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Die Zukunft ist gegenwärtig Olaf Grawert und Ludwig Engel
DIE ZUKUNFT IST GEGEN WÄRTIG
Wie zeigt sich die Zukunft? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Deutsche Beitrag auf der 17.Internationalen Architekturbiennale in Venedig und kooperiert dabei auch mit dem Archiv der Zukunft Lichtenfels. 37
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Hinter dem Projekt 2038 – Die Neue Gelassenheit steckt ein internationales Team aus den Bereichen Architektur, Kunst, Ökologie, Ökonomie, Wissenschaft und Politik, das 2019 ins Leben gerufen wurde. Gemeinsam erzählen die Expert*innen die Geschichte einer nahen Zukunft: „Heute, im Jahr 2038, liegen die großen Krisen hinter uns. Es war knapp, aber es ist noch einmal gut gegangen. Die globalen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Krisen der 2020er Jahre haben Menschen, Staaten, Institutionen und Unternehmen zusammengebracht. Gemeinsam verpflichteten sie sich zu globalen Grundrechten und schufen anpassungsfähige Systeme und rechtliche Rahmenbedingungen, die lokalen Strukturen den Raum geben, ihre unterschiedlichen Lebensmodelle zu realisieren. Technologie und Big Data halfen uns, neue und alte Ideen in die Realität umzusetzen. Und oft waren Architekt*innen Teil dieser Transformation, weil sie Antworten hatten, anstatt mehr Fragen zu stellen. Drama ist heute Vergangenheit. Wir leben in einer radikalen Demokratie, in einer radikalen Bürokratie. Auf einem Planeten, der weder Bösewichte noch Helden kennt oder braucht.“
Statt aber aus der Gegenwart in die Zukunft zu blicken, richtet das Team 2038 den Blick zurück und versammelt Ideen und Modelle aus der Zukunft in einem Archiv für die Gegenwart. Dabei verschwimmt die Grenze zwischen Fakt und Fiktion zugunsten einer positiven Erzählung. Die Gegenwart wird so aus der Zukunft optimistisch nachgerüstet. Was hat es mit dieser Strategie auf sich?
Die Zukunft ist keine Zeit. Das ist wichtig zu verstehen. Anders als die Gegenwart und die Vergangenheit lässt sich die Zukunft nicht fassen. Vielmehr ist die Zukunft ein Werkzeug, um Zeit zu operationalisieren. Denn jede Innovation, jede Idee, jedes Bild von heute ist morgen schon Vergangenheit und Teil der Geschichte.
Als Werkzeug ist Zukunft die diskursiv offenste und demokratischste Erzählerin, um uns aktiv mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Sie ist als narratives Instrument in unserer Gegenwart verankert. Sie verbindet unsere individuellen und kollektiven Erfahrungen der Vergangenheit mit unseren persönlichen und gesellschaftlichen Erwartungen an die kommende Zeit. Eine Geschichte über die Zukunft ist also immer auch eine Geschichte für die Zukunft. Denn sie fügt dem, was heute denkbar ist, eine weitere Perspektive hinzu und verändert damit die Möglichkeiten dessen, was die Zukunft sein kann. 2038 kann als ein Geschenk an die Gegenwart verstanden werden. Entgegen vorherrschender Schreckensvisionen in fast allen Bereichen – von Gesellschaft bis Natur, von Kultur bis Technologie – erzählt unsere Vision von 2038 eine andere und bewusst widersprüchliche Geschichte: von einer durchaus besseren Zukunft, die heute schon beginnt. „Nicht alles ist perfekt. Es gibt noch immer ein paar Idioten, die herumlaufen und schlimme Dinge tun. Aber eben nur ein paar. Und die können wir uns leisten. Ja, wir sind noch lange nicht im Paradies angelangt, aber wir leben in einer besseren Welt als noch vor 15 oder 20 Jahren. Wie? Mit Hilfe neuer und alter Ideen.“
2038 verfolgt einen hoffnungsvollen Ansatz und versucht, von einem positiven Zukunftsszenario ausgehend, die Gegenwart neu zu denken und damit vielversprechende Handlungsstränge zu initiieren. Die Gegenwart wird als ein Laboratorium verstanden, das bereits über alle notwendigen Werkzeuge und Ideen zur Überwindung der vermeintlich bevorstehenden Dystopie verfügt. Weit entfernt von utopischem Positivismus sucht 2038 nicht nach einer Lösung oder Formel, die alle Erkenntnisse in ein kohärentes System presst. Vielmehr stellt sich 2038 der Aufgabe, mit all den Bruchstücken und Widersprüchen umzugehen, die eine systemische Transformation auslösen könnten. Als Archiv zeigt es Geschichte, wie sie
Olaf Grawert ist Architekt und interessiert sich für die politischen und ökonomischen Bedingungen der Raumproduktion. Er arbeitet in einem engen Netzwerk von Menschen und Institutionen an Architekturprojekten zwischen Theorie und Praxis. Seit 2019 ist er Initiator und Kurator von 2038, der Beteiligung des Deutschen Pavillons auf der 17. Architekturbiennale in Venedig.
Ludwig Engel studierte Wirtschaftswissenschaften, Kommunikationswissenschaft und Kulturgeschichte. Er arbeitet als Zukunfts- und Stadtforscher, indem er urbane Zukünfte, kollektive Vorstellungen von der besseren Stadt von Morgen und die Bedeutung von Künstlicher Intelligenz und Digitalisierung für Individuum und Gesellschaft untersucht. Regelmäßig entwickelt er mit Partnern aus Kultur, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft für vornehmlich urbane Kontexte interdisziplinäre und strategische Forschungs- und Beratungsprojekte und ist Teil des Teams 2038. „Nicht alles ist perfekt. Es gibt noch immer ein paar Idioten, die herumlaufen und schlimme Dinge tun. Aber eben nur ein paar. Und die können wir uns leisten. Ja, wir sind noch lange nicht im Paradies angelangt, aber wir leben in einer besseren Welt als noch vor 15 oder 20 Jahren. Wie? Mit Hilfe neuer und alter Ideen.“
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sich eben zuträgt: zufällig, komplex und paradox. Denn sind wir mal ehrlich: Die Vergangenheit war chaotisch, die Gegenwart ist chaotisch und auch die Zukunft wird chaotisch sein. 2038 hat also ganz unterschiedliche Expert*innen gebeten, ihre Geschichten dieser besseren Zukunft zu erzählen. Die einzige Regel dabei war, ernsthaft zu sein: engagiert und transparent in der Argumentation und bescheiden in der Herangehensweise. Immer auf der gemeinsamen Basis: „Ich lasse Dich an meiner Zukunft teilhaben, wenn ich an Deiner teilhaben kann.“
Beispielsweise erzählen die Ökonomin Sabine Oberhuber und der Architekt Thomas Rau in 2038 von ihrem Modell einer zirkulären Bauwirtschaft, das Ökonomie und Ökologie zusammenbringt: Sie untermauern dadurch die Aussage von Kenneth Boulding, dass „jeder, der glaubt, dass exponentielles Wachstum in einer endlichen Welt ewig andauern kann, entweder verrückt oder ein Ökonom ist“, mit einem konkreten Handlungsmodell. Und wie Technologie uns bis 2038 dabei geholfen hat, Konsens in die Bevölkerung zu tragen, erklärt uns Audrey Tang, Taiwans Ministerin für Digitales: „Vor dem Digitalen Zeitalter war es in einem Raum mit zwanzig Personen einfach, sich über die gemeinsamen Werte zu verständigen. Es gelang aber nicht, dieses Gefühl der Verständigung an ihre Freunde, ihre Gemeinschaften weiterzugeben. Das Digitale hat uns geholfen, ein gemeinsames Verständnis zu bilden.“
Dabei ist entscheidend: Wer über die Zukunft spricht, darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Skin in the game, sagt man auf Englisch: Die eigene Haut riskieren! Denn was man in aller Ernsthaftigkeit beschreibt und artikuliert, darf keine Flucht aus der Gegenwart sein, sondern muss eine Schärfung der Diskussion sein, eine Frage, die man stellen oder auch eine Antwort, die man spekulativ vorwegnehmen will.
Taktische Manöver für eine bestimmte Zukunft müssen dabei unbedingt vermieden werden. Eine Zukunftsvision ist immer eine Anregung zur Selbstreflexion und zum Handeln. Wenn sie aber dazu dient, andere Zukünfte – ob positiv oder nicht – zu unterdrücken, wird sie totalitär. In diesem Sinne ist 2038 auch eine Sammlung handlungsleitender Ideen, die nicht eins zu eins in die Gegenwart übersetzt werden können. Es ist wichtig, zwischen Idee und Ausführung zu unterscheiden. Auch hierzu gibt es ein Sprichwort: „Sei vorsichtig mit Deinen Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen.“ Das musste auch das Team 2038 lernen, als unsere Erzählung der globalen Krisen von der Realität eingeholt wurde. Oder hat die Spekulation die Realität überholt? „Als 2020 die Pandemie ausbrach, fühlten wir alle gleich. Ja, wir fühlten. Anders als die bisherigen globalen Krisen wie Klimakatastrophen, wirtschaftliche Ungleichheit oder Migration, mit denen sich nur ein Teil der Menschen konfrontiert sah, durchlebten wir die Pandemie gleichzeitig. Trauer, Angst, Mitleid, Schmerz, Einsamkeit. Emotionen und Schicksal schienen geteilt.“
Angesichts dieser veränderten Gegenwart ist es schwierig, wie bisher zu funktionieren. Die Zeit hat sich beschleunigt – wieder einmal. Die Historie, die 2038 erschaffen hatte, hat sich überholt. Noch bevor sie mit der Zeit konfrontiert werden konnte, die ihr zugrunde lag. Die Krise der Jahre 2020/21 ist auch eine Krise des visionären Denkens. Die Planung für verschiedene Zukünfte ist obsolet geworden, weil wir bereits in Szenarien leben. Sogar die Planung der Gegenwart ist unmöglich geworden. Diese Ungewissheit – selbst gegenüber der nahen Zukunft – macht jüngste Spekulationen irrelevant und erweckt vergangene Zukünfte wieder zum Leben.
Denn wenn wir Zukunft als Werkzeug für die Gegenwart verstehen, dürfen wir eines nicht vergessen: Die Gegenwart schließt immer auch vergangene Zukünfte ein. Alles was jemals erdacht wurde, um eines Tages Gegenwart zu werden, sich aber (noch) nicht realisiert hat, existiert weiter in einer Art von kollektivem Gedächtnis möglicher Zukünfte. Was wäre, wenn?
Diese unbeschrittenen Wege warten darauf, uns als scheinbare Abkürzungen einzuholen. Wäre es nicht schön, die Antworten für heute in den Visionen von gestern zu finden? Zurückzublicken und das wiederzubeleben, was nicht geschehen ist, mag als der einfache Ausweg erscheinen. Nur ist es kein Ausweg. Deshalb bedarf jede Untersuchung der Gegenwart einer Auseinandersetzung mit den unbeschrittenen Wegen der Vergangenheit, um sie zurückzulassen und den Raum für Spekulation zu öffnen. Das Zukunftsweisendste, das wir jetzt tun können ist, den Moment zu feiern – im Jetzt zu sein.
Die Rahmenbedingungen haben sich extrem verändert. Der öffentliche Diskurs und die öffentliche Aufmerksamkeit haben sich verlagert. Die Probleme sind aber die gleichen. Antworten darauf, wie wir zusammenleben wollen, sind nur noch rarer und dringlicher geworden, als sie es ohnehin schon waren.
Kooperation mit dem Archiv der Zukunft
Aus diesem Interesse planen 2038 und das Archiv der Zukunft eine gemeinsame Veranstaltung, in der Formate der Verhandlung von Zukunft erprobt und räumlich umgesetzt werden.
Denn Zukunft lässt sich nicht ausstellen, sie lässt sich aber sehr wohl verhandeln. Nur so können wir Antworten auf die brennenden Fragen unserer Zeit finden, statt existierende Systeme weiterhin zu verwalten und aufrechtzuerhalten. Es geht also nicht darum, gegenwärtige Vorstellungen von Zukunft zu zeigen, sondern die Gegenwart aus der Zukunft nachzurüsten. Oder war es vorrüsten?
Als Basis für die Veranstaltung dienen uns die Stimmen, die das Archiv der Zukunft Lichtenfels im Laufe der letzten Jahre gesammelt hat. Stimmen aus Lichtenfels und Stimmen über Lichtenfels. Zusammen ergeben sie ein Spektrum von Ideen und Visionen für diesen Ort, aus einer Zeit noch vor der letzten Krise. Liest man die Stimmen heute, wird eines klar: Die Pandemie hat die Behauptung von Alternativlosigkeit in Frage gestellt. Auch das ist Geschichte: vom und für das Archiv der Zukunft Lichtenfels.