Legendäre Skirennfahrer

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SKI RENN LEGENDÄRE

FAHRER Alexandre Pasteur


UMSCHLAGBILD Ein «abgehobener» Aksel Lund Svindal meistert den vereisten Zielsprung von Garmisch-Partenkirchen, dies anlässlich eines Abfahrtstrainings an den Alpinen Skiweltmeisterschaften 2011. Der Norweger sichert sich an dieser WM die Goldmedaille in der Kombination.

www.as-verlag.ch © AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2017 Gestaltung: Mokkö Graphic Design, www.mokko.fr Satz: AS Verlag & Grafik, Urs Bolz, Zürich Korrektorat: Ellen Elfriede Schneider ISBN 978-3-906055-70-1 Der AS Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

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SKI RENN LEGENDÄRE

FAHRER Alexandre Pasteur

Aus dem Französischen übersetzt von Hans Peter Treichler

AS Verlag

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8 - É M IL E AL L AIS 12 - C HR IST L C R ANZ 16 - T O NI S AIL E R 20 - K AR L S C HR ANZ 24 - GU Y P É R IL L AT 28 - J E AN- C L AU DE KIL LY 32 - C HR IST INE & M AR IE L L E GO IT S C H E L 38 - J E AN- NO Ë L AU GE RT 42 - GU STAVO T HÖ NI 46 - ANNE M AR IE M O S E R - P R Ö L L 50 - F R ANZ KL AM M E R 54 - INGE M AR ST E NM AR K 58 - L IS E - M AR IE M O R E R O D 62 - HANNI WE NZE L 66 - P HIL M AHR E 70 - P E R R INE P E L E N 74 - E R IKA HE S S 78 - P IR M IN ZU R BR IGGE N 82 - M AR IA WAL L IS E R 86 - C AR O L E M E R L E 90 - M AR C GIR AR DE L L I 94 - VR E NI S C HNE IDE R 98 - L U C AL P HAND 102 - AL BE RT O T O M BA 106 - ST E P HAN E BE R HART E R 110 - DE BO R AH C O M PAGNO NI 114 - P E R NIL L A WIBE R G 118 - L AS S E K J U S 122 - K J E T IL ANDR E AAM O DT 126 - K AT J A S E IZINGE R 130 - HE R M ANN M AIE R 134 - DIDIE R C U C HE 138 - R E NAT E GÖ T S C HL 142 - BO DE M IL L E R 146 - BE NJ AM IN R AIC H 150 - M AR IO M AT T 154 - J ANIC A & IVIC A KO ST E L IĆ 160 - ANJ A PÄR S O N 164 - M AR L IE S S C HIL D 168 - AKS E L L U ND S VINDAL 172 - T INA M AZE 176 - T E D L IGE T Y 180 - L INDS E Y VO NN 184 - M AR C E L HIR S C HE R 188 - M IKAE L A S HIF F R IN

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Lindsey Vonn in voller Fahrt auf dem Steilhang «della tofane» der Abfahrtspiste von Cortina d’Ampezzo. Elf Mal hat die US-Amerikanerin im Lauf ihrer Karriere im italienischen Wintersportort triumphiert.

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Vorwort Von Emile Allais bis Mikaela Shiffrin führen uns diese siebenundvierzig Porträts von Spitzenathletinnen und -athleten durch die achtzigjährige Geschichte des alpinen Skisports. Es wäre reizvoll, hier eine Rangordnung zu erstellen, auch wenn damit die verschiedenen Epochen durcheinandergerieten. Angesichts der Entwicklung der einzelnen Disziplinen, der Fahrtechnik, des Materials und der wachsenden weltweiten Verbreitung der Sportart ergäbe diese Vorgehensweise aber keinen Sinn. Bloss auf die Zahl der gesammelten Trophäen abzustellen, genügt nicht, um über die Spur zu urteilen, die ein Champion in der Sportgeschichte hinterlassen hat. Alle hier porträtierten Athletinnen und Athleten haben den höchsten Leistungsstand ihrer Epoche verkörpert. Dieses Werk setzt sich zum Ziel, jedes Porträt mit einem ganz speziellen Moment der jeweiligen Laufbahn zu verknüpfen: mit einem Sieg, einer Niederlage, einem Drama, einem Abschied, einem Ausspruch, einer Emotion . . . Diese Porträtgalerie bleibt gezwungenermassen subjektiv, also ungerecht und unvollständig. Sie weist Lücken auf und geht über manche Personen hinweg, die Titel an den Olympischen Spielen, an den Weltmeisterschaften oder im Weltcup errangen und die es verdient hätten, hier auch aufgeführt zu werden. Eine Sache verbindet alle Spitzenkönnerinnen und -könner: Seit ihrer frühsten Jugend waren sie beseelt von der Leidenschaft, vom Rausch des Gleitens, von der Bereitschaft, Gefahren einzugehen. Erst an zweiter Stelle folgen Reichtum und soziale Anerkennung. Alle waren sie bald überragend, bald zerbrechlich, verwundbar oder verbissen. Alle haben sie beigetragen zum Ruhm des alpinen Skisports – diesem grossartigen und bisweilen grausamen Sport, bei dem eine Zehntelssekunde darüber entscheiden kann, ob eine Karriere in die Legende führt oder ins Vergessenwerden. Alexandre Pasteur

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13 INGEMAR STENMARK Der kühle Champion I N GEM A R ST EN M A R K GEHT I N D I E GE S C H I C HT E D E S A L P I N E N S K I S P O RT S EI N , I N D EM ER M EDA I L L EN I N GE R A D E ZU BE Ä N GST I GE N D E M R H Y T H M US EI N H EI MST. O B S EI N R E KO R D VO N 86 S I EGE N I M W E LT C U P J E EGA L I S I ERT O D ER Ü BERT RO F F E N W I R D, HÄ N GT VO R A L L E M DAVO N A B , W I E L A N GE L I N DS EY VO N N I H R E K A R R I E R E F O RT S ET ZT. Und trotzdem – der Palmarès des zurückhaltenden, ja schüchternen schwedischen Fahrers wäre noch reichhaltiger, wenn er sich häufiger auf die Abfahrtspiste gewagt oder wenn die 1982 eingeführte Sparte des Super-G zu seinen Glanzzeiten schon existiert hätte. Dem dreimaligen Sieger im Gesamtweltcup der Jahre 1976 bis 1978 wären noch weitere grosse Kristallkugeln zuteil geworden, wenn der Internationale Skiverband im Jahre 1979 nicht eine neue Wertungsskala eingeführt hätte, welche die polyvalenten Fahrer eindeutig bevorzugte. Es ist wegen dieses absurden Reglements, dass Stenmark im Januar 1981 bei der Abfahrt von Kitzbühel am Start steht. Dabei hat er die Speedrennen nie geschätzt. Mit Schrecken denkt er an seinen Sturz vom September 1979 zurück, als er in seinem italienischen Trainingscamp Val Senales eine schwere

Gehirnerschütterung erlitt. Wenn sich Stenmark trotzdem auf das feindliche Terrain der Streif vorwagt, dann nur deshalb, weil er der Herausforderung durch den Amerikaner Phil Mahre begegnen will, der das aktuelle Weltcupklassement anführt. Aber das Experiment scheitert; Stenmark wird es auch nie wiederholen. Auf der Piste zittern ihm die Beine, und nach einer zögerlichen Fahrt beträgt sein Rückstand auf den Sieger, den Kanadier Steve Podborski, volle 10 Sekunden. Dabei gibt es einen Mann, der überzeugt ist, aus Stenmark könne ein brauchbarer Abfahrer werden: Ermanno Nogler, sein langjähriger Trainer. Der Italiener aus der Südtiroler Gemeinde Ortisei war selbst aktiver Fahrer und gehörte dem italienischen Team an, das 1952 an den Spielen von Oslo teilnahm.

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PIRMIN ZURBRIGGEN Die Perle der Alpen A L S P I R M I N ZU R BR I G GEN A M EN D E D ER SA I S O N 1989/1990 VO M W ET T BEW E R BSB ET R I EB ZU RÜ CKT R I T T, I ST ER ERST 27 JA H R E A LT. ZU VO R HAT E R S E I N E V I E RT E G ROS S E K R I STA L L KU GEL EN T GEGEN GEN O M M E N U N D I N CA LVA RY D E N T I T E L GEWO N N E N , D ER I H M N O CH F EH LT E: O LY M P I S CH ES A BFA H RT S GO L D. D E R WA L L I S E R M I T D E M E N GE L SG ES I CH T I ST EI N U MJ U BELT ER AT H L ET U N D, GET R E U D E M I M AGE S E I N E S L A N D E S, E I N F R I ED F E RT I GER M EN S CH . M I T S EI N E N BL A U E N A U GE N , D E N D I C HT E N BL O N D E N L O C K E N U N D D E M S O N N EN GEBRÄ U N T EN T EI N T I ST E R D I E GE S U N D H E I T I N P E RS O N . S E I N E N R Ü C KT R I T T VO M W ET T K A M P F BET R I EB R EC HT F E RT I GT E R M I T D E N W E RT E N , NAC H D E N E N E R S EI T S EI N ER F RÜ H EST EN J U GEN D L E BT: D I E FA M I L I E U N D D I E R E L I GI O N .

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19 Im Oktober erwartet seine Frau Monika die Geburt ihres ersten Kinds. Und wenn Gott ihm das Glück gewährt hat, seine Träume als Skisportler zu verwirklichen, ohne seinem Körper zu schaden, so ist jetzt die Zeit gekommen, ein neues Leben zu beginnen. Und dieses zweite Leben wird er den Seinen widmen, seiner Frau und ihren fünf Kindern, aber auch den jungen Skitalenten, die er im Rahmen des Regionalverbands Ski-Wallis betreut und für die er in Brig ein Lernzentrum errichten lässt.

«Suitenhotel Zurbriggen» trägt die Handschrift seines Schwagers, des Zermatter Künstlers Heinz Julen. Fotos von Pirmins Triumphen schmücken die Wände jeder Suite; diese sind benannt nach den berühmtesten Abfahrtspisten des Skizirkus. So leicht geht hier nicht vergessen, dass der Hausherr der erfolgreichste Schweizer Fahrer aller Zeiten ist. Pirmin ist der Fahrer eines Jahrzehnts, der 1980er-Jahre. Seine Karriere überschneidet sich mit jener von Grössen wie Ingemar Stenmark, Alberto Tomba, Phil Mahre und – vor allem – Marc Girardelli, mit dem er sich grossartige Duelle um den Gewinn der grossen Kristallkugel liefert. Diese Trophäe geht in den Jahren 1984 bis

In eigener Sache eröffnet der Hotelierssohn aus Saas-Almagell einen Luxusbau in Zermatt, zu Füssen des Matterhorns. Die Ausstattung im 1998 eröffneten

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0 MARIA WALLISER Der Stern aus Mosnang D I E A US GA N GS L AGE BEI D ER F RA U E NA BFA H RT D E R O LY M P I S C H E N S P I E L E VO N SA RAJ EWO I ST O F F EN W I E S C H O N L A N GE N I C HT M EH R . D ER K A M P F U M D I E S P I T ZE HAT N E U BEGO N N E N , NAC H D E M D I E B EI D EN KÖ N I GI N N EN D ER 1970 E R-JA H R E A B GEDA N KT HA BE N . D I E ÖST ER R EI CH ER I N A N N EM A R I E M OS E R- P RÖ L L HAT S I C H NAC H D ER SA I S O N 1979 /1980 Z U RÜ CKGE ZO GE N , E I N JA H R DA R A U F T U T ES I H R D I E S CH W EI Z ER I N M A R I E-T H E R E S E NA D I G GL E I C H . I N D I ES EM F E BRUA R 1984 Z I EHT EI N E A N D E R E S C H W E I ZE R I N D I E BL I CK E A U F S I CH , U N D D I ES S OWO H L W EGE N I H R E R F I GU R U N D I H R E S ST RA H L EN D EN L ÄCH EL N S W I E I H R E S E L EGA NT E N U N D R AS S I GE N FA H RST I L S W EGEN : M A R I A WA L L I S E R . Die 20-Jährige aus dem Kanton St. Gallen ist eine charmante junge Frau, die vor Lebensfreude sprüht. Auf der Piste hat sie sich einen Namen gemacht, seit sie im Februar 1983 in der Abfahrt von Mégève siegte. In den gleichen Monat fiel die Hauptprobe für die olympische Abfahrt im Skigebiet Jahorina, die sie ebenfalls zuoberst auf dem Podest sah. Das brachte ihr Rang 2 im Abfahrtsweltcup ein, hinter ihrer Landsfrau Doris de Agostini. Auch die folgende Saison lässt sich für die Brünette aus Mosnang vielversprechend an; sie siegt in Val-d’Isère und in Verbier und ist auf dem besten Weg zu ihrer ersten kleinen Kristallkugel im Abfahrtsweltcup. In Sarajewo winkt die nächste Gelegenheit zum Stelldichein mit ihren Bewunderern – ein Treffen, bei dem jedoch das Wetter dazwischenfunkt. Schneetreiben, Wind und Nebel bringen die erste Woche der Spiele durcheinander; die Organisatoren müssen die Abfahrt um fünf Tage verschieben. Am 15. Februar erhalten die Abfahrerinnen endlich grünes Licht

vonseiten der FIS-Funktionäre, aber das Rennen muss wegen Nebel unterbrochen werden. Doch mehr noch als die Launen des Wetters macht Maria Walliser die Konkurrentin zu schaffen, die bei Rennabbruch an der Spitze liegt. Ihre Landsfrau Michela Figini ist zwar erst 17-jährig, beweist aber ihr angeborenes Talent für die Speedstrecke, indem sie in drei der fünf Trainingsfahrten auf der Jahorina-Piste Bestzeit erzielt. Zudem hat sie einige Tage vor Eröffnung der Spiele in Mégève gesiegt – ihr erster Abfahrtssieg.

«Als sich Maria Walliser durch die Startschranke katapultiert, ist sie sich bewusst, dass die Bedingungen gegen sie sprechen»

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VRENI SCHNEIDER Grosses Mädchen – ganz bescheiden S O N NTAG, 19. M Ä RZ 1995 . A L B ERT O T O M BA I ST D I E A L L ES B E H E R RS C H E N D E F I GU R A N D I E S E N L ET ZT E N W ELT CU P R EN N EN D ER SA I S O N , D I E I N BO R M I O A US GET R AG EN W ER D EN . I N Ü BERS CHÄ U M E N D E R W E I S E F E I E RT E R S E I N E N S I EG I M GESA MT W ELT CU P I N M I T T E N J U BE L N D E R FA NS: BE R M U DAS H O RT S, GEL BE RÜ CK EN N U M M E R U N D ST I R N BA N D, E BE N FA L L S G EL B . Ü BER D EM T RU BEL GEHT D E R ZW E I T E D U RC H GA N G D E S F RA U E NS L A L O MS BEI N A H E V ERGES S E N . E S I ST DAS L ET ZT E R E N N EN D E R SA I S O N , U N D ES W I R D DA R Ü BE R E NT S C H E I D E N , W E L C H E D ER B E I D EN S P I T ZEN AT H L ET I N N EN D E R F R Ü H E N 1990 E R-JA H R E D I E G ROS S E K R I STA L L KU GEL EN T GEGE N N I M M T: D I E S C H W E I ZE R I N V R E N I S C H N EI D ER O D ER K ATJA S E I ZI N GE R A US D E U T S C H L A N D. Seizinger kann sich die Trophäe mit einem Platz unter den ersten zehn des Slaloms sichern – die einzige Disziplin, in der sie auf der Weltcuptour noch nie gewann. Nach zwei angespannten und verkrampften Läufen landet sie auf Rang 14, eine halbe Sekunde hinter Rang 10 und 2 Sekunden hinter der Siegerin, Vreni Schneider. Die Schweizerin leidet mit ihrer Rivalin mit, aber sie ist es, die nach ihrem vierten Saisonsieg die grosse Kristallkugel hochstemmen kann – zum dritten Mal in ihrer Karriere. Vreni Schneider nimmt die Trophäe mit gewohnter Bescheidenheit entgegen; in den elf Jahren als Spitzenfahrerin hat sie ihre Siege immer zurückhaltend gefeiert. Und ebenso diskret wird sie nach der Schweizer Meisterschaft im folgenden Monat vom weissen Zirkus Abschied nehmen, zusammen mit ihrem Trainer und Vertrauten Paul-André Dubosson. Das berühmteste Paar im Schweizer Skisport

wollte sich schon im Vorjahr zurückziehen, nachdem sich Vreni Schneider an den Spielen von Lillehammer ihre dritte olympische Medaille geholt hatte. Jetzt, nach drei grossen Kristallkugeln, kann sich die grösste Athletin in der Geschichte des Schweizer Skisports in aller Gelassenheit von der Wettkampfszene verabschieden. Sie hat ihr Ruhm und Anerkennung eingebracht, dies nach einer sorgenvollen Kindheit und Jugend.

«Ich bin keine Maschine» Verena Schneider, Vreni gerufen, kommt im Ostschweizer Kanton Glarus zur Welt. Der Vater ist Schuhmacher, die Verhältnisse sind bescheiden. Als ihre Mutter an einer Krebserkrankung stirbt, ist Vreni gerade 15-jährig; fortan muss sie dem Haushalt vorstehen.

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A USZE I CH N U N G EN : ·  5 5 S I EG E I M W ELT CU P, DAVO N 34 I M S L A L O M , 20 I M R I E S E NS L A L O M , 1 I N D E R KO M BI N AT I O N ·  1. RA N G GESA MT W ELT CU P 1989/1994 /1995 ·  1. RA N G R I E S EN S L A L O M W ELT CU P 1986/1987/1989/1991/1995 ·  1. R A N G S L A L O M W ELT C U P 1989/1990/1992/1993/1994 /1995 ·  1. RA N G KO M BI N AT I O N SW ELT CU P 1989/1991/1993/1995 O LY M P I S CH E W I N T ERS P I EL E: ·  1988 (CA L GA RY ) : 1. RA N G S L A L O M , 1. R A N G R I E S E NS L A L O M ·  1994 (L I L L E HA M M ER) : 1. RA N G S L A L O M , 2. R A N G KO M BI NAT I O N , 3. R A N G R I E S E NS L A L O M A L P I N E S K I W ELT M EI ST ERS CHA F T EN : ·  1987 (CRA NS- M O N TA N A ) : 1. RA N G R I ES E NS L A L O M ·  1989 (VA I L ) : 1. RA N G R I ES EN S L A L O M , 2. R A N G S L A L O M , 2. R A N G KO M BI NAT I O N ·  1991 (SA A L BACH) : 1. RA N G S L A L O M , 3. R A N G KO M BI NAT I O N

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Vorbei sind die friedlichen und glücklichen Kindheitsjahre im elterlichen Haus in Elm, das auf der andern Seite des Gebirges liegt, in dem auch Marie-Theres Nadig aufgewachsen ist. Als Dank für die Liebe und Zuwendung, die sie ihnen entgegenbringt, beschliessen Vrenis Brüder, als ihre Trainer zu wirken. Im Jahr 1984 wird die gross gewachsene Brünette ins Nationalteam aufgenommen; hier will sie in die Fussstapfen der drei überragenden Könnerinnen treten, die den 1980er-Jahren ihren Glanz verliehen: Erika Hess, Michela Figini und Maria Walliser. Beflügelt von der Dynamik dieser Vorgängerinnen, fährt Vreni Schneider ihren ersten Sieg ein: Sie gewinnt im Dezember 1984

winnt sie mit geradezu mechanischer Regelmässigkeit durchschnittlich fünf Rennen pro Saison, was sie am Ende ihrer Karriere auf 25 Weltcupsiege und auf je drei Goldmedaillen an Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen bringt.

den Riesenslalom von Santa Caterina.

Sportlerin, die ihre Gegnerinnen respektiert und über all die Jahre hinweg ihre Vorliebe für das Stricken und für ihr Akkordeon beibehält – die zwei Hobbys, denen sie zwischen den Rennen abends im Hotelzimmer frönt.

Auf den Brettern bietet sie indes kein ästhetisches Bild. Den Kopf zwischen den Schultern eingezogen, die Arme ausgebreitet und den Oberkörper nach vorn gebeugt, «frisst» sie die Slalomtore mit kühler Effizienz. Ausserhalb der Piste zeigt sie sich ausgesprochen schüchtern; sie spricht weder Englisch noch Französisch. Im Team gilt sie als ausgeglichene, faire

«Vreni Schneider hat das Rampenlicht schon immer lieber den anderen überlassen» Während elf Saisons steht sie an der Spitze. Jedesmal gewinnt sie zumindest eines der namhaften Rennen; im Gesamtklassement besetzt sie regelmässig einen Platz unter den ersten zehn. Im März 1989 stellt sie mit vierzehn Saisonsiegen einen neuen Rekord auf. Gegenüber den Reportern beteuert Vreni Schneider mit Vorliebe: «Ich bin keine Maschine.» Trotzdem ge-

Vreni Schneider hat das Rampenlicht schon immer lieber den anderen überlassen. So auch auf dem Podium des Weltcupfinals von Bormio, wo sie zusammen mit Alberto Tomba die grosse Kristallkugel entgegennimmt. Ein unwahrscheinlicheres Paar hat der Weltcup noch nie erlebt, aber auch keines, das in der grossen Geschichte des Skisports so viele Titel auf sich vereint.

LILLEHAMMER, 28. FEBRUAR Mit ihrem Sieg auf der Slalompiste von Hafjell sichert sich Vreni Schneider den dritten Olympiatitel ihrer Karriere.

Alberto Tomba und Vreni Schneider auf dem Podium der Weltcuprennen von Bormio: zwei völlig unterschiedliche Persönlichkeiten, zwei Grosse ihrer Sparte.

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HERMANN MAIER Lärmig und leidenschaf tlich D ER VO R FA H R ER M I T D ER N U M M ER 6 H E I S ST H E R M A N N M A I E R . A N D I E S E M 6 . JA N UA R 1996 HAT D ER T ROS S D ES S K I W E LT C U P S I N F L AC HA U E I NZU G GE HA LT E N . K A U M J E M A N D EM I ST D ER GROS S GEWAC HS E N E 23-JÄ H R I GE BL O N D E I M T R U P P D ER VO R FA H R ER A U F GEFA L L EN , D I E VO R D E N W ET T K Ä M P F E R N D I E P I ST E T E ST E N . D ER J U N GE M A N N L EBT I N F L ACHA U U N D A R BE I T ET I M W I NT E R A L S S K I L E H R E R , I M S O M M E R A L S M A U R ER . EI N U N A U F FÄ L L I GE S DAS E I N F Ü R E I N E N BU RS C H E N A US D E N B ERG EN , D E R M I T 14 JA H R EN ER L EBEN M US ST E , W I E S I C H D I E T Ü R E ZU R E L I T E VO R I H M V ERS CH L OS S . Z U K L EI N GEWACHS E N , H I E S S E S, ZU S C H WAC H E K N I E . D O C H J ET ZT, NACH D ER GEN A U EN A N A LYS E D ER R EN N E RGE BN I S S E , ST E L LT S I C H H E R A US, DAS S D ER VO R FA H R ER M I T D ER N U M M ER 6 M I T E I N E R ZE I T GE ST O P P T W U R D E , D I E I H M I M NACH F O L G EN D EN R EN N EN RA N G 10 E I N GET R AGE N HÄT T E . H E R M A N N M A I E R W I R D U N V E R ZÜ G L I CH F Ü R D EN EU RO PACU P A U F GE BOT E N . U N D H I E R E R F Ü L LT E R S C H O N BA L D D I E ERWA RT U N GEN , D I E ER I N F L AC HA U GEW EC KT HAT. Am 10. Februar tritt Maier in Hinterstoder bereits zu seinem ersten Riesenslalom im Weltcup an, wo er auf Rang 26 landet. Ein Jahr später fährt er seinen ersten Sieg im Weltcup ein; er gewinnt den Riesenslalom von Garmisch. Die Legende hat ihren Anfang genommen; der Österreicher hat den weissen Zirkus durch den Nebeneingang betreten. Dreizehn Jahre und 54 Weltcupsiege später wird er von ihm Abschied nehmen – als lebendes Denkmal und mit einem Übernamen, der für die Ewigkeit Bestand hat: «der Herminator».

gen ungünstiger Wetterbedingungen vier Mal verschobene Abfahrt gestartet, kann Maier nach 17 Rennsekunden bei einem giftigen Höcker nicht abfedern und absolviert, Kopf nach unten und Ski in der Luft, einen Flug über 40 Meter. Er landet im Neuschnee, nachdem er zwei hintereinandergestaffelte Netze durchbrochen hat. Im Schnee kniend, reisst er den Gesichtsschutz weg, tastet seine Schultern ab und steht auf, geschockt, aber ansprechbar. In der folgenden Woche holt er sich Olympiagold sowohl im Super-G wie im Riesenslalom; das Publikum tauft ihn «Herminator». Nichts und niemand kann sich Maier in den Weg stellen. Der Österreicher hat einen neuen Fahrstil entwickelt, bei dem er dank seiner phänomenalen Kraft einen unerhörten Druck auf den Ski ausübt, was ihm in jeder Kurve einen Vorsprung von einem Meter und mehr auf seine Gegner einträgt. Sein Stil wird oft kopiert, aber nie ganz erreicht. Er reiht einen Sieg an den anderen und nimmt im Herzen der Österreicher den Platz ein, der einst Franz Klammer gebührte. Sein überschäumendes Naturell zeigt sich auch bei lärmigen Ausflügen in Bars und Nachtklubs, so etwa in Bormio, wo im März 2000 das Weltcupfinale über die Bühne geht. Maier schliesst diesen Winter mit 2000 Weltcuppunkten ab – ein noch nie auch nur annähernd erreichtes Saisontotal.

54 Siege? «Nein, es sind fünfundfünfzig», heisst seine Antwort. «Einen hat man mir in Val-d’Isère gestohlen.» So geschehen im September 1997 auf der Piste Oreiller-Killy. Maier erzielt Bestzeit in beiden Durchgängen des Riesenslaloms, hebt jedoch im Triumph seine Ski knapp hinter der Ziellinie hoch – einige Meter vor der roten Linie, die die Fahrer nach dem damaligen Reglement passieren müssen, bevor sie die Bindungen lösen. Er wird disqualifiziert. Diese Demütigung beschäftigt Maier immer noch – viel stärker als die beiden Unfälle, die sich bis heute mit seiner Karriere verknüpfen und die im alpinen Skisport Legendenstatus erhalten haben. Der erste trägt sich an den Olympischen Spielen von Nagano im Februar 1998 zu. Als Favorit in die we-

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«Ein von Narben und Schwellungen gezeichnetes Bein erlaubt ihm noch heute nicht, ohne Schmerzen zu gehen»

VAL-D’ISÈRE, 4. FEBRUAR 2009 An seinem Karrierenende angekommen, muss sich Hermann Maier am Super-G der Weltmeisterschaft an der Face de Bellevarde mit Rang 18 bescheiden. Aber mit 24 Weltcupsiegen, fünf kleinen Kristallkugeln, einem Olympia- und einem Weltmeistertitel ist er der am meisten ausgezeichnete Fahrer in der Geschichte dieser Disziplin.

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zweiten Leben als Skirennläufer steht Maier vierzehn Mal zuoberst auf dem Podest, so im Jahr 2005 beim Riesenslalom der Weltmeisterschaft von Bormio. Ein Jahr zuvor gewinnt er zudem die vierte grosse Kristallkugel seiner Karriere – und all dies mit einem von Narben und Schwellungen gezeichneten Bein, das ihm noch heute nicht erlaubt, sich ohne Schmerzen fortzubewegen. Seit dem Motorradunfall hat Maier an Kraft eingebüsst, und ebenso an Ehrgeiz. Doch das tut nichts: Für diesen plötzlich so menschlich gewordenen Athleten hat der Sieg nicht mehr erste Priorität. Ohne das Unglück von Radstadt hätte Maier wahrscheinlich den Rekord von 86 Weltcupsiegen geknackt, den Ingemar Stenmark innehat. Als er im Oktober 2009 mit Tränen in den Augen das Ende seiner Karriere bekanntgibt, steht er bei 54 Siegen – das zweithöchste Total bei den Männern.

Der zweite Unfall ereignet sich am 24. August 2001. Auf dem Motorrad unterwegs zwischen Flachau und dem wenigen Kilometer entfernten Radstadt, wird Maier von einem Auto erfasst. Sein rechtes Bein wird zertrümmert. Ganz Österreich steht unter Schock; der offizielle Fernsehsender unterbricht sein Programm, um die Schreckensnachricht zu verkünden. Hermann Maier muss auf die Olympischen Spiele von Salt Lake City verzichten; seine Karriere als Skirennfahrer scheint am Ende. Nur mit knapper Not entgeht der König der Pisten einer Amputation. Nach einer siebenstündigen Operation erwacht Maier mit einem Metallnagel von 36 Zentimeter Länge im Bein. Nach langen Monaten der Rekonvaleszenz tritt er im Januar 2003 erstmals wieder zu einem Rennen an – zum Riesenslalom von Adelboden, den ein gewaltiges Medienaufgebot begleitet. Aber noch fehlen die gewohnten Reflexe und das Gefühl für den Ski; Maier kann sich nicht für den zweiten Durchgang qualifizieren. Doch zwei Wochen später schon kämpft er sich in Kitzbühel durch das dichte Schneetreiben und holt sich einen symbolträchtigen und emotionsbeladenen Sieg im Super-G, seiner Lieblingsdisziplin. In seinem

Heute, mit 45 Jahren, hat Maier mit dem weissen Zirkus kaum mehr zu tun. In der Öffentlichkeit zeigt er sich selten. Mit einem Fernsehteam überquerte er den Südpol, und dem österreichischen Fussballteam stand er eine Zeitlang als Mentalcoach zur Seite. Doch vor allem kümmert er sich um das Hotel, das er in St. Johann bei Kitzbühel eröffnete, und widmet die freien Stunden seinen drei Töchtern. In Österreich ist er zum Mythos geworden, vergleichbar einem Niki Lauda oder einem Arnold Schwarzenegger. Vollends gilt er in seiner Heimatgemeinde Flachau als lebendes Denkmal; hier verfolgt eine permanente Museumsausstellung die Spuren dieser unwahrscheinlichen Karriere.

A USZE I C H N U N G E N : ·  5 4 S I EGE I M W E LT C U P, DAVO N 15 I N D E R A BFA H RT, 24 I M S U P E R- G, 14 I M R I E S E NS L A L O M , 1 I N D E R KO M BI NAT I O N ·  1. R A N G GE SA M T W E LT C U P 1998/2000/2001/2004 ·  1. R A N G A BFA H RT SW E LT C U P 2000/2001 ·  1. R A N G W E LT C U P S U P E R- G 1998 /1999/ 2000/2001/2004 ·  1. R A N G R I E S E NS L A L O M W E LT C U P : 1998/2000/2001 O LY M P I S C H E S P I E L E : ·  1998 (NAGA N O) : 1. R A N G S U P E R- G, 1.  R A N G R I E S E NS L A L O M ·  2 006 (T U R I N) : 2. R A N G S U P E R- G, 3.  R A N G R I E S E NS L A L O M A L P I N E S K I W E LT M E I ST E RS C HA F T E N : ·  1999 (VA I L ) : 1. R A N G A BFA H RT, 1. R A N G S U P E R- G ·  2 001 (ST.  A NT O N) : 2. R A N G A BFA H RT, 3. R A N G S U P E R- G ·  2 003 (ST.  M O R I T Z) : 2. R A N G S U P E R- G ·  2 005 (BO R M I O) : 1. R A N G R I E S E NS L A L O M

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DIDIER CUCHE Herkules aus dem Jura M Ä RZ 2012 . U M DAS EN D E S EI N ER K A R R I ER E Z U F E I E R N , V E R K L E I D ET S I C H D I D I E R C U C H E . Z U M ZW EI T E N D U RCH GA N G D ES R I ES ENS L A L O M S A M W E LT C U P F I NA L E VO N S CH L A D M I N G T R I T T ER A N I N D ER A US R ÜST U N G E I N E S S K I FA H R E RS D E R 1930 E R-JA H R E: S K I A US H O L Z , BÉR ET A U F D E M KO P F, E I N E N L ED E R N E N R U C KSACK A U F D EN S CH U LT ER N . GEM ÄCH L I C H S C H W I N GT D E R S C H W E I ZE R D U RC H D I E KU RV E N D E R P L A N A I - P I ST E , FÄ L LT M EH R M A L S H I N , ST E HT W I ED E R A U F U N D Ü B ERQU ERT U N T ER D EM A P P L A US D ES ÖST E R R E I C H I S C H E N P U BL I KU M S D I E ZI E LL I N I E . ER B EDA N KT S I CH M I T S EI N EM BE R Ü H M T E N « S K I - F L I P », D E N A L L E A N D I E S EM TAG V ERSA M M ELT EN R I ES EN S L A L O M FA H R E R I M I T I E R E N –   A L S A BS C H L I E SS EN D E E H R U N G F Ü R D EN CHA R I S M AT I S C HST E N FA H R E R S E I N E R GE N E R AT I O N . Dabei war Didier Cuche nie olympischer Champion, und auf der Jagd nach der grossen Kristallkugel stand ihm immer ein ausgeglichenerer oder brillanterer Gegner im Wege. Er hat nie die Abfahrt am Lauberhorn gewonnen, auch wenn er drei Mal den zweiten Platz schaffte, und an den Weltmeisterschaften schaute eine einzige Goldmedaille heraus, dies nach einem Husarenritt über die Face de Bellevarde beim Super-G von Val-d’Isère im Jahr 2009. Dass einige Titel fehlen, trübt aber nicht das Bild eines grosszügigen und uneigennützigen Champions, den seine Landsleute verehren und seine Rivalen bewundern. Didier Cuche zieht sich mit 37 Jahren auf dem Gipfel seines Ruhms zurück, kurz nachdem er mit seinem fünften Sieg auf der Kitzbüheler Streif den Rekord gebrochen hat, den er bis anhin mit Franz Klammer teilte, und nach einem letzten Sieg im Weltcup-Super-G, den er im heimischen Crans-Montana feiert. Der Schweizer lässt sich auch durch ein Angebot seines österreichischen Ausrüsters Head Ski nicht beirren: Eine Million Euro bietet die Firma, wenn Cuche seine Karriere bis zur Weltmeisterschaft von Schladming im Februar 2013 verlängert.

eines Powerbündels, das weder Zweifel noch Verletzungen kennt. Aber auch er ist nicht verschont geblieben von den physischen Leiden, an denen Träume und Karrieren zerbrechen. Seine Laufbahn hätte beinahe im Jahr 1993 nach einem Oberschenkelbruch ein jähes Ende gefunden, und drei Jahre später drohte bei einem Aufenthalt in Australien nach einem Doppelbruch von Schien- und Wadenbein das gleiche Schicksal. Diese Unfälle verzögern jedoch nur seinen Aufstieg an die Weltspitze des Skisports. Didier Cuche ist ein Mann, der hartnäckig und verbissen an sich arbeitet. Geboren wird er im Sternzeichen des Löwen in Le Pâquier, einer kleinen Gemeinde im Schweizer Jura.

Mit seinem kahlen Schädel und dem Körperbau eines Catchers vermittelt Didier Cuche das Image eines Kraftwürfels, den nichts von der Stelle rücken kann,

Das Skifahren erlernt er auf den Hängen des Wintersportorts Les Bugnenets, den sein Grossvater aufgebaut hat. Cuche steht mit beiden Füssen auf dem

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FEBRUAR 2010, WHISTLER MOUNTAIN Mit ihrem Abfahrtssieg an den Spielen von Vancouver holt sich Lindsey Vonn den bisher einzigen olympischen Titel ihrer Karriere.

LINDSEY VONN Die Schneekönigin DAS GES I CH T HA L B VO N EI N ER S O N N EN BR I L L E V E R D EC KT, S CH WA R ZE M Ü T Z E A U F D EM KO P F U N D E I N F O U L A R D M I T T OT EN KO P F M UST ER U M D EN HA L S, S C H L OT T E RT T I GE R WO O DS I M V I P -A BT E I L D ES ZI EL RA U MS VO N CO RT I NA D’A M P E ZZO. D ER E NT T H RO N T E KÖ N I G D ER GO L F P L ÄT ZE I ST A M VO RTAG I N D EN D O L O M I T EN EI N GET RO F F EN , U M S E I N E PA RT N E R I N L I N DS EY VO N N A U F I H R ER R EKO R DJAGD Z U U N T E RST Ü T ZE N . A M VO RTAG H AT D I E US-A M ER I K A N ER I N I N D ER A BFA H RT GE S I EGT. GEW I N NT S I E A U CH N O CH I M S U P ER- G, HÄ LT S I E E I N E N N E U E N R E KO R D: J E N E N D E R G RÖS ST EN Z A H L VO N W ELT C U P S I EGE N BE I D E N F RA U E N . S EI T 1980 GEH Ö RT ER M I T 62 T I T E L N D E R ÖST E RR E I CH ER I N A N N EM A R I E M OS ER- P RÖ L L . Lindsey Vonn ist besessen von diesem Rekord und von der Spur, die sie in der Geschichte des Skisports hinterlässt. Der Medientrubel in ihrem Leben als Starathletin, der sie mit ihrem golfspielenden Partner verbindet, hat sie in ihrer Motivation und ihrer Willenskraft nicht beeinträchtigt. Um ein Haar hätte ihre Karriere indes nach einem fürchterlichen Sturz im Super-G der Weltmeisterschaft von Schladming im Jahr 2013 ein brüskes Ende gefunden, als sie einen Kreuzbandriss des rechten Knies und eine Meniskusverletzung erlitt. Neun Monate später stürzt sie erneut in Val-d’Isère und muss den Olympischen Winterspielen Sotschi 2014 fernbleiben. Aber die Championne setzt alles daran, an die Weltspitze zurückzukehren und ihrem Sport zu noch grösserem Ansehen zu verhelfen. Mit 30 Jahren ist sie der grösste Star, den der weisse Zirkus seit Alberto Tomba erlebt hat. Sie ist schön, reich, unbeschwert, waghalsig und gut vernetzt, und dank ihr hat der Skisport seinen Weg in die Hochglanzmagazine vom Typ «People» gefunden. Immer tritt sie tadellos geschminkt zu ihren Rennen an; sie schwärmt

für die Welt der roten Teppiche und der mondänen Partys, nimmt auch mal eine Nebenrolle in einer Folge der New Yorker Krimiserie «Law and Order» ein, posiert im Badeanzug im Schnee für das Magazin «Sports Illustrated», träumt davon, die Männer auf der Skipiste herauszufordern, hüpft im Helikopter von einem Berggipfel zum anderen und fliegt auf Kosten ihrer einflussreichen Partnerfirmen im Privatjet in die USA zurück, wenn zwischen zwei Wettkämpfen etwas Zeit bleibt. Trotz dieser Vorliebe für spektakuläre Auftritte und die Welt des «BlingBling» bleibt sie jedoch eine aussergewöhnliche Athletin, die hart an sich arbeitet und tollkühn ihren Körper aufs Spiel setzt, um ihren Siegesdurst zu stillen.

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Sie kommt als Lindsey Kildow in Saint Paul in Minnesota zur Welt – diesem Bundesstaat, dem es nicht an Schnee, wohl aber an Bergen mangelt. Ihre ersten Ski probiert sie als 3-Jährige auf dem kaum 100 Meter hohen Buck Hill aus, unterstützt von ihrem Vater, einem ehemaligen Skirennfahrer. Schon früh fällt sie einem österreichischen Trainer auf und zieht bald darauf mit ihrer Familie nach Vail im Bundesstaat Colorado, in den bedeutendsten Wintersportort des Landes, wo sie über ihre private Trainingspiste verfügt. Als 9-Jährige nimmt sie bereits an internationalen Wettkämpfen teil und siegt mit 14 Jahren am Trofeo Topolino, dem bedeutendsten Wettkampf der Nachwuchsklasse. Im

Alter von 20 Jahren vertraut sie sich dem österreichischen Trainer Robert Trenkwalder an, der sie zu einer wahren Kampfmaschine heranzieht, dies mit radikalen Trainingsmethoden: erste Übungseinheiten ab sechs Uhr morgens, Fitness, Muskelaufbau, Physiotherapie.

Es folgen Sommercamps in Chile und in Neuseeland – alles wird eingesetzt, um sie zur vollkommenen Athletin zu formen. Die Folge: ein Seiten füllender Palmarès, der im regelmässigen Rhythmus von durchschnittlich sechs Siegen pro Saison zusammenkommt, dank makelloser Technik und phänomenaler Kraft.

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Ihre Risikobereitschaft, gekoppelt mit ihrer hervorragenden physischen Verfassung, erlaubt ihr, die Kurven direkter anzufahren als ihre Rivalinnen. Nachdem sie ihre Karriere als Speedspezialistin begonnen hat, wendet sie sich schrittweise den anderen Sparten zu und heimst im Jahr 2008 ihre erste grosse Kristallkugel ein. Sie wird vollends zur Allrounderin mit ihrem Sieg im Slalom von Levi im November 2008 und dem ersten Platz im Riesenslalom von Sölden (2011). Dem sportlichen Aufstieg zur Spitze und dem entsprechenden Medienrummel hält indes ihre Ehe mit dem Riesenslalomspezialisten Thomas Vonn nicht stand, was die Blondine aus Minnesota nicht daran hindert, weiterhin ihre Siege und Kristallkugeln einzufahren.

Partner Tiger Woods zu. Ob sie in Gedanken bereits einen weiteren legendären Markstein anpeilt? Noch hält Ingemar Stenmark mit 86 Siegen im Weltcup den Rekord . . . Auf diesen 19. Januar 2015 folgen viele weitere Siege, aber auch einige Stürze. Bei einem Sturz im andorranischen Soldeu bricht sich Lindsey Vonn im März 2016 das Schienbein, was sie einen weiteren – fünften – Sieg im Weltcup-Gesamtklassement kostet. Im Dezember des gleichen Jahres bricht sie sich den Oberarm und lässt sich auf ein Rennen gegen die Zeit ein, um rechtzeitig für die Weltmeisterschaft von St. Moritz gerüstet zu sein. «Hinfallen, Schmerzen spüren, wieder aufstehen, das gehört zu meinem Job», meint dazu der Star, der sich bereits auf die Olympischen Spiele von Pyeongchang in Südkorea ausrichtet. Denn wenn sie bisher auch 77 Weltcupsiege

«Der unersättliche Hunger eines Stars, der im Skisport zwei Dinge sucht: den Glamour und den Sieg»

gesammelt hat, kann sie «nur» auf einen Olympiatitel verweisen, auf die Goldmedaille in der Abfahrt von Vancouver (2010). Zu wenig für den unersättlichen Hunger eines Stars, der im Skisport zwei Dinge sucht: den Glamour und den Sieg.

Auch an diesem 19. Januar 2015 macht Lindsey Vonn vom Start weg klar, dass sie in diesem Rennen die Hauptrolle spielen wird. Förmlich von Kurve zu Kurve fliegend, rast sie dem 64. Triumph ihrer Karriere entgegen – der Rekord von Annemarie Moser-Pröll gehört der Geschichte an. Kaum hat sie die Ziellinie überquert, mit einem Vorsprung von 85 Hundertsteln auf die Österreicherin Anna Fenninger, winkt sie diskret ihrem

FEBRUAR 2009 In Val-d’Isère erlebt Lindsey Vonn zwei unvergleichliche Wochen. Auf der Piste Rhône-Alpes holt sich die US-Amerikanerin ihre ersten beiden WM-Titel, dies in der Abfahrt und im Super-G.

A USZE I CH N U N G EN : ·  7 7 S I EGE I M W ELT CU P, DAVO N 39 I N D E R A BFA H RT, 27 S U P E R- G, 4 I M R I E S E NS L A L O M , 2 S L A L O M , 5 KO M BI NAT I O N ·  1. RA N G GESA MT W ELT CU P 2008/2009/2010/2012 ·  1. R A N G A B FA H RT SW ELT C U P 2008/2009/2010/2011/2012/2013/2015 /2016 ·  1. R A N G W E LT C U P S U P ER- G 2009/2010/2011/2012/2015 ·  1. RA N G KO M BI N AT I O N SW ELT CU P 2010/2011/2012 O LY M P I S CH E S P I EL E: ·  2 010 (VA N CO UV ER) : 1. RA N G A BFA H RT, 3. R A N G S U P E R- G A L P I N E S K I W ELT M EI ST ERS CHA F T EN : ·  2 007 (Å R E ) : 2. RA N G A BFA H RT, 2. RA N G S U P E R- G ·  2 009 (VA L- D’ I S ÈR E) : 1. RA N G A BFA H RT, 1. R A N G S U P E R- G ·  2 011 (GA R M I S CH) : 2. RA N G A BFA H RT ·  2 013 (S CH L A D M I N G) : 1. RA N G S U P ER- G, 1. R A N G R I E S E NS L A L O M , 1. R A N G KO M BI N AT I O N ·  2 015 (VA I L ) : 3. RA N G S U P ER- G ·  2 017 (ST. M O R I T Z ) : 3. RA N G A BFA H RT

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«Dieser Fehler hat ihn befreit. Hirscher schüttelt die Spannung ab und stürzt sich in die Kurven»

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MARCEL HIRSCHER Eine Staatsangelegenheit D I E S K I W ELT M E I ST E RS C HA F T VO N S C H L A D M I N G, D I E A N D I E S E M 17. F EBRUA R 2013 ZU E N D E GE HT, H I NT E R L ÄS ST BE I D E N ÖST ER R EI CH E R N E I N E N BI T T E R E N NAC H GE S C H M AC K . F Ü R D I E S K I N AT I O N N U M M E R E I NS HAT K E I N E I NZI GE R I N D I V I D U E L L E R T I T E L H ERA US GES C HA U T. D E R ÖST E R R E I C H I S C H E S I EG I M T E A M W ET TBEW ER B L ÄS ST DAS P U BL I KU M K A LT. ZU M GL Ü C K BL E I BT N O C H DA S S L A L O M R E N N E N D E R M Ä N N E R . gesichert, und zwar in Schladming auf der Planai, der Piste gleich um die Ecke seines Wohnhauses. Elf Monate später begleiten ihn an dieser Weltmeisterschaft fünfundvierzigtausend Zuschauer mit ihrem Jubel zum Start des Slaloms.

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Das österreichische Publikum setzt hier alles auf Marcel Hirscher, den Kraftwürfel mit den stählernen Nerven. Mit knapp 24 Jahren spielt Hirscher im Team bereits die Rolle des Chefs. Im März vor einem Jahr hat er sich die erste von fünf grossen Kristallkugeln

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Hirscher kommt in Annaberg in der Provinz Salzburg zur Welt. Sein Vater, ein Skilehrer, ist Österreicher, seine Mutter stammt aus Holland. Seine Ausbildung zum Skisportler durchläuft er zusammen mit der Nachbarstochter Anna Fenninger, der zukünftigen Skikönigin Österreichs. Mit 1 Meter 76 ist Marcel nur mittelgross, aber die Skipiste verleiht ihm schon bald die Statur eines Riesen. Das verdankt er vor allem seiner physischen Kraft und einem unvergleichlichen Gleichgewichtssinn, den er mit Hilfe einer Slackline im Garten und jahrelanger Übung im Motocross entwickelt hat. Bereits mit 20 Jahren, im Dezember 2009, gewinnt er sein erstes Weltcuprennen, den Riesenslalom von Val-d’Isère. Zu Beginn seiner Karriere landet er gelegentlich noch vorzeitig neben der Piste, aber dann zeigt er sich Woche für Woche als Ausbund an Kaltblütigkeit und technischem Können, das so ausgefeilt ist, dass es fast unsichtbar wirkt. Als Genie des Slaloms und des Riesenslaloms scheut Hirscher aber keineswegs vor dem Vergleich mit den Schwergewichten der Speedrennen zurück, wenn die Piste es ihm erlaubt, seine phänomenale Explosivität auszunützen. Das Auftauchen dieses Talents lässt die Verantwortlichen des österreichischen Verbands aufhorchen. Seit dem Rücktritt von Hermann Maier und dem Nachlassen von Benni Raich ist das Land auf der Suche nach einem neuen Helden.


SKI RENN LEGENDÄRE

FAHRER

Ob sie im Slalom, Riesenslalom, im Super-G oder in der Abfahrt brillieren – die siebenundvierzig Skirennfahrerinnen und -fahrer, die dieses Buch vorstellt, haben eines gemeinsam: den Platz auf dem Podest. Die meisten von ihnen haben mehrmals in Weltcuprennen gesiegt und Goldmedaillen an Olympischen Winterspielen oder Skiweltmeisterschaften eingeheimst. Von Ingemar Stenmark über Alberto Tomba, Luc Alphand oder Katja Seizinger haben alle diese Champions eine tiefe Spur in der Geschichte des alpinen Wettkampfsports hinterlassen. Siebenundvierzig aussergewöhnliche Schicksale und ebenso viele aufwühlende, mitunter tragische Episoden, bebildert von den besten Fotografen des Genres – ein Buch, das in die Bibliothek eines jeden Anhängers des Skisports gehört.

ISBN 978-3-906055-70-1


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