular were criticized for seeking, in populist fashion, to use historical imagery as a means of conveying ideology (personification, focus on the history of rule and rulers, “retroactive” legitimation), what appears significant about the major “mass-media” exhibitions is the increasing denial of meaning; all content-focus is shifted to the “sex-appeal” stimulus provided by mere “things” deprived of their substance and function. In this process, which is an articulation of cultural policy, sway is held not by virtue of any power to attribute meanings, but rather, by virtue of the power to destroy meanings. Colonization of (historical) consciousness is achieved by neutralizing perception, that is, precisely by mass suggestion through the dissemination of images, whether in the electronic or print media, or in exhibitions which, when “staged”, reduce historical worlds to mere arrangements of attractive signs. The “Eternal Archives” make use of the mass media’s visual language, its grammar, and the rules that govern its depreciation; in reply to its public character, however (which, in reality, is such only in form – it amounts to nothing more than accessibility), they have only their privacy to offer. In order to criticize the great emporium of mass-media imagery, the “Eternal Archives” have to withdraw into the questionable subversiveness of private contemplation. To the extent that they make an artistic claim, they accept the necessity of relinquishing that claim in the exercise of their exclusive right of possession and enjoyment and in the aestheticization of the memory work they accomplish. Precisely where an artistic claim is made, the “Eternal Archives” demonstrate that not everything has to make the kind of “exploitable sense” that the consumer must be able to grasp without effort in even the briefest moment of consumption. With obstinacy, private obsessions defy hasty comprehension (lesson 1, the last tableau in the box) and indicate that in archive work fantasy that is not exploitable also has to be mobilized. The “first lesson” takes us back to the starting point. The archive work begins again from scratch: Open your eyes! Prick up your ears!

* This passage refers to an exhibition held in Vienna in 1988 at the Museum Moderner Kunst / Palais Liechtenstein. [Editor’s Note]

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arnulf rohsmann

vorgefundenes material bildet vorwiegend die bestände des EWIGEN ARCHIVES; aus den kunstlosen bereichen der reportagen, werbebroschüren, kataloge, lehrbücher und dokumentatioen – in jedem fall aus der zweiten hand der printmedien. das heißt: die vorauswahl ist schon getroffen, von instanzen, die wirklichkeit vermitteln und durch ihre spezifischen methoden verformen oder neu konstituieren – als medienwirklichkeit. die weist zwar stellenweise affinitäten auf zu dem feld an dingen und sachverhalten, auf das sie sich bezieht – zur primären realität. aber die möglichkeit der verselbständigung des meta-systems, der geringen bis verlorenen kongruenz mit der zu vermittelnden realität wird weidlich genützt, ist fast der regelfall. die frage nach der wahrhaftigkeit wird nicht gestellt, denn der schein der authentizität wird gleich mitvermittelt. Wenn peter putz sich aus diesem fundus bedient, selektiert er ein zweites mal, durchkämmmt die faszikeln nach dokumenten von selbstdarstellung, surrogatkultur und geschäft, von erotik, gewalt und vergänglichkeit. die archivalien sind belegstücke der kultur des westlichen industrialismus. formal garantieren auf seiner gegenwärtigen historischen stufe aufgeklärte verfassungen und ein alle bereiche durchziehendes netz von gesetzen günstige lebensbedingungen. vielfach ist die vitale praxis deutlicher von kryptostrukturen bestimmt, welche sich gegenüber der legalität irrelevant verhalten und durch zahlreiche anonyme instanzen zwischen intention und exekution frei von verantwortung scheinen. diese kryptostrukturen äußern sich u.a. in den von putz gesammelten belegen, kommen an die oberfläche, auf die ebene der ereignisse, scheinen prima vista ohne zusammenhang. der wird durch den künstler als analoges system zu den kryptostrukturen hergestellt, wobei grafische verbindungen auch inhaltliche offerieren. letzlich bleiben die strukturen unausgesprochen, diffus, sind angebote an den rezipienten. explizit sind im EWIGEN ARCHIV nur ihre manifestationen in den banalen oder drastischen ereignissen.

die archivierten erscheinungsformen von gewalt, konsum, erotik... basieren häufig auf selbstdarstellung der protagonisten und jedenfalls der des mediums. vormalige signale der selbstgefälligkeit werden zu indizien. absichtslos liefern sie das anschauungsmaterial zu ihrer demaskierung und führen vor, dass die wirklichkeit an skurillität durch keine form der hoch- oder trivialkünste zu übertreffen ist. die belege weisen über das einzelereignis hinaus, sind repräsentativ für die gesellschaftliche lage in einer phase, die durch die trennung von produktions- und rekreationssphäre gekennzeichnet ist sowie durch die ambivalenz von fremdbestimmung und kompensationsversuchen. der künstler sammelt, selektiert und arrangiert die dokumente für DAS EWIGE ARCHIV. die auswahl definiert dabei gleichermaßen seinen standort wie das problem. er macht sich ein paradoxon zunutze, das trotz rigoroser selektion ein verbindliches bild der lage zustande bringt – durch einen verweis auf die latenten strukturen, die sie bestimmen und deren mehrdeutige und polykausale knotenpunkte die präsentierten ereignisse sind. aus ihnen formt der künstler ding- und sachverhaltskomplexe, in denen die disparaten elemente durch thematische affinitäten, durch formale ähnlichkeiten, als polare kategorien oder durch analoge bewertung nach überraschenden einsichten verbunden sind. stets legen sie korrelierende fragestellungen nahe. nicht die konstellation der kausalketten, wie sie der historiker oder der soziologe herauspräparieren würde, sondern die vernetzung der fragen des rezipienten ergibt das bild der kryptostruktur. DAS EWIGE ARCHIV agiert ohne schuldzuweisungen. es liefert die grundlage für die fragen an die visuell vermittelten anteile des sozialen ambientes. ihre persuasiven strategien, der zynismus ihrer medien und der interessen, die hinter ihnen stehen, fordern ironische distanz heraus, bevor sie sich selbst entlarven. die dokumente werden zur visuellen polemik.

Dr. Arnulf Rohsmann, Kunsthistoriker. Direktor der Landesgalerie Klagenfurt 84


arnulf rohsmann

found material constitutes the bulk of what is collected in the ETERNAL ARCHIVES: from the artless realms of reporting, advertising brochures, catalogs, textbooks and documentation – material taken, in any case, secondhand from the print media. this means there has already been pre-selection, done through official channels that convey reality employing their own specific methods to distort or reconstitute it – as media reality. true, this media reality has affinities – here and there – with the fabric of things and circumstances to which it relates, to primary reality. but as a rule, full advantage is taken of the opportunity to give the meta-system a life of its own, to give the scant or totally lost congruity with the reality that is supposed to be conveyed an existence of its own. the question concerning veracity is not posed, for the pretence of authenticity is automatically conveyed along with the rest. when peter putz draws upon this stock of material, he makes a second selection, he combs through the bundles looking for documents that have to do with self-portrayal, with surrogate culture and with business, with violence, the erotic and the transitory. the documents archived are evidence of the culture of western industrialism. at the present stage of its historical development, favorable living conditions are guaranteed, formally speaking, by enlightened constitutions and a network of laws that extends across all areas of human activity. in actual practice, things are often determined more clearly by crypto-structures, which behave irrespectively of legalities and seem to be free from responsibility due to the many anonymous intermediaries along the way between intention and execution. these crypto-structures become manifest in the documents collected by peter putz – if not only there; they surface, they reveal themselves along with the events documented; they seem at first glance to be without context. the latter is provided by the artist as a system analogous to the crypto-structures themselves, whereby graphic relationships also suggest relationships with respect to content. in the end, the structures remain implicit, vague; they are proposals put forth for consideration by the recipient. in the ETERNAL ARCHIVES only their manifestations in the commonplace or extreme events documented are explicit.

the archived images of violence, consumerism, the erotic… often have an ego cult of the protagonists at their origin, and in any case a self-cult of the medium. what were signals of self-complacency become indicators. unwittingly, these lead to an unmasking of the visual material and demonstrate that when it comes to the ludicrous no high or trivial form of art can outdo reality. the documents transcend the individual event, they are representative of society in a phase characterized by the separation of the spheres of production and recreation and by the ambivalence between the lack of selfdetermination and attempts to compensate for this lack. the artist collects, selects and arranges the documents for the ETERNAL ARCHIVES. as he does so, the place where he lives and works is as much defined by the selection as is the problem itself. he turns a paradox to advantage: in spite of rigorous selection, an engaging picture of the general state of affairs emerges – thanks to indications of the latent structures that determine it, the represented events being their structural nodes, which can be interpreted in many ways and attributed to many causes. from the events represented, the artist forms composites of things and circumstances in which the disparate elements are connected by thematic affinities or similarities of form taken as polar categories, or by analogies discovered as a result of surprising insights. these insights constantly suggest questions that are correlated. it is not the constellation of causal chains, such as those that dissections done by a historian or a sociologist might reveal, but rather the interconnection of the questions posed by the recipient that generates a picture of the crypto-structure. THE ETERNAL ARCHIVES have no denunciatory intention. they provide a basis for questions concerning those aspects of our social environment that are conveyed visually. the underlying strategies of persuasion, the cynicism of the media of conveyance and of the vested interests that operate in the background require ironic distance in order to be revealed. the documents become visual polemics.

Dr. Arnulf Rohsmann, arthistorian. Director Landesgalerie Klagenfurt 85


Peter Putz

DAS EWIGE ARCHIV The Eternal Archives · 1980 – ∞

Peter Putz, * 1954 in Ebensee/OÖ. Universität für angewandte Kunst Wien. Studien- und Arbeitsaufenthalte in Poznan/­PL (1977/78); Montréal/CAN, Concordia University, artist in residence (1988/89); Paris/F, Cité international des arts (1990); New York/USA (1995). 1978 Gründung der Bild-Manufaktur-Traunsee gemeinsam mit Hans Kienesberger und Walter Pilar und Herausgabe der Bild-Text-Edition Der Traunseher (1978 – 1981). 1978 erste Animationsfilme; Lektor für Film und Neue Medien an mehreren Universitäten. Seit 1980 Arbeit am Projekt Das Ewige Archiv, 1988 Ausstellung im Museum moderner Kunst Wien, 1994 Veröffentlichung des Buches Das Ewige Archiv · Virtual Triviality. 2012 Das Ewige Archiv · Heavy Duty XS, Buchpräsentation und Ausstellung im Wien Museum. 2014 Das Ewige Archiv · New Stuff, Buchpräsentation und Ausstellung in der Kunsthalle Wien. 2015 Les Archives éternelles, Paris, Maison Heinrich Heine Das Ewige Archiv, Robert-Musil-Literaturhaus, Klagenfurt The Eternal Archives & Mont Real Remix, Topological Media Lab, Concordia University, Montreal, CA Zahlreiche Ausstellungen und Auszeichnungen, Vorträge und Publikationen.

Peter Putz, born in Ebensee/Austria in 1954. University of Applied Arts Vienna (M.A.). Study and work abroad: Poznan, Poland (1977/78); Montréal, Canada, Concordia University, artist in residence (1988/89); Paris, France, Cité international des arts (1990); New York, U.S.A. (1995). 1979 founded the Bild-Manufaktur-Traunsee (ImageManufacture-Traunsee) with Hans Kienesberger and Walter Pilar and published the picture-text-edition of Der Traunseher (1978 – 1981). First animated film 1978; has lectured on film and new media at numerous universities. Since 1980 has been working on the project The Eternal Archives. 1988 exhibition in the Museum of Modern Art Vienna 1995 publication of the book The Eternal Archives · Virtual Triviality 2012 The Eternal Archives · Heavy Duty XS, bookpresentation and exhibition in the Wien Museum. 2014 The Eternal Archives · New Stuff, bookpresentation and exhibition in the Kunsthalle Wien, Museumsquartier 2015 Les Archives éternelles, Paris, Maison Heinrich Heine Das Ewige Archiv, Robert-Musil-Literaturhaus, Klagenfurt The Eternal Archives & Mont Real Remix, Topological Media Lab, Concordia University, Montreal, CA Numerous exhibitions and awards, lectures and publications.

Herausgeber · Publisher: Peter Putz Das Ewige Archiv · The Eternal Archives www.ewigesarchiv.at · putz@ewigesarchiv.at Gestaltung · Graphic design: Studio Putz+ Medien · Grafik · Kunst Digitale Bildbearbeitung · Digital image processing: Peter Putz Übersetzung · Translation: Shawn Bryan, Tim Sharp Rechtsberatung · Legal advice: RA Univ.-Doz. Dr. Alfred J. Noll · www.nollkeider.at Alle Fotos, außer anders ausgewiesen · Unless otherwise acknowledged, all photos: © Peter Putz Essays: © Autorinnen und Autoren · The authors © Peter Putz · Wien 2016


Wir Fotografen sind wie Diebe, die sich anschleichen, aber wir stehlen, um den Menschen unsere Beute wieder zurĂźckzugeben. Henri Cartier-Bresson

We photographers are thieves who creep up on you, but we steal in order to give our loot back to people. Henri Cartier-Bresson


Humor und Schärfe für Peter Putz

Humor and Sharpness for Peter Putz

Du sagst nicht Auf mich wartet niemand

You don‘t say No one‘s waiting for me

Du sagst nicht Lass mich schlafen

You don‘t say Let me sleep

Ingram Hartinger

Ingram Hartinger

time is on my side 88




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