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1. Auflage Oktober 2016 © 2016 art&words – verlag für kunst und literatur Zerzabelshofstraße 41, D-90480 Nürnberg Homepage: http://art-and-words.de Twitter: http://twitter.com/#!/art_and_words Facebook: http://www.facebook.com/artandwords Gesamtgestaltung: art&words Umschlaggestaltung: Peter R. Hellinger Druck: PRINT GROUP Sp. z o.o. ul. Księcia Witolda 7 71-063 Szczecin (Polen)
ISBN 978-3-943140-58-3 Auch als E-Book erhältlich.
Vorwort Liebe Leserin, lieber Leser, hallo Krimifans! Mehr als 30 Autorinnen und Autoren erzählen mörderische Geschichten, die alle hier in Franken spielen. Folgen Sie ihnen auf verschlungenen Pfaden und lassen Sie sich gefangen nehmen. Ob folgende Fragen beantwortet werden? Gibt es ein Urbedürfnis auf Gruseliges und Skurriles, das den Alltagstrott würzt? Beginnt die Lust auf das Eintauchen in Anderswelten schon in der Kindheit? Beschäftigt man sich mit Grenzgängen und den letzten Dingen erst im Alter? Und wie kommt die Leiche in den Apfelbaum? Lesen Sie selbst! Schreibwerkstatt Wendelstein im Herbst 2016 Gudrun Vollmuth
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Krimis schreiben, lesen, anschauen
Ludwig Weber
Mein Krimi-Basis-Alphabet Halt, Kriminalschreiberei! Ich verhafte Sie wegen organisierten Besuchs einer Autorenlesung, wegen ungezügelten Beifalls für kriminelle Texte und einfach so, weil Sie da sind. Statt Verhör gibt’s ein Krimi-Alphabet, umfangreich und genau in der Folge der 26 Standard-Buchstaben. Wer das ABC beherrscht, ist also klar im Vorteil. Sagen Sie nichts, es könnte gegen Sie verwendet werden. Hören Sie zu, denn Anwalt ist nicht. Alibi, Beweis, Cybercrime, Durchsuchung, Ermittlung, Fadenschein … Ja, ja, so käme es Ihnen recht. Da wäre die Sache schnell vorbei und wieder Ruhe in der Stube. Aber ich habe leider Folgendes ermittelt: Adler-Olsen gilt bei Dänen als das Krimi-A und -O. Und er schrieb „Das Alphabethaus“ vor 2000 oder so. Bumm, das reißt Sie aus dem Leben, böse Buben auf Babier (Papier). Bella Block, die Kommissarin, zieht am Bildschirm durchs Revier.
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Conan Doyle erfand nicht Cannon doch Professor Challenger. Neben „C“ gäb’ sich sein Name auch für „A“, „I“, „D“ noch her. Der volle Name Conan Doyles lautet nämlich: Arthur Ignatius Conan Doyle. Der Privatdetektiv aus der Serie Cannon heißt Frank und wird gespielt von William Conrad. Da rappelt’s beim „C“. Chacka! „D“ besetzt mit Dunkelziffer, eine eher düstre Wahl. Jan Arnald ist hier der Autor, alias auch Arne Dahl. (Schwede) Ehrlich, sagt man, währt am längsten; Ehrlicher räumt Leipzig auf. 45 mal im Ersten, ehrlich wahr, ein guter Lauf. Fest im Fadenkreuz der Fahnder: Feige Mörder, fiese Frau’n. Schon „Drei Fragezeichen ???“ lehrten: Fiesem Pack ist nicht zu trau’n. Gänsehaut im Nachkriegs-Kino; Graham Green: „Der Dritte Mann“. Gräber, Gullys, Wien von unten; – Geh schaust! – Gleich fängt die Zither an.
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Hände hoch! Halt, stehenbleiben! Hehler hinters Häfn-Tor. (Häfn wird der Knast in Österreich genannt) Hinterrücks durchs Herz ins Auge; Harry, fahr, den Wagen vor. Interpol ist eingeschaltet, irgendein Inspektor flucht. Nach Indizien und Beweisen wird im Internet gesucht. Jeder Ort hat seinen Krimi, Wendelstein jetzt dieses Werk: „Ein japanischer Komplize“ – Joggermord am Glasersberg –. Killer, Kult und Kommissare; Kottan der Major von Wien. Kluftinger, mir sträubt’s die Haare, wie einst vielen bei Kressin. Leiche liegt im Landhauskeller neben einem Leinensack. Und Inspektor Lynley wettert: „Liederliches Lumpenpack“. In Wirklichkeit wettert der blaublütige Thomas Lynly natürlich auf Englisch und ohne sich um mein Alphabet zu kümmern.
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„M“ wie Monk und auch wie Magnum, „M“ wie einst Miss Marple schon. „M“ wie Mankell oder Marklund, (2 x Schweden) „M“ wie Mord und Munition. Nur im Norden ist gut Morden, Nesser Hakan (Schwede) bürgt dafür. Und ein Niederbayern-Krimi, ja, der heißt: „Sau Nummer vier“. „O“ wie die Osiris-Morde, Morten Olsen, Oslo-Stadt. (Norwegen) Orientexpress, der Mord dort fand mit Greta Ohlsson statt. (Schwedische Missionarin) Pfeilgift, Eispfahl, Goldpistolen, gibt es das perfekte P? – Ach, Gschmarri! – gibt es den perfekten Mord? Polizisten und Profiler räumen plumpe Zweifel fort. Quincy, was, Ihr kennt nicht Quincy? Ich beiß’ gleich vom Q-Tipp ab. Quincy obduziert die Leichen quer und längs, dann ab ins Grab. „R“ wie Räuber oder Raubmord, „R“ wie Russenmafia. 12
Wie Revolver oder Reißwolf, „R“ wie Rauschgift-Razzia. Sherlock Holmes meets Horst Schimanski, Scotland Yard sucht SEK. Seidenschal mit Schmuddeljacke? Schmauchspur auch nach Streifschuss? Ja. Tatort: Trimmel bis Thiel/Börne; nach der Tagesschau geht’s rund; Totschlag oder Triebverbrechen, manche treiben’s richtig bunt. Batic, Casstorf, Dorn und Eisner, Faber, Gerber, Haverkamp. Frieda Jung, Kressin und Lindholm … Ja, schon hätte man wieder ein neues ABC. Aber wir konzentrieren uns lieber auf das Hauptverbrechen. Unterschlagung, Überfälle, Umweltkriminalität. Untat, Unzucht, Unterlassung und für Umkehr meist zu spät. Vor „Verdammnis“ und „Vergebung“ ging es mit „Verblendung“ los. Das Vermächtnis von Stieg Larsson: (Schwede) Unvollendet und doch groß. 13
„Hallo, hier spricht Edgar Wallace“ Weltberühmt oft die Autoren; auf die Toten heut ein Prost! Hier in Wendelstein beim Flaschner mit Wallander/Vor dem Frost. „Vor dem Frost“ ist der 11. Band der Kurt Wallander-Reihe von Henning Mankell, verstorben am 05. Oktober 2015. Hey, XY, Ihr Lieben, ist noch immer ungelöst. Zeigt es an, wenn Ihr von Xen Und vom Ypsilon was lest. Ziel und Fahnder wenn sich treffen, findet meist ein Zugriff statt. Zeugen und am Schluss die Zelle, weil’s beim Z ein Ende hat. Halt! Zugabe! „Z“ wie Zeller, dessen Krimi „Sterben ist das Letzte“ heißt. Zeit, zum „A“ zurückzukehren, das auf „B“ und „C“ verweist: Nein, nicht aufs „Alphabethaus“ von Adler-Olsen, sondern auf Agatha Christies Krimi „Die Morde des Herrn ABC“ (im Original „The A.B.C. Murders“). Aber lassen wir es gut sein. Führt mich ab. 14
Die Polizei ermittelt
Dagmar Scherf
Hochexplosives
Menschenmaterial? Was passierte wirklich in jener Nacht, als der letzte Wagen des Zugs D 213 Windrose kurz hinter dem Bahnhof Neustadt/Aisch explodierte? War es ein Sprengstoffanschlag, die missglückte Flucht eines Ganovenquintetts oder kollektiver Selbstmord der fünf Insassen? Trotz intensiver Spurensuche findet die Kriminalpolizei keinen Hinweis auf äußere Gewaltanwendung. Zitat aus dem Klappentext zu: Dagmar Scherf: Fugato infernale. (K)ein Kriminalroman. MV Verlag, Münster 2002 (Vergriffen, aber antiquarisch erhältlich). – Hier ein Ausschnitt: Die erste Besprechung war für neun Uhr morgens in Thielerts Dienstzimmer angesetzt. Als Mary eintraf, knallte der Chef gerade den Hörer auf. „Dieses Kompetenzgerangel geht mir auf den Geist!“, fluchte er. „Die Bahn AG hat vor zwei Stunden Bundesgrenzschützer in Marsch gesetzt, aber dann wieder zurückgezogen, weil das BKA den Fall übernehmen will. Aber das LKA hat ja auch längst seine Finger drin. Entsprechenden Streit gibt es zwischen Generalbundesanwalt und Staatsanwalt.“ Theo Rauscher gähnte herzhaft. „Ich schlage vor, wir gehen einfach an die Arbeit.“ „Nicht bevor wir eine Sonderkommission gebildet haben“, widersprach ihm Robert Bierbichl. 33
„Die Sonderkommission sind wir, fertig aus“, beschloss Thielert. „Allerdings sollten wir noch auf Doktor Hauer warten, vielleicht kann er uns ja schon was über die Toten erzählen.“ Eine Zeitlang herrschte nur von Gähnen und Kaffeeschlürfen unterbrochenes Schweigen in der Runde. Niemand hatte mehr als drei Stunden geschlafen. Mary fühlte sich so nackt und empfindlich wie ein rohes Ei. Normalerweise versuchte sie, solche irritierenden Zustände durch besonders aggressives Verhalten sich und anderen gegenüber zu überspielen. Diesmal genoss sie ihre Übersensibilität jedoch zu ihrer eigenen Verwunderung wie ein prickelndes Schaumbad. Die dumpfen Gesichter der drei Kollegen kamen ihr hingegen uralt und merkwürdig fremd vor. Klaus Thielert hatte die ständig herunterrutschende randlose Brille abgenommen und massierte sich die feuchtglänzende Halbglatze; Robert Bierbichls eng beieinanderliegende Augen blickten noch bärbeißiger als üblich unter den dichten Brauen hervor und Theo Rauschers schmales, von feinen Furchen durchzogenes Gesicht wirkte wie eine Kraterlandschaft. „Fünf Tote und kein Krümel Sprengstoff !“, knurrte es aus dieser Kraterlandschaft. Niemand reagierte darauf. Nur Mary rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Wenn ihr wüsstet, was ich schon alles herausgefunden habe! Ermittlungen auf eigene Faust liebte der Chef zwar überhaupt nicht, aber angesichts der aufregenden Neuigkeiten, würde er seinen Protest schnell herunterschlucken … Nachdem sie letzte Nacht mitgeholfen hatte, den grauhaarigen Schockpatienten in ein Rettungsfahrzeug zu verfrachten, hatte sie energisch darauf gedrungen, dass er in die Psychiatrische Klinik Hohenhain eingeliefert wird. Dass einer der Krankenpfleger dort zufällig auch ihr Lover ist, sagte sie nicht. Als sie Tom gegen acht Uhr morgens von zu Hause aus anrief, erhielt sie – natürlich streng vertraulich und nur ihrer Eigenschaft als Kommissarin zu verdanken – einige aufregende Angaben zur Person des Patienten. Und jetzt brannte sie darauf, die loszuwerden. Aller34
dings im richtigen Moment. Sie hatte nun mal ein Faible für eine geschickt aufgebaute Dramaturgie. Da man nicht länger auf den zuständigen Gerichtsmediziner warten wollte, drehte sich das Gespräch zu Beginn vor allem um die möglichen Ursachen der Explosion – mit dieser Frage würde Thielert bei der für elf Uhr angesetzten Pressekonferenz schließlich vor allem gelöchert werden. Einen terroristischen Anschlag hatten die am frühen Morgen eingetroffenen Beamten des BKA vorläufig ausgeschlossen. Kein Bekennerschreiben und – „Vor allem kein Krümel Sprengstoff aufzutreiben“, knurrte Rauscher. „Tu doch nicht so, als hättest du überhaupt danach gesucht, Theo!“, brauste Bierbichl auf. „Aber du, Robert. Und deiner Spürnase vertraue ich bekanntlich blind.“ „Reißt euch bitte zusammen, ja!“, ermahnte Thielert die zwei. Seit sich beide Kollegen um den Posten eines Hauptkommissars beworben hatten, benahmen sie sich gelegentlich wie Platzhirsche in der Brunftzeit. „Vielleicht war’s ja kein herkömmlicher Sprengstoff “, der Chef schob die heruntergerutschte Brille hoch, „sondern zum Beispiel ein Gasanschlag oder einfach …“ „ … hochexplosives Menschenmaterial“, warf Rauscher ein, ignorierte das allgemeine Kopfschütteln ringsum und fragte mit naivem Kinderblick, wobei er vor allem Mary in die Augen sah: „Hast du nicht auch manchmal das Gefühl, dass du vor Wut oder Freude gleich in die Luft gehen oder platzen könntest?“
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Walter Tausendpfund
Wos woor ne dees? (Kurz-Krimi)
Aaaaaaaaaaaaaaaaaa … 1: Wos woorn dees? 2: Woor wos? Wos woorn? 1: Fraali woor wos! Ich hob’s gheerd. 2: Iich waaß fai ned, wos woor. 3: Duu, do lichd aane! 4: Wer lichd ne doo? Wer issn dees? 3: Wos waaßn iich? 4: Wenn mer’s ne wissen deed. Nached kenned me wos machen. 1: Eds waaß iich, wos dees vorhin woor. 2: Wos nached? Doo bin ich abbe gschbannd. 1: Hiigmachd is anne. Dees woor vorhin sai Schrai! Sai alleledsde. 2: Ganz hiie? Odde bloß soo? 3: Kennsd du deen doo? 4: Iich? Naa … Deen ned! 3: Deer is fai echd hiie! 4: Suu wos vo hiie! Des glabsd goor ned. 1: Weer woor nached dees gween? 2: Wenn mer’s no wissed! 1: Es mou aane gween sai, der … mmh. 47
2: Weer’s ne woor? 3: Gladd deschossn! Middn durch! 4: Abbe doch kaa gschaids Luuch. 3: Dees sigsd du ned ainfach soo. Middn durch … 4: Ainfach hiie! 1: Do brauchsd kann Dogde meehre. Doo is alles ze schbeed. 2: Wozou aa nu? 1: Es Leehm is grausam gnou. Doo hilfd kaa Dogde und kaa Bolizai! 2: Mensch, doo machd ainfach aane an hiie. Middn durch … 3: Und alles is aus. 4: Su ainfach koo dees haidzedooch sai. 2: Verregg …!
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Friedrich Ach
Wie ist die?-Die ist grün! Oder: Hochdeutsch, Fränkisch und Englisch Oddär: Su schnell koanns gäih Zwei Franken telefonieren. Der eine fragt: „Wäi is däi?” Worauf der andere antwortet: „Däi is Gräi!“ Ein NSA-Agent, der diesen kurzen Dialog abhört, versteht: „Weg ist Tag?“ und „Tag ist Grau!“ Da er die scheinbar harmlosen Worte für einen gut verschlüsselten Dialog hält, der höchstwahrscheinlich die Verabredung zu einem besonders hinterhältigen Hinterhalt verschleiern soll, informiert er sofort seinen Vorgesetzten. Eine Stunde später sind die beiden Franken verhaftet.
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Von Unfällen, Zufällen und Bedrohungen
Karin Hofbauer
Wilde Tiere Klara und Uwe waren seit drei Jahren ein Paar. Sie liebten sich und wollten heiraten, wenn da nicht diese ständige Eifersucht Uwes zu immer häufigeren Diskussionen führen würde. So wurde ihre Beziehung langsam zur Belastung. Es war wie im Gefängnis für Klara. Freunde kamen immer seltener. Lächelte sie Uwe an, drehte er sich um, weil er hinter sich einen Mann vermutete. Klara beschloss sich eine Auszeit zu nehmen, und zwar in Form eines Urlaubs – allein. Als sie ihm das mitteilte, eskalierte die Situation gänzlich und Klara sagte zu Uwe entnervt: „Ich werde für drei Wochen nach Afrika fliegen, melde mich.“ Sie sah nicht mehr die Wut, ja fast Hass in seinem Blick, der sie verfolgte. Es waren aufregende Wochen in Namibia. Safaris durch die Wüste und Savannen, zu den höchsten Dünen der Welt, durch Camps, Dörfer und Städte. Aber überall war sie schrecklich ängstlich. Während der Ausflüge fürchtete sie sich vor Elefanten, Löwen, Wildschweinen und Schakalen, und in den Städten vor den vielen Hunden. Alles machte ihr Angst. Sie kam sich ihren Gastgebern gegenüber schon lästig vor. Freundlich nahm ein alter Farmer sie bei der Hand und sagte: „Vor den großen Tieren muss man keine Angst haben, man sieht sie und kann sich gegebenenfalls wehren. Es sind die kleinen, die man nicht sieht – vor denen muss man sich fürchten!“ So ganz verstand sie das nicht. Aber dann ging auch diese Zeit zu Ende. Hände schütteln, gute Wünsche, Winken, Lachen und schon saß 97
sie wieder im Flugzeug auf dem Weg zurück nach Deutschland und sie dachte an Uwe. Ein klein wenig hatte sie ihn doch vermisst. Jetzt freute sie sich sogar auf ihn. Schon vom Flughafen aus meldete sie sich. Er war nicht zu erreichen. Also hinterließ sie eine Nachricht: „Bin heute Abend in unserer Stammdisco, freue mich auf dich!“ Der Tag verging ihr viel zu langsam. Sie fühlte sich gut, erholt, braungebrannt und voller Tatendrang. Ungeduldig betrat sie endlich am Abend die Disco. Sie sah ihn sofort. Fühlte sie sich schuldig? Nein, sie war ja gegangen, um sich über ihre Gefühle klar zu werden. Spontan umarmte sie Uwe und strahlte ihn an. „Da bin ich wieder.“ Seine distanzierte Haltung verdrängte sie. Alte Bekannte und Freunde winkten. Unbekümmert, übermütig ließ sich Klara von der Musik leiten, um einzutauchen in die Menge der Tanzenden. In der Hoffnung, Uwe würde ihr folgen, blickte sie in Richtung Bar. Da stand er neben einem gutaussehenden, dunkelhaarigen Mann und schaute mit hässlichem Grinsen in ihre Richtung, dabei steckte er seinem Gegenüber Geldscheine in dessen Hemdtasche und verließ die Disco. Ach, sie wollte nicht denken – nicht schon wieder Probleme. Die Lautsprecher dröhnten und dann war da nur noch Musik – heiße Musik. Ein schlaksiger Typ hatte sich ihren Bewegungen angepasst. Du gefällst mir, dachte sie trotzig. Das Temperament ging mit ihr durch. Sie flirteten heftig. Und plötzlich erkannte sie in ihm den Mann, dem Uwe das Geld zugesteckt hatte. Ihr Zögern war schon im Ansatz wieder vergessen. Bewundernde Blicke von den anderen Paaren, die jetzt einen Kreis um sie herum gebildet hatten und begeistert Beifall klatschten. „Ich bin Kai“, rief er. „Klara“, dabei hob sie ihre Hand. Die Musik wurde übertönt durch ein lautes rhythmisches Stampfen und sie tanzten, tanzten , tanzten …! Natürlich endete diese Nacht im Bett. 98
Am nächsten Tag, es war fast Mittag, erwachte Klara. Das Bett neben ihr war zerwühlt und leer. Benommen stand sie auf und ging ins Badezimmer. Da sah sie Kai am Boden sitzen. Bei Tageslicht wurde ihr bewusst wie dünn und blass er war. Langsam ließ er eine Spritze in einer Dose verschwinden und stand auf. Mit unendlich traurigem Blick sah er sie lange an und verließ wortlos die Wohnung. Die Zeit verging – Wochen, Monate. Klara fühlte sich schon seit Langem nicht besonders wohl. Einmal begegnete ihr Uwe auf der Straße. Abschätzend betrachtete er sie. Da war wieder dieses hässliche Grinsen, als er murmelte: „Na, mein Plan scheint ja aufzugehen.“ Sie ließ ihn einfach stehen und nahm sich vor, demnächst einmal zum Arzt zu gehen. Wie sagte ihre Freundin: Lass doch einen Gesundheitscheck machen. Dafür ging sie sogar drei Tage ins Krankenhaus. Nach 14 Tagen konnte sie das Ergebnis abholen. Es war ein schöner, sonniger Tag, als der Arzt ihr die Ergebnisse vorlas. Sie hörte nur diesen einen Satz: „HIV-positiv!“, und sie dachte an den alten Farmer und dessen Worte: „Es sind die Kleinen, die man nicht sieht, vor denen muss man sich fürchten!“ Uwes Plan war aufgegangen.
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Christiane Kron-Oettner
Yanna Das Handy klingelt: „Wo bleibst du?“ Ihre Hände zittern. Der unverkennbare russische Akzent, der harte Klang der Stimme, dieser Befehlston! Sie kennt ihn nur zu gut. Sie fröstelt, lehnt sich an die feuchtkalte Mauer des Tunnels. Ein heller Fleck am Ende der endlos dunklen Röhre sagt ihr: „Ich muss mich beeilen! Er ist mir gefolgt.“ Sie glaubte: „Hier wird er mich nicht vermuten, hier bin ich sicher.“ Sie hatte sich geirrt. Feuchtigkeit dringt durch die dünne Bluse, kühlt ihren erhitzten Körper. Sie hebt den rechten Fuß, prüft den Absatz ihres Schuhes. Beinahe hätte sie ihn verloren, als sie panisch in das Dunkel rannte. Sie atmet schwer. Ihre Kehle ist trocken. „Nur eine Minute, ich brauche nur eine Minute Verschnaufpause!“ Das Klingeln des Handys in ihrer Handtasche erinnert sie: „Er hat mich die ganze Zeit beobachtet, er ist in der Nähe.“ Heute morgen, als sie das Haus verließ, saß er gegenüber im kleinen Bistro. Die Zeitung vor dem Gesicht, den breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezogen. Nur, wenn er den Kopf anhob, um nach ihr zu sehen, fiel Licht auf seine dunkle Brille. Der feine Rauch der Zigarette stieg aus seiner breiten Nase. Genüsslich hob er die Espressotasse. Dabei streckte er den kleinen Finger nach oben. Der Brillant funkelte. Auf dem Revers seines cremefarbenen Jacketts glänzte die goldene Sichel. „Alle Agenten des Geheimdienstes tragen dieses Zeichen“, das wusste sie. Er hatte das Haus, in dem sie wohnt, nicht aus den Augen gelassen. Sie wartete auf den richtigen Moment, in dem sie fliehen konnte. 115
Die Morgensonne schien durch die leicht geöffneten Gardinen. Sie stand lange Zeit unschlüssig, beobachtete die Spinne im Netz über dem Fensterrahmen. Die Leichtigkeit, wie sie spielerisch ihre Beute einwebte, faszinierte sie. Leichtigkeit, die hat sie längst verloren. Nein, sie ist nicht mehr sie selbst. Sie funktioniert! Sie befolgt Befehle aus Dankbarkeit, aus Angst. Sie blickt hinunter zu ihm durch den lichten Vorhang. Er ist es, der sie gefangen hält in ihren eigenen Räumen. Er lässt sie zappeln wie die Spinne ihre Beute im Netz. Sie verfolgt aufmerksam jede seiner Bewegungen. Sie haben Lena umgebracht, weil sie aussteigen wollte. Lena ist tot, sie kann es immer noch nicht glauben. Angst schnürt ihr die Kehle zu. Sie musste Lena identifizieren. Lena, die tot neben ihrem Wochenendhaus lag, ein Stück schwarzen Stoffes in ihrer Hand. Wahrscheinlich hatte sie sich gewehrt. „Es könnte vom Täter sein“, vermutete die Kripo. Der Fliederstrauß mit dem Brief, der gestern vor ihrer Tür lag, fällt ihr ein: „Ich warne Dich!“ Kam er von ihm? Kurz entschlossen hatte sie den Strauß in den Mülleimer geworfen. Der Duft erinnerte sie an die unbeschwerten Tage, die sie mit Lena in dem kleinen Haus am See verbrachte. Sie sieht Lena vor sich, die Fenster weit öffnen, hört sie lachen: „Lass den Frühling herein! Riechst du den Flieder, Yanna?“ Ja, den Duft wird sie wohl nie vergessen können, und Lena, mit den dunklen, feurigen Augen und den wilden Locken auch nicht. Sie fühlt die Wärme, wenn Lena sie in den Arm nahm: „Du, wir beide schaffen es!“ Aussteigen wollten sie, ein neues Leben anfangen. „Die Abdrücke …“ Was hatte sie der Kommissar damals gefragt? „War Ihre Freundin mit einem Mann liiert, der Schuhgröße fünfundvierzig trägt? Die Spurensicherung hat Abdrücke genommen von Männerstiefeln auf dem Weg, der zum Haus am See führt.“ Hatte ihr der Kommissar geglaubt, als sie verneinte? Das Pfeifen des Zuges erschreckt sie. Sie hält den Atem an. „Weiter, weiter“, denkt sie. Ihre Füße stehen bleiern. 116
Mรถrderische Geschichten
Ludwig Weber
Mörderische Geschichten Dich bringe ich um … Ja, irgendwann bringe ich dich um und zerquetsche dich wie eine Laus. Ich mach dich alle, murks dich ab und leg dich um. Finito, putz die Platte, meine Liebe. Ich blase dir die Lichter aus. Ehrenwort, ich puste dich um, knall dich ab und schieß’ dich tot. Ich schick dich in die ewigen Jagdgründe und lösche dich aus, bringe dich zum Schweigen und unter die Erde. Morgen bekommst du den Gnadenstoß, ich mache dir den Garaus. Ich lass dich über die Klinge springen und steche dich ab wie eine Sau. O ja, ich lass dir Flügel wachsen und schicke dich in die Hölle. Ich werde dich erledigen, meucheln und eliminieren. Aufspießen, ersäufen und totschlagen werde ich dich. Kalt machen und platt und mausetot. I will kill you. Zu Deutsch: Ich werde dich um die Ecke bringen. Ich schlage dir den Schädel ein, niete dich um und knüpfe dich auf. Irgendwann puste ich dir die Kerzen aus und lasse dich verschwinden. Über den Haufen werde ich dich fahren und ausradieren. Ich schneide dir die Kehle durch oder putze dich weg und lasse dich verrecken. Sie mögen mich pfählen, vierteilen, rädern oder verbrennen. Ich werde deinem Leben ein Ende setzen, ganz bestimmt. Ich werde dich ermorden. Jetzt. Du bist tot!
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Brigitte Dennerlein
Gespinste Bei einem Strickwettbewerb, den ein bekannter Wollfabrikant zur Steigerung seines Umsatzes veranstaltet hatte, lernten sie sich kennen. Er war in einer Spinnerei am Ortsrand beschäftigt. Sie betrieb einen kleinen Wollladen in einer Nebenstraße, über dem sie im ersten Stock auch wohnte. Sie sah bezaubernd aus in ihrem engen roten Strickkleid, dazu kam ihr langes glänzend-schwarzes Haar. Ein betörender Duft umgab sie geheimnisvoll. Er verliebte sich in sie. Nach Arbeitsschluss kam er oft in ihren Laden, kaufte Strick– und Häkelnadeln, nur um in ihrer Nähe zu sein. Doch sie war sehr unnahbar und zurückhaltend. Sie wehrte jegliche Annäherung ab, und auch eine Einladung zum Essen. Sie erfand Ausreden, um ihn fernzuhalten. Nur manchmal lächelte sie. Sie erschien ihm immer begehrenswerter. Er war verrückt nach ihr. Eines Nachts schlich er mit einer Leiter zu ihrem Haus und stieg hinauf zum offenen Fenster. Ein Blick in den schwach erhellten Raum ließ das Blut in seinen Adern stocken. Das Zimmer war voller Spinnweben, kleine Strickpuppen baumelten in den Netzen. In der Mitte am Boden lag seine Angebetete, bedeckt mit hunderten von großen und kleinen Spinnen. Sie konnte sich kaum bewegen, denn die Gespinste hüllten ihren nackten Körper ein. Er wollte sie befreien und kletterte durchs Fenster in den Raum. Da fielen die Spinnen über ihn her und spannen ihn in ihre klebrigen Netze ein. Am nächsten Tag fand man seine blutleere Leiche im Apfelbaum – sie aber stand wie immer rätselhaft lächelnd in ihrem Laden. 157
Gisela Hoffmann-Mehrle
Verhängnisvoller Fehler Sie würde etwas ändern! Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln, oder vielleicht besser gesagt, ein teuflisches Grinsen über Bertas Gesicht. Sie saß mit einem Glas Wein im Wohnzimmer. Hätte man ihre Gedanken als Wolke sehen können, wäre diese rabenschwarz gewesen. Das neue Jahr hatte gerade begonnen. Die vergangenen Festtage waren genauso verlaufen wie im letzten Jahr. Ihr Ehemann Heinrich, mit dem sie seit vierzig Jahren kinderlos verheiratet war, polterte täglich volltrunken und pöbelnd spät abends nach Hause. Nicht mehr lange, dachte Berta. Drei Monate zuvor war Bertas neunundneunzigjährige Tante Agnes verstorben. Sie war die alleinige Erbberechtigte und konnte seitdem ein kleines Haus und ein gut bestücktes Sparkonto ihr eigen nennen. Diese Tatsache gab Berta die Gewissheit, dass sie alles ändern konnte. Heinrich hatte sie nichts davon erzählt, das ging ihn auch nichts an. Das Häuschen hatte sie bereits zum Teil entrümpelt, den Rest würde sie in den nächsten Tagen erledigen. Die Wohnzimmeruhr schlug elfmal. Heinrich würde wieder betrunken heim kommen. Berta ballte ihre Fäuste. Auf dem Weg zur Küche betrachtete sie sich im Dielenspiegel und strich zufrieden über das blaue paillettenbestickte Kleid und kämmte ihre grauen Locken mit den Fingern durch. Die neue Frisur, das Kleid hatte sie sich nur durch die Erbschaft leisten können. Wenig später hörte sie die Wohnungstür. Sie las in ihrem Buch und tat, als würde sie gar nicht bemerken, dass er ins Wohnzimmer getorkelt kam. Er goss sich Wein in ein Wasserglas und setzte sich Berta gegenüber. 185
Sein Hemd war bekleckert, seine Hosenträger hingen schlampig von der Schulter. Berta sah ihn angewidert an, sagte aber nichts. „Gute Nacht“, sagte sie nach einer Weile knapp und wollte gehen. „Eh, willst du nicht wissen, wo ich war“, stänkerte Heinrich seine Frau an. Sie schwieg und ging weiter. „Ich war in meiner Kneipe, dort war es viel gemütlicher als hier bei dir Trauerkloß.“ Berta schluckte die Beleidigung runter. Ohne die Erbschaft im Hintergrund und ihre Gewissheit, dass sie etwas ändern würde, wäre ihr das nicht gelungen. Als Heinrich einige Tage später im Bett blieb, musste sie auf seine Anordnung hin den Hausarzt rufen, was sie für völlig überflüssig hielt. Wenn er krank war, war es der Suff, und den hatte er bisher noch immer überlebt. „Es ist wie immer der Blutdruck, aber die Herztöne gefallen mir nicht.“ Dr. Schmitt sah Berta sorgenvoll an. „Ich schreibe Tropfen für das Herz auf.“ „Das nächste Mal rufe ich keinen Arzt, dann kannst du meinetwegen krepieren.“ Berta war erschrocken über ihre eigene Sprache, aber es musste sein, wollte sie nicht an den vielen unausgesprochenen Worten ersticken. Sie ging zum Haus ihrer Tante, um weiter zu entrümpeln. Im Badezimmerschrank fand sie eine Menge Medikamente, die sie in den Müll beförderte, nachdem sie diese einzeln begutachtet hatte. Was so alte Menschen alles einnehmen, dachte sie kopfschüttelnd. Am nächsten Tag konnte Heinrich wieder aufstehen, es ging ihm besser. Berta bereitete das Frühstück zu und füllte den extra starken Kaffee in barocke Kaffeetassen mit Rosenmuster, die sie im Haus ihrer Tante gefunden hatte. Es klingelte! Berta stellte schnell eine Tasse Kaffee vor Heinrich hin und öffnete. „Guten Morgen, Frau Reinert, können Sie mir etwas Kaffeemilch borgen? Geht es Ihrem Mann wieder besser?“ 186
„Hier, die Packung können Sie behalten, nein, Heinrich geht es nicht besser, eher schlechter“, log Berta und brach das Geplauder, das die Nachbarin beginnen wollte, abrupt ab. „Glückwunsch“, brummte Heinrich mit geröteten Augen, wie immer im schmuddeligen Unterhemd, das schüttere Haar nass nach hinten gekämmt. Berta blieb wie angewurzelt an der Tür stehen. Er hatte an ihren Geburtstag gedacht. „Danke“, murmelte sie und starrte gebannt in seine Richtung. Sie sah, wie er die schöne Tasse mit seiner Pranke umfasste, als würde er sie gleich zerquetschen. Sie setzte sich hin und nahm ebenfalls einen großen Schluck aus ihrer Tasse, die ihr Heinrich inzwischen hingestellt hatte. Berta war erstaunt, das hatte er sonst nie getan. Als sie zum Brotkorb langte, griff sich Heinrich ans Herz und sank stöhnend nach vorne. Berta blickte seelenruhig auf ihren Mann, der zusammengesunken ihr gegenüber saß und trank ihren Kaffee. Seine Kaffeetasse war auf dem Boden zerschellt. Nach einer Viertelstunde rief sie den Notarzt. Beim nahenden Sirenengeheul wurde Berta schwindelig. „Um Gottes Willen, was habe ich getan?“, sagte sie laut zu sich selbst. „Ein schwerer Herzinfarkt. Ich hoffe, er schafft es. Wollen Sie mit in die Klinik fahren?“ Der Notarzt legte seine Hand auf Bertas Arm. „Nein, ich komme gleich nach.“ Berta setzte sich an den Küchentisch und hörte, wie sich der Krankenwagen entfernte. Sie umfasste ihre Kaffeetasse mit beiden Händen und strich gedankenverloren mit ihrem Daumen am Tassenrand herum. Vor Schreck fiel ihr diese beinahe aus der Hand. Sie fühlte am Rand eine kleine Kerbe, die Tasse, die sie für Heinrich vorbereitet hatte! Ihr wurde schlagartig übel. Wieso war er zusammengebrochen? Hatte etwa sie – hatte gar Heinrich die Tassen vertauscht? Bertas Gedanken überschlu187
gen sich. Sie fühlte, wie ihr Puls plötzlich raste. Sie konnte aber kaum zu ihrem Arzt gehen und es ihm erzählen. Was aber, wenn sie nicht ging? Sie lief wie ein gehetztes Tier zwischen Telefon und Küchentisch hin und her und griff schließlich doch zum Hörer, tippte die Nummer ihres Arztes, hörte aber nicht mehr den Teilnehmer am anderen Ende. Der Hörer glitt ihr aus der Hand, der Flur tanzte um sie herum. In der anderen Hand hielt sie krampfhaft das kleine Fläschchen aus dem Badezimmerschrank ihrer Tante.
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Hans Pfähler
Perfekt Neffe Christoph kümmerte sich wenig um seinen alten einsamen Onkel. Dieser verbrachte die letzten Jahre in einem Heim für betreutes Wohnen. Christophs Schwester Sonja trat nur in Erscheinung, wenn es eine Entscheidung in der Familie zu fällen galt. Selten besuchte man eher widerwillig gemeinsam den schwer asthmakranken Onkel Karl. Dass man ihn nicht ganz vergessen hatte, machte den alten Herrn glücklich. Um die letzten Verwandten öfter um sich zu haben, versicherte er immer wieder beiläufig, dass Neffe und Nichte seine einzigen Erben sein werden, wenn die Pflege bis zum Tode hoffentlich nicht alles Geld verschlingen wird. Die jungen Leute registrierten diese Worte mit freudigem Interesse. Da schlitterte Christoph über Monate hinweg in eine ernste finanzielle Schieflage. Leben auf zu großem Fuß, teures Auto, anspruchsvolle Freundin, noble Eigentumswohnung und zu hohe Kreditzinsen schnürten ihm fast die Kehle zu. Den Onkel anbetteln? – Nein, das kam für ihn nicht in Frage, doch wäre das versprochene Erbe eine gute und schnelle Lösung, zumal er davon die Hälfte früher oder später ohnehin bekommen würde. Von einem Nachdenkspaziergang am Alten Kanal nahe Wendelstein brachte er die Lösung seines Problems zufrieden mit nach Hause. Zuvor hatte er eine Wandergruppe beobachtet, die sich um einen schlauen Mann scharte. Dieser deutete auf den Stamm und die Krone einer alten Eiche. Man beobachtete ein Naturphänomen: Den Eichenprozessionsspinner. In langen Ketten verbunden krabbelten die recht großen, behaarten Raupen am Stamm hoch und fraßen sich in der Krone am Laub satt. Ein unwirklicher, gespenstischer Anblick. Da bekam plötzlich einer der 209
Zuhörer einen entsetzlichen Hustenanfall. Der offenbar naturerfahrene Führer hatte dafür gleich ein Erklärung: Die winzigen Körperhaare der Raupen, Brennhaare genannt, verteilen sich unsichtbar in der Umgebung. Diese halten sich über Wochen in der Nähe des Stammes und werden vom Wind verteilt. Die Härchen sind für die Haut und vor allem die Schleimhäute des Menschen gefährlich, denn winzige Widerhaken da ran verursachen gerade bei Asthmatikern große Atemnöte, die in einem schockartigen Anfall sogar lebensbedrohlich sein können. Da klickte es bei Christoph. Onkel Karl ist doch schwer asthmakrank. Am folgenden Samstag erzwang er mit seiner Schwester einen Besuch beim Onkel. Ja, er lud ihn sogar ein, mit dem Auto ein Stück zu fahren, um am Alten Kanal einen kleinen Spaziergang zu machen. Onkel Karl strahlte. Für Christoph gab es nur ein Ziel: Den für Asthmatiker so gefährlichen Eichenhain. Schwester Sonja wunderte sich schon etwas über die plötzliche Initiative ihres Bruders. Man ließ sich am bedrohlichen Ort auf einer Bank nieder. Weit und breit keine Menschenseele. Onkel Karl genoss das Ausflugsgeschenk in familiärer Idylle. Wie von Christoph erhofft, bekam Onkel Karl nach einiger Zeit einen massiven Asthmaanfall, offensichtlich durch Einatmen der noch vorhandenen Brennhaare. Er hustete extrem heftig und rang nach Luft, sein Körper bäumte sich auf, das Gesicht wurde leichenblass, die Lippen liefen blau an. Panik kam dazu. Sonja schrie Christoph an, er möge sofort einen Notarzt rufen, der hilflose Bruder reagierte nicht. Sein Akku sei leer. Sonja suchte in den Taschen des Onkels nach Medikamenten – vergebens. Der Zustand des Onkels verschlimmerte sich schnell. Auf der Bank nach hinten gelehnt verdrehte er die Augen, die Pupillen weiteten sich, Schaum trat aus dem Mund, das Ringen nach Luft wurde schwächer und war letztlich kaum mehr vernehmbar. Nur noch ein Röcheln. 210
Da tauchten von der Kanalbiegung her fremde Wanderer auf, die, auf Zuruf von Sonja, sofort schneller herbeiliefen und helfen wollten. Ein Notarzt war rasch zur Stelle, ebenso die Sanitäter. Erste Notfallmaßnahmen durch Sauerstoffzufuhr wurden geleistet, doch das Herz versagte schließlich. Onkel Karl war tot. Die hinzugezogene Polizei veranlasste eine Obduktion. Es wurde die wirkliche Todesursache festgestellt und somit der Grund des tödlichen Asthmaanfalles. Das Urteil der Ärzte: „Status asthmaticus“. Für die Polizei, die übrige Verwandtschaft und die Freunde war klar: Onkel Karl war halt nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort. Ein Zeitungsbericht im Schwabacher Tagblatt warnte tags darauf alle Asthmatiker vor dem Eichenprozessionsspinner am Alten Kanal. Christophs Gedanken fixierten sich nun auf das Erbe, um sich selbst vom aufregenden Geschehen abzulenken. Für ihn lief alles so glatt, dass er sogar ein wenig stolz auf sich selbst war. Sonja, die ihren Bruder durchschaut hatte, quälte sich und machte ihm heftige Vorwürfe. Letztlich war ihr der zu erwartende Geldsegen auch willkommen. Je früher, desto besser! Vielleicht heilt die Zeit manch verwundetes Gewissen. Das klar abgefasste Testament bedachte beide je zur Hälfte. Wie so oft kam es nach Monaten zum Streit unter den Geschwistern. Der Bruder nahm die Erbschaftsregelung in die Hand und Sonja war eigentlich froh darüber. Beim letzten Notartermin zum Weiterverkauf der vorhandenen Immobilien erkannte sie, dass ihr Bruder sich mit falschen Angaben Vorteile verschaffen wollte. Wutentbrannt verließ sie ohne Unterschrift die Kanzlei. Christoph versuchte, sie zu beruhigen und eine entschuldigende Erklärung loszuwerden. Er gab sogar zu, dass er sich hinter ihrem Rücken bereichern wollte. – Aber Sonja war es nun Leid. Sie ging zur Polizei, um das eigene Schuldpaket, nämlich ihr Schweigen, loszuwerden.
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Martina Tischlinger
Couchpotatoes in Wanderstiefeln Ein Blick ins Wohnzimmer. Sehnsüchtig. Sind die Fenster zu? Strom aus? Schweigend gehen wir zum Wagen, ich wuchte meinen Rucksack in den Kofferraum. „Willst du auswandern?“, fragt Jochen. „Und du aufs Matterhorn?“ Ich deute abfällig auf seine dicken Wanderstiefel. Unsere Lustlosigkeit quillt wie zäher Schaum aus uns heraus. Vielleicht sind wir für solche Freizeitaktivitäten nicht geschaffen? Wir haben beide stressige Jobs und lieben es, den Feierabend vor dem Fernseher mit einer Flasche Merlot und Snacks zu verbringen. „Andere Pärchen gehen ins Fitnessstudio oder ins Theater, wir sind richtige Couchpotatoes geworden!“, meckerte ich neulich, woraufhin Jochen vorschlug, wir könnten doch mal freitags nach der Arbeit wandern gehen. Einfach raus ins Grüne und irgendwo in einem Gasthof übernachten. Nun latschen wir seit zwei Stunden streng nach Anweisung von Jochens Wander-App querbeet über Wiesen und Äcker, steigen auf Steine und springen über Bächlein, und ich fürchte, Jochen und die App haben keine Ahnung, wo wir sind. „Frag mal dein Smartphone nach einem netten Gasthaus in der Nähe.“ Jochen, ein Liedchen pfeifend, hält inne. „Bist du jetzt schon platt? Wir sind gerade erst losgegangen!“ „Ich will ja nicht unken, aber der Himmel sieht verdammt nach Regen aus.“ Erste fette Tropfen klatschen auf unsere Köpfe. 225
„Nur ein Kittelwascher!“, schreit Jochen dem trommelnden Regen entgegen. „Das hat deine Wetter-App wohl nicht gewusst?“ Seengroße Pfützen wachsen zu unseren Füßen. Es regnet Blasen. Gerade fängt mein Vorabend-Krimi im Fernsehen an. Den würden wir gucken und später bei einem Glas Wein über unsere Chefs und Kollegen lästern, bis Platz fürs Wochenende in uns ist. Was machen wir? Neue Freizeitaktivität. Doch plötzlich, als habe jemand den Wasserhahn zugedreht, hört der Regen auf und vor uns liegt eine Ortschaft. Auf dem verrosteten Ortsschild steht: Kleinmichlgsees. Was für ein verschlafenes Nest! Von einem schmiedeeisernen Schild Zum goldenen Stern tropft Wasser. In das alte Wirtshaus gehen wir hinein. Unschlüssig stehen wir in der düsteren Gaststube. Niemand da. Wir sehen uns um. Vergilbte Zeitungsausschnitte hängen gerahmt an der Wand. Junges Paar seit Tagen vermisst! Wanderer im Wald von Kleinmichlgsees verschwunden! Ehepaar von Wanderung in der Fränkischen Schweiz nicht mehr heimgekehrt! „Das ist alles in den vergangenen Jahren hier in der Gegend passiert“, flüstert Jochen. „Eigentlich haben wir geschlossen!“, lässt uns eine krächzende Stimme zusammenzucken. Wir haben sie gar nicht kommen hören. Wally Schmitz, stellt sie sich vor. Und draußen im Hof, der Fritz, der sei ihr Bruder und schlachte gerade Hasen. Bis wir uns umschauen, sitzen wir auf der Holzbank am Fenster und haben zwei Dunkle vor uns stehen. Die hagere Wally serviert uns eine Brotzeit, die wir unser Leben nicht vergessen werden, genauso wie die Wirtsleute. Selten haben mir Bauernbrot, Käse und geräucherte Würste so gut geschmeckt. 226
Wir trinken noch ein Bier und noch eines. Fritz, ein Bär von einem Mann, spielt auf der Harmonika. Ein bisschen fürchte ich mich vor ihm, weil er nicht spricht, nur ab und zu wie ein Hund knurrt. „Warum schlaft ihr nicht hier bei uns?“, schlägt Wally vor. „Nicht, dass ihr euch verirrt!“ Ihr Kichern jagt mir einen Schauer über den Rücken. „Ich hab doch meine Wander-App“, sagt Jochen und zeigt Fritz sein Smartphone. Fritz reißt es an sich und presst es an seine Brust. „Gibst du das sofort dem netten, jungen Mann zurück!“, schimpft ihn seine Schwester und Fritz fletscht die Zähne. Brav langt er es Jochen hin. Das Gästezimmer riecht muffig. Ich helfe Wally beim Beziehen der Betten. Sie hat ein Zipperlein im Kreuz. „Damit werde ich wohl sterben.“ Ich muss sie das fragen … „Sagen Sie mal, diese Zeitungsartikel an der Wand?“ Über Wallys Gesicht huscht ein Strahlen. „Da sind wir stolz darauf, der Fritz und ich. Das waren so nette Gäste, alle sind sie bei uns eingekehrt.“ „Aber die sind auch alle verschwunden!“, entkommt es mir entsetzt. Wally blickt mich traurig an. „Ja, gell, ist so schade um die netten Leut’!“ Kein Auge mache ich nachts zu. Jeden Moment rechne ich damit, dass die Tür leise aufgeht und Fritz mit dem Schlachtermesser hereinkommt. Aber die Sonne geht auf und wir sind noch am Leben. Wally macht uns ein göttliches Frühstück, wir berappen einen stolzen Preis. Fritz winkt uns lange nach. Munter marschieren wir am Waldrand entlang. „Ein bisschen unheimlich waren die Geschwister schon, oder?“ Ich nicke und gestehe, dass ich, um Wally gut zu stimmen, den Abwasch übernommen habe und ihr meinen Markenpulli, der ihr so gefiel, geschenkt habe. „Du kannst mich ruhig auslachen, Jochen! Diese seltsamen Zeitungsartikel an der Wand … Kannst du mal im Internet nachschauen, ob diese 227
Leute wieder aufgetaucht sind?“ Erst jetzt fällt mir auf, dass mir an meinem Mann etwas fehlt – sein Smartphone! „Das hat jetzt der Fritz.“ Schweigend gehen wir nebeneinander her. Für solche Freizeitaktivitäten sind wir einfach nicht geschaffen. Künftig gibt es am Feierabend den Krimi lieber wieder im Fernsehen. Couchpotatoes hin oder her, wir stehen dazu!
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Irmgard Seissler
Haselnussplätzchen Der kleine Garten quoll fast über von Blumen und Kräutern und allen möglichen Gemüsesorten, die alle bunt durcheinander gepflanzt oder gesät worden waren. Dazwischen wuchs der eine oder andere Busch, und es war sogar noch Platz für einen ausladend gewachsenen und üppig treibenden Kirschbaum. Der kleine Garten war ihr ganzer Stolz, sie hatte einen grünen Daumen, und das sah man auf den ersten Blick. In der etwas abgelegenen Ecke hinter dem Geräteschuppen plante sie offenbar etwas Neues, denn dort war die Erde umgegraben und eine tiefe Mulde ausgehoben, da sollte wohl etwas Größeres hinein kommen. Er sah sich um, eigentlich war es schade um solch eine grandiose Gärtnerin, doch darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Was sein musste, musste eben sein. Gedankenverloren stand er an der Grube, als er einen Stoß bekam und ausgerechnet in die tiefste Stelle der Bodenmulde fiel. Er lag einige Augenblicke ganz benommen dort und begriff erst so nach und nach, dass jemand Erde in das Loch schaufelte. Er versuchte zu schreien, aber dabei bekam er nur Erde in den Mund, und die verursachte einen unangenehmen Husten- und Brechreiz. Der Erstickungstod ist ein minutenlanger Kampf, niemand wusste es besser als er. Er war immer wieder fasziniert davon. Die alten Mütterchen, die mit ihren Augen um Gnade baten, während die Lunge nach Luft gierte … Woher ahnte sie, dass er genau das mit ihr vorhatte? Offenbar wollte sie ihm das selbe angedeihen lassen, was er den vielen einsamen alten Gretchen verpasst hatte. Sie zogen alle an seinem inneren Auge vorbei, während er einen gnadenlosen Kampf focht, den er letzten Endes verlieren würde. 229
Nun stand sie über ihm, er konnte sie durch die dichte Erdschicht nicht sehen, aber er fühlte sie, und dann erzählte sie ihm, dass er Glück hätte. Er sei schließlich nicht der erste, mit dem sie dieses interessante Erlebnis teilte, dass sie vor ihm manchmal schreckliche Fehler gemacht hätte, zum Beispiel, als sie einem fast den Schädel zertrümmert hatte. Das war so schade, denn er war bewusstlos gewesen und hatte nichts mehr mitbekommen. Den Todeskampf hatte sein Körper ohne seinen Verstand ganz alleine durchgefochten. Bei ihm jedenfalls sei ihr wieder einmal ein Fall sehr gut gelungen. „Ach ja“, meinte sie, „hierher pflanze ich einen Haselnussstrauch. Ist das nicht schön? Jede Nuss wird mich an dich erinnern, meine Nussplätzchen sind sehr begehrt!“
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Anderswelten
Erika Hauswirth
Harmoniebedürfnis Einst saß auf einem Apfelbaum im Laub versteckt, man sah es kaum, ein bleiches Musikerskelett und intonierte ein Sonett: Zum Text, rezitativ gesprochen, im Rhythmus klapperten die Knochen. Das klang bizarr oft wie Gestöhne ein lauter Wirrwarr fremder Töne, der jeden Vogel irritierte, wenn er im Obstbaum musizierte. Die Amseln, Stare, Elstern, Meisen, befasst mit Pflege alter Weisen, das fremde Ding am Brustkorb packten, mit spitzen Schnäbeln nach ihm hackten. Sie kreischten: „Du kriegst kein Asyl. Zu unharmonisch ist dein Spiel.“ „Was seid ihr doch für Kunstbanausen, ihr solltet euch mit Affen lausen,“ schrie das Skelett, und wetterte noch, als vom Baum es kletterte. 271
Ein Geier suchte es für Stunden, um Sympathie ihm zu bekunden, weil das Skelett sich nie drum scherte, dass er von totem Fleisch sich nährte. Er fand es auf der Streuobstwiese im Birnenbaum „Gute Luise“. Dort starrt es trostlos in die Sterne und singt auch leider nicht mehr gerne.
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Irmgard Seissler
Die Parkbank Er war zu spät in der Notschlafstelle angekommen und musste unverrichteter Dinge wieder gehen. Das passierte ihm ja nicht zum ersten Male, aber heute war es ihm unangenehm. Es sind in jüngster Vergangenheit einige Obdachlose verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst, keine Spur war mehr von ihnen zu finden. Es ist immer besonders schwierig zu sagen, ob jemand aus der Szene einfach weg ist, weil sich eine Gelegenheit ergeben hatte, an einen anderen Ort zu kommen, oder in einem richtigen Bett zu schlafen oder was sich sonst an Glücksfällen ereignet haben mochte. Einige waren schon ins Krankenhaus eingeliefert worden, wo sie aufgepäppelt wurden, um dann doch wieder in das selbe elende Leben auf der Straße zurück zu kehren. Früher oder später klärte sich ihr Wegbleiben auf. Aber nicht bei den Leuten, die in den letzten Wochen verschwunden waren. Er kannte einen Platz, der schön abgeschieden lag und der kaum jemandem bekannt war. Außerdem konnte man dort Sicherheitsfallen anbringen, ein oder zwei Schnüre in Fußhöhe gespannt und mit ein paar Glöckchen versehen. Wenn sich jemand nähert, wacht man von den klingenden Glöckchen auf. Zum Glück war bisher niemand vor ihm auf die Idee gekommen, denn die Parkbank war noch frei. Mit geübten Händen brachte er die Warnanlage an und richtete seine Schlafstätte. Er war wirklich müde. In letzter Zeit ging es ihm nicht so gut, er würde wohl demnächst den Arzt aufsuchen müssen. 273
Er wachte aus einem tiefen, von Erschöpfung geprägten Schlaf auf und horchte umher. Er musste sich erst klar werden, wo er überhaupt war. Als er sich erinnerte, suchte er den Ausgang aus seiner Parkbankhöhle, aber er fand ihn nicht. Wieder und wieder tastete er sich an dem Gestrüpp entlang, das um die Parkbank herum wucherte. Es war wie ver hext. Bei jedem Versuch den Weg aus dem Gestrüpp zu finden glaubte er, schneller wieder am Ausgangspunkt anzukommen als bei dem vorherigen Versuch. Er setze sich auf die Bank und streckte die Hand aus. Der kleine Streifen Mond, der in dieser finsteren Nacht nur sehr spärlich zu sehen war, brachte ihm kein Licht, um sich orientieren zu können, und seinem Tastsinn traute er nicht all zu viel zu. Erneut streckte er die Hand aus, und diesmal stieß er an die Zweige des Gestrüpps. Er war ein bisschen beruhigt, denn weder hatte ihn ein streunender Hund geweckt, noch irgend ein Verrückter, der sich die Parkbankschläfer als seine Opfer auserkoren hatte. Er strich sich den Zweig aus dem Gesicht, der ihn so vorwitzig streifte, und wollte sich in sein Nachtlager kuscheln, allerdings musste er vorher die Zweige beiseite schieben, die über seine Schlafstelle hingen. Er musste die Füße heben, weil Blätter und Zweige an seinen Beinen schabten. Schließlich rollte er sich ganz klein zusammen und versuchte einzuschlafen. Schon im Halbschlaf merkte er, wie das Blätterdach sich immer tiefer über ihn neigte. Er war müde und wollte nur noch schlafen. Nicht nachdenken, nichts sehen, nichts hören, schlafen. Am nächsten Morgen sandte die Sonne ihren milden, freundlichen Schein durch das Blätterdach und fand auch ihren Weg auf die Parkbank, die leer und einladend auf neue Besucher wartete …
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Susanne Mederer
C laudias Bild Das Bild hing im Schlafzimmer. Gegen den Willen ihres Mannes hatte Claudia es dort aufgehängt. „Es ist viel zu groß für diesen Raum“, hatte er argumentiert, „und außerdem ist es fürchterlich kitschig.“ Aber Claudia hatte sich durchgesetzt, und nun hing das Familienerbstück am Fußende des Bettes über ihrer Kommode. Umgeben von einem wuchtigen schwarzen Holzrahmen war eine Blumenwiese darauf zu sehen. An ihrem Rand verlief ein baumbestandener Sandweg, der weiter hinten in ein Waldstück führte. Über die Wiese lief eine Frau auf den Wald zu, ihre langen schwarzen Haare und das bis zum Boden reichende weiße Kleid schienen im Wind zu flattern. Manchmal ertappte sich Claudia abends dabei, dass sie, wenn ihr Mann schon schlief, der Frau im Bild leise gute Nacht sagte und sich wünschte, die andere würde sich einmal umdrehen. War sie hübsch? Welche Augenfarbe hatte sie? Es begann an ihrem 20. Hochzeitstag. Als Claudia morgens aufwachte, war es bereits neun Uhr und ihr Mann schon lange bei der Arbeit. Aber auf der Kommode im Schlafzimmer stand eine Vase mit Blumen. Keine langstieligen roten Rosen, sondern ein üppiger Strauß bunter Wiesenblumen. Die zwanzig Rosen brachte ihr Mann am Abend von der Arbeit mit. Claudia hatte zur Feier des Tages sein Lieblingsessen gekocht. Und als sie später im Bett endlich dazu kam, sich bei ihm auch für den morgendlichen Blumengruß zu bedanken, war sie schon viel zu müde, um zu bemerken, wie überrascht er sie ansah. Sein „Die sind nicht von mir“ hörte sie nicht mehr, sie war bereits eingeschlafen. 293
Ein paar Tage darauf war plötzlich die Schachtel mit Claudias Lieblingspralinen leer, obwohl sie am Abend zuvor noch mehr als die Hälfte davon übrig gelassen hatte. „Hast du meine Pralinen aufgegessen?“, fragte sie ihren Mann empört. „Du magst die Sorte doch gar nicht.“ Als er beharrlich leugnete, von der Schokolade gegessen zu haben, verzog sie sich wütend ins Schlafzimmer. Sie zog ihr Nachthemd an, griff nach ihrer Bürste und stutzte plötzlich. Ein paar lange schwarze Haare hatten sich in den Borsten verfangen. Ihre eigenen Haare waren blond, die ihres Mannes kurz und fast völlig ergraut. Unwillkürlich blickte Claudia auf das Bild an der Wand und schrie vor Überraschung leise auf. Die Frau lief nicht mehr über die Wiese, sondern war stehen geblieben und begann nun, sich langsam umzudrehen. Unfähig, sich zu bewegen, starrte Claudia gebannt auf das Bild. Und die andere Frau starrte mit hellgrünen, beinahe gelben Augen daraus zurück. Ihr schwarzes Haar sah glänzend und nicht mehr so windzerzaust aus wie noch am Tag zuvor. Es umrahmte ein schmales Gesicht mit einem tiefrot geschminkten Mund. In einem Mundwinkel klebte ein kleiner Rest Schokolade, den die Frau genüsslich wegleckte, bevor sie aus dem Bild heraus lächelte. Claudia konnte dieses Lächeln nicht mehr ansehen, und ihr Blick wanderte an dem weißen Kleid der anderen Frau hinunter bis zu den nackten Füßen. Sie waren sehr hübsch, aber schmutzig und voller Sand. Claudia schrie erschrocken auf, als sich plötzlich die Schlafzimmertür öffnete und ihr Mann hereinkam. Sie drehte sich zu ihm um. „Das Bild“, stammelte sie, „Die Frau …“ – „Was ist denn damit?“, fragte er. Claudia ergriff seinen Arm und zog ihn zu dem Bild. Eine Blumenwiese, im Hintergrund ein Waldstück, eine Frau, die über die Wiese in Richtung Wald läuft, ihre langen schwarzen Haare und ihr Kleid flattern im Wind. Claudia wischte sich über die Augen. „Nichts“, sagte sie, „ich habe mich geirrt.“ Ihr Mann holte eine Reisetasche unter dem Bett hervor, öffnete seinen Schrank und begann, ein paar Kleidungsstücke einzupacken. „Wo willst du hin?“, fragte Claudia. 294
„Ich muss morgen ganz früh los zu dem Kongress in München. Das habe ich dir doch erzählt. In vier Tagen bin ich wieder da.“ Am nächsten Abend ging Claudia früh ins Bett. Bevor sie das Licht ausmachte, warf sie noch einen Blick auf das Bild. Unverändert lief die Frau über die Blumenwiese. Claudia schüttelte den Kopf. Albern, murmelte sie, Minuten später war sie eingeschlafen. Gegen ein Uhr nachts erwachte sie von leisen Schritten. Die Matratze ächzte ein wenig, als sich jemand vorsichtig auf die andere Bettseite legte. Eine Hand strich ihr zart über das Haar. „Schatz, da bist du ja. Bist du wieder auf dem Sofa eingeschlafen?“, fragte sie schlaftrunken. Als Claudia am nächsten Morgen erwachte, schien die Sonne durch das Fenster herein. Sie tastete mit einer Hand zur Seite. Das Bett neben ihr war leer, aber eine warme Vertiefung verriet ihr, dass bis eben noch jemand darin gelegen hatte. Sie entdeckte den Sand am Fußende und ihr Blick zuckte hinauf zu dem schwarz eingerahmten Bild. Die Frau darin lief über die Blumenwiese, aber sie hatte gerade erst den unteren Bildrand erreicht. Und Claudias Mann war in München auf einem Kongress.
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Grenzgänge
Gudrun Vollmuth
Most Die Betty hat gesagt: „Der Apfelbaum muss raus, ich kann ihn nicht mehr sehen“, und hat mir eine Säge in die Hand gedrückt. Mir tut der Baum Leid. Es ist unser bester Apfel-Mostbaum, die Sorte Kaiser Wilhelm. Was kann der Baum dafür, dass sich an ihm ihr Bruder erhängt hat. Und das kurz vor der Ernte. Die Äpfel wollte die Betty dann nicht mehr vermosten, und so wurde unser Mostfass im Keller nicht voll. Den Ranger (Hang) mit den Walnuss-, Zwetschgen- und Apfelbäumen haben Betty und ihr Bruder gemeinsam von den Eltern geerbt. Den beiden Geschwistern hat der Blick von dort auf das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld nicht gefallen. Beim Bau haben sie sogar dagegen demonstriert, weil so was damals modern war. Aber nun ist dieser Störfaktor abgestellt. Bettys Bruder war immer ein Sonderling. Unverheiratet, kinderlos. Er wurde oft von Kindern gehänselt. Mostbrunser nannten sie ihn, weil er in der Gastwirtschaft nur Most bestellt hat. Auf dem Heimweg drückte ihn die volle Blase. Wenn er beim Entleeren ertappt wurde, setzte er wütend Schimpftiraden ab. Doch dass er sich erhängen würde, damit hat man nicht rechnen können, wenn er auch manchmal gedroht hat: „Euch zeige ich noch, wo der Barthel den Most holt!“ Wir haben uns nichts gedacht, als die Leiter tagelang am Baum lehnte. Es war ja bald Erntezeit. Wenn er es nur heimlich auf dem Dachboden getan hätte. Aber nein, der saubere Herr Bruder hängt sich am Samstagabend im Apfelbaum auf, und seine Leiche ist am Sonntagmorgen gut sichtbar für die Leute von der Bergsiedlung, die den Fußweg zur Kirche nehmen. Schad’ ist es schon um ihn. Es war unser bester Mostbaum. 327
Friedrich Ach
Aus und vobei Oddär: Suwoss mou mä gloar und deidli soong Bevuri midd diir numoal woss ofang, dou nimmi läibär ann Schdrigg und därschäiß mi!
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Susanne Mederer
Nachhause Der Wagen unter der Straßenlaterne stand viel zu weit auf dem Bürgersteig. Sie hätte das nicht weiter beachtet, wenn er nicht auch so dagestanden hätte, als sie in der letzten Woche hier vorbeigekommen war. Lindgrün, irgendwie altmodisch und von unten schmutzverkrustet, als wäre er durch eine tiefe, matschige Pfütze gefahren. Der linke Außenspiegel noch nicht einmal einen Meter von dem Gestrüpp entfernt, neben dem er entgegen der Fahrtrichtung stand. Derselbe Wagen, kein Zweifel. Doch diesmal war etwas anders. Diesmal traf sie nicht zufällig ihre Nachbarin, die von einem Elternabend kam und sich ihr anschloss. Diesmal öffnete sich die lindgrüne Fahrertür in dem Moment, in dem sie zwischen Auto und Gestrüpp hindurchwollte. Der Mann war viel größer als sie, und sein Arm lag lässig auf der Tür, die ihr den Weg versperrte. Er lächelte seltsam, und ihr fiel ein, dass es spät war. Und dunkel. Dunkel war es auch im Kofferraum des lindgrünen Wagens, der irgendwohin fuhr, wohin sie nicht wollte. Denn eben war sie schon fast zuhause gewesen. Jetzt aber schien der Mann von der befestigten Straße abzubiegen, der Wagen rumpelte über einen Schotterweg und fuhr durch eine tiefe Pfütze. Sie konnte hören, wie Wasser von unten gegen den Kofferraum spritzte. Ihr Großvater, erinnerte sie sich, hatte auch einen lindgrünen Wagen besessen, damals, als sie klein war. Der Wagen hatte meist in der Garage gestanden, war nur samstags zum Waschen herausgeholt worden und am Sonntag für eine Ausfahrt mit der Familie. Nie hätte der Großvater zugelassen, dass sein Wagen so schmutzig wurde wie der, in dessen Kofferraum 347
sie jetzt gefangen war. Gefangen, erst bei diesem Gedanken wurde ihr bewusst, was passiert war. Es war so schnell gegangen. Überraschung, Befremden und die Bilder von früher waren so schnell aufeinander gefolgt, dass erst jetzt die Angst kam. Wohin brachte der Mann sie, was hatte er mit ihr vor? Sie war auf dem Weg nachhause gewesen, wann würde sie dorthin zurückkehren können? Sie kehrte nicht mehr nachhause zurück. Was geschehen war, nachdem der Mann den Wagen angehalten und den Kofferraum geöffnet hatte, fiel mit ihr zusammen in das schwarze Loch. Der Platz unter der Straßenlaterne war leer. Erst zwei Tage später fand die Polizei die Handtasche im Gebüsch und begann, den schmutzverkrusteten Reifenspuren auf dem Bürgersteig Beachtung zu schenken. Und bis der Mann mit dem Hund den Körper im Wald fand, vergingen Wochen. Sie schüttelt das Laub ab, unter dem sie liegt. Die Sonne scheint durch das Blätterdach des Waldes, das grün schimmert, lindgrün. Sie fröstelt. Aber es ist nicht das kalte Lindgrün von Metall, sondern ein sanftes, das Licht bringt in das schwarze Loch, aus dem sie jetzt aufsteht. Sie kann den Waldboden riechen, sie spürt einen Windhauch über ihre nackten Arme streichen, in der Ferne bellt ein Hund, und alles scheint so normal. Also geht sie, folgt einem Pfad, ohne zu wissen, wohin er sie führen wird. In diesem Wald ist sie noch nie gewesen, da ist sie sich sicher. Aber seltsamerweise ist das nicht wichtig. Wieder hört sie das Bellen des Hundes, diesmal schon etwas näher. Der Pfad scheint in seine Richtung zu führen. Wo ein Hund ist, ist auch ein Mensch, denkt sie, der mir sagen kann, wo ich bin. Mit dem ich ein paar Worte wechseln kann. Aber auch das ist nicht mehr so wichtig, obwohl sie weiß, dass sie schon lange nicht mehr mit jemandem gesprochen hat. Seit sie in das schwarze Loch gefallen ist. Doch diesen Gedanken verbietet sie sich. Der Pfad endet an einem breiteren Weg. Und da ist er, ein brauner Hund, der hechelnd an der Leine zieht, die ein junger Mann in Jeans und 348
festen Schuhen in der Hand hält. Der Hund blickt in ihre Richtung und bellt ein paarmal. Sie lächelt und öffnet schon den Mund, um den Mann nach dem Weg zu fragen, als ihr etwas merkwürdig vorkommt. Der Hund scheint zu ihr hinlaufen zu wollen, aber der Mann blickt nur abwechselnd seinen Hund an und den Wald hinter ihr. „Was ist los, Enno?“, fragt er das Tier, „Da ist doch nichts. Oder riechst du wieder ein Kaninchen im Gebüsch?“ Sieht er sie nicht? Auch auf ihr „Hallo!“, reagiert er nicht. Sie ist verwirrt, aber es macht ihr keine Angst, und als der Mann und der Hund um die nächste Wegbiegung verschwinden, setzt sie einfach ihren Weg in die entgegengesetzte Richtung fort. Schon nach kurzer Zeit hat sie den Waldrand erreicht und kann über gelb leuchtende Rapsfelder auf ein Dorf schauen, zu dem ein Schotterweg führt. Einmal stolpert sie und sieht zu ihren Füßen eine Vertiefung. Bei Regen muss das eine ziemlich tiefe Pfütze sein, denkt sie, aber dieser Gedanke ist ihr unangenehm. Am Rand des Dorfes ist ein Sportplatz. Eine Gruppe Jungen spielt dort unter der Anleitung eines Mannes Fußball. Als der Mann in ihre Richtung blickt, erschrickt sie, sein Gesicht macht ihr Angst, genau wie das lindgrüne Auto, das neben dem Sportplatz parkt. Auch in den Augen des Mannes steht plötzlich Angst, er pfeift und beendet das Spiel. Aber er sieht sie nicht, das spürt sie, ebenso wenig wie die Jungen sie sehen, die jetzt lachend und schwatzend an ihr vorbeilaufen, dem Dorf zu, nachhause. Auch der Wagen entfernt sich vom Sportplatz, schnell, als werde er verfolgt. Sie ist wieder allein. Nein, nicht ganz allein. Am Rande des Spielfeldes steht ein kleiner Junge, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Die anderen Jungen sind alle viel älter als er gewesen, zehn mindestens, und sie hat ihn eben beim Spiel auch nicht gesehen. Jetzt kommt er auf sie zu. Anders als die anderen bleibt er neben ihr stehen. 349
„Ella“, sagt er, und sie fährt überrascht zurück. „Du kannst mich sehen?“, fragt sie. „Natürlich.“ Er lächelt. „Ich habe auf dich gewartet. Ich warte schon lange, aber es hätte noch viel länger dauern sollen.“ „Was meinst du damit?“, fragt sie. Der Junge greift in seine Hosentasche, holt ein Foto heraus und reicht es ihr. Eine Frau ist darauf zu sehen, offensichtlich hochschwanger, an der Hand hält sie einen kleinen Jungen. Diesen kleinen Jungen, der jetzt vor Ella steht. „Erinnerst du dich?“, fragt er. Und sie erinnert sich. Die Frau auf dem Bild ist ihre Mutter, das Baby im Bauch sie selbst, und der Junge ist ihr Bruder. Ihr Bruder, der an Leukämie starb, zwei Wochen bevor sie auf die Welt kam. „Jan“, flüstert sie. Der lindgrüne Wagen rast über die Landstraße. Dem Mann am Steuer steht die Angst ins Gesicht geschrieben. Heute Morgen die Notiz in der Zeitung, der Leichenfund im Wald und der Aufruf der Polizei nach Zeugen. Und jetzt das seltsame Erlebnis auf dem Sportplatz. Er kann nicht sagen, was ihm dort Angst gemacht hat, aber er ist plötzlich sicher, dass sie ihn schnappen werden. Nicht heute und auch nicht nächste Woche, aber irgendwann. „Jan“, flüstert sie wieder, Tränen laufen über ihr Gesicht. Tränen, die sie nie geweint hat, sie nicht, nur ihre Eltern. Sie konnte nicht weinen um einen Menschen, den sie gar nicht gekannt hat. Sie kennt die Fotos, Jan als Neugeborener, Jan an seinem ersten Geburtstag, Jan im Kindergarten und schließlich: Jan im Krankenhaus. Sie hört sie wieder, die Erzählungen ihrer Eltern. Von Jan, der so ein lebhaftes Baby war. Der so begeistert war von Autos und fachmännisch darüber redete, mit gerade mal vier Jahren. Jan, der oft nicht in den Kindergarten gehen konnte, weil er sich wieder einmal angesteckt hatte mit einer Infektion. Und sie sieht sich selbst, wie 350
sie mit den Eltern an seinem Grab steht, jedes Jahr an seinem Geburtstag. Sie hört sich in Gedanken mit ihm reden, ihm Fragen stellen. „Hattest du Angst, als du gestorben bist? Wie ist das, wenn man tot ist?“ „Jetzt weißt du es“, sagt Jan. „Ich weiß noch viel zu wenig“, sagt sie, „Zeig mir mehr.“ Jan nimmt sie an die Hand, er ist der große Bruder, der er nie sein durfte, und er zeigt ihr seine Welt. Sie vergisst den lindgrünen Wagen und das schwarze Loch, sie vergisst ihren Alltag in der anderen Welt, und sie vergisst, dass sie manchmal wütend gewesen ist auf Jan, der so viel Platz einnahm im Leben ihrer Eltern. Ihr kleiner großer Bruder nimmt sie mit auf eine Reise, die von der Vergangenheit in die Zukunft reicht und die doch nur das Jetzt ist. Schließlich erreichen die beiden ein Haus. Vor der Garage steht ein Wagen, seine lindgrüne Lackierung glänzt in der Sonne, kein Schmutzfleck ist auf ihm zu sehen. Ein alter Mann tritt aus der Haustür. „Ella, Jan“, sagt er, „lasst uns Oma aus der Kirche abholen und einen Ausflug machen.“ Der andere lindgrüne Wagen setzt zum Überholen an. Der Mann am Steuer sieht das Auto, das ihm entgegenkommt, viel zu spät. Hektisch kurbelt er am Lenkrad. Sekunden später liegt sein Wagen auf dem Dach, und die schmutzverkrusteten Räder drehen sich noch eine Weile. Sie hält die Hand ihres Bruders. Der Großvater am Steuer pfeift Hoch auf dem gelben Wagen. Die Rapsfelder ziehen an ihnen vorbei. Und Ella weiß: jetzt fährt sie nachhause, endlich.
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Inhalt
Vorwort
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Krimis schreiben, lesen, anschauen Ludwig Weber
Mein Krimi-Basis-Alphabet
Elisabeth Hannweber
Ein ganz besonderer Fall
15
Klaus Gasseleder
Praktische Literaturtheorie
17
Ingo Cesaro
Kriminal-Haiku 19
Gudrun Vollmuth
Von der Schwierigkeit einen Krimi zu schreiben 21
Gudrun Vollmuth
Gefährliches Gebiet
23
Helga Lingsminat
Etz is er
25
Friedrich Ach
Auffällich 27
Friedrich Ach
Blouss a Beischbiel
9
29
Die Polizei ermittelt Dagmar Scherf
Hochexplosives Menschenmaterial?
33
Norbert Autenrieth
Dürrbeck und die Bratwurstleiche
37
Walter Tausendpfund
Wos woor ne dees
47
Walter Tausendpfund
Imme di glaiche Gschichd
49
Walter Tausendpfund
Wos woor dees?
51
Hans Pfähler
A frängischer Dadord
55
Friedrich Ach
Di Drohung
57
Friedrich Ach
Wie ist die?-Die ist grün!
59 367
Friedrich Ach
Amm Onfang woar a Lob gschdandn
61
Friedrich Ach
Däi wou
63
Gisela Hoffmann-Mehrle Verwechslung 65 E. V.
Die geheimnisvolle Kiste
Frieda Hermann
Zweifel 73
Ludwig Weber
Ermordung eines Gendarmeriewachtmeisters
69 77
Von Unfällen, Zufällen und Bedrohungen Irmi Kistenfeger-Haupt
Es geschah im Oktober
85
Karin Hofbauer
Wilde Tiere
97
Brigitte Dennerlein
Ein Märchen
101
Susanne Mederer
Wo ist Rotkäppchen?
103
Susanne Mederer
Die kleine Leonie
105
Elisabeth Hannweber
Und das auch noch zur Weihnachtszeit
109
Christiane Kron-Oettner
Schnee 113
Christiane Kron-Oettner
Yanna 115
Christiane Kron-Oettner
Vier verlorene Jahre
117
Asta Hitzler
Unfallprädestiniertes Geschwisterduo
121
Gudrun Vollmuth
Gartenarbeit 129
Fritz Schnetzer
Gute Nacht, liebes Tischbein
131
Katharina Polster & Simone Stillger
368
Tod im Jägersee
139
Mörderische Geschichten Ludwig Weber
Mörderische Geschichten
Brigitte Dennerlein
Gespinste 157
Friedrich Ach
Inn Närmbärch schdadd inn Londn
Christine Lössl
Rache 167
Angela Michael
Auf den Stufen
155 159 173
Gisela Hoffmann-Mehrle Verschwunden 179 Gisela Hoffmann-Mehrle Verhängnisvoller Fehler
185
Christiane Kron-Oettner
Der Schal
189
Christiane Kron-Oettner
Verspätet 191
Margit Begiebing
Alte Liebe
193
Margit Begiebing
Das alte Fräulein, das neue Fräulein und ich
201
Hans Pfähler
Perfekt 209
Hans Pfähler
Tod eines Betz’n
Hans Pfähler
Stell dir vor, du schaust unters Bett
und da liegt wirklich einer
Ilse Ruck
Bodenpreise 221
Martina Tischlinger
Couchpotatoes in Wanderstiefeln
Irmgard Seissler
Haselnussplätzchen 229
Margit Begiebing
Rot ist nicht meine Farbe
Angelika Delhaes
Möhrentörtchen 239
Martina Tischlinger
Belladonna und Kahler Krempling
243
Gudrun Vollmuth
Selber Schuld
247
Ludwig Weber
Tödliches Pflanzen-ABC
249
Ludwig Weber
Geschenke selbst gemacht
253
Gisela Wessely
Der Ruf der Amsel
255
Ludwig Weber
Sühne- und Mahnkreuze
261
Ludwig Weber
Nach der Tat
265
213 217 225 231
369
Anderswelten Erika Hauswirth
Harmoniebedürfnis 271
Irmgard Seissler
Die Parkbank
Egon Helmhagen
Geisterstammtisch 275
Christa Bellanova
Das Nürnberger Ei
281
Angelika Delhaes
Die Geister-Gang
287
Susanne Mederer
Claudias Bild
293
Susanne Mederer
Die Kellertreppe
297
Susanne Mederer
Ampelmännchen 301
Anne Götz
Ort des Vergessens
303
Gerd Scherm
Ein folgenschweres Stipendium
311
Angelika Delhaes
Mutabor 321
273
Grenzgänge Gudrun Vollmuth
Most 327
Friedrich Ach
Aus und vobei
329
Frieda Hermann
Der Organist
331
Erika Ruckdäschel
Er war niemandes Freund
335
Erika Hauswirth
Die Uhrenreparatur
339
Susanne Mederer
Nachhause 347
Koschka Hildenbrand
Das Mahl
Koschka Hildenbrand
Schattenlied 355
Wolf Peter Schnetz
Der letzte Tag
357
Wolf Peter Schnetz
Sisyphos 3
359
Wolf Peter Schnetz
Übergang 361
Gisela Wessely
Abschied 363
Erika Ruckdäschel
Am Tag meines Todes
370
353
365