114140

Page 1


Brunnen Verlag Gießen

Verena Unsin

Der Randgänger Roman 240 Seiten, Taschenbuch, 12 x 18,6 cm Erscheinungsdatum: 01.08.2011 ISBN: 978-3-7655-4140-7, Bestell-Nr.: 114140 EUR 9,99 (D) / SFr *15,60 / 10,30 (A) © 2011 Brunnen Verlag Gießen www.brunnen-verlag.de Lektorat: Eva-Maria Busch Umschlagmotiv: Photocase (PNetzer), Shutterstock Umschlaggestaltung: Sabine Schweda Satz: DTP Brunnen Herstellung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm


Er erwachte, als die Wohnungstür mit einem Knall zufiel. Sein Funkwecker zeigte ihm 12.30 Uhr. Hatte er so lange geschlafen? Ihm war es vorgekommen, als wäre er vollkommen weg gewesen. Seine Mutter war wohl zu ihrer Schicht gegangen. Er hatte sie seit vorgestern nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich war sie gestern nach der Arbeit direkt zu Paul gegangen und erst heute früh gekommen, um sich umzuziehen. Ihm war es fast lieb, sie wieder verpasst zu haben. Beim letzten Mal, als sie sich zwischen Tür und Angel begegnet waren, hatte sie gemeint, mit ihm reden zu müssen. Adrian vermutete, dass es etwas mit der Schule zu tun hatte. Letztes Jahr hatte er sein Abi versaut, aber sie hatten ihm noch mal ’ne Chance gegeben. Sie hielten ihn für intelligent … Na ja, er hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn sich diese angebliche Intelligenz mal blicken ließe. Aber da er sowieso nicht wusste, was er außer Schule machen sollte, war er drauf eingegangen. Jetzt war es Ende September, gerade mal drei Wochen vergangen, und schon rief seine Ma in der Schule an … Wahrscheinlich konnte er sich noch vor Ende des Halbjahrs nach irgendeinem beschissenen Job umsehen. Beim Macces Fritten verteilen oder so. Eigentlich konnte es ihm ja egal sein, wenn ihn seine Ma nicht immer mit diesem Blick anschauen würde, der zu sagen schien: „Ich wusste es! Kein Stück besser als dein Vater!“ Deshalb hatte er sich vorgenommen, es ihr zu zeigen und doch das Abi zu machen. Aber er bekam es einfach nicht gebacken, morgens aufzustehen, und mit seinem Stundenplan kam er auch nicht klar. Englisch sollte eigentlich kein Prob21 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


lem sein, er zockte Spiele in Englisch, seit er zwölf war, weil es ihn angepisst hatte, so lang zu warten, bis sie in Deutsch rauskamen. Er konnte reden, im Chat verstanden ihn alle, und die britischen Sitcoms die er sich immer reinzog, verstand er ohne Probleme. Was wollte nur die Lehrerin immer von ihm? Irgendwelche gähnend langweiligen Literaturbesprechungen zu verfassen von Büchern, die vor zweihundert Jahren mal der Hit waren und in denen die ganze Zeit irgendwelche gelangweilten Damen versuchten, sich einen respektablen Ehemann zu angeln und sich über Musselin unterhielten, fand er nicht sehr motivierend. In seiner freien Arbeit hatte er eine Analyse über die Bösewichte in „Der Herr der Ringe“ geschrieben. Vor allem über Saruman hatte er sich ausgelassen – und sie hatte ihm immerhin zehn Punkte gegeben, aber er hätte seine Quellen nicht ordentlich genug angegeben … Wie sollte er auch, das Zeug war doch auf seinem Mist gewachsen. Aber das hatte sie ihm nicht abgenommen. Die hatte ihre Lieblinge, die Schuller-Ehrenschmidt, das war klar. Vor allem so Mädels, die sich die Augen über diesen historischen Romanen ausheulen konnten. Sein anderer Leistungskurs war Geschichte, vielleicht nicht ganz so glücklich gewählt. Er wusste viel über das Mittelalter, das war einer der Gründe für seine Entscheidung gewesen, aber hier musste er sich mit dem Marshallplan und endlosen Abhandlungen über den Zweiten Weltkrieg herumplagen. Fünfmal hatte er „Schindlers Liste“ gesehen – und fand es nur noch zum Gähnen. Und dann waren da noch Mathe, Deutsch und Bio. In Deutsch konnte er sich irgendwie durchmogeln, aber in 22 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Mathe verließen ihn sämtliche Improvisationskünste. Und Bio war stures Pauken, das war ihm klar, aber er konnte sich immer so schlecht überwinden, wirklich das alles auswendig zu lernen, was in seinen unvollständigen, chaotischen Mitschriften stand. Im Kühlschrank herrschte Ebbe. Er hätte einkaufen sollen – gestern. Hatte es vergessen, nachdem er den komischen Typ auf dem Dach getroffen hatte. An dessen Gesicht konnte er sich gar nicht mehr erinnern. Hatte er ihn sich nur eingebildet? Er fand eine Packung Aspirin und löste eine Tablette in einem Wasserglas auf. In seinem Zimmer lag neben dem Computer eine angebrochene Chipstüte. Er nahm sich eine Handvoll und drehte dann die Musik auf. „Wer hat das Wochenende erfunden?“, kam aus seinen Boxen. Die Shuffle-Wiedergabe traf es mal wieder voll. Und der Gedanke, der ihn fast täglich streifte, kam auch jetzt wieder vorbeigesegelt. „Wen würde es wirklich stören, wenn ich nicht mehr da wäre …“ „Samstag ist Selbstmord!“, grölten die Jungs von Tocotronic aus den Lautsprechern. Er grinste. Den Gefallen tat er ihnen nicht. Noch nicht. Paul fänd’s wahrscheinlich spitze. Bestimmt waren sie nur seinetwegen noch nicht zusammengezogen. Seine Ma hing jetzt bestimmt schon fünf Jahre mit dem Typ rum. Anfangs hatte sie noch versucht, ihm Paul schmackhaft zu machen … von wegen, er würde mit ihm was unternehmen und so. Aber das war alles nur shit, und er, Adrian, hatte es gewusst. Seine Ma war echt schick und gehörte noch nicht zum alten Eisen – schon klar, dass sie nicht ewig solo sein wollte. Aber diesen Streber fand er einfach zum Kotzen. 23 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Er suchte seine Klamotten zusammen und zog sich an. Seine Haare waren ganz schön lang geworden und er schob den Pony nach hinten, damit er die Augen frei hatte. Er musste sich Kippen besorgen, wenn er diesen Tag überstehen wollte. Er checkte seine Jackentaschen nach dem Hausschlüssel und machte sich auf den Weg. Vor dem Haus sah er kurz hinauf zum Dach, wo er gestern gesessen hatte. Ein paar Tauben hockten dort, sonst war nichts zu sehen. Ihn fröstelte. Er zog den Zipper an seiner Jacke hoch und lief bergab Richtung Innenstadt. Der alte Stadtkern erstreckte sich im Tal entlang des Flusses, der die historische Altstadt teilte. Nach zwanzig Minuten passierte er die alte Steinbrücke und blieb einen Moment stehen, um in das schäumende bräunliche Flusswasser zu sehen. Ein Stück weiter oben sah er den hohen gotischen Kirchturm, der alle anderen Häuser überragte. Vielleicht sollte er mal wieder dort vorbeischauen. Er mochte das alte Gebäude; mit seinen vielen Spitzen und Bögen sah es fast aus wie in den Mittelaltercomics. Ein Mädchen aus seiner Schule kam ihm entgegen. Sie kam aus einem der alten Fachwerkhäuser und ging dann in die entgegengesetzte Richtung. Er überlegte, wie sie hieß, aber der Name fiel ihm nicht ein. Hatten sie nicht Englisch zusammen seit diesem Jahr? Na ja, auch egal. Er ging in eine Seitenstraße und stieß die Tür zu einer miesen Kneipe auf. Nachdem er sich am Zigarettenautomaten mit Nachschub versorgt hatte, machte er gleich wieder kehrt. Die Luft da drin war zum Schneiden. Nun ging er zur Kirche hinauf und erklomm die vielen Stufen. Der Seiteneingang stand für Besucher offen. 24 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Er nahm den vertrauten Weg hinter den Altarraum. Dort befanden sich in den Nischen einige Statuen der Gönner aus längst vergangenen Zeiten sowie die historischen Tafeln eines geschnitzten Flügelaltars. Was Adrian am besten gefiel: Im Steinboden war eine Plexiglasplatte angebracht worden, die den Blick in die längst nicht mehr zugängliche Krypta der Kirche ermöglichte. Dort waren fein säuberlich Schädel und Beinknochen aufgeschichtet, die beim Umbau des Gotteshauses im Laufe der Jahrhunderte zum Vorschein gekommen waren. Seit er das erste Mal die Kirche besichtigt hatte, war er von diesen alten Knochen fasziniert gewesen. Diese Menschen waren vor Hunderten von Jahren in der Krypta bestattet worden. Niemand wusste, wer sie waren und wie sie gelebt hatten. Vielleicht war der eine oder andere ermordet worden oder tragisch umgekommen. Man würde es nie mehr herausfinden. Bestimmt hätten sie nie gedacht, dass sie einmal unter Plexiglas zu einer Touristenattraktion werden sollten.

Benn besah sich die Welt von oben. Er stand gleich neben einem imposanten Wasserspeier in Drachenform. Die Menschen unten auf dem Marktplatz waren ganz klein. Seit der letzten Nacht hatte er sich wieder in die Geistform zurückgezogen, so konnte ihn niemand sehen, es sei denn, der Meister würde es wollen. Aber aus dem Mezzanin hatte er noch nicht weichen dürfen. Es sei noch nicht an der Zeit, hatte ihm der Meister ausdrücklich eingeschärft. 25 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Er wollte mich nicht haben“, hatte Benn ihm berichtet, obwohl der Meister das natürlich längst wusste, aber er ließ sich gern alles erzählen, was sie erlebt hatten. „Nein, das wollte er nicht. Dennoch, deine Arbeit ist noch nicht erledigt.“ „Wozu sollte ich auf das Auto aufpassen, gestern Nacht?“, hatte er gefragt. „Damit es keinen Schaden anrichtet. Sie sollte keinen Ärger bekommen.“ „Gestern war ich in der Klinik. Zwei junge Männer sind bei dem Motorradunfall auf der Bundesstraße ums Leben gekommen. Hätte ich nicht dorthin gehen können?“ Benn wusste, das war von ihm rein hypothetisch gefragt. Dennoch brannte es ihm auf der Seele. Falls er so etwas wie eine Seele besaß. Er wusste, die Menschen hatten Seelen. Er sah sie meist nur in diesem Abbild. Adrians Seele, dunkelblau, durchzogen von einem Riss, der innen tiefrot pulsierte. Nur ein kleines Eckchen war grau. Alle möglichen Farben leuchteten auf, da im Mezzanin. Doch was er selbst war … ein anderes Geschöpf, ein Geistwesen. Und wenn er in so einem Organismus steckte, wie all die Leute da unten im Mezzanin, dann musste er mit all den Eindrücken, die durch menschliche Sinne verursacht wurden, fertig werden. Das fiel ihm gar nicht so leicht. Es war einfacher, die Seelen anzuschauen und in ihnen zu lesen, als in diesen Körpern, in diesen Augen. Es war ihm ein Rätsel, wie der Meister das alles zu begreifen vermochte. „Kümmere dich um Adrian. Er wird bald nach dir fragen“, sagte der Meister. „Es ist schwer, klar zu sehen, wenn man dort unten ist.“ 26 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Ich weiß. Auch ich hatte damit zu kämpfen. Aber mach dir keine Sorgen. Handel einfach so, wie ich es dir aufgetragen habe.“ „Natürlich.“ Ganz unten auf dem Marktplatz stand eine graue Seele. In ihrer Mitte wirbelte ein orangefarbener Punkt, wie von einem Pinsel, der einen Farbtropfen in einem trüben Wasserglas hinterlassen hatte. Dieser Mensch schien von Trauer verschlungen zu werden. Nur das kleine Orange kämpfte tapfer im Zentrum des grauen Sturms. Vielleicht ein Hoffnungsgedanke. Vielleicht würde er die Oberhand gewinnen. Benn hatte Seelen die Farbe wechseln sehen, wenn sie auch immer ihren Grundton behielten, wie die zarten Pastelltöne der Seele eines Neugeborenen, so schien sie Licht und Helligkeit zu durchstrahlen, wenn der Mensch Frieden in sich trug, wenn ein alter Hass vergeben, eine alte Wunde geheilt wurde. Und da war sie, dunkelblau mit dem tiefroten Strich. Sie bewegte sich über den Marktplatz und verschwand im Gebäude der Kirche, auf der Benn es sich gerade bequem gemacht hatte. „Nanu, da ist er. Soll ich zu ihm gehen?“ „Noch nicht. Bleib noch ein bisschen. Ich finde es gerade schön hier mit dir.“ „Danke Meister, ich auch mit dir.“

Und wieder ein Montag. „Tell me why I don’t like Mondays …“ Adrian schälte sich missmutig aus seinem Bett, als der Wecker klingelte. Er hatte die halbe Nacht damit ver27 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


bracht, einem Dahaka davonzulaufen und zu versuchen, die zwei Türme außer Gang zu setzen. Das Spiel war echt nicht mehr das neueste auf dem Markt, aber kniffelig und irgendwie Kult. Er hatte es bis jetzt noch nie geschafft, ganz bis zum Ende zu zocken. Manchmal verlor er nämlich die Geduld und von Speicherpunkt zu Speicherpunkt war es weit. Sein „Prinz“ war immer wieder tot zu Boden gegangen und dann war in der blutroten Schrift „Spielende“ auf dem Bildschirm erschienen. Spiel beenden oder noch einmal versuchen? Letzte Nacht hatte bei ihm der Ehrgeiz gesiegt. Um drei Uhr früh war er ein paar Speicherpunkte weitergekommen. Irgendwann gegen Mitternacht hatte er die Haustür gehört. Seine Mutter hatte den Kopf zu ihm ins Zimmer gesteckt. „Gibt’s keine Milch mehr?“ Adrian hatte nur kurz mit den Schultern gezuckt, ohne sich vom Bildschirm abzuwenden. Wenn er beschäftigt genug wirkte, würde sie hoffentlich nicht auf das Thema Schule zu sprechen kommen. „Hab’s vergessen“, gab er sogar mit leichtem Bedauern in der Stimme zurück. Seine Mutter seufzte kurz. Er wusste nicht recht, ob es der fehlenden Milch für den Morgenkaffee oder seinem Verhalten galt. „Die nächsten drei Tage hab ich früh“, informierte sie ihn. „Mmhh.“ „Mach nicht mehr so lang, okay?“ „Ja, klar“, antwortete er abwesend. Seine Mutter nickte, was er eher als eine Bewegung hinter seinem Rücken erahnte, als dass er es wirklich sah. 28 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Bin dann im Bett. Schlaf gut.“ „Jau.“ Jetzt war ’ne Dusche nötig. Er wankte in das kleine hellblau gekachelte Badezimmer und ließ seine Boxershorts und T-Shirt auf den Boden fallen. Den Hebel für die Temperatureinstellung drehte er auf warm. Er wartete eine Weile, bis das Wasser auch wirklich eine angenehme Temperatur hatte. „Bin eben ein Weichei“, schoss es ihm durch den Kopf. Bei dem Gedanken musste er unweigerlich grinsen. Mit den permanenten Schatten unter den Augen und seinem fast kinnlangen schwarzen Haar wirkte er auf die meisten Menschen wohl eher Hardcore. Aber ihm gefiel das. Er hatte kein Bedürfnis, weich zu wirken – wer hatte das schon? Die Leute ließen ihn in Ruhe und die Lehrer übersahen ihn meist großzügig. O Gott, war das Englisch in den ersten zwei Stunden? Er hätte im Bett bleiben sollen! Seine Mutter hatte ihm eine Notiz auf dem Küchentisch hinterlassen. Sie würde nach der Arbeit einkaufen gehen. Auch recht. Er hatte ohnehin keine Lust dazu. Er trank schwarzen Kaffee und rauchte eine Zigarette. Den Rauch blies er aus dem geöffneten Küchenfenster. Er saß mitten auf dem hellen Kiefernholztisch eines wohlbekannten schwedischen Möbelhauses, den seine Mutter damals bei ihrem Einzug direkt unter dem Fenster platziert hatte. Der kleine Adrian sollte einen netten Platz für die Hausaufgaben haben. Und für sie beide ein Platz an der Sonne zum Essen … Adrian konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt mit seiner Mutter an diesem Tisch gesessen hatte. 29 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Morgennebel hielt sich zwischen den Häusern. Er sah den Mann mit der Latzhose wieder, diesmal wahrscheinlich auf dem Weg zur Arbeit. Und auch die Frau mit dem Hund, der einen Laternenpfahl anpinkelte. „Das sollte ich mal vor ihrer Haustür machen, was sie dann wohl sagen würde? Komisch bei einem Hund regt sich keiner drüber auf, aber wehe …“ Sollte wohl heißen, er war mehr als ein Hund. Seine Mutter mochte es nicht, wenn er rauchte. Sie hatte früher selber geraucht wie ein Schlot und sein Vater hatte sich darüber aufgeregt. Nach der Scheidung hatte sie die Kippen weggeschmissen und ihm verkündet, dass von nun an alles anders werde. In diesem Punkt hatte sie nicht gelogen. Er respektierte ihren Wunsch, wenigstens in der Wohnung nicht zu rauchen. Fast zumindest. Darum blies er den Rauch ja zum Fenster hinaus. Schließlich konnte er den Moment des Aufbruchs nicht weiter hinauszögern. Ein Blick auf die blaue Uhr über der Küchentür sagte ihm, dass er zu spät kommen würde. Adrian zog in Seelenruhe seine abgewetzten Docs an und schlüpfte in seine Jacke. Wo war der Rucksack mit dem Schulkram? Hatten sie eigentlich Hausaufgaben aufgehabt? Bestimmt. Ach, was soll’s? „Fuck Schuller-Ehrenschmidt.“ Die Haustür fiel ins Schloss und er trabte die Treppenstufen hinab. Draußen steckte er sich noch eine Kippe an. Für den Weg. Bis zur Schule würde er sie aufgeraucht haben. Das Gymnasium West lag nur zehn Minuten zu Fuß von seinem Wohnviertel entfernt. Das Beste am Schulweg war der Soundtrack zum Laufen. Er hatte seinen MP3-Player eigent30 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


lich immer dabei und klickte sich auf ein bisschen „System“. Das verbreitete doch gleich die richtige Antihaltung für den Tag. „They tried to build a prison, for you and me to live in, another prison system …“ War nicht alles ein verdammtes Gefängnis? Jeden Tag der Einheitsbrei, die Schule, wie sie dir eintrichtern wollten, was für dich wichtig sein sollte, wie sie dich mit ihrer Ideologie volltexteten, wie man ihrer Ansicht nach zu leben hatte … Vielleicht hatte er dazu einfach keinen Bock? – Aber man konnte nicht einfach sagen, dass man dazu keinen Bock hatte! O nein, wehe jemand brachte ihr schönes System vom Arbeiten gehen, Steuern zahlen und irgendwann verrecken durcheinander. Alles nur eingesperrt sein. Was hatte es überhaupt für einen Sinn, sich abzumühen? Man hatte sowieso nicht in der Hand, was mit einem geschah. Die Bäume und Büsche in den Vorgärten, an denen er vorbeilief, begannen ihr Outfit zu wechseln. Braun-, Rot- und Gelbtöne wurden wieder getragen. Allerdings erschienen sie durch den Nebel und das trübe Morgenlicht nur gedämpft, wie wenn man durch eine Milchglasscheibe blickt. Auf dem Asphalt des Gehwegs lagen vereinzelt zermatschte Früchte von Obstbäumen, die den Herbstwinden nicht mehr getrotzt hatten. Adrian kickte ein Stück grünen Apfel auf die Fahrbahn. Dann schickte er sich an, die Straße zu überqueren. Gegenüber lag die breite Schulhofeinfahrt. Im nächsten Moment vernahm er durch den Geräuschpegel in seinen Ohren ein anderes laut quietschendes Geräusch. Es kam ihm seltsam vertraut vor, auch wenn er es nicht gleich zuordnen konnte. Langsam drehte er seinen Kopf nach links. Nicht mal zehn Zentimeter von seinen Bei31 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


nen entfernt war das Auto zum Stillstand gekommen. So klangen in den Actionfilmen immer die Vollbremsungen bei den Verfolgungsjagden. Durch den Nebel erkannte Adrian, wie der Fahrer des Wagens ausstieg und auf ihn zukam. „Mann, Junge! Bist du in Ordnung? Ich hab ’ne Vollbremsung hingelegt. Bist wie aus dem Nichts aufgetaucht! Ist aber auch verdammt schlechte Sicht heute.“ Der Mann trug einen dunklen Anzug und schien es eilig zu haben. Adrian nahm langsam seine Kopfhörer ab und zog ein letztes Mal an der Kippe, bevor er sie zu Boden fallen ließ und mechanisch austrat. „Hei, sag doch etwas. Geht’s dir gut? Ich hab dich doch nicht touchiert?“ Besorgt wandte sich der Mann halb zu seinem Wagen, einem Audi neueren Baujahrs, und betrachtete durch seine leicht beschlagenen Brillengläser die Stoßstange. „Das ist ne 30er-Zone. Und ich steh hier auf ’nem verdammten Zebrastreifen, okay? Hier ist ’ne Schule, comprende?“, äußerte sich Adrian schließlich und mit den Worten der Feststellung stieg der Ärger in ihm hoch. Was dachte sich dieser neureiche Knacker eigentlich, wer er war? Kam da mit seinem Audi und seiner Designerbrille an und dachte deshalb, er hätte ’nen Persilschein? So Typen konnte er nicht ab. Die erinnerten ihn an Paul. Und überhaupt, er hätte tot sein können! Diese Erkenntnis durchflutete ihn wie ein plötzlicher fiebriger Schub. „Wow, das war echt knapp daneben! Warum reg ich mich so auf? Bin ich erleichtert oder enttäuscht?“ Was Adrian erschreckte, war die Erkenntnis, dass er das Gefühl nicht benennen konnte. Außer seiner rechtschaffenen Wut. 32 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Ganz ruhig, Junge. Ist ja alles noch mal gut gegangen. Gott sei Dank, der Wagen ist neu. Die Bremsen funktionieren wirklich tadellos … Solltest aber in Zukunft besser aufpassen, erst recht bei solchem Wetter, wenn du auf die Straße trittst.“ In diesem Moment passierte langsam ein weiteres Auto aus der anderen Fahrtrichtung. „Besser wir machen die Straße frei, bevor doch noch etwas geschieht. Also, nichts für ungut.“ Der Mann begab sich zurück in seinen Wagen. Adrian stand noch fast zehn Sekunden da, ohne sich von der Stelle zu rühren. Der Mann hinter der Windschutzscheibe machte eine auffordernde Geste, die ihm nahelegte, die Straße fertig zu überqueren. Da löste sich seine Starre. Er warf dem Fahrer einen bösen Blick zu, holte mit voller Wucht aus und trat in den rechten Scheinwerfer. Hätte er heute Morgen seine alten Chucks angezogen, hätte wohl sein Fuß Schaden genommen. Aber jetzt, in seinen mit Stahlkappen verstärkten Schuhen, spürte er nur eine grimmige Freude, als das Plastik des Scheinwerfers brach. Bevor der Mann auch nur ein verdutztes Gesicht aufsetzen, geschweige denn ihm hätte folgen können, war Adrian bereits über den menschenleeren Schulhof gerannt. Er fühlte sich triumphal. Der Typ hatte ihn anpissen wollen und er hatte es geschafft, schneller zu sein. Das gelang ihm fast nie. Normalerweise hielt er sich aus solchem Trouble raus. Nicht auffallen, war seine Devise. Bei seinem Spurt zum Klassenzimmer musste er aufpassen, dass er nicht zu lachen begann, denn sonst wäre ihm vielleicht die Luft zum Rennen ausgegangen. Er hatte keine Angst, dass der Typ ihn verfolgen würde. 33 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Wie, bitte schön, sollte er rauskriegen, in welche Klasse Adrian ging, geschweige denn seinen Namen? Außerdem hatte der Audityp ihn fast umgefahren. Dass der sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten hatte, nahm er ihm nicht ab. So schlecht war die Sicht nun auch nicht gewesen. Als er die dunkelgrüne Tür zum Klassenzimmer aufstieß, war er zwar außer Atem, aber in der besten Stimmung seit Beginn des Schuljahres. Ein Nahtoderlebnis – und er fand, er war brillant damit umgegangen.

„Übrigens kannst du den Kofferraum jetzt loslassen.“ „Ja, Meister. Hast du gesehen, was er mit dem Licht gemacht hat?“ Wieder eine dieser Fragen, die sich erübrigte, aber er war immer noch ganz erstaunt über das, was sich da vor seinen Augen zugetragen hatte. Der Fahrer, der zunächst ausgestiegen und ein paar Meter hinter Adrian hergerannt war, kehrte zu seinem Wagen zurück. Man konnte ihn über den „verdammten Vollidioten“ fluchen hören. Er öffnete die Wagentür und kramte aus seinem Aktenkoffer eine Digitalkamera, fotografierte den Schaden und setzte sich dann wieder ans Steuer. Der Motor startete.

Trotz Schuller-Ehrenschmidt und der nachfolgenden Schulstunden blieb Adrians Hochstimmung den ganzen Morgen über erhalten. Er fühlte sich fast wie high. Die scharfen Kommentare über sein Zuspätkommen prallten ohnehin 34 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


an ihm ab, aber diesmal bemerkte er nicht einmal die genervten Blicke der anderen in seinem Kurs, ihr vorwurfsvolles Augenbrauenheben und die leise getuschelten Missbilligungen. Er setzte sich an seinen Platz neben dem Fenster und verfolgte scheinbar teilnahmslos das Unterrichtsgeschehen. Er machte sich nicht die Mühe, etwas aufzuschreiben. Lektüre war mal wieder Wuthering Heights. Er fand, Heathcliff war ein verdammter Psychopath. Heutzutage hätte man ihm wahrscheinlich eine Unterlassungsklage an den Hals gehängt oder so was. Aber die Tussi, Catherine, war ja auch nicht besser. Total durchgeknallt. Eigentlich schon fast bewundernswert, dass sich eine Frau so was hatte ausdenken können … War das nicht der Stoff für Stanley Kubrick oder Alfred Hitchcock? Psycho oder The Shining? Gab’s da nicht auch ’nen Song, Wuthering Heights? O ja, seine Ma hatte den oft gehört, vor allem nach der Trennung. Wahrscheinlich ohne jemals den Text wirklich zu verstehen. Wahnsinn, wie lang das schon alles her war. Acht Jahre. Mathe und Deutsch rauschten an ihm vorbei. Dann, kurz nach der zweiten Pause, sie hatten gerade ihre Geschichtsbücher aufgeklappt und lasen über das Entstehen der Republik nach dem Zweiten Weltkrieg, klopfte es an der Klassenzimmertür. Dr. Röter, der wegen seines gedrungenen Körperbaus, dem kahlem Schädel und seiner durch die runden Brillengläser überdimensional erscheinenden Augen insgeheim Dr. Kröte genannt wurde, rief ungehalten: „Herein!“ Er konnte es gar nicht leiden, wenn jemand seinen Unterricht störte. Die zwei Männer, die in der Tür standen, waren eindeutig 35 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Beamte in Uniform. Im nächsten Moment kam der Direx hereingeschossen, fahrig und hochrot im Gesicht. „Entschuldigen sie, Dr. Röter, aber die Sache duldet keinen Aufschub.“ Er ließ seinen Blick über die Gesichter in den Bänken schweifen, bis er an Adrian hängen blieb. „Adrian Birkson, raus. Der Rest: weitermachen.“ Alle Augen waren jetzt auf ihn gerichtet. Er stand langsam auf. „Scheiße!“ Das war alles, was ihm durch den Kopf schoss. Er zitterte innerlich, aber seine Bewegungen waren kontrolliert. Es war ein langer Gang bis zur Tür. Sobald der Direx ihn hinausgewunken hatte, schloss er die Tür gleich wieder hinter ihm. Drinnen hob sofort das Gesumm vieler Stimmen an, das von Dr. Krötes „Ruhe!“ beendet wurde. Adrian fühlte sich an der Schulter gepackt und den Gang entlanggeschoben. Bis sie im Sekretariat angekommen waren, sagte niemand ein Wort. Währenddessen hatte sich in Adrians Kopf ein Gedanke geformt: Wie? Wie waren sie auf ihn gekommen? Direktor Reimann machte die Tür sorgfältig zu und verschränkte dann die Arme vor seinem Körper. „Diese beiden Herren von der Polizei hätten ein paar Fragen an dich.“ Adrian schluckte die Standardantwort, er habe nichts ausgefressen, herunter. „Grüß Gott erscht a mal. I bin der Herr Bauer und des isch mei Kollege, der Herr Kovacic.“ Auf den freundlichen Ton des Beamten war Adrian nicht gefasst gewesen. Der Dialekt brachte ihn fast zum Lachen. Er musste sich zusammenreißen, dass sein Gesicht keine Emotionen preisgab. Ihm dämmerte, dass die beiden Polizisten sich fast täglich mit so etwas herumschlagen mussten und 36 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


durchaus Schlimmeres gewöhnt waren. Außerdem war ihnen bewusst, dass ihre Uniformen genug Eindruck machten, zumindest beim Direktor. „Uns liegt da a Anzeige wegen Sachbeschädigung vor. Und mir sind da aufgrund der Angaben des betreffenden Fahrzeughalters auf Sie gekommen.“ Adrian wusste daraufhin nichts zu sagen. Was hatte der Typ ihnen verraten können? Natürlich dass er hier zur Schule ging. Aber hier gingen bestimmt über 500 Kids in die Schule. Nur waren davon vielleicht 70 in seiner Altersstufe … „Es schaut so aus“, schaltete sich nun der Kollege Kovacic ein. „Wir würden das gern gütlich klären. Soll heißen, der Fahrzeughalter zieht seine Anzeige zurück, wenn der Schaden beglichen wird.“ „Wie kommen Sie ausgerechnet auf mich?“, wagte Adrian nun doch zu fragen und seine Stimme klang beruhigend cool in seinen Ohren. Kovacic holte einen Notizblock aus der Tasche und las: „Zirka eins achtzig groß, schlank, grüner Parka, Jeans, Kopfhörer …“ Dabei fixierte er kurz Adrians große Kopfhörer, die um seinen Hals gehängt waren. „Schwarze, längere Haare. Raucher.“ „Wir haben auch sehr genaue Angaben zur Uhrzeit. Und Ihre Englischlehrerin hat vorhin im Lehrerzimmer gesagt, Sie wären heute Morgen eine Viertelstunde zu spät aufgetaucht.“ „Fuck Schuller-Ehrenschmidt“, schoss es ihm heute schon zum zweiten Mal durch den Kopf. Musste die ausgerechnet zur falschen Zeit am falschen Ort sein? Oh, sie musste es genossen haben, den Bullen diese Info brühwarm reinzudrücken. Er konnte es immer noch abstreiten, aber würde 37 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


ihm das etwas nützen? Würde dieser superkorrekte Audityp ihn nicht bei einer Gegenüberstellung sofort erkennen? Dem schien ja echt kein Detail entgangen zu sein. Er wusste kaum noch, wie der Typ ausgesehen hatte, außer dass er ihn als Bonzenarsch beschreiben würde. Leugnen schien jedenfalls mehr als blöd zu sein. Wie viel kostete wohl so ein Scheinwerfer? Aber warum sollte er ihn bezahlen? Der Typ hatte ihn schließlich fast überfahren? Letztendlich kam es aber darauf nicht an, das war Adrian klar. Er hatte ihm das Ding kaputt getreten, er würde dafür bezahlen müssen. Es sei denn, er wollte ein Verfahren und ’ne Vorstrafe an den Hals. Seine Augen wanderten zu Direktor Reimann und der Sekretärin Frau Schubert, die mit großen Augen alles mitverfolgt hatte. Klar, morgen wusste die ganze Schule Bescheid. War das überhaupt erlaubt, ihn hier vor allen Leuten in die Mangel zu nehmen? „Können wir das vielleicht woanders besprechen?“, fragte er. „Wollen Sie mit aufs Revier?“ „Wenn’s sein muss. Aber ich hab keine Böcke, hier alles auszubreiten. Der Raum hat mir zu viele Ohren.“ Da lachte Herr Bauer. Kovacic warf seinem Kollegen einen missbilligenden Blick zu. „I tät a mal sagen, Sie gehen mal gschwind vor die Tür und dann klären mir des mit dem Herrn Birkson … Sie sind ja volljährig, net wahr?“ „Aber, ich kann meinen Schüler doch nicht bei einem Verhör allein lassen …“, begann Direktor Reimann. „Es handelt sich nicht um ein Verhör. Nur eine Unterhal38 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


tung“, mischte sich jetzt Kovacic ein. Anscheinend fand er die Idee seines Kollegen gar nicht so schlecht. Sie hatten weiß Gott Besseres mit ihrer Zeit anzufangen. Alles, um die Arbeit hier zu verkürzen, war ihm recht. Die Schubert stand auf und ging mit dem Direx nach draußen. Sobald sie weg waren, sahen die beiden Polizisten ihn erwartungsvoll an. „Der ist nie im Leben nur mit 30 dahergekommen. Beweisen kann ich’s natürlich nicht. Ich bin grad über den Zebrastreifen gegangen. Bin halt ein bisschen ausgetickt. Der hätte mich fast platt gemacht, okay?“ Adrians Wut kehrte nun mit aller Macht zurück. „Irgendwelche Verletzungen?“, erkundigte sich Herr Bauer. Er schüttelte den Kopf. „Dann würd ich sagen, regeln wir des doch wie erwachsene Menschen und Sie übernehmen die Reparaturkosten. Setzen Sie sich persönlich mit ihm in Verbindung, des macht an guten Eindruck.“ „Mich würde interessieren, warum Sie es für angebracht hielten, ihm seinen Scheinwerfer zu demolieren.“ Kovacic sah ihn prüfend an. Adrian wich seinem Blick aus und schwieg. „Gut, dann schaun wir, das ma hier fertig werden. Wir nehmen jetzt Ihre Personalien und Ihre Aussage auf, und dann geben wir Ihnen die Kontaktdaten für den Herrn, auf dass der sich au wieder abregt.“ Adrian schluckte und nickte.

39 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Adrian warf seinen Rucksack auf den Boden und riss an seinen Schnürsenkeln. Er war ziemlich genervt. Als er entdeckte, dass seine Zehen am rechten Fuß blau geworden waren und nicht schlecht wehtaten, trug das nicht gerade zur Besserung seiner Stimmung bei. Am liebsten wäre er bei dem Audityp vorbeigegangen und hätte ihm seine Mülltonne angesteckt oder so was. Was für ein bescheuerter Tag. Plötzlich verspürte er den Wunsch, irgendjemandem von diesem ganzen Mist zu erzählen. Er hatte nur keine Ahnung, wem. Seiner Ma auf keinen Fall. Mal wieder traf ihn die Realität mit ungeschönter Härte: Er hatte niemanden zum Reden. Er war allein. Er hatte keine Kumpels, Freunde, geschweige denn eine Freundin. Er war ein Einzelgänger. Meistens war ihm das auch ganz recht. Dann musste man sich wenigstens nicht die ganze Zeit anstrengen, dass jemand einen mochte, der sich sowieso davonmachen würde, sobald er einen kleinen Blick auf dein wahres Ich werfen konnte. Und über kurz oder lang geschah das. Man konnte nicht ewig auf einem oberflächlichen Level mit den Leuten um sich herum bleiben, oder zumindest dachte Adrian, dass er das nicht könnte. Er war nicht gut im Small Talk. Er war nicht gut darin, über Belanglosigkeiten zu reden, Interesse zu heucheln für Dinge, die ihn nicht im Geringsten interessierten, oder jemandem Honig ums Maul zu schmieren, von dem er keine hohe Meinung hatte. Und musste man sich nicht in jeder Beziehung auf irgend so etwas einlassen? Natürlich. Sein Kumpel Matti, mit dem hatte er sich gut verstanden. Er war der Einzige gewesen, der sich mit dem neuen Jungen in der Klasse abgegeben hatte, nachdem er mit seiner Mutter 40 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


hier in dieser Stadt gelandet war. Sie hatte einen guten Job im Klinikum bekommen und war als Intensivschwester bald zur Stationsleitung aufgestiegen. Kein Loser, so wie ihr Sohn oder ihr Exmann. Matti und er hatten Nachmittage damit verbracht, Comics zu lesen, Computerspiele zu zocken oder im Park herumzuhängen. Aber dann war Matti weggezogen und er war nicht wirklich ein treuer Briefschreiber. Er selbst ja auch nicht. Na ja, von was hätte er ihm auch berichten sollen? Hier passierte ja nichts. Er ging zur Schule, er wurde älter. Er sah fern und las. Er hing seinen Gedanken nach. Er rauchte immer mehr, weil es ihn an diese erste Zigarette mit Matti erinnerte. Eine Zeit voller Gelächter und dämlicher Wünsche für die Zukunft. Adrian ging ins Bad und warf einen Blick in den Medizinschrank. Der war immer gut bestückt. Vielleicht fand er ja eine Salbe für seine blauen Zehen. Komisch, dass ihm der Schmerz nicht früher aufgefallen war. In der Schule war er in so einer Hochstimmung gewesen, dass er das Pulsieren im Fuß gar nicht wahrgenommen hatte. Ganz schön stabil, so ein Scheinwerfer. Krass, dass er es überhaupt geschafft hatte, ihn zu demolieren. Er war eigentlich kein besonders kräftiger Typ. Vielleicht war’s der Adrenalinrausch gewesen, der ihn dazu befähigt hatte so viel Schaden anzurichten. Na, viel hatte es ihm nicht gebracht, seine Kräfte zu testen. Er fand Schmerzsalbe, die er sich auf den Fuß schmierte. Dann langte er nach einer Schachtel mit Schmerzmitteln. Seine Mutter saß quasi an der Quelle, an Medikamenten hatte es in ihrem Haushalt noch nie gemangelt. Sogar Tavor war 41 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


da. Ein starkes Beruhigungsmittel. Wahrscheinlich warf seine Ma hin und wieder eine ein, wenn sie Schlafprobleme hatte. Just for fun stibitzte sich Adrian ab und an von ihrem Vorrat. Es war echt genial, sich so unbeschwert und ruhig zu fühlen. Nicht nur nach außen ruhig wirken, denn er wusste, dass er, wenn er mit ein paar Maschinenpistolen und Handgranaten in seine Schule gehen würde, sie genau das über ihn in den Zeitungen schreiben würden: „Auf mich hat er immer ganz ruhig gewirkt …“ Na ja, nach dem heutigen Vorfall nicht mehr. Jetzt wären sie gewarnt, wenn er so was Irres vorhätte. Denn irre war es, das wusste er. Und es wäre nicht fair. Nur um noch mal lautstark den Abgang zu machen … Wenn er ihn machte, dann so, wie sein Leben war. Still und leise. Unspektakulär. Leider. Oder lieber nicht? Er nahm zwei Paracetamol und eine Tavor und spülte sie mit einem Glas Wasser hinunter. Dann legte er sich auf sein Bett und war ziemlich schnell mit einem Lächeln auf den Lippen weggetreten.

Das Seltsame an diesem menschlichen Körper war, dass er zwar alles damit empfinden konnte, aber es hatte keine Auswirkungen auf den Organismus, so wie es das bei einem richtigen Menschen gehabt hätte. Er spürte den kalten Herbstwind, der durch den Pullover pfiff und Schauer über seine Haut jagte. Er wusste, dass er sich zwar wärmer anziehen konnte, jedoch würde er niemals Gefahr laufen zu erfrieren, wenn er es nicht täte. Er roch den modrigen Duft der fau42 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


lenden Blätter auf dem Boden und er konnte das Rascheln in den Ästen hören. Es war durchaus angenehm, nicht alle Stimmen und Geräusche des Kosmos auf einmal zu hören. Es war schön, sich auf eines konzentrieren zu können. Es war angenehm, Essen zu riechen. Er konnte sich sogar ein wenig vorstellen, wie es sein würde, wenn er diese Zähne in ein Stück Pizza schlug. So wie das kleine Kind mit dem blauen Anorak, das an der Ecke stand, dort, wo man sich Pizzaschnitten kaufen konnte. Ja, er sollte es einmal ausprobieren, solange er in dieser Form steckte. Auf der anderen Seite war ihm klar, dass er nicht essen musste, dass sein Fortbestehen nicht davon abhing. Aber er war neugierig. Vor allem auf das, was sie hier Schokolade nannten. Es schien eine ganz besondere Wirkung auf die Menschen zu haben. „Meister, was soll ich hier?“ Wieder einmal stand er in seinem Körper in der Mitte dieser Kleinstadt, betrachtete die historischen Fachwerkhäuser um sich herum, erinnerte sich an die eine oder andere Seele, die darin schon gewohnt hatte, und wusste nicht, auf was er eigentlich wartete. Diesmal bekam er keine Antwort. Das bedeutete natürlich nicht, dass der Meister ihn nicht gehört hatte oder dass es ihm gleichgültig war. Es bedeutete eigentlich gar nichts, außer vielleicht, dass jetzt nicht die Zeit für eine Antwort war. Also beobachtete Benn weiter die Menschen um sich herum, die alten und die jungen, und übte sich darin, in ihren zerfurchten oder glatten Gesichtern zu lesen. Er rätselte, welche Farbe ihre Seele wohl hatte, wo sie in ihrem Leben standen, wie viel Zeit ihnen noch blieb und ob sie den Meister kannten. Aber mit seinen Mezzanin-Augen konnte er darüber nur spekulieren. 43 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Er wusste, der Meister hatte es auch mit seinen Mezzaninaugen erkennen können. Obwohl, es waren nicht die Augen gewesen, auf deren Auskunft er sich gestützt hatte, sondern auf die Informationen, die ihm der große Geist zugetragen hatte. Direkt vom Allerhöchsten, der in ihm und um ihn war. Aber das war ziemlich kompliziert, sogar für ihn, ein Wesen aus den Hallen des Meisters. Auch für Adrian bekam er keinen rechten Ausblick. Alles war offen. Da kam eine junge Frau mit einem Strickmantel. Sie trug eine Wollmütze, unter der ihr hellbraunes Haar hervorquoll. Auf eine seltsame Art wirkte sie vertraut auf ihn. Wahrscheinlich hatte er ihre Seele schon öfter gesehen. Aber er wusste nicht wo, noch welcher er sie zuordnen konnte. Sie lief an ihm vorbei und drehte auf einmal den Kopf. Sie sah ihm direkt ins Gesicht. Irgendetwas an ihm schien sie zu irritieren. Er nahm an, weil er ohne Mantel und Schal in diesem kühlen Herbstwind stehen konnte. Vielleicht sollte er sich mehr Mühe geben, nicht aufzufallen. Dieses kleine Mädchen mit der roten Mütze würde gleich über seine Füße stolpern. Er könnte es verhindern, aber der Meister sagte nichts dazu. Also war es nicht an ihm zu handeln. Im nächsten Moment vernahm er das klatschende Geräusch auf dem Kopfsteinpflaster. Nach der Schrecksekunde hob das Gebrüll an. Die Mutter des Kindes, gerade noch tief in Konversation versunken, spurtete zu der Kleinen, hob sie vom Boden auf und tröstete sie wortreich. „Warum fallen wir?“, fuhr es ihm durch den Kopf. „Damit wir erfahren können, wie es ist, wenn uns einer wieder aufhebt.“ Er konnte die Wärme in diesem Gedanken 44 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


seines Meisters spüren. Unwillkürlich breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht aus. Das war eine schöne Sache an diesem Körper … all die Mimik.

Das war wieder einer dieser Tage. Sie fühlte sich richtig schlecht. Sie konnte ihr Gesicht im Spiegel nicht ertragen. Schon heute Morgen, als sie einen Pickel entdeckte, während sie sich für die Schule fertig gemacht hatte. Wenigstens hatte der Unterricht dann Abwechslung geboten. Wenn sie sich mit dem Schulstoff ablenken konnte, war es nicht ganz so schlimm. Aber jetzt war ihre ganze Arbeit getan. Sie wusste nichts mehr mit sich anzufangen. Ihre Eltern würden heute erst spät nach Hause kommen. Draußen dämmerte es und sie hatte keine Lust zu kochen, deshalb aß sie eine Kiwi. Sie wollte sowieso weniger essen. Sie setzte sich auf ihr Bett und begann plötzlich zu weinen. Gefühlsausbruch, auch das noch, und man konnte nicht mal irgendwelche Hormone vorschieben. Da war diese tiefe Traurigkeit, die manchmal wieder an die Oberfläche schwappte, obwohl sie sie meist gut verschlossen halten konnte. Heute nicht. Heute vermisste sie ihn. Heute vermisste sie sogar all die Streitereien. Einfach nur ihn dazuhaben. An Tagen wie diesen würde er möglicherweise einfach zur Tür hereinkommen und ihr ein Eis vor die Nase stellen. „Halb so wild“ würde er sagen und ihr Haar zausen. Oder ihr den Rat geben, sich nicht so sehr von ihren Traumwelten absorbieren zu lassen, sondern ein bisschen mit ihm in der Realität abzuhängen. Nun ging das nicht mehr. 45 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Sie wischte sich wütend die Tränen aus den Augenwinkeln und ging zu ihrem Computer. Dort scrollte sie sich durch ihre enorme Musikbibliothek. Das meiste hatte sie von seinem Computer auf ihren gerettet. Wahrscheinlich war es nicht besonders klug, auch noch etwas Melancholisches auszuwählen, aber sie fand einen Kompromiss mit „And you will know us by the trail of dead“, die sowohl die leisen als auch lauten Töne beherrschten. Vor allem das Intro des einen Albums in Kombination mit dem folgenden Song schien etwas Heroisches und Erhebendes zu haben. Sie musste ihren Eltern noch von der Exkursion mit dem Englischkurs erzählen. Am Staatstheater wurde gerade ein Stück von Oscar Wilde im Original aufgeführt und Frau Schuller-Ehrenschmidt wollte mit ihnen am Freitagabend hin. Anschließend sollte der Kurs einen Aufsatz darüber schreiben, also war es eine Pflichtveranstaltung. Sie mochte Theater, hatte allerdings noch nie ein Stück in Englisch gesehen. Ihre Lehrerin hatte gemeint, bei ihrer Kursgröße könnten sie wohl die Fahrt in Privatautos organisieren. Sie musste ihre Eltern fragen, ob sie den Golf nehmen konnte. Allerdings durfte ihr diesmal nicht wieder so ein Fehler passieren wie mit der Handbremse neulich. Oh, hätte Tobias sich darüber kaputtgelacht! Ob sie die Gitarre hervorkramen sollte und ein bisschen singen? Meistens brachte sie das auf bessere Gedanken, aber sie konnte sich gerade nicht dazu durchringen. „O Gott, ich bin so erbärmlich“, sagte sie laut. Der jammervolle Ton in ihrer Stimme gefiel ihr gar nicht. Vielleicht sollte sie sich einfach einen Film ansehen. Raus aus der Realität. Oder jemanden anrufen. Aber wen? Sie ging 46 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


in Gedanken ihre Freundinnen durch. Welche würde sie in ihrer momentanen miesen Stimmung ertragen? Schließlich stand sie von ihrem Schreibtischstuhl auf und holte sich das Telefon, auswendig die Nummer von Cat eintippend.

Als Adrian wach wurde, dämmerte es bereits. Er war immer noch erschöpft. Aber er setzte sich auf und schob seine ziemlich verwickelte Bettdecke an die Wand. Der erste Gang war zum Computer, Sound aussuchen. An der Lautstärke konnte seine Ma dann erkennen, dass er zu Hause war. Und wirklich, kurz nachdem seine Boxen die Bude zum Rocken brachten, stand sie in seiner Zimmertür. „Bist ja da. Hab vorhin gerufen.“ „Hab geschlafen“, gab er zurück. „Paul kommt zum Essen.“ Adrian drehte sich zu ihr und presste sich beide Hände gegen den Hals und machte dazu röchelnde Erstickungsgeräusche. „Sei nicht so verdammt kindisch. Du musst ja nicht mit uns essen. Aber wenn du willst, kannst du dir was nehmen.“ „Kommt drauf an, was es gibt.“ „Wirf einen Blick in die Küche, wenn du dich mal ’ne Sekunde von diesem Apparat loseisen kannst“, gab sie genervt zurück. „Wann kommt er denn?“ Sie warf einen Blick auf ihre silberne Armbanduhr. Ein Geschenk von Paul, dem Pünktlichkeitsfanatiker. „Demnächst.“ 47 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Fuck“, schoss es ihm durch den Kopf. Er stand auf und gab sich Mühe, mit seinem Fuß normal aufzutreten, damit seine Mutter ihn nicht mit irgendwelchen Fragen dazu nerven konnte. Sie begleitete ihn zur Küche, die Arme vor der Brust verschränkt. Adrian kannte diese Pose. Sie wog ab, ob sie ihn auf die Schule ansprechen sollte. Er war volljährig, es war nicht ihr Problem, ob er hinging oder nicht. Aber andererseits wohnte er noch bei ihr, und sie wollte auch, dass er sein Abi packte. Er nahm sich einen Teller aus dem Schrank und ignorierte den mit Tischtuch, Kerze und Servietten gedeckten kleinen Küchentisch auf dem er heute Morgen noch gesessen hatte. Als er gerade Nudeln auf den Teller schaufelte, begann sie zu sprechen. „Wie lässt sich das neue Schuljahr denn so an?“ Adrian zuckte mit den Schultern. „Zu früh, um ’ne Prognose abzugeben.“ „Kommst du mit den Lehrern besser klar?“ „Geht so.“ „Adrian, dir ist schon klar, dass das über deine Zukunft entscheidet …“ Es klingelte an der Tür und seine Mutter spurtete davon, um den Öffner zu betätigen. „Saved by the bell“, dachte Adrian mit einem Grinsen und beeilte sich dann, seinen Teller fertig zu füllen, fischte sich Besteck aus der Schublade und nahm in die gleiche Hand noch eine Flasche Wasser. Im kleinen Flur liefen sie sich dann aber doch noch über den Weg. Seine Ma hängte gerade Pauls Jacke auf einen Garderobenhaken. „Hallo Adrian. Wie läuft’s?“ 48 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Adrian zuckte mit den Schultern und drückte sich vorbei in sein Zimmer. Er musste zuerst sein Essen irgendwo abstellen, bevor er die Tür schließen konnte, also hörte er noch, wie Paul zu seiner Ma sagte: „Na, der scheint ja heute wieder in bester Stimmung zu sein …“ Seine Ma erwiderte irgendwas in der Richtung, dass es nun zu spät sei, ihm Manieren beibringen zu wollen. Adrian hörte noch, wie Paul lachte, als er seine Zimmertür schloss. „Fall doch einfach tot um“, murmelte er hasserfüllt. Er verstand wirklich nicht, was sie an dem Kerl fand. Er flippte unmotiviert durch seine Schulbücher, während er aß, und fand dann in seiner Stiftetasche den Zettel von dem Audityp. Er würde anrufen müssen. Fragen, was der Spaß kostete. Würde dem Typ sogar seine Handynummer geben müssen und womöglich so was wie ’ne Entschuldigung heucheln. – Nee, das würde er nicht! Wenn Adrian etwas nicht leiden konnte, dann so ’ne unehrliche Heuchelei. Besser er machte es gleich, bevor der Typ auf die Idee kam, hier anzurufen, und seine Ma am Ende noch von der ganzen Sache Wind bekam. „Gott, ich wünschte es gäbe jemanden, der gesehen hat, wie schnell der Scheißkerl war.“ Besser er rief an. Während er wählte, dachte Adrian, er hätte vorher gern noch mal eine Tavor genommen, dann würde er bestimmt ruhig bleiben können. „Grote?“, meldete sich eine Frauenstimme. „Hi, ich hätte gern einen Herrn Grote gesprochen.“ „Mein Mann ist noch nicht zu Hause. Mit wem sprech ich denn bitte?“, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung. Einen Moment lang rang Adrian damit, sich als der un49 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


eheliche Sohn vorzustellen, der endlich mal „Papi“ kennenlernen wollte. Aber er widerstand diesem Impuls gerade noch. Was, wenn seine Nummer auf dem Telefon angezeigt wurde? „Birkson hier. Ihr Mann will was von mir. Er soll sich melden. Meine Telefonnummer ist …“ So, das musste reichen. Darüber konnte sie sich jetzt genug den Kopf zerbrechen, was ihr Mann von einem jungen Kerl wie ihm wollte. Er kramte in seiner enormen DVD-Kollektion und legte eine seiner „Lieblings-Trash-Serien“ ein. Es ging um einen Vampir, der Mordfälle aufklärte. Absoluter Müll. Nebenbei kritzelte er lieblos ein paar Matheaufgaben auf ein Blatt. Bald warf er die Sachen ins Eck und kramte nach seiner Jacke, prüfte, ob die Kippen in der Tasche waren, und machte sich dann auf den Weg nach oben aufs Dach. Er musste definitiv seinen Nikotinhaushalt für den heutigen Tag noch aufstocken. Als er die Tür zum Dach aufstieß, streifte ihn wieder der Gedanke an den seltsamen Fremden. War das wirklich erst vor zwei Tagen passiert? Oder hatte er es doch fantasiert? Fantasiert, darauf hatte er sich mit sich selbst geeinigt. Er zögerte nur kurz, dann trat er hinaus und fühlte den Wind, der ihn kalt durchfuhr. Es war dunkel und er ging nicht ganz so weit an den Rand wie tagsüber. Der Boden war feucht, also setzte er sich nicht, sondern ging in die Hocke und versuchte, seine Zigarette anzuzünden, was bei dem Wind nicht einfach war. Er verharrte in dieser Hockstellung, rauchend, bis seine Oberschenkelmuskeln zu brennen begannen und er sich wieder aufrichtete. Wenn er vom Dach ins Tal hinunterblickte, sah er all die 50 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


vielen Lichter der Innenstadt. Auch der gotische Kirchturm war abends hell erleuchtet. Nachdem die Kippe aufgeraucht war, blies er in seine eisigen Hände. Er hatte wenig Lust, wieder nach unten zu gehen, aber die Kälte ließ ihm keine andere Wahl. Na, wenigstens war diesmal kein Verrückter auf dem Dach aufgetaucht. Adrian ging zurück in die Wohnung und warf einen vorsichtigen Blick in die Küche. Außer einer offenen Flasche Wein auf dem Küchentisch waren alle Spuren des Abendessens verschwunden. Adrian griff sich ein Weinglas aus dem Küchenschrank und füllte es bis obenhin. Jetzt machte sich sein Fuß wieder mehr bemerkbar. Also führte sein nächster Gang ins Bad, um eine weitere Schmerztablette aus dem Schränkchen zu holen. „Gehst du ins Bett, Adrian?“, ließ sich die Stimme seiner Mutter aus dem Wohnzimmer vernehmen. „Ja, gleich“, gab er zurück und betrachtete dabei sein Gesicht im Badezimmerspiegel. „Dann schlaf gut“, rief sie noch. Er konnte daraufhin nichts sagen. „Schlaft auch gut?“ Würg, schon allein den Gedanken daran fand er furchtbar. Zu wissen, dass sie jetzt mit diesem Paul auf dem Sofa rumhing … Sicher, alles ganz normal. Warum fand er es dann trotzdem so abartig? Ein Erinnerungsfetzen streifte ihn. Er war noch klein gewesen, vielleicht sechs Jahre alt. Er hatte irgendein blödes Teil aus Lego zusammengebaut und wollte es seinen Eltern zeigen. Sie hatten damals eine alte abgewetzte Couch gehabt, braun, nicht besonders schön. Und als er ins Wohnzimmer kam, saß da seine Ma und lachte. Sein Vater hatte ihr irgend51 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


etwas aus einer Zeitschrift vorgelesen, und sie wollte sich ausschütten vor Lachen. Wo waren all diese glücklichen Momente hin? Er hatte es nicht begriffen, als sie ihm das mit der Scheidung verklickert hatte. Und warum hatte sich sein Vater nicht mehr gemeldet? Bestimmt hatte er Scheiße gebaut und es irgendwie verbockt. Aber seine Ma war einfach nur wütend. Wollte nicht darüber reden. Adrian spülte die Tablette mit einem Schluck Wein hinunter und verließ das Bad. Morgen erst zur zweiten Stunde, das war gut. Er leerte das Glas ziemlich schnell und genoss den leichten Schwindel im Kopf. Natürlich sollte man das nicht, Medis und Alkohol. Aber es schaltete einen so wunderbar aus. All die Gedanken … weg. Einfach toll. Wenn er sich entscheiden müsste, würde er lieber die meiste Zeit in seinem Leben drauf sein. Aber er kam nicht immer an Gras ran – ein Problem, wenn man nicht wirklich jemand war, der sozialkompetent war. Und Gras war wirklich Beziehungssache. Aber warum sollte er mit dem illegalen Zeug viel riskieren, wenn doch legal genug verfügbar war? Seine Ma kontrollierte nie, wie viel sie von welchem Stoff noch dahatte. Es war billig. Und einfach. Morgen wieder.

Adrian war mit einem schweren Schädel aufgewacht und hatte die gesamte Stunde bei Dr. Kröte halb schlafend über seinem Buch verbracht. Ihm war zwar aufgefallen, dass sich die Leute in seinem Kurs gegenseitig anstießen, wenn sie ihn 52 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


so sahen, aber die wilden Spekulationen über den Besuch der Bullen gestern bekam er nicht mit. Interessierte ihn auch nicht besonders. In Bio mussten sie mit einem Partner zusammenarbeiten. Irgendwelche Wachstumsstadien unter dem Mikroskop betrachten und zuordnen. Er hatte keine Lust. Als er sich im Klassenzimmer umsah, hatten die meisten schon ihren Partner. Mit ihm wollte sowieso keiner zusammenarbeiten. Er kannte auch von den meisten noch nicht mal den Namen. Ein Mädchen blieb allerdings übrig. Sie schien nicht schnell genug gewesen zu sein, sich jemanden zu angeln. Nun stand sie etwas missmutig im Raum und ihr Blick wanderte zu ihm. „Los jetzt, Adrian ist auch noch ohne Partner. Gehen Sie zu ihm.“ Nach diesen Worten des Lehrers konnte sie ja schlecht etwas anderes tun. Zögernd kam sie auf ihn zu und legte ihr Buch und den Arbeitszettel auf seinen Tisch. „Hi“, sagte sie leise. Er hatte keine Ahnung, wie sie hieß. Dabei kannte er ihr Gesicht, sie waren in recht vielen Fächern zusammen. Auch in Englisch … mit der heiß geliebten Schuller-Ehrenschmidt. Er nickte ihr leicht zu. „Also, willst du anfangen, oder …?“ „Nee, mach du mal.“ Sie wandte sich dem Mikroskop zu. Ihre langen Haare fielen über ihre Schultern nach vorn und bildeten einen Vorhang rund um das Gesicht. Adrian ließ sie das meiste machen. Sie schien Ahnung zu haben, obwohl sie ihn auch ein paar Mal aufforderte, sich 53 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


mehr zu beteiligen. So waren sie recht schnell am Ende der Aufgabe und alle anderen Teams schienen noch zu brauchen. Adrian grinste. Glück gehabt, Biochecker erwischt. Ihm war es völlig egal, ob die Ergebnisse richtig waren, aber das Mädel schien zu wissen, was sie da machte. „Freust du dich schon auf den Theaterbesuch?“, fragte sie schließlich, um ein wenig Konversation bemüht. „Theater?“ „Mit Englisch, am Freitagabend.“ Mist. Das hatte er ganz verdrängt. „’n Film hätt’s auch getan“, gab er mit wenig Begeisterung zurück. „Aber das ist doch was ganz anderes, so live“, wandte sie ein. Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht wird’s ja ganz gut“, versuchte sie ihn positiver zu stimmen. „Oder zwei Stunden gähnende Langeweile, in denen ich über den Sinn des Lebens philosophieren kann“, entgegnete er. Sie sah ihn leicht verunsichert an. Wahrscheinlich dachte sie gerade, dass es stimmte, was alle sagten, nämlich dass der Birki einfach nicht ganz dicht war. „Und? Schon zu ’nem Ergebnis gekommen?“, wollte sie dann wissen. Nun war Adrian überrascht. „Mit was?“ „Na, ich nehme mal an, da du dich im Unterricht fast immer langweilst, hattest du schon echt viel Zeit, über den Sinn des Lebens nachzudenken … Zu welchem Ergebnis bist du gekommen?“ Adrian wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er musste 54 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


nachdenken. Als sie schon gar keine Antwort mehr erwartete und am Rand ihres Arbeitsblatts kleine Blümchen zeichnete, sprach er schließlich. „Es gibt ihn nicht. Nichts ist gewiss, außer dem Tod. Und alles dazwischen kann man nicht lenken. Außer vielleicht beeinflussen, wann man abtritt.“ Ihre Augen waren ganz weit, als sie zu ihm aufsah. „Das stimmt nicht. Man kann nicht bestimmen, wie man stirbt. Nur alles dazwischen, das kann man versuchen zu regeln.“ Ihre Stimme klang trotz eines leichten Zitterns sehr überzeugt, so als wolle sie ihm eine unumstößliche Tatsache eintrichtern. „Das ist ’ne Illusion. Die wollen uns glauben lassen, dass wir ’ne Wahl haben, aber das ist ein Placebo. Was kannst du wirklich beeinflussen, wenn du dich ehrlich fragst?“, gab er mit ebenso viel Überzeugung zurück. Was wusste sie schon? Die Lehrer bestimmten im Endeffekt, mit was du im Leben weiterkommen würdest. Wenn du selbst bestimmen willst, erleidest du Schiffbruch. Du musst dich den Normen anpassen, die irgendwelche Politiker oder sonst wer aufgestellt haben. Erst deine Eltern, du hast keinen Einfluss, wo du geboren wirst, wie sie dich behandeln werden, ob deine Eltern sich trennen oder sterben. „Wer die?“, fragte sie zurück, aber er hörte den Sarkasmus in ihrem Ton. „Na alle, die über uns bestimmen.“ Er war genervt. Hatte keine Lust, eine Argumentationskette zu bilden. Wahrscheinlich war sie einfach nur ein naives Ding, das dachte, die Welt läge ihr zu Füßen. „Ich denke, man hat immer eine Wahl. Wofür man sich 55 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


entscheidet, darauf kommt es an. Ich kann mich entscheiden, trotz widriger Umstände weiterzumachen … so wie …“ Sie suchte nach einem Beispiel. „Zum Beispiel die Gleichberechtigungsbewegung in den USA. Martin Luther King hat es vielleicht angefangen, aber zu Ende gebracht haben es all die Menschen, die sich für das Richtige entschieden haben …“ „Wenn du mit Geschichte anfängst, könnte ich dir ’n ganzen Stapel Negativbeispiele geben.“ „Nur weil oft das Negative überwiegt, heißt es nicht, dass es gar nichts bringt, sich für etwas einzusetzen oder etwas anzustreben“, meinte sie scharf. „Adrian, Neala, sollen wir Ihnen noch ’nen Kaffee für Ihre Plauderstunde bringen?“, kam es nun scharf von vorn hinter dem Pult. Über ihrer Diskussion hatten sie gar nicht mitbekommen, dass die anderen Teams ihre Untersuchungen beendet hatten und es im Klassenzimmer wieder ruhig geworden war. Sie stammelte eine Entschuldigung. Adrian warf einfach einen Blick aus dem Fenster und brachte seine Mimik wieder unter Kontrolle. Jetzt wusste er wenigstens, wie das Mädel hieß. Neala. Ungewöhnlicher Name. Wo der wohl herkam? Sie sah mit ihrem kastanienbraunen Haar und der hellen Haut wenig exotisch aus. Ob er am Freitag den Theaterabend schwänzen sollte? Allerdings wollte die Schuller, dass sie darüber einen Aufsatz schrieben … Klüger wäre es, hinzugehen und es sich wenigstens anzuschauen. Außerdem hatte er nicht wirklich etwas Besseres vor am Freitagabend. Er hatte eigentlich nie was vor. Außer auf dem Dach sitzen und rauchen. Na ja und zocken. Lesen, Film schauen … Er musste schmunzeln. Je länger er 56 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


nachdachte, umso mehr Dinge fielen ihm ein, die ihm wirklich mehr Spaß machen würden als ein ätzender Theaterabend. Die nächste Stunde war Reli. Da er nicht gleich am Anfang des Schuljahrs seine Fehlstunden vollkriegen wollte, hieß das: hingehen und dösen. Neala war auch in dieser Stunde dabei, sie saß schräg in der Reihe vor ihm. Adrian sah, wie sie ihren Kopf mit dem linken Arm abgestützt hatte; in der rechten Hand hielt sie ihren Stift, der einen Zentimeter über dem Arbeitsblatt schwebte. Sie starrte ins Leere. Er fragte sich, ob sie wohl in Gedanken an dem Thema hing. Er wusste nicht, zu welcher Sorte Schüler sie gehörte. Sie schreckte auf, als der Relilehrer sie unvermittelt ansprach, wirkte verlegen, denn sie hatte die Frage nicht gehört. Adrian hatte auch keine Ahnung, um was es ging. Vielleicht wieder mal Todesstrafe und Ethik? Sollte nicht allzu schwer sein, etwas zu improvisieren, aber sie wirkte noch immer meilenweit fort. „’tschuldigung, was wollten Sie von mir wissen?“ Der Lehrer wiederholte die Frage und fügte dann hinzu: „Ein bisschen aufpassen schadet übrigens nicht. Das kann nämlich im Mündlichen drankommen … Und Sie sind doch bei mir im Colloquium, oder irre ich mich da?“ Sie nickte. Adrian hätte in diesem Moment schwören können, dass sie ihre Wahl bereute. Egal wie easy man es sich machen wollte, diesen Reliquatsch würde er nie freiwillig in einer Prüfung wählen. Er hatte Erdkunde genommen, in der Hoffnung, damit keine Probleme zu haben. Dieses Jahr würde er es schon zu Ende bringen. So oder so. Bloß nicht zu 57 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


sehr auffallen, nicht zu viele Fehlstunden anhäufen, so wie letztes Jahr. Ihm fiel ein, dass der Audityp noch nicht angerufen hatte. Da hatte die Devise „nicht auffallen“ nicht besonders gut funktioniert. Am Ende der Stunde war sein ganzer Block vollgekritzelt mit Kriegern, die irgendwelche Monster zerhackten. Und heute war erst Dienstag.

„Er wird gleich herauskommen.“ „Was soll ich dann tun, Meister?“ Benn saß auf dem niedrigen Mäuerchen, das den Schulhof umgab. Die Sonne war hervorgekommen und brachte das bunte Herbstlaub zum Strahlen. „Sprich ihn an. Du weißt schon.“ „Was, wenn er nicht begreift, was ich von ihm will?“ „Abwarten.“ Benn hörte im Gebäude die Glocke schellen. Nur wenige Augenblicke später kam Leben in den leeren Hof. Kinder strebten zum Bus, zu den Fahrradständern oder machten sich zu Fuß auf den Heimweg. Und da war Adrian, mit dem offenen Parka und der einen Hand in der Tasche, nach seinem Feuerzeug suchend, die Kippe schon zwischen den Lippen. Er bahnte sich rauchend seinen Weg durch die Leute. „Was finden die an diesen Stängeln?“, fragte sich Benn, aber der Meister bekam es natürlich mit. „Oh, alles Mögliche … Genuss, Ersatzbefriedigung, Hungerstiller … Faszinierend, nicht, auf was für Ideen sie kommen?“ 58 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Es zerstört ihre Lungen und Blutgefäße.“ „Oh, das wissen sie. Sie wissen so viel …“ Benn konnte sie schwerlich darum beneiden. Für ihn, den Diener aus den Hallen des Meisters, war das gesamte Mezzanin rätselhaft. All die Menschen. Ihre Gefühle, die sie bestimmten, all das Leid, das sie über diesen Ort brachten … Als Adrian gerade an ihm vorübergehen wollte, sprang Benn von dem Mäuerchen herunter und trat ihm in den Weg. Der Junge zuckte zusammen, als wäre er in Gedanken ganz woanders gewesen. Er schien ihn erst nicht zu erkennen, aber dann huschte so etwas wie Furcht über sein Gesicht. Benn konnte so schlecht erraten, was da in seinem Kopf wohl vorging. „Er hat dich erkannt. Du beunruhigst ihn. Schnell, sag ihm, warum du gekommen bist“, vernahm er die Stimme seines Meisters. „Wäre es nicht einfacher, wenn du ihm das sagen würdest?“ „Du bist doch meine Stimme. Sprich!“ „Hallo, Adrian.“ Adrian sah den seltsamen Fremden an. Er war noch genauso gekleidet wie vor ein paar Tagen auf dem Dach. Jeans, schwarzer Kapuzenpulli. „Was geht hier ab? Stalkt der mich?“ Adrian wurde zunehmend unwohl. Er beschloss einfach weiterzugehen und wollte sich an ihm vorbeidrängen. „Ich hab von der Sache mit dem Auto gehört.“ Wie in aller Welt konnte er das? Dann musste er von einer Behörde sein … Sozialarbeiter? „Ich war ganz in der Nähe, als es passiert ist.“ 59 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Adrian schien auf der Stelle festzufrieren. Ein paar Schüler blieben stehen, weil sie Gesprächsfetzen aufgeschnappt hatten. Manchen war etwas von irgendeiner Sache mit der Polizei zu Ohren gekommen. Benn wusste, er musste jetzt rasch handeln. „Er fuhr viel zu schnell. Mindestens 60. Ich bin froh, dass du noch lebst.“ Diese Worte … so einfach … aber sie durchfuhren ihn wie ein Elektroschock. Der Typ hatte etwas gesehen. Ein Zeuge! Adrian drehte sich um, der letzte Teil des Satzes hallte noch in ihm wider: … bin froh, dass du noch lebst … Goodness, warum? Der kannte ihn doch gar nicht. Dem konnte das doch egal sein, dass er keine weitere Nummer in der Verkehrstotenstatistik geworden war … „Würden Sie das auch den Bullen verklickern?“ Der seltsame Fremde lächelte. „Wenn du es wünschst.“ Adrian sah den Kerl an. Er mochte vielleicht nicht ganz dicht sein, aber das musste man den Bullen ja nicht auf die Nase binden. „Verdammt, ja. Der Scheißtyp will mich abzocken.“ Benn legte die Stirn in Falten. „Du hast sein Licht kaputt gemacht.“ „Ja, aber nur weil er mich fast umgefahren hätte.“ „Aber das hat er nicht.“ „Na und? Was spielt das für eine Rolle?“ Benn musste wieder lächeln. „Eine große Rolle, denn es bedeutet, dass du noch hier bist. Du kannst immer noch atmen und denken und entscheiden. Und ich … bin auch noch da.“ Natürlich meinte er damit seinen Aufenthalt im Mezzanin. Er würde nicht aufhören zu existieren, nur weil einer der 60 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Sterblichen es tat. Dennoch, der Meister hatte ihn das Auto aufhalten lassen. Adrian sollte noch hier bleiben. Benn konnte in seinem jetzigen Zustand den Schatten nicht ausmachen, aber in seiner Geistform hatte er ihn gesehen. Er waberte förmlich über diesem Jungen. Ob der Meister ihm eines Tages gestatten würde, ihn anzugreifen? Benn fühlte sich so viel stärker als seine dunklen Gegenspieler. Sie hatten keine Chance gegen einen Gesandten des Meisters. Aber die Menschen und ihre Gemüter … Wenn sie ihnen einmal Einlass gewährten, dann half es nichts, sie einfach nur davonzujagen. Die Seelen würden ihnen immer wieder Zugang gewähren, wenn sich in ihren Gesinnungen nicht grundsätzlich etwas änderte. Diese Menschen … Sie waren so anders konzipiert als er. Er konnte nicht existieren ohne die Gemeinschaft mit dem Meister. Und er war sein untertäniger Diener – kein Individuum, das nach seinem eigenen Willen handelte. Adrian wusste auf Benns Bemerkung nichts zu sagen. Was hatte sein Leben mit dem dieses Typen zu tun? „Ich kann für dich bei den Behörden aussagen. Aber du wirst trotzdem für das Licht aufkommen müssen“, versuchte Benn dem Jungen zu verdeutlichen. Adrian zog seine Augenbrauen zusammen. „Warum? Das ist scheiße.“ „Weil es nicht gerecht war.“ „Was interessiert mich das? Wann ist das Leben schon gerecht?“ Benn musste kurz nachdenken, dann meinte er: „Niemals. Nicht so, wie ihr euch verhaltet. Aber so sollte es nicht sein. Es war besser geplant.“ 61 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Klasse, davon hab ich nichts. Was nützt mir Ihre Aussage, wenn ich dann doch der Depp bin?“ „Es wäre gerecht, alle Umstände zu schildern“, erklärte Benn. „Dann viel Spaß, mich brauchen Sie dabei ja nicht.“ Adrian drehte sich um und stapfte davon. „Und jetzt? Soll ich ihm folgen?“ Benn betrachtete die schlanke, finstere Gestalt des Jungen, die sich anschickte, die Straße zu überqueren. „Nein, du gehst jetzt zur Polizeiwache und stellst ein paar Dinge klar.“ „Wird ihm das nützen?“ „Lass das nur meine Sorge sein.“ „Meister, ich glaube, du könntest es besser alleine machen.“ „Dich plagen zu viele Selbstzweifel. Vertraust du mir nicht?“ Benn lächelte in sich hinein. „Du kennst die Antwort besser als ich mich selbst.“

Adrian schnappte sich seine Sportsachen. Sein Fuß tat zwar immer noch weh, darum würde ihm der Sportunterricht schwerfallen, aber der Schmerz kam ihm als Ablenkung von all seinen Gedanken gerade recht. Nach der kurzen Mittagspause, die er mit ein paar Mikrowellenspaghetti zu Hause verbracht hatte, fühlte er sich nun ein bisschen ruhiger. Dieser komische Benn hatte ihn mal wieder ziemlich aus dem Konzept gebracht, auch ohne von 62 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Dächern zu verschwinden. Aber wenigstens hatte er nun den Beweis, dass er sich den Typ nicht eingebildet hatte. Das mit dem Vom-Dach-Springen musste allerdings eine Art Halluzination gewesen sein. Sport war wie immer eine ziemliche Katastrophe. Da er in Leichtathletik noch mieser war als in allem anderen, hatte er sich für etwas mit Ball entschieden. Er wurde seit der fünften Klasse immer als Letzter in die Mannschaft gewählt … sei’s beim Fußball, worin er wirklich grottenschlecht war, Basketball oder Volleyball. Heute war Letzteres an der Reihe – da war er ein leidlicher Spieler. Seine Kondition war nicht besonders, aber es wunderte ihn auch nicht, dass ihm bei seinem Zigarettenkonsum rasch die Puste ausging. Adrian machte sich heute klein und versuchte, die zwei Stunden herumzukriegen, ohne allzu viel in Ballkontakt zu kommen. Als die Sonne ihre letzten Strahlen über die Dächer der Häuser warf, zog Adrian sich an seinen Lieblingsplatz zurück. Rauchend. Schweigend. Diesmal sah er nicht nach unten, was die Menschen dort auf der Straße so trieben, sondern in die Ferne. Südlich von ihm erstreckte sich die Stadt, aber nördlich, den Hang hinauf, endeten die Häuserreihen und er konnte die Felder und grünen Hügel sehen. Es war immer noch kalt und windig hier oben, aber er schloss den Zipper an seinem Parka und zog seine wollene Skatermütze tief ins Gesicht. „Was ist eigentlich der Punkt?“, schoss es ihm durch den Kopf. Würde das alles hier jemals Sinn machen? Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Gespräch mit Neala. Er schüttelte leicht den Kopf, als er an ihren entschiedenen Gesichtsausdruck dachte. Es zirpte in seiner Tasche. Entnervt legte er seine Kippe 63 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


beiseite und zog das Handy aus der Jackentasche. Es war ihm klar, dass es nichts Angenehmes sein konnte. Schließlich hatte er keine Freunde – und das hieß, nur wenige hatten überhaupt diese Nummer. Konnte also nur Stress bedeuten. Die Nummer sagte ihm nichts. „Ja?“ „Sprech ich mit Herrn Birkson?“ „Wer will das wissen?“ „Ich heiße Grote.“ Adrian unterdrückte gerade noch das F-Wort. „Geht’s um Ihr Geld? Ich hab’s abgecheckt und wenn Sie mir mehr als zwei-fünfzig abknöpfen wollen dann …“ „Vielleicht sollten wir es doch besser auf sich beruhen lassen. Ich ziehe die Anzeige zurück.“ Adrian schluckte. Was war denn jetzt kaputt? „Sind Sie noch dran?“ „Äh … Ja, bin ich. Ich versteh nicht ganz …“ „Wenn’s nach mir ginge, Bürschchen, dann würd ich dich bluten lassen … aber ich hab’s mir noch mal anders überlegt, klar? Lass es dir eine Lehre sein.“ Grotes Aggressivität ließ sich schlecht überhören. Was hatte den Kerl nur zu dieser Entscheidung bewogen? So wie er das zwischen den Zähnen hervorquetschte, schien es fast so, als habe er keine andere Wahl. Adrian war so platt, dass er auf die Wut seines Gesprächspartners gar nicht einging. „Soll das heißen, die Sache ist vom Tisch?“ „Ja. Aber ich warne dich, kommst du mir noch einmal irgendwie krumm, dann bist du dran! Und wage es ja nicht, uns mit Anrufen zu belästigen!“ Es klickte und die Verbindung brach ab. 64 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Adrian starrte auf das Telefon in seiner Hand. Das war ihm alles ein bisschen zu surreal. Was hatte den Grote bloß geritten? Eins war sicher: Er hatte die Anzeige definitiv nicht freiwillig zurückgezogen. Irgendetwas musste ihn dazu gezwungen haben. Adrian schob das Telefon in seine Jacke zurück und blickte hinüber zu den Hügeln, die nun im Schatten verschwanden. War das vielleicht der erste Tag in seinem Leben, an dem er Glück hatte? Er war nie vom Glück verwöhnt worden. Und jetzt wusste er nicht einmal, wem er danken sollte. Bestimmt nicht Grote. Ob die Bullen was damit zu tun hatten? Als ihn die Dunkelheit umfing, erhob er sich, um wieder in die Wohnung zu gehen. Er hatte plötzlich Lust, sich etwas zu essen zu kochen. Die halb gerauchte Zigarette blieb auf dem kalten Betonboden liegen und verglühte.

Als seine Mutter die Wohnungstür aufschloss und das Geklapper in der Küche vernahm, war sie mehr als überrascht. Sie hängte ihren Mantel auf und streckte ihren Kopf zur Küchentür herein. „So guter Laune?“, fragte sie, als sie ihn beim Stapeln des schmutzigen Geschirrs neben dem Spülbecken entdeckte. Auf dem Herd stand eine große Pfanne, in der Gemüse und Reis vor sich hin dampften. Er sah auf. „Will bloß nicht, dass bei der Inspektion vom Jugendamt die Kakerlaken herumkriechen.“ Seine Mutter lachte. 65 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Willst du was essen?“, fragte er in seinem üblichen gleichgültigen Tonfall. „Oh … Ich wusste ja nicht … Ich meine, ich ess gern morgen was davon, in Ordnung? Paul hat uns einen Tisch reserviert, also …“ Adrians Schultern wurden steif und er sog die Luft scharf ein. Nur gut, dass er mit dem Rücken zu ihr stand und gerade das Spülwasser einlaufen ließ. Typisch. Alles klar. Paul. Fuck him. Es wäre ja auch eine Überraschung gewesen, wenn sie mal Zeit gehabt hätte, sich mit ihm hinzusetzen. Moment, warum wollte er das überhaupt? Würde sie dann nicht wieder blöd nach der Schule fragen oder ob er am Wochenende etwas vorhatte? Dabei musste ihr doch mittlerweile klar sein, dass er nie jemanden traf, dass er keine Kumpels hatte. Warum also diese Enttäuschung? „Is’ doch scheißegal“, sagte er sich selbst in Gedanken. „Es sieht wirklich lecker aus, ich nehm gern morgen noch was davon. Ich muss mich schnell duschen, ja?“ Er hörte, wie sich die Küchentür wieder schloss. Sollte sie doch gehen! Er feuerte einen Topf ins Spülbecken. Messer und Kochlöffel flogen hinterher, schließlich schnappte er den Schwamm und warf ihn tropfend und triefend an die Wand. Konnte denn niemand auch nur einen normalen Moment mit ihm verbringen? Er atmete tief durch, hob den Schwamm wieder auf und reinigte mechanisch das Kochgeschirr. Bevor seine Mutter ging, steckte sie noch einmal den Kopf zur Küche herein und wünschte ihm einen Guten Abend. „Und mach nicht so lang, ja?“ Er nickte abwesend. Sobald sie verschwunden war, schnappte er sich die Flasche Wein von gestern und nahm 66 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


einen tiefen Zug. Allerdings war die Flasche bald leer und er suchte nach etwas anderem. In seinem Zimmer musste noch ein Rest Wodka sein. Er setzte sich auf sein Bett, legte einen Film ein und trank Wodka mit Eis, bis auch davon nichts mehr übrig war. Als er ins Bad ging, um zu pinkeln, schien sich der Boden unter seinen Füßen zu bewegen, aber das fand er gar nicht schlecht. „Morgen muss ich mir ’ne neue Flasche organisieren“, dachte er.

UND Wieder eine Doppelstunde Englisch. Für Adrian war es die denkbar schlechteste Motivation, um aufzustehen. Irgendwie quälte er sich doch hoch und stand viel zu lang unter der Dusche, um halbwegs klar zu werden. Für Kaffee blieb keine Zeit mehr. Er griff sich eine Plastikflasche mit Wasser und leerte sie zur Hälfte auf dem Weg. Er hatte einen gehörigen Brand. Nicht gerade leise ließ er seinen Rucksack auf dem Tisch aufklatschen und warf sich auf seinen Stuhl. Im nächsten Moment war Schuller-Ehrenschmidt auch schon im Klassenzimmer. Er stellte sich vor, wie er sie über offener Flamme röstete und das brachte ihn kurz zum Schmunzeln. Der Lehrerin entging sein Grinsen allerdings nicht. Und sie wertete es ausnahmsweise einmal als ein positives Zeichen, dass Adrian ihrem Unterricht mit Freude entgegensah … Sie forderte die Klasse auf, ihre Textbücher zu „The Importance of Being Earnest“ herauszuholen, und ließ reihum vorlesen. Adrian hätte Shakespeare vorgezogen. Wenn sie wenigstens Hamlet oder so anschauen würden … Aber nein, 67 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Wilde, passte doch eigentlich gar nicht zu Schullers sonstigen Favoriten. Na ja, es gab ein Happy End und alle Paare durften sich am Schluss heiraten … Als Neala eine Passage vorlas, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass die Schuller an ihrer Aussprache eine Menge herumkorrigierte – so lange, bis er in Nealas Stimme einen ganz bestimmten Klang vernahm. Sie las nun übertrieben näselnd und theatralisch, doch komischerweise schien der Schuller das nicht aufzufallen. Davor hatte Neala ganz normal gelesen, und da hatte die Lehrerin gemeint, dauernd maulen zu müssen. Als sie jemand neuen aufrief, hörte er Neala erleichtert ausatmen. Ihre Blicke kreuzten sich, als sie sich kurz umwandte, um ihre Kapuzenjacke wieder überzuziehen, die sie über die Lehne gehängt hatte. Zu Adrians Überraschung zog sie auf einmal eine Schnute und ließ ihre rosa Zungenspitze aufblitzen, gerade lang genug, um die Geste klarzumachen. Dann warf sie ihren Pferdeschwanz über die Schulter und sah wieder brav nach vorne. Was ging denn bei der ab? Sie mussten eine Zusammenfassung schreiben und eine Weile war es ruhig im Klassenzimmer. Gegen Ende der Stunde wollte die Schuller noch klären, ob sie genug Autos für den Trip zum Theater zusammenbekamen. Ein paar meldeten sich und die Schüler wurden ihnen zugeteilt. Dass er übrig blieb, war ja wieder klar. Eine Stunde mit der Schuller im Auto? Auch die Lehrerin schien wenig begeistert bei diesem Gedanken, aber sie hatte noch einen Platz frei und setzte gerade an, ihn dazu zu verdonnern, als Neala plötzlich sagte: „Er kann bei mir noch mit. Wir haben noch einen Platz.“ 68 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Ihre Pultnachbarin verdrehte deutlich die Augen. Schon klar, die war auch nicht begeistert, ihn an der Backe zu haben. Aber alles war besser als die Schuller. Fast wäre ihm ein „Danke“ herausgerutscht, aber er sagte nur: „Okay!“ Die Schuller war auch sichtlich erleichtert. Und dann ertönte der Gong. Am Ende der Pause, als sie auf dem Weg zu Deutsch waren, lief er nur ein paar Schritte hinter Neala und überlegte, ob er sich vielleicht doch bedanken sollte, dass sie ihn mitnehmen wollte. Allerdings konnte er nicht das Gespräch überhören, das sie mit der Blonden aus Englisch führte, die an ihrem Arm hing und eindringlich auf sie einredete. „… musste das denn sein? Connie, du und ich, wir wollten doch ein bisschen einen auf Girlie-Abend machen. Treffen wir uns jetzt vorher überhaupt noch zum Kochen und Stylen?“ „Ich hätte ihn halt gefragt, ob er vorher auch noch mit uns was essen will …“ „Sag mal, spinnst du? Dann können wir’s ja gleich vergessen …“ „Sei mal nicht so, Franzi. Wenn wir uns eh bei mir treffen müssen, wär’s doch komisch, ihn auszuschließen … Und sei mal ehrlich, du hättest auch nicht bei der Schuller mitfahren wollen …“ „’türlich nicht. Aber ausgerechnet der Birki? Hast du mal in seine Augen gesehn? Ich glaub fast, der ist besessen oder so.“ Adrian gab es ungern zu, aber das traf ihn. Für wen hielten die ihn denn? Psychopathischen Massenmörder? Nicht, dass er jemals zugesagt hätte, wenn sie ihn zum Essen eingeladen hätten. Reichte ja schon, mit den drei Girlies eine Stunde Autofahrt hinter sich bringen zu müssen. 69 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Jetzt spinn mal nicht total.“ Neala machte sich energisch los. Okay, sie schien das wenigstens nicht zu denken. „Er kennt halt keinen von diesem Kurs. Wie auch, er ist ja erst seit paar Wochen bei uns dabei.“ Franzi warf ihr glattes blondes Haar zurück. An ihren Ohren baumelten riesige silberne Kreolen. Tat bestimmt weh, wenn man da einmal fest zupackte … „Bestimmt nimmt er Drogen oder so … Ist doch immer dasselbe mit so Typen.“ Ihre zuckersüße Stimme klang kein bisschen unschuldig, wie sonst im Unterricht. Neala starrte ihre Freundin mit offenem Mund an. Sie schien gerade etwas antworten zu wollen, da entdeckte sie ihn, wie er auf sie zukam. Die beiden Mädchen waren mittlerweile an der Klassenzimmertür angelangt. Einen Moment lang schien sie zu überlegen, ob er ihr Gespräch wohl mitbekommen hatte. Dann straffte sie ihre Schultern, offensichtlich zu einem Entschluss gekommen. „Hi. Wir reden gerade davon, wie wir das am Freitag machen. Also, die Mädels kommen vorher zu mir und wir essen. Wenn du willst, kannst du auch kommen.“ Franzis Gesicht war unbezahlbar. Sie schien darüber nachzudenken, ob Neala in psychiatrische Behandlung gehörte. Hilfe! Adrian hatte nicht die geringste Lust, bei dieser Party dabei zu sein. Aber es würde Franzi unheimlich anpissen. Er zögerte nur einen kurzen Augenblick. „Okay, wann und wo?“ Franzi lief rot an und versuchte, Nealas Blick aufzufangen, aber sie ignorierte sie völlig. Sie erklärte ihm, wo sie wohnte und nannte ihm eine Uhrzeit. 70 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Franzi schmollte die ganze Deutschstunde. Wahrscheinlich überlegte sie gerade, ob sie nicht doch bei der Schuller mitfahren sollte … Adrian grinste. Wie leicht es doch war, manche Leute zu nerven. Wenn’s bei Paul mal so einfach wäre! Sämtliche Versuche, ihn subtil zu vergraulen, waren gescheitert. Schließlich wusste Paul, dass Kinder groß werden und ausziehen – und dann war die Bahn endgültig frei.

Heute war er gar nicht so undankbar, nachmittags noch zwei Stunden Erdkunde zu haben. Er wollte seiner Mutter nicht so bald begegnen, denn sie hatte heute Frühschicht. In der Mittagspause lief er in die Stadt und ließ im Supermarkt Wodka mitgehen, als er sich Zigaretten kaufte. Er hatte noch nie versucht, eine Flasche mitgehen zu lassen, und war erstaunt, wie leicht es ging. Die Anspannung, ob ihm jemand gleich auf die Schulter tippen würde, blieb in ihm, bis er den Laden verlassen hatte. Er setzte sich in einen Bus, der ihn wieder zum Gymnasium brachte. Eine Station weiter stieg der seltsame Typ ein. Benn. Er lächelte ihm zu und setzte sich unaufgefordert neben ihn. „Hallo Adrian, wie geht es dir?“ „Was zum …?“, schoss es Adrian durch den Kopf. Warum tauchte der Kerl immer scheinbar aus dem Nichts auf? Verfolgte er ihn? „Wüsste nicht, was Sie das angeht.“ 71 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Benn lächelte weiter. „Vermutlich nichts. Aber da es mir nun einmal aufgetragen ist, nach dir zu sehen, dachte ich, ich frage einmal.“ „Das heißt, es interessiert Sie sowieso ’n Scheißdreck.“ Benn schien nachzudenken, als müsse er sich erst klar darüber werden, was Adrian gerade gemeint hatte. Dann gab er zurück: „Nein, das bedeutet es nicht. Ihr Menschen kodiert eure Sprache immer so viel und ich bin nicht recht gewöhnt, mich so auszudrücken … Was meine eigentliche Intention war … Ich möchte, wenn es dir beliebt, gerne hören, wie es dir geht. Denn siehst du, ich vermag es einfach nicht zu lesen, und bin deshalb auf alles angewiesen, was du mir sagen willst.“ „Aber ich hab nie darum gebeten, mit Ihnen zu reden. Wären Sie mal lieber gekommen, als mich das Arschloch fast umgefahren hat … Da hätte ich Ihre Hilfe gebraucht.“ Benn musterte ihn mit einem durchdringenden Blick. Adrian wurde dabei etwas unwohl. „Mein Meister hat mich zur Polizei geschickt. Ich habe gesagt, was ich beobachtet habe, und mir wurde versichert, dass sie sich noch einmal mit Herrn Grote in Verbindung setzen … Ich musste …“ Benn schien für einen Moment die passenden Worte zu suchen und strahlte dann, als er sich an den genauen Wortlaut erinnerte, „meine Aussage zu Protokoll geben und unterschreiben … Ich habe zum ersten Mal einen Stift in die Hand genommen und meine Unterschrift geschrieben … und ich habe diese Karte hier benutzt.“ Er griff in seine Hosentasche und förderte ein altes, abgewetztes braunes Lederportemonnaie zutage, dann zog er einen Personalausweis hervor und besah ihn sich einen Moment, lei72 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


se lachend und den Kopf schüttelnd. Bevor Adrian sich den Ausweis näher anschauen konnte, hatte Benn ihn schon wieder verschwinden lassen. „Ist mein Meister nicht erstaunlich? Er weiß immer ganz genau, was man braucht und dabeihaben muss.“ Definitiv aus dem Irrenhaus, der Typ. Aber schien harmlos zu sein. Nicht selbstmordgefährdet und auch nicht aggressiv. Aber anscheinend hatten ihm die Bullen geglaubt. Jetzt kam Adrian erst der Zusammenhang. Klar, deswegen war Grote so angepisst. Die Bullen mussten ihm geraten haben, die Anzeige zurückzuziehen, wenn er seinen Führerschein behalten wollte. Dieser arme Irre hier hatte ihm nun doch einen Gefallen getan. „Kaugummi?“ Benn hielt ihm ein Päckchen unter die Nase. Es war noch geschlossen. Adrian nahm einen Streifen, wickelte ihn aus und steckte ihn in den Mund. Benn folgte jeder seiner Bewegungen und nahm sich dann selbst, darauf bedacht, jede von Adrians Bewegungen exakt zu kopieren. Allerdings fiel das Adrian nicht auf. Benn kaute langsam und konzentriert. Adrian erhob sich. „Ich muss hier raus.“ Er wusste nicht recht, was er noch sagen sollte, darum nickte er Benn zu. Dieser lächelte wieder und meinte: „Bis bald.“ Als sich die automatischen Bustüren schlossen, warf er noch mal einen Blick durch die Scheiben auf den seltsamen Fremden. Seine Kiefer mahlten an dem Kaugummi und seine Augen wanderten schräg nach oben, als versuche er, diese Tätigkeit irgendwie einzuordnen. „Man könnte meinen, er hätte 73 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


noch nie vorher einen Kaugummi gekaut.“ Kopfschüttelnd ging Adrian davon.

Die Mischung aus Wodka und Benzos bekam ihm nicht. Nachts um halb vier fand sich Adrian in seinem eigenen Erbrochenem wieder und schaffte es gerade noch über die Kloschüssel, bevor ihn die nächste Welle seines zusammenkrampfenden Magens heimsuchte. Da er kaum etwas gegessen hatte, spuckte er bald nur noch gelbgrüne Galle. Der Gestank war widerlich. Adrian wusste, er musste diesen Dreck beseitigen, bevor seine Ma um fünf aufstand. Aber zunächst war er dazu nicht in der Lage. Er hing eine halbe Ewigkeit in der Ecke neben dem Klo und zitterte vor sich hin. Zwischendurch fiel er in einen dämmerhaften Schlaf. Schließlich schaffte er es, sich aufzuraffen und die Dusche anzustellen. Er wusch sich die Kotze aus den Haaren und wrang seine Klamotten aus. Beim Duschen ließ er sich Wasser in den Mund laufen und spülte so immer wieder über den widerlichen Geschmack. Seine Zähne klapperten, denn um diese Zeit war nicht wirklich warmes Wasser verfügbar. Zumindest half es ihm, wieder halbwegs klar zu werden. Er versteckte seine Sachen ganz unten im Wäschekorb, gleich morgen würde er sie waschen. Dann wankte er hinüber in sein Zimmer und zog sein Bett ab. Seine Hände schienen mechanisch zu funktionieren. Er holte einen Putzschwamm und scheuerte über den Fleck in der Matratze. Seine Bettwäsche stopfte er in einen großen Müllsack, den er erst mal unter seinem Bett versteckte. 74 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Er breitete ein Handtuch über die Matratze, suchte einen Putzeimer, den er neben sein Bett stellte, und kramte seinen Schlafsack ganz hinten aus dem Schrank. Er war zum Umfallen müde. Im Wegdämmern streifte ihn noch einmal der Gedanke. „Ich hätte auch an der Kotze ersticken können. Wow. So hätten sie mich dann entdeckt, wahrscheinlich erst gegen Abend. In meiner Kotze. Kein guter Abtritt …“ Er schwor sich, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Er wollte bestimmen und er wollte nicht so gefunden werden. „Die Kontrolle behalten …“ Und dann war er eingeschlafen.

Mitten am Tag wurde er wach. Es hatte keinen Wert mehr, in der Schule anzurufen und sich krank zu melden. Kurz musste er bei dem Gedanken grinsen, wie froh Franzi jetzt wohl war. Wahrscheinlich hoffte sie, dass er morgen auch nicht kommen würde. Aber als er aufstand und die pochenden Kopfschmerzen wahrnahm, verging ihm sofort jedes Lachen. Er schleppte sich in die Küche und trank Wasser. Sein Mund fühlte sich eklig an. Trotz allem – er musste sich erst mal um den Dreck von letzter Nacht kümmern und stellte die Waschmaschine an, in die das Bettzeug und seine Kleidung wanderten. Er schrubbte auch noch einmal an seiner Matratze herum, mit mäßigem Erfolg. Nach Essen war ihm nicht zumute. Er riss alle Fenster in der Wohnung auf, setzte sich an seinen gewohnten Platz auf den Küchentisch und rauchte. Allerdings schien das seinen Zustand nicht zu verbessern. Letzten Endes schleppte er sich wieder ins Bett 75 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


und zog seinen Schlafsack über den Kopf. Die Dunkelheit war besser zu ertragen. Seine Mutter kam erst gegen vier. Sie war mit Einkaufstüten beladen und rief kurz „Hallo“, um sich bemerkbar zu machen. Adrian reagierte nicht. Er hatte keine Lust, sich anwesend zu melden. Er hoffte, sie würde nicht sein Zimmer kontrollieren. Und das tat sie auch nicht. Er konnte hören, wie sie sich Musik anstellte, in der Küche mit Töpfen und Geschirr hantierte und dann im Bad die Waschmaschine aufklappte und die nasse Wäsche im Wohnzimmer auf einen Wäscheständer hängte. Sollte das heißen, Paul kam mal tatsächlich nicht vorbei? Aber wahrscheinlich ging sie später noch zu ihm. Adrian würgte leicht. Er konnte nicht mehr schlafen, aber sobald er sein Bett verließ, würde er nur mit ihr reden müssen. Darauf hatte er absolut keine Lust. Das Telefon klingelte. Er hörte wie seine Mutter abnahm und sich mit „Schoch“ meldete. Einen Moment Stille. „Nein, da bist du schon richtig. Adrian hat nur den Nachnamen seines Vaters. Aber ich glaube, er ist gar nicht da …“ Who the fuck rief da für ihn an? Wenn er das wirklich wissen wollte, musste er schnell handeln. Resigniert schlug er den Schlafsack zurück. „Ma?“ „Oh, er scheint doch da zu sein … Moment.“ Sie kam in sein Zimmer und nahm ihn etwas erstaunt in Augenschein. „Ich hab gerufen. Warum hast du nicht gesagt, dass du da bist?“ „Hab geschlafen“, gab er mürrisch zurück, seinen Blick auf den Telefonhörer in der Hand seiner Mutter gerichtet. Sie gab 76 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


ihm das Telefon und er wartete, bis sie die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, bevor er sich meldete. „Ja?“ „Hi. Ich bin’s. Neala.“ Er war zu überrascht, um darauf etwas zu antworten. „Aus der Schule“, fügte sie leicht ungeduldig hinzu. „Schon klar. So viele mit dem Namen kenn ich nun auch nicht“, gab er ein wenig patzig zurück. Woher hatte sie überhaupt seine Nummer? Wohl kaum aus dem Telefonbuch, denn da stand seine Ma unter ihrem Geburtsnamen drin. Aber dann fiel ihm die Leistungskursliste wieder ein. Alle E-Mails und Telefonnummern waren darauf erfasst. Natürlich eine Idee der Schuller-Ehrenschmidt. Falls man sich mal erreichen musste, um sich über den ach so interessanten Unterrichtsstoff auszutauschen. „Lovely. Dachte erst, ich hab mich verwählt, aber dein sonniges Gemüt ist unverkennbar.“ Machte sie etwa gerade Witze auf seine Kosten? „Was willst du?“ Er wusste, dass er total unfreundlich klang, aber er konnte auch nichts dagegen machen. „Fragen, ob du meinst, dass du morgen wieder am Start bist … Was hast du denn eigentlich?“ Sie hatte also bemerkt, dass er nicht da war. Okay, sie hätten heute Bio zusammen gehabt. Vielleicht war wieder Gruppenarbeit … „Hat jemand was gesagt?“ „Nö. Aber ich dachte, wenn du morgen krank bist, dann muss ich weniger einkaufen. Jungs essen ja immer so viel …“ Nun konnte er sich einen kurzen belustigten Schnauber nicht verkneifen. 77 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Du kannst mich auch einfach wieder ausladen. Das ist mir scheißegal. Red nur nicht um den heißen Brei.“ Wahrscheinlich hatte ihr Franzi heute noch mal die Hölle heiß gemacht. Oder Neala war selbst darauf gekommen, dass es vielleicht nicht so der Hit gewesen war, ihn zu diesem Girlie-Treff mit einzuladen. Sie stockte am anderen Ende der Leitung. „Okay, sie lädt dich aus. Wäre ja auch zu crazy gewesen, wenn sich mal jemand freiwillig mit dir abgegeben hätte“, dachte er. „Ich wollte bloß wissen, ob du morgen kommst. Aber wenn du keinen Bock hast – ich zwing dich bestimmt nicht.“ Nun klang sie angepisst. Definitiv. Komisch, das tat ihm irgendwie ein bisschen leid. Warum? Voll unnötig. Gott, sein Kopf tat immer noch weh. „Sorry. Ich hab heut einfach so ’nen Schädel. Aber ich denk, morgen bin ich wieder am Start.“ Musste er ja! Er durfte sich nur ein absolutes Minimum an Fehltagen leisten, wenn er dieses Schuljahr irgendwie beenden wollte. „Bist du dann abends dabei?“ Ihre Stimme verriet nicht, was sie darüber dachte. Er erinnerte sich an Franzi und ihre Schnute. „Wenn’s okay is’.“ Sie seufzte. „Sicher.“ „Soll ich was mitbringen?“, beeilte er sich zu fragen. Das war doch die höfliche Art bei so was? Sie schien zu überlegen. „Irgendwas zu trinken. Saft oder so. Und gute Laune.“ Er musste sich auf die Zunge beißen, um nicht „Leichter gesagt, als getan“ zu antworten. 78 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„’kay.“ „Gut … Dann tipp ich, ich seh dich in Englisch. Erhol dich noch gut.“ „Äh … Danke. Bis dann.“ Adrian legte auf und starrte auf das Telefon. Was war das denn? Er konnte sich nicht daran erinnern, wann ihn zuletzt jemand privat angerufen hatte. Letztendlich schaffte er es sich aufzurappeln und brachte das Telefon zurück ins Wohnzimmer. „Wer war denn das?“ War ja so was von klar, dass diese Frage sofort kommen musste. „Schule“, gab er zurück. Seine Mutter musterte ihn mit diesem nervenden Prüfblick. Sie musste ja mittlerweile auch geschnallt haben, dass er keine Freunde hatte. „Wegen Morgen. Theaterexkursion.“ „Ach, hast du ja noch gar nicht erzählt. Toll.“ „Mmmh.“ Sicher, ganz toll, sturmfreie Bude für dich und Paul, dachte Adrian. „Du siehst ziemlich blass aus … Geht’s dir nicht gut?“ „Hab nur ’n bisschen Kopfweh.“ „Ich hab Aspirin da.“ Er nickte. „Na ja. Gut, dass du nach der Schule noch gewaschen hast. Dein Bett hatte es echt mal wieder nötig.“ Sie hängte gerade das letzte Wäschestück auf. Er nickte wieder und verzog sich dann. In der Küche nahm er sich Cornflakes und Milch. Mittlerweile fühlte er sich wieder so, als könnte er das vertragen. 79 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Hast du schon gegessen?“, hörte er seine Mutter aus dem Wohnzimmer rufen. „Ich dachte, wir könnten ja das von vorgestern noch gemeinsam essen.“ „Nee, ich hau mich gleich wieder hin. Muss morgen fit sein.“ Dass ihm die Schule mal als Ausrede recht sein würde … „Oh, gut, dann …“ Ja, jetzt klang sie enttäuscht. „Sorry, Ma“, dachte er wütend, „das Wunschkind hat keine Lust, auf Knopfdruck anzuspringen, wenn du grad mal deine fünf Minuten kriegst.“ Er verbrachte den Abend damit, britische Sitcoms zu schauen, bis er erschöpft genug war, wieder zu schlafen. Die Tabletten skippte er heute lieber. Kleine Pause konnte nicht schaden.

Erste Stunde bei Dr. Kröte. Adrian konnte nicht gerade behaupten, dass er viel mitbekam. Wenigstens wärmte der Lehrer nicht noch mal den Vorfall vom Montag auf. Kein spitzer Kommentar mehr wie am Dienstag, ob der Unterricht wohl diesmal ohne Uniformierte stattfinden könne … Kröte fragte nicht mal, wo er gestern gesteckt habe. Adrian war das nur recht. Er malte gelangweilt weiter kleine Monster auf sein Arbeitsblatt und dachte: „Morgen ist Wochenende!“ In Englisch ging’s natürlich um Oscar Wilde. Franzi zog erwartungsgemäß einen Flunsch bei seinem Erscheinen im Klassenzimmer. Nealas Gesichtsausdruck war neutral, sie sagte sogar „Hi“ zu ihm. Da konnte er ja schlecht etwas ande80 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


res antworten. Er hatte ziemlichen Hunger und ärgerte sich, dass er mal wieder keinen Elan und keine Zeit zum Frühstücken gehabt hatte. Schuller auf leeren Magen … Sie lasen etwas über Wildes Biografie, dann stellte die Schuller Verständnisfragen. Sie rief ihn auf, aber das war für ihn diesmal kein Problem. Er hatte ausnahmsweise den Text mit überflogen, fand ihn nämlich gar nicht so uninteressant. Vor allem, dass er eingelocht gewesen war. Adrian hatte keine Mühe ihre Fragen zu beantworten, irritierte sie allerdings mit einer Gegenfrage: „What about homosexual activities in prison at this time? Any information about that?“ Das nervte die Schuller nicht schlecht. Sie ging mit einem „I don’t know, and that’s not our topic“ darüber hinweg. Wahrscheinlich hatte sie sich schwer zusammenreißen müssen, ihm nicht sarkastisch zu antworten, bei seinem eingeschlagenen Pfad könne er sicher in ein paar Jahren herausfinden, wie das heutzutage so sei … Natürlich würde er es nie so weit kommen lassen. Er tat schließlich niemandem weh. Und was er mit sich selbst machte, ging keinen was an. Ihm fiel auf, dass die Lehrerin auch heute an Nealas Aussprache herumkorrigierte, obwohl es da seiner Ansicht nach nichts zu kritisieren gab. Sie ertrug es mit stoischem Gleichmut, ohne, wie zuletzt, in die übertriebene Sprechweise zu verfallen. Am Ende der Stunde wurden noch mal Treffpunkt und Uhrzeit ausgemacht: eine halbe Stunde vor Theaterbeginn am Haupteingang des Staatstheaters. Adrian wusste nicht, ob er sich wünschen sollte, dass sie in einen Feierabendstau gerieten. Vielleicht war es auch das 81 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


schlimmere Los, mit drei wildfremden Mädels im Auto festzusitzen, anstatt ein paar unterbezahlten Bühnenschauspielern bei ihrer Arbeit zuzusehen. Außerdem hatte ihn Neala auf fünf zu sich bestellt. Das hieß wohl, sie plante genügend Zeit für die Strecke ein. Die Pause vertrieb er sich mit Musik hören. Eels, ziemlich entspannt. Er musste grinsen bei dem einen Song, wo Mr E darüber sang, dass ihn seine Mama nie leiden konnte, was ihn aber nicht davon abhielt, sie zu mögen, denn: „She was my mom.“ Aus dem Augenwinkel konnte er die drei Mädels beobachten, die sich über irgendeinen Film zu unterhalten schienen. Die blonde Franzi eindeutig die Wortführerin, dafür sah die andere ganz nett aus. Wie hieß sie gleich? Das sollte er wohl besser wissen. Im Leistungskurs Englisch sind immer mehr Mädels als Jungs. Vielleicht hätte er was anderes wählen sollen, aber dazu war es nun zu spät. Und was hätte es schon gebracht? Es war ja nicht so, dass er sich mit Jungs besser verstand. Eigentlich komisch, er konnte nicht erklären, woher diese Distanz kam. Es hatte sich ganz einfach so ergeben. Man ließ ihn in Ruhe und im Normalfall tat er das Gleiche. Außer jemand wollte ihn mutwillig fertigmachen. Wie damals in der achten … Lukas, dieses Arschloch. Spielte sich auf, als ob er der Meisterchecker wäre. Meinte, er und seine Kumpels müssten ihm ein bisschen die Hölle heiß machen. Und so ein Sack sang im Kirchenchor … Damals hatten sie ihn aufmischen wollen, als er nach der Schule allein auf dem Nachhauseweg war. Adrian war nie besonders stark gewesen – und sie waren zu viert. Ihm war 82 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


schnell klar gewesen, dass er ihnen mit Körperkraft nicht beikommen konnte. Er musste sein Köpfchen einsetzen. An dem Abend hatte er sich ins Internet gehängt und eine ganze Weile herumgesucht. Zwischendrin hatte ihn noch seine Mutter genervt, was er mit seiner Nase angestellt hatte. Er hatte ihr erzählt, er sei gegen eine Glastür gelaufen. Da hatte sie ihm Schmerzmedis gegeben, das erste Mal, dass er in den Genuss dieser wohltuenden Wirkung gekommen war. Und dann hatte er sich einen Plan zurechtgelegt … Er brauchte ein paar Tage, um Lukis Umfeld auszukundschaften. In einer Pause las er sämtliche SMS, die der Dämlack auf seinem Handy gespeichert hatte, und stellte dabei fest, dass der kleine Musterknabe Daddys Kreditkartennummer herausgefunden hatte. Entweder war sein Vater genau so ein Vollidiot wie der Sohn, oder er erlaubte ihm, sich im Internet irgendwas aus dem Ausland zu ordern. Es war fast zu einfach gewesen, ihm einen Stapel Hardcorepornos ins Haus zu schicken. Auf Papis Rechnung natürlich. Was das für Konsequenzen bei Luki zu Hause nach sich zog, konnte er nur vermuten. Mit einem halben Ohr meinte er aber etwas von Hausarrest gehört zu haben, als sich Luki wütend mit seinen Kumpels in der Schule darüber unterhielt. Allerdings hieß das noch nicht, dass Adrians Probleme mit dieser anonymen Attacke vom Tisch waren. Lukas Bauer war zum Glück letztes Jahr mit seinem Abi von der Schule verschwunden. Adrian hatte nie wieder Stress mit ihm gehabt. War ihm wohl zu peinlich gewesen, das Ganze. Immerhin konnte er alle anderen in der Klasse noch zu einem gewissen Grad beeinflussen, nicht mit dem Birki abzuhängen, weil der Typ echt total krank sei … 83 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Zu dieser Zeit, als Vierzehn-, Fünfzehnjähriger hatte Adrian ernsthaft darüber nachgedacht, Privatdetektiv zu werden oder zur Polizei zu gehen. So sehr hatte ihm das Schnüffeln Spaß gemacht und die Leere nach Mattis Umzug ausgefüllt. Warum musste er gerade jetzt wieder an diesen alten Scheiß denken? War doch so lange her. Sogar Mr E, dessen Songs er gerade im Ohr hatte, schien einmal ans Ende seiner Pechsträhne gekommen zu sein. Konnte das nicht auch bei ihm, Adrian Birkson, eines Tages passieren? Entweder das – oder der gepflegte Abgang. Mehr Optionen gab es für ihn nicht.

Nach der Schule machte er noch einen Abstecher in die Innenstadt. Saft kaufen, haha, mit geklautem traute er sich dann doch nicht aufzutauchen. Und es war ihm auch nicht danach, etwas mitgehen zu lassen. An der Kasse griff er noch nach seiner Zigarettenmarke. Dann lief er langsam nach Hause, den Hügel hinauf. Schließlich gab es nichts, was er dringend tun musste, und bis fünf war noch massig Zeit. Er trug seine übliche Jeans mit schwarzem Kapuzenpulli. Als er seine Erscheinung in dem großen Spiegel im Flur wahrnahm, dachte er, dass es vielleicht angebracht war, sich umzuziehen. Nicht dass er sich unbedingt schick machen wollte und anpassen wollte er sich auch nicht. Wenn schon auffallen, dann richtig. Er kramte im Chaos seines Kleiderschranks herum, dann stellte er sich noch mal unter die Dusche. Mit seinen Haaren war nicht viel anzufangen. Er könnte sie hinten zusam84 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


menbinden, dann fiel ihm nur noch sein überlanger Pony ins Gesicht, aber eigentlich war es ihm lieber, wenn sein Gesicht so eingerahmt wie möglich blieb. Er kramte in der Badschublade seiner Mutter herum, bis er ihren schwarzen Kajal gefunden hatte, und verpasste seinen Augen eine Umrandung. Er grinste sein Spiegelbild an. Er musste sich schwarzen Nagellack anschaffen, dann hatte er vielleicht entfernte Ähnlichkeit mit dem Frontmann von einer Alternativrockband. Seine schwarzen Jeans saßen ziemlich eng, sein dünn gestreiftes graues Shirt ebenso. Man konnte deutlich sehen, dass er ein ziemlich halbes Hemd war. „Whatever …“ Irgendwie fehlte da noch was … Zu blöd, dass Punkrock-Chic voll in war. Nietengürtel und Halsband machten es nicht wirklich „bedrohlicher“. Also doch Nagellack. Seine Mutter hatte natürlich keinen schwarzen … Er ging in sein Zimmer, nahm einen Edding und beschäftigte sich die nächste halbe Stunde damit, seine Fingernägel anzumalen. Er fand es richtig lustig. Bis er gehen musste, zockte er noch weiter. Seine Ma kam gegen drei und schaute bei ihm ins Zimmer. „Wann musst du los?“ „Halb fünf oder so“, gab er abwesend zurück, die Augen auf den Bildschirm geheftet. „Damn!“ Sein Prinz ging gerade tödlich getroffen zu Boden … Schnell die Zeit zurückspulen. Das war der letzte Stand. Seine Mutter beobachtete ihn und das machte ihn nervös. Er beschloss aber, sie zu ignorieren, und fuhr fort, mit Spezialkombos seine Gegner aufzuschlitzen. „Musst du immer so ein brutales Zeug spielen?“, fragte sie. Er stöhnte auf, denn sein Prinz lag wieder am Boden. Eine 85 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


von den gemeinen Würgertussen war ihm in den Nacken gesprungen und er wusste nicht, wie man die loswurde, wenn sie einmal da saßen. „Fuck, Ma, echt … Erspar mir die Comments!“ Gefrustet klickte er auf „Wiederholen“, als ihn die blutrote Schrift über das Spielende informierte und fragte, ob er beenden oder wiederholen wolle. Sein Leben, eine einzige Wiederholung. Furchtbar. Endlose Re-runs der Lindenstraße oder so. Er könnte kotzen. „Red nicht so mit mir, sonst fliegt das Ding in den Müll“, gab sie gereizt zurück und verschwand aus seinem Zimmer. „All right“, dachte er genervt.

Er klingelte. Zwei Mal hatte er schon auf seinem Notizzettel gecheckt, ob er die richtige Hausnummer hatte, aber es war nicht schwer zu finden gewesen. Ein kleines Einfamilienhaus, schon älter, mit Garten, der sich hinter dem Haus noch weiter am Steilhang hinauf erstreckte. Nicht protzig, aber auch nicht gerade schlecht. Nur unten die Hauptstraße nervte bestimmt ein bisschen. Er war nicht darauf gefasst gewesen, dass ihm eine Frau, ungefähr Mitte vierzig, die Tür aufmachte. „Ja?“ Sie blickte ihn nicht unfreundlich an, nur leicht irritiert. Er hatte noch eines seiner Lieblings-T-Shirts mit ein paar Löchern oben am Kragen angezogen. Es war von einer Band, aber nichts außergewöhnlich Schockierendes drauf … nur Totenköpfe und Gitarren. 86 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Ähm …“, er machte eine halbe Begrüßungsgeste mit seiner Hand, „wohnt Neala hier?“ „Ja, und du bist?“ „Adrian. Aus der Schule. Wir haben heut ’ne Exkursion …“ Vielleicht sagte sie ihren Eltern so viel wie er seiner Mutter. Dann war das jetzt vielleicht nicht so hilfreich. „Stimmt. Ihr geht ins Theater. Die Mädchen haben wahrscheinlich die Tür nicht gehört. Sie haben Musik laufen. Komm herein.“ Sie trat eilig von der Tür weg, um ihn durchzulassen. Irgendwie klang ihr Deutsch nicht ganz perfekt. Adrian konnte aber keinen bestimmten Akzent feststellen. Es war auch nur ganz leicht hörbar. Sie brüllte die Treppe hinauf: „Neala, Darlin’ …“ Adrian hörte eine Tür schlagen, Gekicher und irgendeine Musik, die er aber nicht zuordnen konnte. Im nächsten Moment erschien Neala am Treppenabsatz. „Oh, sorry, hab die Klingel nicht gehört. Danke, Ma.“ Ihre Mutter machte eine wegwerfende Handbewegung und verschwand dann vermutlich ins Wohnzimmer. Ein Grinsen erschien auf Nealas Gesicht, als sie seinen Aufzug in Augenschein nahm. Sie kam rasch die Stufen hinunter und sagte: „Die sind grad noch voll im Stylingfieber.“ Mit einem Seitenblick auf die Tüte in seiner Hand stieß sie eine weitere Tür im Gang auf. „Bringen wir das erst mal in die Küche.“ Er legte sein Mitbringsel auf dem Küchentisch ab und sah sich um. Alles Holz und jede Menge Kram an der Wand. Jede Menge Postkarten voller Landschaftsbilder und irgendwelche 87 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Sprüche. Viele waren auf Englisch. Er besah sich eine Karte näher und erkannte, dass es irgendein Bibelspruch war. „Okay …“, dachte er. „Ich hab die Lasagne schon im Ofen. Aber du kannst mir beim Salat helfen, dann sind die bestimmt auch fertig.“ Sie deutete vage nach oben. „Ja … whatever …“ Gott, was machte er bloß hier? Wie sollte er die kommenden Stunden überleben? Er wusste nicht mal, über was er Small Talk halten sollte. Neala gab ihm Tomaten und Karotten zum Kleinschneiden und begann selbst, einen Salatkopf zu waschen. Sie hatte ganz normale dunkle Jeans an und ein schwarzes längeres Oberteil, das eng anlag. Das war’s schon. „Und du?“, fragte er. „Was?“ „Na ja … wegen eurem Style-Contest oder was auch immer.“ Er sah von seinem Schneidebrett auf. „Bin nicht in der Stimmung“, gab sie zurück. Sie nahm ein Haarband vom Handgelenk und band ihre Locken zusammen, weil sie sie störten. Ihre Haare waren eher ein Braunrot. Er wusste nicht, ob es echt oder gefärbt war. Komisch, in der Schule hatte er noch nie auf ihre Haarfarbe geachtet. Aber ihre Ma vorhin, die hatte richtig hellrotes Haar gehabt. Sogar Sommersprossen, aber die hatte Neala nicht, sie war eher blass. „Und? Mittlerweile mehr Bock aufs Theater?“ Sie streckte sich und langte nach Essig und Öl auf einem der Regalbretter. „Nee“, gab er zu. „Find ich cool, dass du trotzdem gehst“, meinte sie. „Mmh“, war alles was ihm dazu einfiel. 88 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Sag mal, wo kommt dein Name her?“, wollte er plötzlich völlig unvermittelt wissen. Sie schüttete eine Prise Salz in die Salatsoße und sah dann zu ihm auf. „Dachte das wüsste jeder … Aber klar, du bist ja erst in unseren Kurs gekommen …“ Er sah sie abwartend an. „Ist aus dem Altgälischen. Meine Ma ist Irin.“ Logisch, das war der leichte Sound in ihrer Sprachmelodie gewesen. Nun machte auch der schräge Name Sinn. „Cool. Bedeutet er was?“ Sie nickte. „Und was?“ „Kannst du googeln“, gab sie zurück. „Du kannst die Tomaten hier mit reintun.“ Sie schob ihm die Salatschüssel zu. War sie jetzt angepisst, weil er so blöd gefragt hatte? Er fand das wirklich cool. Alte Sprachen faszinierten ihn. Er hatte sogar in seiner Tolkien-Phase mal versucht, Elbisch zu lernen, war aber nicht weit gekommen. „Sorry.“ Irritiert sah sie ihn an. „Nee, Mann … Es ist nur, ich krieg das so oft zu hören … Kannst du ja nicht wissen. Und dann pisst mich die Schuller auch noch ewig an wegen meinem angeblichen irischen Slang, wenn ich rede. Das geht mir einfach ein bisschen auf den Wecker.“ „Die geht nicht nur dir auf den Wecker.“ Das war also das ganze Getue … Wahrscheinlich war die Schuller einfach nur angepisst, dass sie Neala in Sachen Englisch nicht mehr viel beibringen konnte. 89 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Dann bist du so richtig zweisprachig aufgewachsen, oder was?“ „Mit meiner Ma red ich schon oft Englisch und früher auch mit …“ Sie stockte. „Egal, jedenfalls wohnen wir ja hier und mein Dad ist Deutscher. Also würd ich sagen: Wir reden mehr Deutsch bei uns zu Hause als Englisch.“ Er nickte und schob die geschnittenen Karotten auch noch mit dem Messer vom Schneidebrett in die Schüssel. „Mir gefällt das.“ Sie deutete mit ihrem Finger unter ihre Augen. „Was?“ Er schaltete nicht gleich, weil das Thema wieder so abrupt wechselte. „Was du mit deinen Augen gemacht hast.“ Okay, das kam jetzt unerwartet. Adrian wusste nicht, ob es das war, was er mit dem Look erreichen wollte, aber auf der anderen Seite war es ja auch cool, dass sie ihn nicht abartig fand. Sie schien es jedenfalls ehrlich zu meinen. Aber er musste aufpassen. Er wollte nicht, dass ihm irgendwas entschlüpfte, was später gegen ihn verwendet werden konnte. „Ja, whatever. War in der Stimmung. Ihr habt nicht zufällig ’n Bier oder so?“ Plötzlich dachte er, ohne Alkohol würde er den Abend nicht überstehen. „Ähh … nein. Sorry. Mein Dad ist eher der Rotweintyp.“ „Kaum zu glauben. Irischer Haushalt ohne Bier.“ Er musste grinsen. „Oh yerr, ’cause dad’s what the Irrish duu“, antwortete sie spöttelnd in übertriebenem Akzent. „’tschuldigung.“ Sie mischte den Salat durch und stellte ihn auf den Tisch. Dann begann sie, den Tisch zu decken. 90 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Die zweite Schublade von links“, wies sie ihn an. Er öffnete diese und fand Besteck. „Nur für uns vier, meine Eltern essen später was.“ Adrian wäre überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass ihre Eltern vielleicht mit ihnen hätten essen können. „Ja, so ist das, wenn man in ’ner normalen Familie aufwächst. Da soll es durchaus vorkommen, dass die Leute miteinander essen“, ermahnte er sich selbst ironisch. Sie rief die Mädels, als alles fertig auf dem Tisch stand. Eigentlich hätten die ihr auch ruhig helfen können, dachte er. Connie hatte ihre halblangen Haare fransig gestylt und trug einen Rock und eine Bluse, aber Franzi war der Oberhammer. Sie steckte in einem blauen Kleidchen mit Spaghettiträgern und passenden Highheels, dazu hatte sie ihr blondes Haar hochgesteckt und jede Menge Glitzer-Make-up um die Augen. Sie sah extrem nach Playboy-Magazin aus, und er fragte sich belustigt, ob das wohl Absicht war. Vermutlich eher nicht. Okay, sie war ein hübsches, schlankes Ding, sie konnte das tragen. Er fand aber, es sah sehr nach amerikanischem Highschool-Teenie-Film-Style aus. Connie entpuppte sich als ein ziemlich lustiges Ding. Sie erzählte anschaulich von ein paar Beinahunfällen aus ihrem Chemie-Leistungskurs, geleitet von Dr. Schneider – der war wohl absolut der Typ „zerstreuter Professor“. Außerdem machte sie ihrem Unmut darüber Luft, dass die SchullerEhrenschmidt immer so komisch mit Neala umging. Adrian nahm an, dass Connie ziemlich helle war. Chemie war eines seiner Albtraumfächer, er konnte sich nicht vorstellen, das als Leistungskurs zu nehmen. Connie schien wenig Berührungsängste mit ihm zu haben, aber Franzi ignorierte ihn beflissen. 91 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Das Essen schmeckte super und er war froh, dass sein Magen nicht mehr rebellierte. Er hatte tagsüber fast nichts gegessen, aber er hielt sich trotzdem zurück. Connie fragte Neala zwischendurch irgendwas wegen einer Gitarre am Sonntag, was er nicht kapierte. „Ja, ich bring Tobis mit“, sagte Neala. „Gut.“ Connie nickte. Er wollte aber auch nicht blöd fragen, was das zu bedeuten hatte. „Wie hast du das eigentlich geschafft durchzufallen? Ich meine, da muss man sich ja schon sehr anstrengen …“, sagte Franzi plötzlich unvermittelt zu ihm. Er sah von seinem Teller auf und fixierte sie cool. „Ach, weißt du … das war eigentlich ganz leicht.“ Neala machte ein Gesicht, das Franzi wohl daran erinnern sollte, sich ein bisschen taktvoller zu verhalten, aber sie ignorierte es. „Mein Bruder singt mit Lukas Bauer im Chor. Der war doch mal bei dir im Kurs, oder?“ „Da waren viele“, gab er zurück. „Kennst du ihn dann gar nicht?“, fragte sie unschuldig. „Flüchtig“, sagte er. „Ich kenn ihn“, bemerkte Connie. Sie nahm sich noch Salat und spießte ein paar der grünen Blätter auf ihre Gabel. „Du warst auch mal im Chor, stimmt’s?“, wollte Franzi von ihr wissen. Connie nickte. „Aber ich hatte dann keine Zeit mehr. Mich wundert’s, dass der Bauer da noch ist. Ich dachte, der ist weg zum Studieren.“ Aus Connies Kommentaren ließ sich nicht heraushören, 92 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


was sie von dem Typ hielt, also war Adrian auf der Hut. Er überlegte krampfhaft, wie er das Thema wechseln konnte, aber ihm fiel nichts ein. „Mein Bruder hat erzählt, er würde erst noch den Wehrdienst machen oder so.“ Okay, das passte zum Bauer. Der spielte bestimmt gern mit Waffen. Adrian zockte zwar gern, aber in echt wollte er mit Waffen nichts zu tun haben. Vielleicht weil er Schiss hatte, zu was ihn das in seinen schwachen Momenten verleiten konnte. „Und dann fährt er immer noch jedes Wochenende hierher, um zur Probe zu können? Beachtlich!“, sagte Connie. Ja, wow, war er nicht ein Musterknabe, dieser Bauer? Adrian fragte, wo das Klo sei, und verschaffte sich so ein paar Minuten Ruhe. Er hatte absolut keine Lust, weiter an den Bauer zu denken. Er hatte damals in Erwägung gezogen, den Hund der Familie Bauer zu kidnappen und melodramatisch in einem Sarg vor der Haustür abzustellen. Aber dann war ihm klar geworden, dass er das nicht übers Herz bringen würde.

Endlich brachen sie auf und stiegen alle in einen alten Golf. Connie und Franzi setzten sich auf die Rückbank, anscheinend war ihnen das lieber so. Also konnte er auf den Beifahrersitz neben Neala. Sie schien ein bisschen angespannt, aber er hatte schließlich gar kein Auto und war bei seiner Führerscheinprüfung zweimal durchgefallen … Loser halt. Sie musste bestimmt keine Angst haben, er würde an ihrem Fahrstil herumkriti93 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


sieren. Aber das konnte sie ja schlecht wissen. Er zog seinen MP3-Player aus der Hosentasche und schaltete ihn ein. „Was hast du alles drauf?“, fragte Neala. „Viel“, gab er wenig informativ zurück. „Vielleicht kannst du für ein bisschen Sound sorgen.“ Sie ordnete sich in die Abbiegespur ein. Er beäugte misstrauisch das antike Kassettendeck. „Da, im Handschuhfach.“ Sie machte eine Kopfbewegung, ohne den Blick von der Straße zu wenden. Er öffnete das Handschuhfach und fand einen Kassettenadapter. Nun gut, sie hatten es so gewollt. Er stöpselte das Kabel des Adapters in den Kopfhörerausgang seines Players und schob die Kassette ins Autoradio. Er musste ziemlich laut drehen, bis man etwas hörte. Es war also nicht so prickelnd, aber erträglich. „Gott, was ist das denn?“, fragte Franzi mit Zickenstimme. Adrian sah aus dem Fenster und grinste. „Das ist System of a Down“, sagte Neala zu seiner Überraschung. „Ist schon ein altes Album, aber ich finde, das beste von ihnen.“ Respekt! „Sag mal, hast du vielleicht was weniger Prügelndes? Zum Fahren wär mir das lieber, sonst fang ich noch an, die anderen Autos zu schneiden“, bat sie ihn. „Sind die Eels recht?“, gab er gelangweilt zurück. „Perfekt.“ Wow, schon die zweite Band, die ihr etwas sagte. Die anderen beiden konnten auch gut mit dem Sound leben, also eine große glückliche Familie … Adrian schüttelte leicht den Kopf. Was machte er hier bloß? Er wühlte in seiner Hosen94 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


tasche bis er die zerdrückte Zigarettenschachtel und das Feuerzeug gefunden hatte. Als er die Kippe rauszog und sich zwischen die Lippen steckte, fragte Neala: „Hältst du’s auch ohne durch?“ Er wandte ihr sein Gesicht zu und das sah ziemlich genervt aus. „Okay, aber dann versuch doch bitte, aus dem Fenster zu rauchen“, lenkte sie ein. „Klar.“ Er zündete die Kippe an und kurbelte das Fenster herunter. Dann inhalierte er und blies den Rauch, so gut er konnte, nach draußen. Hinten auf der Rückbank hatte eine Diskussion über irgendeinen Teenie-Film mit einem populären Schauspieler begonnen. Franzi schwärmte in den höchsten Tönen über sein Aussehen, aber Connie brachte sie wieder auf den Boden, indem sie ihr verklickerte, der ganze Waschbrettbauch in der einen Szene müsse vom Maskenbildner stammen; der Typ sei in echt viel zu schlaksig, um Muckis zu haben. Er hätte fast laut losgelacht, verkniff es sich aber gerade noch. Neala sagte nur, sie fände das überhaupt nicht schlimm, wenn ein Schauspieler nicht perfekt sei. Aus der Art und Weise, wie sie mit Namen hantierte, schloss er, dass sie wohl oft ins Kino gingen. Eigentlich ein Thema für ihn, denn er liebte Filme, aber bei dem Genre konnte er nichts beisteuern. Wollte er auch gar nicht. „Den kann man auf Deutsch nicht schauen. Der ist grottenschlecht synchronisiert. Hast du ihn auf DVD in Englisch gesehen?“ Connie pflichtete Neala bei. „Hast du ihn gesehn, Adrian?“, fragte sie auf einmal. 95 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Bitte?! „Nope.“ Er aschte aus dem Fenster und nahm einen weiteren Zug. „Bist du bald fertig? Mir wird kalt“, beschwerte sich Franzi. Wenn ihn das nicht selbst stören würde, hätte er sich bestimmt noch mal extra viel Zeit gelassen. So aber rauchte er zu Ende und warf den Stummel aus dem Fenster. Dann kurbelte er das Fenster wieder zu. „Neala kann ihn dir leihen, sie hat eine halbe Videothek“, fuhr Connie unbekümmert fort. „Es soll auch Leute geben, die nicht auf diese Art Filme stehen“, sagte Neala. Es klang fast, als sei es ihr peinlich, dabei ertappt zu werden, genau wie die anderen eine Schwäche für Teenie-Kitsch zu haben. Sie musste scharf bremsen. „Oh, bitte kein Stau“, murmelte sie. Es war aber nur ein Stück Baustelle, durch die man sich langsamer durchschlängeln musste. Connie schien eine Wegbeschreibung ausgedruckt zu haben, die sie nun Adrian nach vorn reichte. „Du kannst sie später besser dirigieren – als Beifahrer.“ Adrian überlegte, ob er versuchen sollte, sie absichtlich falsch zu lotsen, damit sie zu spät kommen würden, aber das wagte er dann doch nicht. Schließlich fanden sie einen Parkplatz, zwei Seitenstraßen vom Theater entfernt. Schuller-Ehrenschmidt, in Abendgarderobe kaum wiederzuerkennen, scheuchte sie wie eine Henne ihre Küken zum Eingang. Dort holte sie die reservierten Karten ab, die an die Schüler verteilt wurden, um damit durch die Kontrollen zu gehen. Adrian warf einen Blick auf die Uhr im Foyer des Theaters. Noch an die zwanzig Minuten Zeit bis zum Beginn. 96 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Er steuerte auf die Glastüren zu, durch die sie gerade hereingekommen waren. „Wo wollen Sie denn hin, Adrian?“ Die Schuller schien nur darauf gewartet zu haben, dass sie ihn ertappte, wie er stiften ging. Zur Erklärung hob er sein Zigarettenpäckchen in die Höhe und ging hinaus vor die Tür, wo er sich augenblicklich eine ansteckte. Er rauchte langsam und beobachtete die Leute, die ins Theater gingen. Sein Sitzplatz war natürlich mitten in der Reihe. So musste er sich an all den Leuten vorbeidrücken, die bereits Platz genommen hatten. Links von ihm saß Julius, einer der wenigen Jungs im Kurs, rechts neben ihm war Neala gelandet. Sie schaltete gerade ihr Handy aus und ließ es in ihrer Handtasche verschwinden. Dann kramte sie nach einem Plastikdöschen. „Pfefferminz?“, fragte sie ihn. Er nahm eins der Lutschbonbons und sie steckte sich auch eins in den Mund. „Hast du sonst mal was von Wilde gelesen?“, wollte sie wissen. Er schüttelte den Kopf. „Ich hab die Märchen zu Hause. Die gefallen mir.“ „Hab den Film gesehen“, sagte er. „Da wird das Märchen mit dem Riesen erwähnt.“ „Da gibt’s ’nen Film?“ „Schon älter. Biopic.“ Adrian dachte, dass sie das mit ihrer halben Videothek doch fast wissen müsste. „Ist das deine Art Film? Biografien?“, wollte sie wissen. Er zuckte mit den Schultern. „Nicht unbedingt. Ich schau immer, auf was ich Bock hab.“ „Was war der letzte Film, denn du dir angesehen hast?“ Er musste überlegen und dabei wurde es im Theatersaal 97 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


dunkel. Dann nannte er ihr den Titel der Vampir-DetektivSerie. Was auch immer sie jetzt von ihm hielt … „Oh, hast du die? Ich würd’s gern mal ausleihen.“ Langsam irritierten ihn Nealas Antworten ungemein. Er antwortete ihr, das sei kein Problem, solang er sie wieder zurückbekäme. Irgendjemand zischte ihnen zu, sie sollten endlich die Klappe halten. Da erhob sich der Vorhang. In den folgenden zwei Stunden wurde ihnen „The Importance of Being Earnest“ nahegebracht – mit einer fünfzehnminütigen Pause dazwischen, die Adrian wieder dazu nutzte, seinen Nikotinhaushalt ins Gleichgewicht zu bringen. Er musste bei der Vorstellung sogar zwei-, dreimal grinsen, es war durchaus witzig. Probleme, dem Text zu folgen, hatte er keine – außer wenn die Schauspieler sehr schnell sprachen. Neala sah ihn von der Seite an. So ganz konnte sie sich auf ihn keinen Reim machen. Sie überlegte, ob er auf der Fahrt oder beim Essen irgendwas Persönliches über sich geäußert hatte, aber es fiel ihr nichts ein. Dennoch hatte er während ihrer Unterhaltung im Auto nicht abwesend gewirkt. Sie hatte ihrer Ma erzählt, dass sie nicht wusste, ob es eine gute Idee gewesen war, den Typ aus der Schule gemeinsam mit ihren Freundinnen einzuladen. „Aber irgendwie redet nie jemand mit ihm. Und er auch nicht mit uns, also …“ Sie hatte mit den Schultern gezuckt. „Ich finde es nett von dir. Vielleicht ist er einfach nur schüchtern“, hatte ihre Ma geantwortet. Neala hatte geschnaubt. „Ich glaub nicht, dass der schüchtern ist. Ich glaub, dem ist eher alles scheißegal …“ Sie dachte an ihr Gespräch in Bio zurück. Sie kam sich kein bisschen nett vor. Vielleicht hatte sie ihn nur aus falscher 98 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Christlichkeit eingeladen. So nach dem Motto: „Schaut doch mal, wie cool ich drauf bin, ich geb mich mit dem ab.“ Was für eine geniale Motivation … „Fast niemand ist wirklich alles scheißegal. Auch wenn er sich nach außen so verhält“, hatte ihre Mutter daraufhin gesagt. Neala erinnerte sich an den ersten Schultag. Da war Adrian zu spät gekommen und hatte sich auf den letzten freien Platz setzen müssen. Alle in ihrem Kurs mussten sich nun zusammenreißen für den Endspurt – das Abi nächstes Frühjahr. Adrian war der Einzige, der wiederholte. Und es stimmte, man musste schon kolossal nachlassen, wenn man die K12 noch gemeistert hatte, aber in der K13 doch noch absackte. Vom ersten Tag an schien er mit der Schuller-Ehrenschmidt auf Kriegsfuß zu stehen. Sie hatte sich abschätzend über Adrians Facharbeit geäußert, die sie wohl beim vorigen Lehrer eingesehen hatte. Nicht dass er etwas zu seiner Verteidigung hervorgebracht hätte, er hatte sie nur mit diesem Blick gemustert, als ob er sie für ein minderwertiges Insekt hielt. Neala hatte sich im Stillen gefreut. Zugleich hatte sie sich deswegen geschämt – und am Abend, als sie im Bett lag, war ihr dieser Moment wieder eingefallen. „Tut mir leid, Jesus, ich hab mich voll gefreut, dass die Schuller einen neuen Feind hat. Ich dachte, dann lässt sie mich mit meinem Englisch wenigstens in Ruhe. Tut mir echt leid. Ich weiß, ich soll sie segnen … aber sie geht mir so was von auf die Nerven … Und der Neue … Keine Ahnung, was mit dem los ist. Vielleicht kannst du dich ja um ihn kümmern.“ Das hatte sie gesagt – und es hatte ihr die Last von der Seele genommen, sodass sie bald darauf eingeschlafen war. Es war ja wohl nicht ihre Aufgabe, ihm zu helfen, noch dazu wo er nie nach Hilfe fragte. Er 99 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


brauchte sie wahrscheinlich gar nicht. Ihm war doch ohnehin egal, wie es mit ihm weiterging … oder?

„Meister, ich verstehe gar nicht, was ich hier noch soll. Gut, das Auto hat ihn nicht überfahren. Und was mache ich jetzt? Er lehnt es ab, mich zu sehen.“ „Ich weiß, aber für ihn ist das auch ein bisschen seltsam mit dir, verstehst du?“ „Aber dann könntest du mich für ihn doch weniger seltsam machen, sodass er sich nicht wundern muss.“ „Natürlich könnte ich das, aber ich will ja gerade, dass er sich wundert. Ich will, dass er anfängt zu fragen.“ Benn sah hinunter auf die Zuschauerreihen, die vielen Farben. Er konnte Adrian klar ausmachen, dunkelblau mit dem roten Riss. Neben ihm saß eine Freundin des Meisters. Blassrosa mit ein paar grauen Stellen. Ja, sie war immer noch traurig und auch ihre Wut hatte sie noch nicht ganz verwunden. Dennoch schien sie nicht aufzugeben. Immer wieder lag sie dem Meister in den Ohren. Benn wusste, er würde sie nicht im Regen stehen lassen. Der Theatersaal war ein einziges Farbenmeer und er war froh, dass sein Meister ihm gesagt hatte, auf wen er sich konzentrieren sollte. Es raunte und rauschte aus allen Ecken und Enden. Und dann erkannte er darin Adrians Stimme. „Gott, wann wird das hier zu Ende sein?“

100 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Auf dem Heimweg begann es zu schütten. Adrian sah, dass es Neala anstrengte, in die blendenden Scheinwerfer der anderen Fahrzeuge zu schauen. Die nasse Straße spiegelte zusätzlich. Franzi und Connie diskutierten darüber, ob der eine Schauspieler gut aussehend war oder nicht und dass man das im Theater schlecht beurteilen könne. Er hätte gern wieder geraucht, aber bei dem Regen konnte er schlecht das Fenster aufmachen. Stattdessen klickte er die Killers auf seinem MP3-Player an und das schien für alle okay zu sein. Endlich Wochenende! Neala ließ sich von Adrian erklären, wo er wohnte, und brachte ihn bis fast vor die Haustür. Das wäre nun echt nicht nötig gewesen … Sie war müde. Connie wollte wissen, ob sie morgen Abend mit am Start sei, aber sie antwortete, sie wisse es noch nicht. „Bei was auch immer“, dachte Adrian. Es sollte ja Leute geben, die am Wochenende durchaus etwas vorhatten. Er überlegte, dass er eigentlich nie etwas vorhatte. Aber mit wem auch? Er warf noch ein schnelles „Tschüss und Danke“ in die Runde und stieg aus. Als er die Wohnungstür aufschloss, drangen aus dem Schlafzimmer seiner Mutter ein paar eindeutige Geräusche, die darauf schließen ließen, dass sie nicht allein war. Na klasse … Er ging ins Bad und wusch sich flüchtig, dann kramte er nach dem Tavor. Sonst würde er bestimmt nicht schlafen können. Er versuchte seine Gedanken auf etwas anderes zu richten. Das Stück? Na ja, war okay. Aber auch nicht Hochform. Er holte sich eine Flasche Wasser aus der Küche und ging dann in sein Zimmer. Nachdem er sich ausgezogen hat101 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


te, kroch er ins Bett, nahm die Tablette, spülte mit Wasser nach und setzte sich seine Kopfhörer auf. Noch bevor das erste Lied verklungen war, schlief er bereits. Vor halb zwei Uhr mittags wurde er nicht wach. Er hatte im Schlaf seine Kopfhörer und den Player zu Boden geworfen, aber zum Glück waren sie in seinem Klamottenhaufen vor dem Bett gelandet. Nichts war kaputtgegangen. Hoffentlich war Paul jetzt weg. Er wankte ins Bad und warf sich Wasser ins Gesicht, wahrscheinlich musste er doch ein bisschen zurückschrauben, was die Pillen anging, sonst würde es seiner Ma noch auffallen. Er fühlte sich total fertig und brauchte was zum Aufwecken … Hoffentlich reichte Kaffee. „Guten Mittag“, bemerkte seine Mutter leicht säuerlich. Sie hatte also frei. „Stress mich nicht!“, gab er zurück und warf den Wasserkocher an. Er häufte Kaffeepulver in die Kanne und setzte sich auf die kleine Arbeitsfläche neben der Spüle, um zu warten, bis das Wasser heiß genug war. „Ich hab um elf mal bei dir reingeschaut, aber du warst nicht wach zu kriegen. War’s so spät gestern? Ich hab dich gar nicht kommen hören.“ „Warst beschäftigt“, murmelte er und goss das Wasser in die Kanne. Wo war denn bloß dieser Deckel mit dem Sieb zum Runterdrücken? Seine Mutter reichte es ihm vom Küchentisch. Sie ging nicht auf seine Antwort ein. „Wie siehst du eigentlich aus?“, wollte sie wissen. „Wieso?“ Sie deutete auf seine Finger und das Gesicht. Da er die schwarze Farbe an seinen Augen gestern nicht wirklich weg102 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


gewaschen hatte, waren verschmierte Schatten unter seinen Augen entstanden. „Warst du etwa so im Theater?“ „Ist doch egal“, meinte er und langte nach einer Tasse. Das Blöde war, dass der Kaffee noch viel zu heiß war, um ihn zu trinken. Er blies in die Tasse und sah aus dem Fenster. Es schüttete immer noch. Was sollte er nur mit diesem Tag anfangen? „Mein Gott, Adrian, du bist wirklich zu alt für so was.“ Energisch räumte sie die Überbleibsel ihres Frühstücks mit Paul zusammen und verscheuchte ihn von seinem Platz, um die Spülmaschine einzuräumen. „Ich hab keinen Plan, wovon du redest.“ Er ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen und nahm den ersten Schluck von seinem Kaffee. „So ins Theater zu gehen. Auf eine Schulveranstaltung, verdammt noch mal! Und dich hier zu Hause aufzuführen, als wärst du ein Kleinkind.“ Er verbrannte sich die Zunge und den Gaumen und schluckte wütend hinunter. „Lass mich doch jetzt mit dem Scheiß in Ruhe. Ich bin noch nicht mal richtig wach, okay?“ Aber da kam seine Ma erst so richtig in Fahrt. Anscheinend hatte sie Nachholbedarf. „Pass mal auf deinen Ton auf, Freundchen! So geht das nicht weiter. Wenn du dieses Jahr die Schule packen willst, dann musst du dir ein anderes Verhalten zulegen.“ „Was denn? Was hab ich denn gemacht?“ „Na …“ Sie deutete auf ihn. „So wie du ’rumläufst und immer nur deine Zeit mit irgendwelchem Scheiß vergeudest, 103 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


anstatt mal was für die Schule zu tun. Es kann doch nicht so schwer sein, sich einmal ein bisschen anzustrengen. Oder willst du mit aller Kraft beweisen, dass du genau so ein Versager bist wie dein Vater?“ Adrian stand auf, goss den Kaffee in den Ausguss und ging. „Ich rede mit dir! Adrian!“, brüllte sie ihm hinterher. Er verschwand in seinem Zimmer und knallte die Tür zu. Dann fuhr er seinen Computer hoch, um online zu gehen. Er saß vor dem Rechner und wartete. Es kotzte ihn alles so an hier. Er wollte am liebsten abhauen. Für immer. Was sollte eigentlich dieses Scheiß-Vater-Argument immer? Er konnte sich ja kaum noch an Papa erinnern. Wenn aus ihm nichts wurde, schob sie es immer auf die Gene. Vielleicht war ihre miese Erziehung eher schuld daran? Fuck. Er klickte ins Internet und gab den Namen seines Vaters bei Google ein. Das hatte er schon öfter versucht. Ohne großen Erfolg. Nichts. Als hätte er nicht mal eine E-Mail-Adresse. Vielleicht war er auch schon tot. Der gläserne Mensch half da wenig. Matthias Birkson. Seit er zehn war, blieb er aus seinem Leben spurlos verschwunden. Ihm fiel plötzlich ein kurzer Erinnerungsfetzen ein. Da war er vielleicht vier oder fünf Jahre alt gewesen: „Schau mal, Papa, so hoch kann ich springen.“ Immer wieder war er mit ausgestreckten Armen in die Höhe gehüpft. „Ich komm schon fast zur Decke!“ Mächtig stolz war er gewesen. Da hatte ihn sein Dad plötzlich geschnappt und hochgehoben. „Jetzt streck dich“, hatte er gesagt. Und Adrian hatte mit seinen kleinen Händen an die Decke gefasst. Er wusste noch, dass er sich unheimlich groß vorgekommen war, so, als wäre er plötzlich gewachsen. 104 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Entnervt warf er schließlich die Spielkonsole an und begann mit dem Prinz weiterzuzocken, während draußen der Regen energisch gegen die Fensterscheiben trommelte.

Neala wachte auch nicht gerade früh auf. Sie hatte am Abend noch eine Weile gebraucht, bis sie abschalten konnte, obwohl sie total müde gewesen war. Den Nachmittag über beschäftigte sie sich mit ihrer Facharbeit. Für Kunst arbeitete sie an einem Fotoprojekt. Ihre Ma war von ihrer Themenwahl nicht so begeistert gewesen, aber es war für Neala von Anfang an klar gewesen, dass sie die Facharbeit nicht in Englisch schreiben konnte. Nicht bei ihren Differenzen mit der Schuller-Ehrenschmidt. Fotografiert hatte sie schon immer gern. Deshalb befasste sie sich mit Fotokünstlern wie Jeff Wall. Das Thema war eigentlich nur eine logische Konsequenz. Sie schrieb an ihrem Theorieteil. Fotos hatte sie über den Sommer schon einige gemacht, musste sie allerdings noch bearbeiten. Sie benutzte eine digitale Spiegelreflexkamera, hatte aber auch ein paar der „altmodischen“ Sorte geschossen. Nealas Vater besaß eine analoge Kamera, mit der sie experimentierte, um dann im Fotolabor der Schule mit Entwickler und Fotopapier selbst Abzüge zu machen. Connie schrieb ihre Facharbeit in Chemie. Da stieg Neala nicht ganz durch, obwohl ihr die Freundin schon ein paar Mal zu erklären versucht hatte, um was es ging. Franzi schrieb natürlich in Englisch. Die Schuller stand auf sie und Franzi liebte Austen – das bot sich geradezu an. 105 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Was Adrian wohl machte? Bestimmt schrieb er nichts für Englisch, da hatte er ja letztes Jahr schon was zu Papier gebracht. Dann nahm er sicherlich seinen anderen Leistungskurs, sie wusste allerdings nicht, was das war. Sie hatten viele Fächer gemeinsam, Bio war für sie beide Prüfungsfach, Deutsch und Mathe gehörten natürlich auch dazu. Sollte sie heute Abend zur Praise Night gehen? Connie würde mitsingen und sich bestimmt über ein bisschen moralische Unterstützung von ihrer Seite freuen. Aber Neala vertrug manchmal große Menschenmassen nicht so gut. Tobi war überall dabei gewesen … in jedem Jugendgottesdienst, jeder Freizeit oder Praise Night. Er war quer durch alle Kirchengemeinden bekannt und mit echtem Eifer bei der Sache gewesen. Er hatte die Kids ermutigt, ihnen seine Ansichten zum Glauben vermittelt oder war mit ihnen zum Fußballspielen oder Kanu fahren gegangen. Auch sie war oft mit dabei gewesen. Anfangs hatte sie es nicht ertragen, wenn die Leute sie angesprochen hatten oder ihr Mitgefühl ausdrücken wollten. Manche hatten sie auch einfach nur komisch gemustert, weil sie nicht wussten, was sie sagen sollten. „Hei, hör auf zu grübeln!“, schien Tobi ihr zuzurufen. „Geh heut Abend hin, das wird klasse!“ Sie zog eine Grimasse. „Keine Lust.“ „Du könntest den Typ aus deiner Klasse fragen, ob er mitkommt.“ „Sonst noch was?“ „Ich denke, er ist immer allein.“ „Tobi, das war immer dein Ding, nicht meins.“ Er schien belustigt den Kopf zu schütteln. 106 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Sie wischte die Gedanken an ihn fort und stellte sich Musik an. Die Stille war manchmal einfach nur unerträglich. Als der Regen gegen Abend endlich schwächer wurde schlüpfte sie in ihren Mantel, schnappte ihren Rucksack und machte sich auf den Weg in die Stadt. Heute würde die Praise Night in der Brennerhalle neben dem großen Parkplatz am Fluss stattfinden. Sie nahm die Unterführung und bemerkte, dass ein paar neue Graffiti dazugekommen waren. Manchmal reizte sie das auch … Gern würde sie mal etwas dazusprayen, vor allem, weil es oft so dilettantisches Zeug war. Sie beeilte sich, denn sie war schon zu spät dran.

Adrians Hunger siegte irgendwann, und er musste seine Festung verlassen, um sich in der Küche mit etwas Essbarem zu versorgen. Seine Ma lag im Wohnzimmer auf der Couch und las irgendeinen Roman. Er sprach sie nicht an und sie ignorierte ihn ebenfalls. Wenigstens etwas. Es war schon halb acht und er sah in den Regen hinaus. Plötzlich packte ihn der unbändige Wunsch, diesen vier Wänden zu entfliehen. Nachdem er sich ein paar Sandwiches reingezogen und mit Orangensaft hinuntergespült hatte, nahm er seinen alten Parka von der Garderobe, zog seine Turnschuhe an, checkte die Jackentaschen nach Schlüssel und Geld und verließ die Wohnung. Seine Mutter bemerkte am Geräusch der Wohnungstür, dass er sich davongemacht hatte. Sie schüttelte leicht genervt den Kopf. Wie immer hatte er keinen Ton gesagt, wohin er 107 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


ging oder wie lang er fortbleiben würde. Nach dem Abitur würde er ausziehen müssen, egal ob er es schaffte oder nicht. Länger würde sie sich sein Benehmen bestimmt nicht antun. Und das nach allem, was sie für ihn geopfert hatte. Adrian wusste nicht recht wohin, ziellos streifte er durch den Regen. Die Kneipen waren hell erleuchtet, Livemusik drang aus einem der beliebten Lokale. In der Innenstadt war trotz des schlechten Wetters etwas los. Unten am Fluss neben dem großen Parkplatz, den ein Stück der alten Stadtbefestigung umgab, machte Adrian Halt. Auf dieser breiten Mauer tummelten sich bei warmer Witterung viele Pärchen, heute war dort keine Menschenseele zu entdecken. Er kletterte ohne Mühe hoch und lief auf der Mauer entlang. Unter ihm spiegelte sich der Schein der Laternen im braunen Wasser. Es war bereits sehr dunkel und er musste aufpassen, dass er auf dem nassen Stein nicht versehentlich abrutschte. Er hatte keine Lust, plötzlich im Fluss zu landen. Der war zwar nicht besonders reißend, aber bei Regen führte er häufig Hochwasser. Schließlich kam er an der Rückwand der Brennerhalle an, die direkt neben der Mauer lag. Dort gab es eine Stelle, wo er vom Regen geschützt sitzen konnte. Adrian zog aus seiner Jackentasche eine Flasche Bier, die er sich im Supermarkt gekauft hatte. Wie praktisch, dass der Laden in der Innenstadt bis zehn geöffnet hatte. Nach acht waren dort fast nur noch Penner unterwegs, die sich mit Alkohol eindeckten. Er grinste und öffnete die Bierflasche mit seinem Feuerzeug. Bei dem Sauwetter störte ihn hier niemand. So konnte er in Ruhe auf der anderen Flussseite die Lichter in den Fenstern beobachten. In der Halle war wohl irgendwas los. Er hatte gesehen, dass 108 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


sie beleuchtet war, und gedämpfte Musik drang heraus. Ein paar Kids waren eben hineingegangen. Aber das interessierte ihn nicht weiter. Er trank einen Schluck und betrachtete die nasse dunkle Stadt. Die alten Fachwerkhäuser drängten sich dicht zusammen und wurden nur von zwei moderneren Bauten überragt, die sich mehr schlecht als recht in das historische Stadtbild einfügten. Dr. Kröte hatte ihm als Facharbeitsthema etwas über die Stadtgeschichte aufschwatzen wollen, doch er hatte abgelehnt. Adrian wollte partout nichts aus den letzten hundert Jahren behandeln. Obwohl dieses Städtchen noch viel vom mittelalterlichen Flair in sich trug, hatte er kein Interesse daran, die lokale Geschichte zu erforschen. Europäisch sollte es allerdings schon sein. Ihm war noch nichts Rechtes eingefallen, aber eher aus Entscheidungsnot. Vielleicht könnte er ja etwas über die Kreuzzüge schreiben? Er war sich einfach nicht schlüssig und das war schlecht, denn Kröte hatte ihn schon genervt. Alle anderen hatten ihre Themen schon im letzten Jahr festgelegt und waren den Sommer über längst an die Arbeit gegangen. Er hatte zwar gewusst, dass er wieder eine Facharbeit machen musste, hatte aber zunächst wieder zu Englisch tendiert. Diesen Plan hatte er jedoch nach seiner ersten Stunde mit Schuller-Ehrenschmidt aufgegeben. Dann also doch Geschichte … wobei er Dr. Kröte mit seinem „Zweiter-Weltkrieg-Fimmel“ nicht unbedingt sympathischer fand. Er konnte natürlich noch weiter zurückgehen und über die Kriegerinnen schreiben, die sich der Allmacht Roms entgegengestellt hatten. Dazu gab es zwar nicht viel Literatur, aber es war spannend. Boudicca zum Beispiel, ja – viel109 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


leicht sollte er sich diese keltische Heerführerin vornehmen, auch wenn das in die Antike fiel. Da gab es zumindest genug historische Fakten. Er nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und grinste. Gut, Thema gefunden. Sehr produktives Wochenende. Er zog seine Kapuze noch tiefer und lehnte seinen Kopf gegen die unebene Hauswand. Auch die Brennerhalle war alt, jedoch von der Stadt erst vor Kurzem aufwendig renoviert worden. Dort fanden oft Kunstausstellungen oder auch Konzerte statt. Trotzdem hatten sich an der frisch gestrichenen Fassade schon wieder ein paar Möchtegernkünstler verewigt. Die zum Fluss hin abgeschirmte Seite, an der er nun saß, lud förmlich zu Schmierereien ein. Über die Mauer war die Stelle leicht zu erreichen und im Dunkeln vom anderen Flussufer aus nicht zu beobachten. Die Musik hatte aufgehört. Jetzt wurde irgendeine Ansage gemacht. Er lauschte, konnte aber nicht verstehen, um was es ging. Langsam wurde ihm kalt. „Guten Abend. Darf ich dir Gesellschaft leisten?“, fragte plötzlich eine Stimme. Adrian schrak hoch und blickte nach links. „Verdammt“, entfuhr es ihm. Benn lächelte. Er lief ganz leichtfüßig auf der Mauer entlang. Knapp vor ihm blieb er stehen und schien zu warten. „Was?“, fragte Adrian leicht gereizt. „Ich warte auf deine Antwort.“ „Ist ein freies Land“, gab Adrian zurück. „Zumindest oberflächlich betrachtet“, fügte er in Gedanken hinzu. Benn schien nicht zu verstehen. Irgendwie war der Typ schon minderbemittelt. 110 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Ich kann dir’s schlecht verbieten“, schob Adrian noch hinterher. „Oh, das ist interessant.“ Benn nahm neben ihm Platz und Adrian sah, dass er nur Jeans und einen Pullover trug. Hatte er das nicht immer an, wenn sie sich trafen? Beschwören konnte Adrian es nicht. Er war nass, auch auf seinem kahlen Kopf schimmerten Wassertropfen, aber das schien ihn nicht zu stören. „Ist dir nicht kalt, oder was?“ „Nein, in dieser Hinsicht bin ich völlig unempfindlich“, erklärte Benn. Er zog die Knie an und legte seine Arme darum. „Was machst du hier?“, wollte Adrian wissen. „Nach dem Rechten sehen.“ Benn schaute sich um: „Guter Platz hier.“ „Na ja …“ Adrian trank aus seiner Flasche und drehte sie dann in den Händen hin und her. „O doch.“ Benn lächelte. „Da drin“, er deutete auf die Rückwand der Halle, „wird gerade mein Meister verherrlicht, und das ist wunderschön.“ Adrian zog eine Augenbraue hoch. „What the …?“ „Ich war dort drin, aber dann hat mein Meister mich zu dir geschickt. Vielleicht willst du ja mit mir mit hineingehen?“ Benn wippte ein bisschen mit den Zehen und sah eindeutig vergnügt drein. „Nein danke, kein Interesse an irgendwelchen Verherrlichungen“, gab Adrian trocken zurück. Wahrscheinlich arbeitete Benn als Roadie für irgendeinen durchgeknallten Musikstar, den er als „Meister“ bezeichnete. Auf so ’ne Narzissenshow musste er nicht gehen. „Ganz wie du willst. Ich finde es jedenfalls wunderschön. 111 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Ich seh ihn durch die Reihen gehen und er übersieht keinen.“ „Okay.“ Adrian sah ihn zweifelnd an. Der arme Irre. „Aber wenn du hier bleiben möchtest, ist das auch in Ordnung. Hier ist er genauso.“ Adrian wusste darauf nichts zu sagen. Er hielt seine Flasche in das spärliche Licht, um zu sehen, wie viel er noch übrig hatte. „Was trinkst du da?“, fragte Benn. „Bier.“ Das konnte man doch deutlich sehen, oder nicht? „Ist es gut?“ „Es ist von hier. Das dunkle.“ „Wie schmeckt es?“ Benn beugte sich neugierig zu ihm herüber. Adrian legte die Stirn in Falten, dann hielt er ihm die Flasche hin. „Probier!“ „Oh.“ Benn schien ehrlich überrascht. „Ein sehr guter Vorschlag.“ Er nahm ihm die Flasche aus der Hand und roch daran. Ihm stieg der malzige Geruch in die Nase. Alles hier unten im Mezzanin hatte einen eigenen Geruch. Der braune Fluss, die kalte Mauer und der Junge, der neben ihm saß. Es kam nichts von all dem gleich, was er in den Hallen seines Meisters schon an Düften wahrgenommen hatte, oder vielleicht nur entfernt. Ein schwaches Abbild oder ein dreckiger, misslungener Versuch? Dann nahm er einen Schluck. Er behielt das Bier eine Weile in seinen Backen, es war das erste Mal, dass er Flüssigkeit in sich aufnahm und er schob das Gebräu in seinem Mund hin und her. Es war herb und irgendwie erdig. Außerdem schäumte es. Er war sich nicht 112 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


sicher, ob er es mochte. Den Kaugummi hatte er nicht schlucken müssen, er hatte gewusst, dass man ihn ausspuckte, sobald er fade geworden war. Nun würde er das erste Mal schlucken. Es war ganz leicht. Er reichte Adrian die Flasche zurück, der ihn verblüfft anstarrte. „Ich bin mir nicht sicher. Es ist irgendwie so … bitter und schaumig. Ich kann nicht sagen, ob mir das gefällt.“ „Ist sowieso meins“, entgegnete Adrian ungehalten. Der sollte sich mal bloß nicht einbilden, er würde ihn hier mit Alk versorgen. Vielleicht durfte der arme Irre auch gar keinen Alk trinken, vielleicht vertrug sich das mit seinen Medis nicht? Er sollte lieber Vorsicht walten lassen. Auch dieser Gedanke rang ihm ein Grinsen ab, weil er doch bei sich selbst überhaupt nicht darauf achtete, was er mit den Medis, die er sich so gab, alles mixte. Er trank aus und kramte dann nach den Kippen. Bestimmt sah man ihn jetzt von der anderen Flussseite wie einen glühenden Punkt im Dunkeln. Wie in den Kriegsfilmen, wenn sie in den Schützengräben rauchten – und dann: „Bamm!“ Kopfschuss. Was würde er machen, wenn jetzt plötzlich jemand mit einem Knall seinem Leben ein Ende setzte? Warum dachte er eigentlich über so etwas nach? Nichts würde er dann mehr machen, denken oder fühlen. Dann wäre es einfach aus und vorbei. Es stellte sich wirklich die Frage, was das alles hier überhaupt sollte. „An was denkst du?“, fragte Benn auf einmal. Adrian sah zu ihm hinüber. Er wusste nicht, was er ihm antworten sollte, stellte aber zu seiner eigenen Überraschung fest, dass er kein Problem damit hatte, ihm einfach die Wahr113 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


heit zu sagen. Seltsam, er kannte ihn doch gar nicht. Oder vielleicht sogar genau deshalb. Benn konnte ihm nichts. Er hatte zwar irgendwas von einem Auftrag oder sogar von einer Art Behörde gefaselt, aber das hielt Adrian mittlerweile für dummes Zeug. Und doch tauchte der Typ immer wieder penetrant auf. In der Sache mit dem Audiarsch hatte er ihm sogar wirklich geholfen. Immerhin. „An den Tod.“ Benn nickte. „Das machst du häufiger, nicht wahr?“ Adrian zuckte mit den Schultern. „Für mich ist das alles schwer zu verstehen. Ich unterliege nicht euren Gesetzmäßigkeiten“, bekannte Benn und sah in den Regen hinaus. Der Wind hatte gedreht und ein paar Tropfen streiften seine Hände. Er spürte, wie sie kalt und feucht an seinem Handrücken hinabliefen. Adrian erschauerte unwillkürlich bei diesen Worten. Die Episode auf dem Dach fiel ihm wieder ein, der Schritt ins Leere. Das war Einbildung gewesen, oder etwa nicht? Der Typ konnte doch unmöglich … „Dabei seid ihr gar nicht so anders wie wir … geschaffen für die Ewigkeit. Und doch seid ihr ganz anders mit eurem Körper und all dieser … Zerbrechlichkeit.“ Benn betrachtete versonnen seine Handflächen. „Aber das bringt das Mezzanin wohl so mit sich.“ Adrian begann sich ganz komisch zu fühlen. Unsicher. Alles was der Fremde sagte, schien komplett verrückt zu sein. Aber im Moment war er sich gar nicht mehr so sicher. „Was meinst du damit? Mezzanin … und wir sind nicht anders als ihr?“, wagte er zu fragen. 114 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Benn sah ihn an. „Oh, ihr seid anders. Ihr seht und hört und fühlt, und doch seht und hört und fühlt ihr nicht. Dabei solltet ihr das Gleiche wahrnehmen können … Kompliziert, das gebe ich zu. Aber eben, das liegt an dem Mezzanin“, er machte eine ausladende kreisförmige Geste, „das alles hier, genannt Erde, blauer Planet oder Welt.“ Adrian spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. „Was … bist du? Ich meine … Wofür hältst du dich?“ Unwillkürlich zitterte seine Stimme bei dieser Frage. Lag es vielleicht an der Dunkelheit rund um ihn oder an dem schimmernden Licht, das durch eine der Fensterluken aus der Brennerhalle zu ihnen herausdrang? Benn sah auf einmal nicht mehr aus wie ein normaler Mensch. In seinen glatten Zügen, die einem jungen Mann gehören konnten, schien etwas anderes zu liegen. Ein ferner Glanz? Oder spiegelte sich das Licht in den Wassertropfen auf seiner Haut? Benn lächelte ihn an. Freundlich. „Endlich“, so sagte er, „beginnst du die richtigen Fragen zu stellen.“ Plötzlich wollte Adrian nach Hause. Und zwar schnell. Das hier wurde ihm zu unheimlich. Er stand hastig auf und ließ seine Flasche auf der Mauer stehen. „Mir ist kalt … Ich geh dann mal.“ „Aber ich habe dir doch noch gar keine Antwort gegeben“, wandte Benn ein. „Äh, ein andermal, ich muss echt los.“ Adrian lief davon, so schnell er es auf der nassen Mauer wagte. Als er den Parkplatz wieder vor sich hatte, sprang er hinunter und rannte weiter. Es war fast so wie damals auf 115 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


dem Dach. Nur weg! Schnell dorthin zurück, wo die Dinge logisch und erklärbar waren. Benn lehnte sich noch einen Moment an die Mauer und nickte. Er hatte alle Zeit des Universums. Er konnte warten.

Neala stutzte einen Moment. Sie stand im überdachten Eingang der Brennerhalle und schnappte ein wenig frische Luft. Sie hatte die Musik genossen, aber jetzt musste sie einen Augenblick raus, weg von den Leuten. Die Praise Night war recht gut besucht. Aus allen möglichen Kirchengemeinden waren Jugendliche dabei, und hoffentlich auch der eine oder andere, der sonst mit Gott nichts am Hut hatte, denn dafür war es ja eigentlich gedacht. Freunde mitbringen – Neala zuckte mit den Schultern. Alle ihre engen Freunde bewegten sich im christlichen Dunstkreis. Die waren sowieso dabei. Auch Franzi war da. Sie stand ziemlich auf Tom, der in der Band den Bass spielte und ein absoluter Sportfreak war – ein Mädchenschwarm halt. Netter Kerl, aber sich seiner Reize durchaus bewusst. Neala wusste, dass Franzi wenig Chancen hatte. Sie war hübsch, keine Frage, aber Tom schien heimlich Gefühle für die kleine Connie zu hegen. Die dachte nur nicht im Traum daran, dass Mr Perfect etwas für sie übrig haben könnte, und verschwendete auch kaum einen Gedanken daran. Neala sah sich das nun schon ein paar Wochen aus der Ferne an und dachte ernsthaft daran, Connie mal einen Tipp zu geben. Sie verstand nicht ganz, warum Tom, der doch sonst so ein Poser war, ein Problem hatte, Connie anzusprechen. 116 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Immerhin hatten sie durch die Band häufig miteinander zu tun. Jemand lief mit raschen Schritten über den Parkplatz davon. Irgendwie kam ihr diese Haltung bekannt vor, aber dann schüttelte sie energisch den Kopf. So ein Quatsch, was sollte der schon hier machen? Ein junger Mann kam von draußen zu ihr in den Eingang. Sie kannte ihn nicht, meinte jedoch, ihn vorher schon drinnen gesehen zu haben. Er war ganz nass vom Regen, aber das schien ihn nicht zu stören. Er lächelte ihr freundlich zu, und das tat gut. Einen Augenblick lang kam es ihr so vor, als wäre es Tobis Lächeln. Aber das musste sie sich eingebildet haben. Neala seufzte leise. „Du fehlst mir“, dachte sie. Es vergingen kaum ein paar Tage, wo sie diesen Gedanken nicht dachte. Sie wusste, dass es im Grunde nichts brachte. Tobi konnte sie nicht hören, selbst wenn sie seinen Namen vor sich hin sagte. „Alles in Ordnung?“, fragte der junge Mann. Sie blickte auf. „Geht schon.“ „Es ist nicht schlimm, wenn du traurig bist. Er möchte nur nicht, dass du denkst, dein Leben wäre bedeutungslos. Das ist es nicht.“ Neala sah den Fremden erstaunt an. „Wer bist du? Kenn ich dich? Warst du schon öfter bei der Praise Night?“ „Nenn mich Benn. Ich bin dir nicht bekannt, du mir aber ein bisschen … und … Ja, ich war schon öfter bei der Praise Night, aber nicht so wie heute.“ „Okay.“ Sie nickte kurz. „Ich heiß Neala. Gehörst du hier in eine Gemeinde oder so?“ 117 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Benn wiegte den Kopf leicht hin und her. „Ich gehöre in keine Gemeinde, obwohl ich in vielen oft zugegen bin.“ „Auweia“, dachte Neala. „Schon wieder so einer von denen, die überall und nirgends richtig dabei sind. Bloß nicht zu sehr Verantwortung übernehmen.“ „Ich hoffe, du findest mal eine Gemeinde, in der du dich wohlfühlst“, sagte sie. Er musste irgendwie von Tobi gehört haben. Kein Wunder, wenn er in so vielen Kirchen unterwegs war. Es gab niemanden, der nicht wusste, was passiert war, auch in der Schule. Allerdings hatte sie ihn noch nie in ihrer Gemeinde gesehen. Aber sie waren ja auch recht klein – da gab es weit größere Gemeinden in der Umgebung. Die Worte des Fremden drangen ihr erst jetzt langsam ins Bewusstsein. Wen hatte er gemeint? „Wer möchte nicht, dass ich mein Leben für bedeutungslos halte?“, fragte sie nach. Benn beugte sich ein wenig vor, sodass sie im Eingangslicht seine hellen klaren Augen sehen konnte. „Na, der Meister. Du weißt schon. Er findet dich wundervoll.“ Nealas Augen weiteten sich. Sie fing an zu zittern. Lag das am kalten Wind, der nun plötzlich in einem heftigen Stoß zu ihnen hereingewirbelt kam? Plötzlich hatte sie eine Ahnung, wer da vor ihr stehen könnte. Ihr Mund war ganz trocken, aber sie brachte die Frage schließlich doch noch heraus. „Geht’s Tobi wirklich gut?“ Benn nickte. Dann drehte er sich um und verschwand in die kalte Nacht. Neala stand noch lange wie versteinert da. In ihrem Innern tobten die Gedanken und Gefühle. „Ihm geht’s gut. Er ist da, wo er immer sein wollte. Du hast das doch eigentlich 118 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


gewusst.“ Trotzdem überwältigte sie dieser Moment. „Jesus, kann das wirklich sein?“ Letztendlich beschloss sie: Egal ob Benn von dieser Welt war oder auch nicht – sie wollte glauben, dass das, was er weitergegeben hatte, von einem Gott stammte, der sie kannte und wusste, wie es ihr ging. Bei diesem Gedanken durchströmte sie eine Freude, die ihre eigenen Ressourcen weit überstieg. Neala warf noch einen Blick in den schwarzen, wolkenverhangenen Himmel. „Danke“, flüsterte sie und kehrte in die Halle zurück.

Was war das Schlimme am Sonntag? Vor allem, dass es bis zum Montag nur noch ein paar Stunden waren. Die Panik vor der nächsten Woche saß ihm schon wieder im Nacken. Adrian erwachte ungewöhnlich früh für seine Verhältnisse. Es war gerade mal zehn und er vergrub sich in seinen Büchern. Für seine Ma sah das sicher nicht nach Recherche aus, aber er hatte tatsächlich Spaß daran, Storys über Boudicca zusammenzusuchen. Ob es allerdings für eine ganze Facharbeit reichen würde? Wahrscheinlich musste er die Römer und ihre Kampfkunst sowie deren Eroberungspolitik ebenso beleuchten … und im Gegensatz dazu die stammesorientierten Machtstrukturen in Britannien und ihre Hierarchie. Ja, sie waren ein kämpferischer Chaostrupp gewesen, ein bisschen wie die Schotten in Braveheart … Er kramte nach seinem Block und machte sich Notizen. Dann klebte er in die entsprechenden Kapitel der Bücher gelbe Haftzettel. In den nächsten Tagen würde er der Bücherei 119 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


mal einen Besuch abstatten müssen. Was hatte Amazon wohl an den Buchtiteln anzubieten? Er fuhr den Computer hoch und klickte sich auf die Website des Versandriesen. Es klopfte an seiner Zimmertür, aber er reagierte nicht. Seine Mutter stieß die Tür auf, anscheinend war sie immer noch geladen. „Hängst du schon wieder am Computer rum? Kannst du dich nicht melden, wenn du aufstehst?“ Er drehte ihr den Kopf zu. Da war er wieder, dieser vorwurfsvolle Blick. So hatte Matthias auch immer geschaut, wenn sie ihn bei seiner ach so wichtigen Arbeit gestört hatte, Arbeit, bei der nie etwas Ordentliches herausgekommen war. „A: Seit wann interessiert es dich, wann ich aufstehe? Und B: Ich check was für Geschichte.“ Sein Ton war deutlich genervt. „Heute wollten wir an den See … Radeln, weißt du noch? Du hast gesagt, du überlegst es dir, ob du mit willst.“ Adrian verdrehte die Augen. Er hatte nur gesagt, dass er es sich überlegen würde, weil er keinen Bock auf Streit mit seiner Ma hatte, wenn ihr toller Paul schon mal einen Vorschlag machte, der ihn mit einbezog. „Hab zu tun“, sagte er. Seine Mutter verschränkte die Arme vor der Brust. „Natürlich“, sagte sie mit sarkastischem Unterton. „Aber tu nicht so, als würde Paul etwas gegen dich haben. Er hat sich von Anfang an die größte Mühe gegeben, aber du …“ Adrian hob vor dem Bildschirm in einer angespannten Haltung seine Hände und spreizte alle Finger ab. „Kannst du mich einfach in Ruhe lassen, okay? Ich misch mich nicht ein, aber lass mich mit dem Kerl zufrieden.“ Am 120 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


liebsten hätte er sie angebrüllt und etwas deutlich Unflätigeres gesagt. Er bekam sich gerade noch in den Griff, bis die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war. Dann ließ er einen lauten Schrei los, sprang von seinem Schreibtischstuhl auf und kickte ihn in die Ecke, wo er mit Wucht in den Kleiderschrank krachte. Adrian schnappte seine Zigaretten, schlüpfte in die Schuhe und rannte, mehrere Treppenstufen auf einmal nehmend, hinauf zum Dach. Die alte Eisentür fiel krachend hinter ihm zu und er sprintete bis zum Rand. Es wäre so einfach, nur einen Schritt mehr zu machen, aber er blieb an der Dachkante stehen und wandte seinen Blick nach Norden. Herbstwind zerrte an seinem Haar. Er ballte seine Hände zu Fäusten und brüllte in den Wind. Hörte oder sah ihn jemand? Egal – aber es war ja auch keiner da, der von ihm Notiz nahm. Der Wind riss seinen Schrei davon. Unten auf der Straße bog gerade Pauls blauer Passat mit dem Fahrradgepäckträger um die Ecke und kam in einer Parklücke am Straßenrand zum Stehen. Hätte es hier oben ein Objekt zum Werfen gegeben, Adrian hätte es genommen und auf Paul niedergeschmettert. So beobachtete er nun stumm, wie Paul ausstieg und seine Brille zurechtrückte. Dann lief er über die Straße und verschwand unter ihrem Hauseingang. Er könnte in Position gehen und springen, wenn seine Ma mit ihm aus dem Haus trat … Aber den Gedanken verwarf er gleich wieder. Kein guter Abgang! Wegen Streit mit Mami … Panne … Das sollte nicht in den Zeitungen stehen. Adrian setzte sich auf den Boden, unsichtbar für die Welt da unten. Lange verharrte er so, ohne recht zu wissen, was er 121 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


tun sollte. Nicht mal eine Kippe konnte er sich anstecken. Er betrachtete die Wolken, die, von Blau durchbrochen, sich im Wind vorantreiben, auseinanderreißen und wieder verdichten ließen. Als sei der Wind ihr Hütehund, der eine massige Schafherde spielerisch zusammen- und wieder auseinandertrieb. „Würde man das heute filmen und im Zeitraffer ablaufen lassen, käme wahrscheinlich etwas Interessanteres dabei heraus als das Stück am Freitag“, dachte er. Er legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah in den Himmel. Wenn er hier für immer liegen konnte und das die Ewigkeit wäre, er könnte sie ertragen. Aber dafür gab es weder Beweis noch Anhaltspunkt. Wunschdenken. Wenn das Leben so bedeutungslos war und es auch nichts darüber hinaus gab, warum wünschte er sich dann in diesem Augenblick, dass es anders wäre? Seine ganze Bedeutungslosigkeit wurde ihm bewusst. Er hatte jedoch keinen Grund, sich über sein Dasein zu beklagen. Niemand hatte ihn mit einem Gutschein ins Leben geschickt, auf dem ihm „Spaß“ garantiert wurde oder dass alles toll ablief … Er wusste, dass es Millionen anderer Menschen ebenso ging, daran konnte er auch nichts ändern. Die afrikanischen Kindersoldaten und die Bettler in den Straßen Kalkuttas – keiner hatte sie gefragt, was sie von diesem Leben hier hielten. Die Geschichte hatte gelehrt: Die Schwachen unterlagen, wurden niedergetrampelt. Und selbst wenn es ihnen nicht an Zahl gefehlt hatte, so wie Boudiccas Truppen, unterlagen sie doch dem System einer Weltmacht, die unbarmherzig Konformität erzwang. Wollte man sich nicht einreihen, ging man unter. „Eine Kloake, wohin man auch schaut“, dachte er. 122 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Aber der Blick in den Himmel, der war schön. Wirkte fast ungetrübt und rein, trotz ein paar grauer Wolken. Welche Ironie.

„Meinst du nicht, ich sollte zu ihm gehen, Meister?“ Benn war der Anblick dieser blau-roten verzweifelten Seele auf dem Dach nicht ganz geheuer. „Vielleicht stellt er sonst etwas richtig Blödes an?“ „Er wird nicht springen. Lass ihn nur. Du wirst ihn morgen wieder treffen.“

Adrian schaffte es noch vor dem Läuten ins Klassenzimmer und warf seinen Rucksack auf den Tisch, dann schlüpfte er aus seinem Parka. Von schräg vorn drehte sich Neala zu ihm um. „Hi.“ Extrem gute Laune für Montagmorgen. „Hi“, gab er leicht überrascht zurück. „Na, gutes Wochenende gehabt?“ Adrian zog verwundert die Augenbrauen hoch. Mit dem beflissenen Ignorieren von Franzi konnte er besser umgehen. „War schon okay“, gab er zur Antwort. Er setzte sich. Connie von der anderen Seite des Raums winkte ihm fröhlich zu. „Was ist denn jetzt kaputt?“, dachte er. Es war, als würde sein unsichtbar machender Schutzraum nicht mehr existieren. Zumindest bei den beiden nicht mehr. Die Schuller verteilte sofort einen Stoß Papier und ließ sie 123 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


in englischer Sprache den vergangenen Freitagabend Revue passieren. Adrian war ziemlich schnell damit fertig. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute aus dem Fenster. Hinter dem Sportplatz lagen Wiesen und ein paar Stoppelfelder. Müde folgte er mit seinen Augen einem einsamen Spaziergänger, der einen Hund an der Leine führte. Als er wieder seinen Blick durch das Klassenzimmer schweifen ließ, sah er, dass Neala auch abgegeben hatte. Sie gähnte mit vorgehaltener Hand, zog dann ihr Haargummi aus den braunroten Locken und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, bevor sie diese zu einem neuen Pferdeschwanz zusammenband. Wie sich wohl ihre Ma und ihr Dad getroffen hatten? Das mit dem irisch fand Adrian ziemlich cool, er würde sich gern mal Irland anschauen. Seine Mutter war mit ihm früher meistens nach Italien oder Griechenland gefahren. Sie wollte im Urlaub vor allem Sonne und Strand. Adrian bekam leicht einen Sonnenbrand und verbrachte die meiste Zeit unter einem Sonnenschirm mit Comics oder seinem Gameboy. Seit er fünfzehn war, hatten sie keinen gemeinsamen Urlaub mehr gemacht. Sie tourte mit Paul herum – und er blieb zu Hause. „Ich will mich im Urlaub erholen und wenn ihr beide euch nicht vertragen könnt, dann ist es besser, du machst etwas anderes.“ Sie hatte versucht, ihm irgendwelche Feriencamps schmackhaft zu machen, aber da biss sie bei ihm auf Granit. „Ich kann genauso gut allein zu Hause bleiben. Ich bin kein Baby mehr“, hatte er ihr geantwortet. Und sie hatte schließlich eingelenkt, nicht ohne ihm nochmals einzuschärfen, immer den Herd auszuschalten, sich nicht nachts 124 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


draußen herumzutreiben und der Nachbarin Bescheid zu geben. Die Telefonnummern vom Hotel und von ihrem Handy klebten gut sichtbar am Kühlschrank, was ihn belustigte. Falls er wirklich ihre Hilfe brauchen sollte, wäre sie ohnehin zu weit weg, um etwas ausrichten zu können … Adrian hatte sich auf sein Fahrrad gesetzt und war ziellos durch die Gegend gefahren, hatte die Tage und Nächte durchgezockt – endlich ohne störendes Gemecker. Im Großen und Ganzen war es nicht viel anders gewesen, als wenn seine Mutter auf der Arbeit war. An einem Nachmittag hatte er erfolglos ihr Zimmer unter die Lupe genommen auf der Suche nach irgendeinem Indiz über die Person und das Verbleiben seines Vaters. Er war dabei höchst systematisch vorgegangen und hatte darauf geachtet, alles so zu hinterlassen, wie er es vorgefunden hatte. Aber er hatte nichts gefunden. Er wusste nicht einmal, wie und wo seine Eltern sich kennengelernt hatten. Vielleicht hatten sie es ihm einmal erzählt, als er noch kleiner war, aber er erinnerte sich nicht. „Wo steckst du und wer bist du?“, dachte er, als ob er den Gedanken ins Universum hinausschicken könnte – und irgendwo auf diesem Planeten würde nun ein Matthias Birkson zusammenzucken und sich fragen, warum er plötzlich das lang vergessene Bild eines kleinen Jungen vor Augen hatte. In der Pause kam Neala auf ihn zu und fragte ihn etwas wegen der Deutschhausaufgabe. Er hatte sie nicht gemacht, also war er keine große Hilfe. „Was ist eigentlich dein anderer LK?“, fragte Neala. „Geschichte.“ „Oh.“ Einen Moment lang schien sie überrascht, dann nickte sie. „Ja, das passt wohl.“ 125 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Es ist scheiße“, bekannte er. „Warum? Wegen der vielen Daten, die man auswendig wissen muss?“ „Nee, weil’s immer um das Gleiche geht: Hitler, Hitler und noch mal Hitler. Ich dachte im LK wär das anders.“ „Wen hast du denn?“ „Kröte, aber bei Herrmann war’s auch nicht besser.“ „Mein Bruder hatte damals überlegt, ob er Geschichte nimmt. Aber er hatte dann auch Englisch und dazu noch Musik.“ Nicht sehr typisch für einen Kerl. „Dann muss er gut in Musik sein. Ich kann keinen Ton halten“, gab Adrian zu. „Ja, er war ziemlich gut. Klavier und Gitarre. Ich spiel ein bisschen Gitarre, aber nicht so mega.“ „Hast du auch Musik als LK?“, wollte Adrian nun wissen. Vielleicht kannte sie sich deshalb so gut mit den diversen Bands aller Genres aus. Sie schüttelte den Kopf. „Kunst. Das macht mir Spaß.“ Aha, anscheinend eine recht künstlerisch veranlagte Familie. „Bin ich ebenfalls ’ne Niete.“ Auch nach Deutsch und zwischen Mathe wechselten sie noch ein paar Worte. Connie gesellte sich kurz dazu, sie hatte mit ihnen Mathe und es kam Adrian auf einmal gar nicht mehr so absonderlich vor. In der Pause vor Geschichte suchte er sich einen ungestörten Platz zum Rauchen. Er kam wie immer ein bisschen spät und verstand deshalb nicht die ganze Aufregung, die sich im Klassenzimmer breitgemacht hatte. „Wo kommt die denn her?“ 126 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Oh, wie süß …!“ „Die soll mir bloß nicht zu nah kommen, ich bin allergisch!“ Dr. Kröte sagte nur: „Raus mit dem Vieh!“ Adrian folgte dem Blick all der anderen hinauf zum Bücherschrank. Zwischen dem staubigen Globus und ein paar gammeligen Topfpflanzen äugte eine junge Katze hinunter, offensichtlich irritiert von der Aufmerksamkeit, die ihr entgegenschlug. Sie war kohlrabenschwarz. Als jemand sich vorwagte, um sie herunterzuholen, zog sie sich zurück. „Können wir jetzt mit dem Unterricht beginnen? Die wird schon runterkommen, wenn es ihr langweilig wird.“ Kröte war auch kein Montagsmensch. Er wuchtete seine Aktentasche auf das Lehrerpult und kramte einige Arbeitsblätter hervor. „Aber ich kann das nicht durchhalten. Meine Augen fangen jetzt schon an zu tränen“, jammerte Claudia, die wirklich jede Allergie zu haben schien, die man nur bekommen konnte. Sie übertrieb nicht, ihre Nase und Augen waren schon ganz rot. Adrian nahm sich einen Stuhl und stellte ihn vor den Schrank. Die anderen wichen zurück und musterten ihn kritisch. Er stieg auf den Stuhl und reichte Globus und Topfpflanzen nach unten, ein paar seiner geistesgegenwärtigeren Klassenkameraden nahmen ihm die Dinge ab und die junge Katze verzog sich ganz ins Eck. Er fragte sich, wie sie es geschafft hatte, da hinaufzuklettern. Der Schrank war aus Plastikfurnier und daneben stand auch kein Regal oder so, das den Aufstieg erleichtert hätte. Vielleicht war sie über Stühle und Tische hinaufgesprungen, wagte sich aber jetzt nicht 127 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


mehr hinunter. Er kam mit seinen Armen von beiden Seiten, schob mit seinen Ärmeln den Staub zusammen – und erwischte tatsächlich die kleine Katze, die sich in seinen Händen wand. Lässig stieg er mit ihr vom Stuhl, die Kommentare um sich herum ignorierend. „Ich bring sie raus“, sagte er. Perfekt. Der kleine schwarze Teufel half ihm, um einen Teil Geschichte herumzukommen. Er hatte ein bisschen Angst, sie zu fest zu packen, also drückte er sie vorsichtig gegen seine Brust und hielt sie mit zwei Händen fest. Kröte nickte und rief die anderen auf ihre Plätze. Er hatte wenig Interesse, sich von diesem dummen Tier seinen Vortrag über die Entnazifizierung versauen zu lassen. Auf dem Weg nach draußen wollte die Katze noch zwei Mal entwischen, aber er begann sie zu kraulen und zu streicheln. Da schien sie sich zu entspannen. Sie schnappte verspielt nach seinem Daumen und biss leicht zu. „Ahh, nicht beißen, du kleiner Rocker.“ Na klasse, jetzt unterhielt er sich also mit einer Katze. Hoffentlich beobachtete ihn keiner. Im Schulhof setzte er sie auf den Boden. Die Katze sah sich neugierig um. „Also, pass auf dich auf, hörst du! Da vorn ist ’ne Straße“, sagte er, als ob sie ihn verstehen könnte. Dann wollte er sich zum Gehen wenden, aber sie strich ihm schmeichelnd um die Beine. Er blieb noch ein bisschen, streichelte ihren Kopf und kraulte sie am Ohr. „Geh heim.“ Sie war wirklich komplett schwarz, keine helle Stelle, und die Augen waren braungrün. Sie war sehr dünn und hatte recht lange Beine. Ob sie überhaupt ein Zuhause hatte? 128 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Es fiel ihm nicht leicht, aber er musste sich losreißen. Entschlossen ging er auf die gläsernen Schuleingangstüren zu. An ihm vorbei schoss zielstrebig ein kleiner schwarzer Blitz mit erhobenem Schwanz und flitzte in die Aula. „Damn“, murmelte er und düste hinterher. Zwischen den Stuhlreihen, die für eine Aufführung der Theater-AG heute Abend schon gestellt worden waren, dauerte es eine ganze Weile, bis er den kleinen Tiger erwischt hatte. Resigniert blickte er zur Uhr. Noch zwanzig Minuten Kröte, dann war ohnehin Schluss für heute. Er brachte die Katze wieder nach draußen und lief bis zum Schultor. Direkt an der Straße wollte er sie auch nicht absetzen. Vielleicht gehörte sie ja jemandem ganz in der Nähe? Sie wollte sich wieder davonmachen – nur mit Mühe gelang es ihm, sie mit einer Hand festzuhalten und gleichzeitig seinen Rucksack auf dem Mäuerchen abzusetzen. Er wechselte sie von einer Hand in die andere und zog den Zipper weit genug auf, um sie in den Rucksack setzen zu können. Dann zog er den Reißverschluss so weit zu, dass die Katze genug Luft bekam, aber nicht mehr entwischen konnte. „Komm jetzt bloß nicht auf die Idee, zu pinkeln oder so …“, warnte er sie. Dann begann er systematisch am Ende der Straße mit dem Klingeln. Bei den ersten drei Häusern war schon mal niemand zu Hause. Beim vierten fragte er, ob es in der Nachbarschaft einen Katzenbesitzer gab. Kopfschütteln und Verneinen häuften sich von Tür zu Tür. Schließlich machte er sich mit seiner Fracht auf den Heimweg. Als Erstes brachte er die Katze ins Bad. Dort konnte sie am wenigsten anstellen und es gab keinen Teppichboden. In der 129 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Abstellkammer fand er eine Schachtel, in die er ein paar alte Lumpen legte. Zurück ins Bad damit. Das Kätzchen maunzte und sprang gleich wieder heraus. Es hatte wenig Lust in der Schachtel sitzen zu bleiben. „Ja, ich hol dir was zu trinken, okay?“ Er musste lächeln, als das Kätzchen begann, mit seinen Pfötchen nach dem herunterhängenden Toilettenpapier zu angeln. „Gott, was für ein goldiges Teufelchen du doch bist.“ In der Küche nahm er einen Unterteller, goss ein wenig Milch hinein und verdünnte sie mit Wasser. Katzenfutter hatten sie natürlich nicht im Haus, aber er konnte rasch losgehen und welches kaufen. Aber vielleicht sollte er vorher noch ein Bild von dem Tierchen schießen und am Computer einen Zettel zusammenbasteln: „Zugelaufen“ oder so ähnlich. Dann meldeten sich die Besitzer vielleicht bei ihm. Ganz vorsichtig öffnete er die Badtür wieder, um die junge Katze nicht aus Versehen zu treffen. „Hei Jimminy. Hier gibt’s was zu trinken.“ Wie war er bloß auf diesen Namen gekommen? Egal, er stellte den Unterteller ab. Durst schien der schwarze Blitz auf alle Fälle zu haben, denn er trank gierig. Ein paar Tröpfchen Milch liefen ihm den Hals hinab und versickerten im Fell. Danach begann der kleine Rocker sich zu putzen. Adrian fotografierte die Katze mit seinem Handy und ließ sie dann allein. An die Badtür klebte er einen Zettel: „Vorsicht, Katze!“ Nicht dass seine Ma am Ende noch drauftrat! Am Computer stellte er einen Handzettel zusammen mit Foto, Datum und seiner Handynummer. Er druckte ihn einmal aus, schnappte dann seinen Rucksack, in dem die Katze glücklicherweise nichts hinterlassen hatte, griff nach Geld130 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


beutel und Schlüssel und war im nächsten Moment wieder auf dem Weg nach draußen. Als er im Supermarkt vor dem Regal mit der Tiernahrung stand, sagte auf einmal eine vertraute Stimme: „Das hast du gut gemacht.“ Adrian blickte irritiert auf. Schon wieder dieser Benn! Ihre letzte merkwürdige Begegnung schoss ihm durch den Kopf. Was war das für ein seltsamer Kerl? Und wollte er das wirklich noch wissen? Benn langte nach dem Katzendosenfutter für junge Katzen und reichte sie ihm. Woher wusste er das? Adrian kroch ein Schauer über den Rücken, aber er nahm die Dosen. „Was meinst du?“ „Dass du dich um die Katze kümmerst. Das ist gut. Sie ist genauso wie du.“ „Ich frag jetzt nicht, was das bedeuten soll“, gab Adrian leicht genervt zurück. Mit einer Katze verglichen zu werden, fand er nicht sonderlich schmeichelhaft. Er griff nach einem Sack Katzenstreu. „Ich meine natürlich nur, dass sie einen Freund braucht“, erläuterte Benn unaufgefordert. Adrian lief weiter und nahm beim Schreibwarenregal noch eine Rolle Klebeband mit. „Jeder braucht irgendjemanden, der sich seiner annimmt. Ihr seid nicht als Einzelkämpfer geschaffen“, fuhr Benn fort. Er folgte ihm einfach auf Schritt und Tritt. Adrian stöhnte auf. „Erspar mir solche Binsenweisheiten. Und komm mir nicht mit so ’nem Therapiekram … Haben sie euch das in der Klapse so gesagt?“ Benn lächelte. „Oh, ich weiß nicht genau, auf was du dich 131 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


jetzt beziehst, aber ich bekomme alles, was ich über euch weiß, von meinem Meister zugeflüstert. Und da er euch geschaffen hat, weiß er es wohl am allerbesten. Ich kann wenig zur menschlichen Natur sagen. Seit ich sie hier auf Erden studiere, irritiert sie mich einfach nur ungemein.“ Adrian zog skeptisch die Augenbrauen zusammen und blickte den schrägen Kerl von unten an. Von wo war dieser Typ nur entsprungen? Er sah immer gleich aus. Seine Augen waren irgendwie nicht ganz normal. Zu hell, als dass man ihnen eine Farbe zuordnen könnte. Ein ganz helles Grau vielleicht? Und er schien vollkommen haarlos zu sein, er hatte nicht einmal Augenbrauen. Trotzdem sah er nicht gefährlich oder hässlich aus. Im Gegenteil, er war „schön“, falls man das über einen Kerl so sagen konnte. Adrian wand sich ein bisschen bei diesem Wort in seinem Kopf, aber ihm fiel nichts Passenderes ein. Er zahlte und Benn war immer noch nicht von seiner Seite gewichen. Vor dem Supermarkt meinte Adrian: „Ja, also … Ich geh jetzt zum Copyshop, muss noch diese Flyer wegen der Katze kopieren.“ Wenn er das nicht auch schon wusste, woher auch immer. Hatte der Geheimdienst ihre Wohnung verwanzt? Adrian musste grinsen bei diesem nun wirklich absurden Gedanken. „Ich würde dich gern begleiten. Dann kann ich dir auch gleich helfen, die Zettel aufzuhängen“, schlug Benn vor. Damit hatte Adrian nicht gerechnet. „Ähh … ja, klar. Warum nicht? Cool.“ Es war nicht schlecht, den Zettelkram nicht allein machen zu müssen. Er ließ seinen Flyer fünfzig Mal auf quietschegelbes Papier kopieren. Damit liefen sie anschließend in das Wohngebiet 132 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


rund um die Schule. Bald war jeder Baum und jede Laterne mit dem Konterfei des Kätzchens gepflastert. Benn bewegte sich schnell und geschmeidig und schien in derselben Zeit das Doppelte verteilt zu bekommen wie Adrian. Dann half er ihm noch, seinen Einkauf, der nach einiger Zeit doch recht schwer geworden war, nach Hause zu tragen. Die ganze Zeit benahm er sich völlig normal. Vielleicht nahm er nur manchmal seine Medis nicht richtig? Als sie sich verabschiedeten, fragte Benn: „Willst du immer noch wissen, was ich bin?“ Adrian sah ihn überrascht an. Kein Wort hatte er bisher über ihr letztes Treffen verloren. Er rang ein bisschen mit sich, dann meinte er: „Wenn ich ehrlich bin, gerade lieber nicht.“ Benn nickte. „Ehrlich ist gut. Ich bin in der Nähe. Ruf einfach, wenn du mich brauchst.“ Dann schlenderte er davon. „Freak!“, dachte Adrian und ging hinauf in die Wohnung. Dort empfing ihn seine Mutter. Stinkwütend. „Sag mal, was soll denn das?“ Sie deutete auf den Zettel an der Badezimmertür. „Nichts weiter. Ich hab heute nur ’ne Katze gefunden“, gab er cool zurück und lud seinen Einkauf ab. Als sie all das Zeug für das Tier sah, wurde ihre Stimme noch gereizter. „Was in aller Welt ist bloß mit dir los, Adrian? Bist du ein Fünfjähriger oder was, der denkt, er kann einfach eine Katze zu Hause anschleppen? Was sollen wir denn mit so einem Tier hier in der Wohnung? Wir haben nicht mal einen Garten. Außerdem hab ich wenig Lust, auch noch Katzenkacke wegzuputzen, wenn du dich also bitte bemühen würdest …“ Sie wies mit dem Daumen auf das Bad. 133 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Fahr mal runter, okay? Ich hab schon überall Zettel aufgehängt, der Besitzer wird sich bald melden“, zischte er zurück. „Und was, wenn nicht? Du bildest dir hoffentlich nicht ein, dass du das Vieh behalten kannst … Ich weiß nämlich schon, wer sich dann um den ganzen Dreck kümmern muss …“ Adrian wurde ziemlich wütend. Seine Mutter klang wie Paul. Fucking Mr Perfektion. Wehe, etwas brachte ihren gewohnten Ablauf durcheinander. War sie früher nicht mal nett gewesen? Wenigstens, was kleine Tiere betraf? Die Katze hatte ihr doch nichts getan. Klar machte sie Dreck, sie war jung. „Hör einfach auf mit deinem Gelaber. Ich kümmer mich schon darum“, brachte er mühevoll beherrscht hervor. „Das Vieh kommt ins Tierheim, wenn sich bis in drei Tagen niemand meldet, klar?“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in ihrem Schlafzimmer. „Ach, fuck you“, murmelte er. Zum Glück hörte sie das nicht. Er ging ins Bad, bastelte aus einer alten Plastikwanne ein Katzenklo und machte sauber. Es roch wirklich nicht sehr angenehm und er kippte das Fenster. „Goodness, was hast du bloß angestellt, um sie so anzupissen?“, fragte er das Kätzchen, das sich maunzend an seinem Bein rieb. Er gab der Katze ein bisschen Futter. Das roch penetrant, aber ihr schien es zu schmecken, denn sie fraß ihr Tellerchen ratzekahl leer. „Na, Jimminy, kann ich’s riskieren, dich ein bisschen mit rüberzunehmen, ohne dass du mir alles vollscheißt?“, fragte er. Er ließ die Badtür offen, hob die Katze vom Boden auf und nahm sie mit in sein Zimmer. Jimminy begann sofort alles neugierig zu erkunden. In 134 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Adrians Chaos gab es aber auch so viele Möglichkeiten, sich zu verstecken! Adrian warf den Computer an und surfte ein bisschen im Web, aber aus dem Augenwinkel behielt er den kleinen Tiger im Blick. Der machte es sich auf Adrians Kopfkissen gemütlich und rollte sich zu einem Schläfchen zusammen. Später legte sich Adrian auf sein Bett und streichelte das Katzenbaby, das zu schnurren begann. Es klang ein bisschen wie ein Kind mit verrotzter Nase. Adrian genoss es, das weiche Fell zu spüren. Seine Ma hatte doch echt einen an der Waffel. Wie konnte man Jimminy nicht mögen? Als er ihn später wieder ins Bad brachte – er wollte sein Glück nicht zu sehr herausfordern, und wahrscheinlich war Katzenpisse noch schlechter auszuwaschen als Kotze –, protestierte Jimminy maunzend. Er fütterte ihn noch mal, beschloss aber zu googeln, wie viel Katzen eigentlich fressen sollten und wie man sie dazu bewegt, ein Katzenklo zu benutzen. Er setzte Jimminy in die Plastikschale mit Katzenstreu und er schnüffelte neugierig an den Körnern herum. Den Rest des Nachmittags verbrachte Adrian damit, sich im Internet über Katzenerziehung schlau zu machen. Am Abend sah er sich einen Film an und hatte Jimminy dabei auf seinem Bauch liegen. Ab und zu schnappte die Katze nach seinen Fingern oder seinen Haarsträhnen. Irgendwann schlief sie, aber er fuhr mechanisch fort, sie zu streicheln, während sich auf seinem Bildschirm eine gewaltige Schlacht aufbaute und die Unterlegenen am Ende – cineastisch gut in Szene gesetzt – blutbefleckt das Schlachtfeld übersäten. Seine Mutter redete nicht mehr mit ihm. Auch er hatte kein Bedürfnis, das Thema wieder aufzugreifen. Wahrschein135 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


lich war sie auch immer noch sauer wegen Sonntag. Obwohl er nicht recht verstand, weshalb sie Grund hatte, auf ihn wütend zu sein, weil er eine Radtour mit ihr und ihrem Lover ausgeschlagen hatte. Das letzte Mal hatten sie an seinem 19. Geburtstag etwas zusammen unternommen, das war im Juni gewesen. Sie hatten zuerst ein Kanu geliehen und waren auf dem Fluss gepaddelt – einer der Versuche seiner Mutter, ihn mal wieder aus der Bude zu bringen, der ihr geglückt war. Es hatte Spaß gemacht. Dann waren sie noch was essen gewesen und dabei hatte sie ihn ermutigt, es noch mal mit dem Abi zu versuchen. Sie hatte nicht gekeift, sondern ganz ruhig mit ihm geredet. Und er war darauf eingegangen. Was sie an diesem Tag gesagt hatte, war ihm logisch vorgekommen. Zukunft und Chancen und so weiter. Und dass sie ja auch Fehler gemacht hätte und in Zukunft versuchen wollte, in der Arbeit ein bisschen kürzer zu treten … und so weiter … Heap of shit. Jetzt, ein paar Monate später, war von ihrer neuen mütterlichen Masche nicht mehr viel übrig. Wahrscheinlich war sie auch frustriert, dass von ihm selbst so wenig an Elan zurückkam. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass er sich wünschte, niemand würde sich auf die Flyer melden und der kleine schwarze Tiger wäre genauso allein auf dieser Welt wie er selbst … Adrian schlief überraschend gut in dieser Nacht.

136 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Die nächsten drei Tage blieben relativ ereignislos. Adrian schaffte es endlich, Dr. Kröte von seinem Geschichtsthema zu unterrichten. Zu seiner Überraschung war der Lehrer damit gleich einverstanden. Er bat ihn, auch noch etwas allgemein zur römischen Besatzung zu schreiben. Das hatte Adrian sich ohnehin schon gedacht. Allerdings kam er langsam unter Zeitdruck. Er bestellte zwei Bücher, deren Titel er sich bei Amazon herausgesucht hatte, in einem Buchladen in der Stadt. So konnte er sie schon am nächsten Tag abholen. Die Katze durfte nachts in sein Zimmer. Wenn er morgens ging, steckte er sie ins Badezimmer, so war sie seiner Mutter weitgehend aus dem Blickfeld. Schon am zweiten Tag begrüßte ihn der Stubentiger mit Maunzen und streifte ihm schmeichelnd um die Beine. Auf seine gelben Zettel meldete sich niemand – abgesehen von zwei Verarschungsanrufen auf dem Handy. Am Donnerstag ging wieder ein gewaltiger Herbstregen nieder. Die Straße war glitschig von all dem nassen Laub. Auf dem Weg zur Doppelstunde Bio traf er Neala, praktischerweise ohne Franzi und Connie. Sie wechselten ein paar Worte, wie sie es diese Woche öfter getan hatten, und er kramte eine DVD-Box aus seinem Rucksack. „Wolltest du doch ausleihen, oder?“ Er klang gleichgültig, wie meist, aber insgeheim war er sehr aufgeregt. Warum genau, war schwer zu erklären. Vielleicht weil es schon fast ein soziales Zugeständnis oder so war, jemandem etwas aus seiner Sammlung auszuleihen. „Oh, cool, du hast daran gedacht. Vielen Dank, bis wann willst du sie wieder?“ 137 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, wie schnell ich’s schaffe, sie durchzuschauen, aber du kannst mir auch einfach Bescheid geben, wenn du sie brauchst.“ „Gut.“ Er schulterte wieder seinen Rucksack und wollte sich davonmachen. Aber sie hatten ohnehin den gleichen Weg, da wäre es komisch gewesen, nicht gemeinsam weiterzugehen. „Was macht die Katze?“, fragte Neala. Sie hatte von der Geschichte mit dem Kätzchen im Klassenzimmer gehört. Vor allem war sie erstaunt gewesen, dass ausgerechnet der Birki sich darum gekümmert hatte. Am nächsten Tag hatte sie ihn darauf angesprochen. „Soweit okay. Ich glaub, es ist ein Kater …“ „Wir hatten einmal einen Kater. Aber die Straße …“ Neala schüttelte bekümmert den Kopf. „Ich hab ziemlich geheult.“ „Wie alt warst du?“, wollte Adrian wissen. „Dreizehn. Es war echt schlimm. Wir haben unseren Orange im Garten beerdigt. Mein Bruder hat eine Rede gehalten.“ Sie seufzte, und es klang, als erinnere sie sich an mehr als an den Schmerz um eine überfahrene Katze. „Shit“, murmelte Adrian. „Und du?“, ging sie rasch darüber hinweg. Bildete er sich das ein oder glitzerte es in ihren Augen? Sie war echt empfindsam, wenn ihr der Tod eines seit fünf Jahren verstorbenen Haustiers noch immer so an die Nieren ging. „Ich hatte nie ein Haustier. Und keine Geschwister.“ Zum Glück war seine Mutter diesbezüglich nie mit Paul auf dumme Ideen gekommen. Aber er schätzte, Paul wollte 138 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


auch gar keinen Nachwuchs. Würde ja seine perfekte Wohnung durcheinanderbringen. „Warst du schon beim Tierarzt?“ „Nee. Ich dachte, ich warte mal ab, ob sich der Besitzer meldet. Aber bis jetzt hat sich nichts getan und meine Ma fängt an zu stressen.“ Neala sah ihn verständnislos an. „Hat sie was gegen Katzen?“ „Anscheinend. Wusste ich bisher nicht. Aber ich will das Kerlchen ungern ins Tierheim verfrachten.“ Auweia, wie kam er denn jetzt rüber? Als totaler Softie. Das war ihm gar nicht recht. Aber Neala lächelte. „Ganz schön blöd, was?“ „Du willst nicht zufällig wieder eine Katze?“, fragte er spontan. Sie blickte ihn zweifelnd von unten her an. „Weiß nicht … ob ich das noch mal packen würde, wenn was passiert …“ Es läutete und sie mussten ihr Gespräch vertagen. Adrian war nachdenklich. Es stimmte schon, es war ein verdammtes Risiko sein Herz an irgendetwas zu hängen, und sei es an eine kleine Katze. Er musste aufpassen. Seine Mutter verhielt sich zu seinem Erstaunen äußerst ruhig. Er dachte, es sei besser, nicht an dem Thema zu rühren und sprach mit ihr deshalb nicht über die Katze oder die von ihr gesetzte Frist. Gelehrig, wie Jimminy sich zeigte, klappte das mit dem Katzenklo schon ganz gut. Vielleicht hatte sie doch irgendeinem Haushalt angehört. Komisch, warum meldete sich dann niemand? Als Adrian am Freitag aus der Schule kam und, wie schon gewohnt, nach Jimminy sehen wollte, war die Katze nicht 139 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


mehr da. Er bekam einen Schreck. Er suchte im Badezimmer, dann in allen anderen Zimmern der Wohnung. Nichts regte sich. Sonst war der kleine Tiger beim Rufen seines Namens und beim Klappern mit der Futterdose immer sofort angewetzt gekommen. Erst ganz zuletzt entdeckte er den Zettel in der Handschrift seiner Mutter. Er war von seinem Schreibtisch heruntergeweht und lag auf dem Boden. Die Wut, die sich in ihm ausbreitete, als er ihre Nachricht entzifferte, quoll langsam in seine Kehle hinauf. Er brüllte wie ein Irrer: „Scheiß-blöde Kuh!“ In ihrer runden Handschrift unterrichtete sie ihn darüber, dass sie auf dem Weg zum Spätdienst beim Tierheim vorbeifahren und die Katze dort abgeben würde, damit er sich nicht bemühen müsse … Ihm fehlten die Worte für eine solche Dreistheit. Hatte er nicht gesagt, er würde sich darum kümmern? Was fiel ihr ein, Jimminy einfach wegzubringen, ohne ihm auch nur die geringste Chance zu geben, sich zu verabschieden? Adrian spürte heiße Tränen in seinen Augen aufsteigen, etwas, das schon lange nicht mehr der Fall gewesen war. Es waren Tränen des Zorns. Immerzu bestimmte sie über sein Leben, über alles, was mit ihm geschah. Es war genauso wie damals mit Papa. Kein Lebewohl. Papa war einfach nicht mehr in der Wohnung gewesen, als er an einem Tag aus der Schule kam. Überall hatten Kisten gestanden und Mama war geschäftig am Packen gewesen. „Ich habe Arbeit in einer anderen Stadt gefunden. Da wird es dir gefallen, Adrian. Es gibt einen großen Park und einen Fluss …“ „Wo ist Papa? Kommt Papa auch mit?“ Sie war ihm durch die Haare gefahren. „Nein. Papa kann 140 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


nicht mitkommen. Er möchte anderswo arbeiten und leben. Glaub mir, es ist besser so.“ Adrian hatte nicht geweint. Noch nicht. Er war nur verdattert mit seinem Schulranzen auf dem Rücken dagestanden, der mit dem Batmanlogo … Damals hatte er unheimlich auf Batman gestanden und sein Vater hatte ihm abends vor dem Schlafengehen irgendwelche Batmangeschichten erzählt. Alles erfunden, das wusste Adrian mittlerweile, da er nun einen dicken Sammelband besaß und wusste, dass die echten Batmancomics, vor allem die schwarz-weißen, um einiges zu brutal für einen Zehnjährigen gewesen wären … Und nach einer Weile hatte er genickt und war in sein Zimmer gegangen, wo bereits alle Poster von den Wänden genommen worden waren und seine Spielsachen zum Teil in Kartons verpackt. Natürlich hatte er mitbekommen, dass sich seine Eltern öfter stritten. Von Geld war auch die Rede gewesen. Aber er hatte gedacht, das sei normal. Die Kinder in der Schule hatten auch erzählt, dass ihre Eltern sich manchmal anbrüllten. Scheidung, das war nur flüsternd ausgesprochen worden. Einmal hatte er ein Mädchen aus seiner Klasse gefragt, von dem er wusste, dass ihre Eltern geschieden waren, wie es dazu gekommen war. Sie hatte mit den Schultern gezuckt. Sie erinnerte sich nicht richtig daran. Aber sie sah ihren Papa alle zwei Wochen. Zuerst hatte Adrian gedacht, das würde bei ihm auch so sein, und weil er seine Mutter nicht aufregen wollte, hatte er zunächst nicht nachgefragt. Sie war so gestresst von dem Umzug und dem Ummelden und all den Dingen. Sie sprach die ganze Zeit von der Zukunft und lobte ihn, dass er so ein 141 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


braver Junge war. „Wann kommt Papa zu Besuch?“, hatte er schließlich zu fragen gewagt. Zwei Wochen waren um, und er dachte, vielleicht wäre es dieses Wochenende so weit. „O Schätzchen!“ Diesmal war die Stimme seiner Mutter ganz weich und leicht weinerlich geworden. „Er kann dich nicht besuchen kommen. Er arbeitet sehr, sehr weit weg. Aber das wollte er gerne, verstehst du? Darum kann er nicht kommen.“ Adrian hatte gerätselt, was sehr, sehr weit weg bedeutete. „So weit wie Oma und Opa?“, wollte er wissen, denn damals hatten seine Großeltern, die Eltern seiner Mutter, noch gelebt und er konnte sich an die schier endlos langen Autofahrten zu ihnen erinnern. „Noch viel weiter. In Neuseeland.“ Adrian hatte genickt und dann nach dem Lexikon mit der Weltkarte gesucht. Er wusste, wo Deutschland und Europa und all das war, aber wo Neuseeland lag, davon hatte er keine Ahnung. Er fand es schließlich, die schmale Insel neben Australien, und maß mit seinen Kinderhänden den Abstand zwischen Deutschland und Neuseeland. Es war wirklich weit. Damit schien das Thema für seine Mutter erledigt. Adrian saß auf dem Boden neben seinem Schreibtisch, den Zettel immer noch in Händen und knüllte ihn zusammen. Dann stand er auf, wischte sich eilig mit den Fäusten über die Augen und biss die Zähne zusammen. Sie hatte also die Katze weggebracht. Vielleicht konnte er Jimminy wieder holen. Nur, wohin dann mit ihm? Wenn er allein wohnen würde, hätte er ihn behalten. Aber hier bei seiner Mutter war das nicht möglich. „Neala“, schoss es ihm durch den Kopf. Aber dann schüt142 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


telte er ihn energisch. Sie hatte nicht gesagt, dass sie wieder ein Haustier wollte, obwohl ihre Ma wohl keine Phobie hatte, schließlich hatte sie bereits eine Katze gehabt. Er sollte es wenigstens versuchen. Leider wusste er ihre Telefonnummer nicht und auch ihr Nachname wollte ihm nicht einfallen. Wo war nur die blöde Kursliste abgeblieben? Immerhin wusste er, wo sie wohnte. Wie bescheuert kam das? Adrian beschloss, dass Jimminy es wert war, es wenigstens zu probieren, auch wenn er sich zum Trottel machte. So viel zum Thema nicht sein Herz an irgendetwas zu hängen. Voll nach hinten losgegangen … Er fragte sich noch einmal, ob sein Vater damals wirklich in Neuseeland war oder ob seine Mutter ihn angelogen hatte. Und wenn ja, warum? Konnte die Wahrheit so schlimm sein? War sein Dad ein Psychopath? Ein Massenmörder? Sein Zorn auf die Mutter war keinesfalls verraucht, auch wenn er mittlerweile wieder ganz gefasst wirkte. Er ging ins Bad und griff nach dem Bleichmittel das sich unten im Badschrank befand. Dann ging er in das Schlafzimmer seiner Mutter, öffnete ihren Kleiderschrank und griff nach ihrem schwarzen Abendkleid, das sie nur ganz selten trug. Über dem Waschbecken in der Küche sprenkelte er ein paar Tropfen der Bleiche vorn darauf. Das genügte. Bis sie es das nächste Mal aus dem Schrank nahm, würde sie den Katzenvorfall bestimmt vergessen haben und sich einfach nur fragen, wie es dazu kommen konnte. Er hängte das Kleid zurück und brachte die Bleiche wieder an ihren Platz. Nur wenige Augenblicke später war er mit seinem Parka, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, aus dem Haus getreten und ins schmuddelige Herbstwetter eingetaucht. 143 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Erst vor einer Woche hatte er mit gemischten Gefühlen vor dieser Haustür gestanden, heute ging es ihm keinen Deut besser. Auf dem Klingelschild stand „Mahler“. Er nahm sich vor, es sich einzuprägen, und drückte auf den Knopf. Diesmal öffnete Neala selbst. Sie war nicht schlecht überrascht, ihn zu sehen. „Hi.“ Er schlug seine Kapuze zurück und trat ein wenig unter das Vordach, denn es regnete immer noch in Strömen. „Hallo … Ich …“ Shit, wie sollte er das jetzt rüberbringen? „Also, ich hab die Kursliste nicht gefunden, deshalb … Und ich wollte dich was fragen, darum bin ich jetzt da …“ Gott, er machte sich gerade zum kompletten Vollidioten. Sie musste ja sonst was denken, was er von ihr wollte! „Die Sache ist die: Wir haben doch heute über Katzen gesprochen und wie meine Mutter da ein bisschen nervt …“ „Komm doch erst mal rein, ich glaub im Trockenen bespricht sich das besser“, sagte sie. „Äh, ja … Okay, ich meine, geht’s grad?“ Nun grinste sie und hielt ihm die Tür auf. Seine Schuhe hinterließen nasse Spuren im Gang und er beeilte sich, sie auszuziehen. Sie öffnete die Küchentür. Drinnen war der ganze Tisch mit Fotos übersät, sogar auf den Stühlen lagen ein paar Mappen verteilt. „Ich hab mich hier grad ausgebreitet, Moment.“ Bevor er richtig einen Blick auf die Bilder werfen konnte, hatte sie sie bereits zusammengesucht und verstaut. Er blieb schüchtern im Türrahmen stehen. „Und?“ Sie warf ihm einen auffordernden Blick zu. „Kennst du vielleicht doch jemand, der eine kleine Katze 144 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


will? Meine Mutter hat heute nämlich ziemlich unvorhersehbar gehandelt.“ Neala sah ihn fragend an und schloss eine ihrer Mappen mit einer Schleife. „Sie hat, während ich in der Schule war, Jimminy zum Tierheim gebracht.“ „Einfach so?“, Neala war ehrlich überrascht. „Das hast du vorher nicht gewusst?“ Adrian zuckte mit den Schultern. Zumindest fragte sie ihn nicht, was sie der ganze Mist anging. „Sie hat damit gedroht, aber ich hab ihr gesagt, ich kümmere mich darum. Ich hab immer noch gehofft, ich finde einen Ort für die Katze, wenn sich kein Besitzer meldet …“ Obwohl natürlich die Liste seiner Möglichkeiten ziemlich kurz war. Neala überlegte. „Was willst du jetzt tun?“ Er zuckte mit den Schultern. „Fällt dir nicht doch jemand ein, der eine Katze aufnehmen würde?“ Sie dachte nach. Dann seufzte sie. „Wir sollten ihn holen.“ Adrian war ein bisschen verdattert. „Wir?“ „Ja, also … Wär schon gut, wenn du mitgehst. Du weißt wenigstens, wie Jimminy aussieht. Wenn ich allein hingeh, erwisch ich nur die falsche Katze.“ „Soll das heißen, du würdest sie nehmen? Ich dachte … Und deine Eltern, stressen die da nicht rum?“ Neala seufzte. „Vielleicht finden wir noch jemand anderes. Aber jetzt geht’s erst mal darum, dass Jimminy aus dem Tierheim kommt. Meine Eltern haben sicher nichts dagegen, wenn wir eine Weile Zuwachs haben.“ Adrian war nun ziemlich platt. Er hatte natürlich insgeheim auf so etwas gehofft … Aber dass es nun so einfach zu 145 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


sein schien, machte ihn stutzig. Bestimmt kam im Tierheim etwas dazwischen. Vielleicht rückten sie den kleinen Kater gar nicht erst raus? Neala zog sich eine Jacke an und meinte, sie könnten den alten Golf nehmen. Als sie sich in den Straßenverkehr einordnete, fragte sie ihn: „Willst du nicht deine Ma noch anrufen?“ Adrian schnaubte. „Hat keinen Sinn.“ „Ist ja schon eine krasse Aktion.“ Neala schüttelte den Kopf. „Sie ist Alleingänge gewohnt. War schon früher so. Entscheidung getroffen und dich vor vollendete Tatsachen gestellt.“ Neala musterte Adrian verstohlen von der Seite. Er hatte sich wenig Mühe gemacht, die Bitterkeit in seinen Worten zu verbergen. Überhaupt war die gesamte bisherige Konversation nicht in seinem ach so gleichgültigen Tonfall vonstattengegangen. Anscheinend lag dem Birki echt viel an der Katze. Sie musste lächeln. Wie hatte ihre Mutter gesagt? Keinem ist wirklich alles scheißegal. Brauchte sie ihr allerdings nicht auf die Nase binden, dass sie mal wieder richtig lag … Da Adrian nichts weiter sagte und nur vor sich hin starrte, fragte sie weiter: „Und dein Vater? Bringt der auch immer solche Sachen?“ Adrian zuckte mit den Schultern. „Kein Plan.“ Neala hatte gehört, dass Adrians Eltern geschieden waren, mehr Hintergründe kannte sie nicht. In diesem Moment fühlte sie sich hilflos. Sie wusste, wie sie fahren musste, da das Tierheim nicht weit entfernt von Connies Wohnung lag. Sie bog nach links ab. „Sind deine Eltern schon lang getrennt?“, wagte sie vorsichtig zu fragen. 146 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Mmh.“ Neala erinnerte sich, wie seine Ma sich mit ihrem Nachnamen am Telefon gemeldet hatte. Bestimmt war die ganze Sache damals nicht hübsch verlaufen. „Und wie läuft das so, mit deinem Dad? Versteht ihr euch gut?“ Adrian warf ihr einen feindseligen Blick zu, der sie ungewollt erschauern ließ. „’tschuldigung.“ murmelte sie. „Au weia“, dachte Adrian. „Sie hilft dir und du benimmst dich mal wieder total daneben.“ Also rang er sich durch, doch noch eine Erklärung nachzuschieben. „Nee, sorry von mir … Es ist nur so, ich hab keinen Kontakt mehr zu ihm.“ „Oh“, entfuhr es Neala. Sie war dankbar, dass ihre Eltern sich gut verstanden. Die zwei brauchten einander, klammerten sich manchmal schon fast zu krampfhaft aneinander oder auch an sie. Ihr war das oft zu eng. Sie wusste, es lag auch mit an Tobi. Aber trotzdem war es ihr lieber so, als sich für einen der beiden entscheiden zu müssen, oder sich vorzustellen, ihren Vater nicht mehr zu haben. „So wie es eben millionenfach auf dieser Welt vorkommt. Kein Grund, die Krise zu schieben“, bemerkte Adrian mehr zu sich selbst als zu ihr. „Nur weil es millionenfach geschieht, heißt es noch lang nicht, dass es nicht wehtun darf. Millionenfach“, gab sie zurück. Er starrte sie verblüfft an. Sie bremste vor dem Tor. „Sollen wir?“ Er nickte, immer noch leicht gelähmt. Sie schien nicht mitbekommen zu haben, was ihre Worte in ihm ausgelöst 147 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


hatten. Ja, es tat weh, sich nach etwas zu sehnen, was unwiederbringlich dahin war. Aber wenn er zu viel darüber nachdachte, würde ihn diese dunkle Welle verschlingen, endgültig zu Fall bringen. Nichts fühlen – das war wichtiger. Was machte er also hier? Warum musste er diese Katze aus ihrem ungewissen Schicksal herausgelöst wissen? Sie liefen an den Zwingern vorbei und das Gekläff war ohrenbetäubend, bis sie das schäbige kleine Häuschen mit der Beschriftung „Städtisches Tierheim“ erreicht hatten. Die Eingangstür aus grün gestrichenem Holz war nur angelehnt. Hinter einem unordentlichen Schreibtisch saß eine Frau mittleren Alters mit kurzen grauen Haaren. Sie wirkte wie eines dieser Klischeebilder einer Katzenliebhaberin. „Kann ich euch helfen?“ Sie duzte sie ohne Umschweife, was Adrian nicht störte. „Ja, die Sache ist die …“ Er stockte und merkte, dass er gar nicht wusste, wie er ihr Anliegen erklären sollte. Neala kam ihm zur Hilfe. „Ist hier heute Mittag eine junge schwarze Katze abgegeben worden? Ein Findling?“ Die Frau nickte. „Ein junger Kater allerdings.“ Adrians Herz schlug höher. „Jimminy“, dachte er. „Meine Mutter hat ihn hergebracht. Wir können ihn nicht behalten und auf meine Anzeige hat sich auch niemand gemeldet. Allerdings hat meine Mutter nicht gewusst, dass ich in der Zwischenzeit einen Platz für die Katze gefunden habe“, beeilte er sich so überzeugend wie möglich vorzubringen. „Ja, genau. Wir haben heute in der Schule noch davon gesprochen und ich hab gesagt, ich würde die Katze gern nehmen. Wir haben einen Garten …“ Nun wusste Neala nicht weiter. 148 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Die Frau musterte die beiden. Dann warf sie einen Blick in einen ihrer unordentlichen Papierstapel. „Eine Frau Schoch hat ihn heute gebracht. Sie schien recht eifrig zu sein, ihn in unsere Obhut zu übergeben.“ Adrian seufzte. „Ja, seine Ma kann Katzen nicht sonderlich leiden. Unsere Familie aber schon.“ „Kennst du dich aus mit Katzenhaltung?“, wollte die Frau wissen. Neala nickte. Adrian hielt gespannt die Luft an. „Wir hatten noch keine Zeit, den Kater vom Tierarzt untersuchen zu lassen. Verwahrlost ist er nicht. Und wie es den Anschein hat, ist er auch gesund. Aber eine Wurmkur und die Impfungen sollten gemacht werden. Außerdem sollte man sich eine Kastration überlegen.“ Wieder nickte Neala. „Klar. Unser früherer Kater war auch kastriert. Da kümmere ich mich schon drum.“ „Wenn ihr ihn mitnehmen wollt, müsst ihr mir ein Formular ausfüllen. Und … wir würden uns über eine kleine Spende freuen.“ Sie zwinkerte den beiden zu und stand auf. „Sollen wir mal nach ihm sehen?“ Adrian und Neala sagten gleichzeitig „Ja“, wobei Neala noch ein „bitte“ hinterherschickte. In Adrian machte sich ein warmes Gefühl breit. Sie war klasse. Sie hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, die Initiative ergriffen. Wenig später verließen sie mit Jimminy im Arm das Tierheim und fuhren zu Neala nach Hause zurück. Der kleine Kater hatte Adrian sofort wieder erkannt und ihn maunzend begrüßt. Unterwegs machte Neala noch einen Abstecher zu Adrians Wohnung. Er lief rasch nach oben, um die Sachen 149 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


zusammenzupacken, die er in den letzten Tagen für Jimminy angeschafft hatte. Ihm war leicht ums Herz, denn er war sich sicher, dass es dem Kater bei Neala gut gehen würde. Vielleicht würde sie ihn ganz behalten, bestimmt … wenn er sogar ihm schon so rasch ans Herz gewachsen war.

Benn sah nach unten. Er beobachtete, wie Adrian zurück ins Auto spurtete – blau und rot, aber am Rand bildete sich langsam ein helleres Blau. Er lächelte zufrieden in sich hinein. Das lief, wie es laufen sollte. Langsam begann er, der Hoffnung seines Meisters Vertrauen zu schenken.

Als sie samt Katze, Katzenstreu, Dosenfutter und Plastikwanne zur Tür hereinkamen, liefen sie Nealas Mutter in die Arme. Sie wirkte etwas irritiert. Adrian straffte sich innerlich: Das gab jetzt bestimmt doch eine heiße Diskussion. „Neala, what are you doing with all that stuff?“ „Schau mal, Mam.“ Sie hielt ihr Jimminy unter die Nase. „Das ist Jimminy. Adrian hat ihn gefunden.“ Über das Gesicht ihrer Mutter wanderte ein Lächeln. Sie beugte sich über den Kater in Nealas Arm und kraulte ihm den Kopf. Dazu gurrte sie irgendetwas, was Adrian nicht verstehen konnte. Okay, das lief schon mal sehr gut. „Er ist sehr süß.“ Nun sah Frau Mahler wieder hoch. 150 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Ma, er kann ihn nicht behalten, und da dachte ich … Vielleicht ist es gut … Ich meine, ich denke, ich bin bereit dazu.“ Ihre Mutter musterte sie mit einem skeptischen Blick. Dann seufzte sie. Adrian verstand nicht ganz, worum sich diese Konversation drehte, aber bestimmt nicht nur um die Katze hier oder das, was sie ihm von ihrem Kater Orange erzählt hatte. Nealas Mutter fuhr sich durch ihr rotes Haar, das schulterlang geschnitten war, und sah auf einmal sehr müde aus. „Ist in Ordnung, Darling. Ich denke, Daddy wird sich freuen.“ Dann gab sie ihr einen Kuss auf die Wange, was Neala sonst ziemlich peinlich war, aber in diesem Moment dachte sie nicht daran, dass Adrian anwesend war. Jimminy wand sich und sprang auf den Boden, neugierig die neue Umgebung zu erkunden. „Das Katzenklo stellst du am besten in den Keller“, schlug Frau Mahler noch vor. „Ich bin im Büro, falls ihr was braucht.“ Sie verschwand in einer Tür neben der Küche. Adrian starrte ihr ungewollt hinterher. Sie war nicht besonders schick angezogen, trug eine weite beige Leinenhose und eine alte graue Strickjacke über einem einfachen grünen T-Shirt, ihre Füße waren barfuß. Sie war schon rein optisch nicht mit seiner Mutter zu vergleichen, die immer ziemlich perfekt aussah, modischer Haarschnitt, jugendliche Klamotten, die sie auch durchaus tragen konnte. Vor allem ihre Art war es, die Adrian ungemein verwirrte: wie sie mit ihrer Tochter umging. „Meine Ma arbeitet an einem Manuskript“, erklärte Neala. „Sie ist Übersetzerin.“ 151 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Ah.“ Adrian löste sich und ließ sich von Neala herumdirigieren, wo er die Dinge abstellen sollte. Neala schien sich keine Sorgen zu machen, Jimminy springen zu lassen. Er witschte die Treppenstufen hinauf ins Obergeschoss. „Magst du was trinken?“, fragte Neala. „Okay.“ Neala schenkte zwei Gläser Saft ein, dann schlug sie vor, nach oben zu gehen. „Ich muss mal schauen, ob ich noch irgendwo die Nummer von unserem alten Tierarzt finde.“ Die Holztreppe war alt, so wie das ganze Haus, aber geschmackvoll renoviert und eingerichtet. Helle Farben, schöne Landschaftsaquarelle an den Wänden im Flur, oben einige Fotos, Familienbilder, wie Adrian vermutete. Auf einem meinte er Neala als kleines Mädchen erkennen zu können, neben ihr ein etwas größerer Junge mit braunem Haar und dunklen Augen. Er erinnerte sich, dass sie etwas von einem Bruder gesagt hatte. Nealas Zimmertür war mit einem Schwarz-Weiß-Poster gekennzeichnet, es zeigte die Band U2 in den Achtzigerjahren. „Hörst du U2?“, entfuhr es ihm unweigerlich. „Ich mag’s gern. Du nicht?“ Er dachte nach. „Keine Ahnung. Kenn nicht wirklich was von denen. Die Radiohits halt.“ Nun stand er also in Nealas Zimmer und fragte sich insgeheim, ob sie das gar nicht komisch fand? Schließlich verriet so ein Zimmer viel über einen. Und er wollte nicht wissen, was sie von ihm halten würde, wenn sie seins sehen könnte. Es war nicht sonderlich aufgeräumt. Jimminy war mit ihnen zur Tür hereinspaziert und sprang gleich auf ihren mit 152 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Klamotten überladenen Sessel. Auf dem Schreibtisch stand ein Laptop, aber sonst war kaum Platz darauf frei. Überall Papierstapel. An der Wand hingen drei Bilder auf Leinwand. „Selbst gemalt“, schoss es Adrian durch den Kopf, und er war beeindruckt. Eines zeigte einen abstrakt gehaltenen Männerkopf mit Bart und schwarzem Haar, der irgendwie leidend dreinblickte. Um seine Stirn wanden sich undefinierbare Schmierer. „Das hab ich mit den Fingern gemalt“, ging Neala auf seinen fragenden Blick ein. „Sieht cool aus“, beeilte sich Adrian zu sagen. Es gefiel ihm wirklich. „Was hat der Typ für ein Problem?“ Nun war Neala irritiert. Sie stellte ihr Glas auf ein Tischchen neben ihrem Holzbett und griff sich die Katze. „Wie meinst du das?“ „Na ja, er sieht leidend aus.“ „Das soll Jesus sein.“ Ihre Stimme klang wieder leicht genervt, so wie vor einer Woche, als er sie nach der Bedeutung ihres Namens gefragt hatte. „Oh, klar. Okay … jetzt seh ich’s.“ Die Rückwand ihres Zimmers war komplett mit einem großen schmalen Regal zugestellt. Darin befand sich also diese besagte „Videothek“ und dazu noch jede Menge Bücher. Interessiert ließ Adrian seinen Blick über die Titel wandern. Viel Fantasy. Auch Romanzen, klar. Ein paar Kunstfilme und -bücher. Schon cool. Sollte er dazu etwas sagen? „Schönes Zimmer.“ Sie zuckte mit den Schultern und ließ sich mit Jimminy im Arm auf ihr Bett fallen. „Such dir einen Sitzplatz, falls du einen findest. Aufräumen ist nicht grad meine Stärke …“ 153 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Solltest nicht sehen, wie es bei mir ist“, gab Adrian zur Antwort und setzte sich auf den Teppich. Dann drehte er verlegen sein Glas in den Händen und wusste nichts weiter zu sagen. „Soll ich mal was anmachen von U2? Sie sind vielleicht vielseitiger als du denkst. Vor allem in den Neunzigern haben sie ein paar elektronische Experimente gemacht.“ „Okay.“ An Musik war er immer interessiert, auch wenn er U2 für absolut Mainstream hielt. Sie ließ Jimminy auf ihrem Bett zurück und ging zum Computer. Sie fuhr ihn hoch und stellte die Boxen an, dann ließ sie irgendeine Wiedergabeliste laufen. „Wohnt dein Bruder auch noch zu Hause?“, fragte Adrian. Neala hatte ihm den Rücken zugewandt und er merkte, wie sie plötzlich steif wurde. Was hatte er denn jetzt falsch gemacht? In seinen Ohren hatte die Frage ganz harmlos geklungen. Sie drehte sich langsam zu ihm um, während aus den Boxen eine stark verzerrte E-Gitarre zu vernehmen war. Ihr sonst schon blasses Gesicht schien noch weißer geworden zu sein. „Bist du okay?“ Adrian sprang unvermittelt auf und konnte sich gerade noch davon abhalten, ihr seine Hand auf die Schulter zu legen. „Sorry, wenn ich was Blödes gesagt hab … echt …“ Sie sog die Luft scharf ein und machte dann eine wischende Handbewegung knapp vor ihrem Gesicht, als müsse sie etwas beiseiteschieben. Dann ging sie zu ihrem Bett und setzte sich wieder, nahm mechanisch Jimminy auf den Arm, der eigentlich nicht so recht wollte, und rieb ihr Gesicht an seinem 154 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Fell. Adrian stand verwirrt im Raum und beschloss, besser nach Hause zu gehen, als sie plötzlich doch zu sprechen begann. „Du weißt es echt nicht … Ich dachte, das hätte jeder mitgekriegt. War ja auch so ’ne Riesensache …“ Nun sah sie ihn wieder an und machte ein Geräusch, das halb verwundert, halb nach Seufzen klang. „Da“, sie deutete auf ein paar Postkarten, die über ihrem Bett an der Wand klebten. Eine davon zeigte einen großen braunhaarigen Jungen mit Kurzhaarschnitt, der neben einem Gipfelkreuz stand. Die Sonne ging gerade hinter den Bergspitzen unter und der Wanderer lachte über das ganze Gesicht. Unten in der Ecke der Karte stand das Wörtchen: „Danke.“ Adrian trat näher heran und besah sich das Bild. Neala zog ihre Füße aufs Bett hoch, um ihm Platz zu machen, und vorsichtig ließ Adrian sich auf der gegenüberliegenden Kante nieder. „Das ist Tobi. Die Karten haben wir für seine Beerdigung gemacht. Ich hab das Foto ausgesucht.“ „Scheiße“, dachte Adrian. Er sah die Karte an und dann wieder das Mädchen, das ihm gegenübersaß und mit der Katze schmuste. Und ihm war, als könne er sich dunkel an eine Sache vor ein paar Jahren erinnern. An ein Gesprächsthema in der Schule. Irgendetwas … Was sollte er dazu sagen? Dass es ihm leidtat? Was für dünne Worte. Er schüttelte leicht den Kopf. „Das hab ich echt nicht gewusst … Ehrlich, das ist … Mann.“ Fuck, er wusste nicht, was er sagen sollte. Ein toter junger Mensch. Einer, der offensichtlich gern gelebt hatte. 155 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Was für eine Welt. War das nicht wieder eine Bestätigung für seine Theorie? „Ich dachte, jeder in der Schule weiß es. Auf der Beerdigung waren so viele Leute … auch aus seiner alten Klasse und so …“ Neala fuhr mit ihren Fingern vorsichtig über Jimminys Pfötchen, die sich ganz weich anfühlten. Der kleine schwarze Kater zuckte mit seinen Beinchen und krallte sich in den Stoff ihres Pullovers. „Erinnere mich nur ganz verschwommen, da wurde in der Schule was erzählt … Aber ich weiß nicht, was passiert ist … und dass es dein Bruder war … Wie lang ist es her?“ „Zwei Jahre.“ Jimminy biss sie in den Daumen, so wie er es bei Adrian auch schon getan hatte. „Ahh, lass das, Tiger!“ Sie zog ihre rechte Hand weg, hielt ihn aber immer noch mit der linken an ihren Bauch gedrückt. Sie griff nach einem ihrer Haarbänder, das neben dem Kopfkissen lag und gab es ihm zum Spielen, hielt es an einem Ende hoch und ließ ihn danach haschen. Dann warf sie das Band auf den Boden hinunter und Jimminy sprang hinterher. Dabei vermied sie es, Adrian direkt anzusehen. In ihm arbeitete es. Der ganze Moment kam ihm auf einmal so absurd und viel zu intim vor. Was wusste er schon von ihr und was ging es ihn auch an? Doch er wollte es wissen. „Er hat einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen.“ Adrian durchzuckte es eiskalt. Hatte ihr Bruder Schluss gemacht? Aber dazu schien es absolut keinen Grund zu geben. Bevor er diese Fragen formulieren konnte, fuhr Neala fort und seine Anspannung löste sich ein wenig. „Da stand drauf, dass er nur kurz ’ne Runde schwimmen ist. Es war ein verdammt heißer Tag – im wahrsten Sinne des 156 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Wortes. Er war ein guter Schwimmer … Überhaupt, Sport war absolut sein Ding.“ Neala beugte sich über den Bettrand und bewegte ihre Finger, um Jimminy wieder heranzulocken. Der Kater schoss auf sie zu, sie fing ihn mit der einen Hand, setzte sich im Schneidersitz wieder auf und begann ihn erneut zu streicheln. „Irgendwann hat das Telefon geklingelt und meine Ma ist hingegangen. Ich saß lesend im Wohnzimmer. Ich weiß noch genau, welches Buch es war …“ „Welches?“, fragte Adrian leise. Sie sah von der Katze in ihrem Schoß hoch in seine blauen Augen, die plötzlich etwas widerzuspiegeln schienen, das sie noch nie in ihnen gesehen hatte. Eine Weichheit? Einen Schmerz? Sie konnte es nicht benennen. „Du bist der Erste, der mich das fragt.“ „Du musst es mir nicht erzählen … Fakt ist, du musst mir gar nichts erzählen, es sei denn, du möchtest“, entgegnete er. Seine Hände ruhten auf seinen Knien, er saß ganz still. „Der König von Narnia. Die weiße Hexe unterhielt sich mit Edmund …“ Er nickte. „Kenn ich. Wer Tolkien kennt, kennt Lewis.“ Er wusste nicht, warum er das sagte, vielleicht, weil er dachte, es würde ihr helfen, ihre Gedanken zu ordnen. Sie musste lächeln. „Stimmt“, sagte sie. Sie war nicht wütend, dass er sie unterbrochen hatte. „Ja, bis zu diesem Zeitpunkt war es ein ganz gewöhnlicher Sommernachmittag. Aber dann hörte ich meine Ma aufschreien, so wie ich sie noch nie gehört habe. Da bin ich zu ihr hingerannt und sie hielt das Telefon in der Hand und sagte immer wieder: ‚It can’t be, it can’t be …‘ Mein Vater war 157 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


noch nicht zu Hause und ich wusste nicht, was ich machen sollte. Und da habe ich meine Ma umarmt und mich an sie gedrückt und sie hat mich erst jetzt wahrgenommen. Ich habe gefragt: ‚Was ist passiert? Ist was mit Dad?‘ Sie hat den Kopf geschüttelt und auf einmal merkte ich, dass sie nicht mehr stehen konnte. Ich musste sie stützen, sonst wäre sie hingefallen, und ich hab ihr geholfen, sich auf den Boden zu setzen. Und plötzlich, wir kauerten beide so auf dem Boden und ich glaube, ich hab noch öfter gefragt, was denn los ist und ob ich etwas machen kann und all so was, da packte sie mich und hielt mich so fest, dass ich kaum noch Luft bekam. ‚Tobi is dead‘, sagte sie, und ihre Stimme klang, als müsse sie würgen. Ich verstand es nicht. Aber sie sagte es noch einmal und ich sah sie an und sagte: ‚Nein.‘ Und dann weiß ich nicht mehr, ich glaube, wir saßen da im Gang, bis mein Dad nach Hause kam.“ Adrian sagte nichts, aber er spürte ein fremdartiges Brennen in der Kehle. Er schluckte, aber das Brennen wollte nicht verschwinden. Er stellte fest, dass seine Augen feucht waren und er blinzelte. Er wollte unter keinen Umständen losheulen. Neala war wieder ganz auf Jimminy fixiert, ihr Haar bildete einen Vorhang zu beiden Seiten ihres Gesichts. So konnte er nicht sehen, ob sie weinte, aber ihre Stimme zitterte. „Er ist im See ertrunken. Zwei Männer haben gesehen, dass er unterging, aber bis sie bei ihm waren, war es zu spät. Die Ärzte haben gesagt, er hatte vermutlich einen Krampf oder so was. Aber mit Gewissheit konnte man nichts sagen.“ Sie schwiegen und die Musik war nun deutlich im Vorder158 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


grund, die Anfangszeilen des nächsten Liedes waren deutlich zu verstehen. „Jesus, Jesus, help me, I’m alone in this world and a fucked up world it is, too …“ Neala sah hinüber zu ihrem Computer und schnaubte. „Ist schon was Wahres dran, nicht wahr?“ Adrian sah sie verblüfft an. „Du machst auf mich einen ziemlich tapferen Eindruck. So viel Zynismus will gar nicht recht zu dir passen.“ Jetzt blickte sie ihn wieder direkt an. „Aber zu dir, was?“ Adrian war ihr intensiver Blick unangenehm. „Na ja, allein wirkst du nicht auf mich.“ „Bin ich auch nicht. Und wer sagt denn, dass diese Textzeile zynisch gemeint ist? Ich halte es mehr für ein Gebet. Einen Hilfeschrei.“ „Zu Gott?“, fragte Adrian leicht spöttelnd. Ihm war immer noch so weinerlich zumute und er musste irgendwie dagegen ankämpfen. „Ja“, sagte Neala ernst. „Ja, zu Gott. Denn wenn er mich nicht gehört hätte, dann würde ich jetzt bestimmt nicht hier mit dir sitzen und reden.“ Was in aller Welt meinte sie damit? Dass es da draußen irgendein höheres Wesen gab, das ihr zuhörte? Ihn durchlief ein kalter Schauer. Auf einmal schien dieser Gedanke gar nicht mehr so abwegig. „Du meinst also, dein Bruder ist im Himmel.“ Klar, das war ein tröstender Gedanke, er half vielen Menschen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich meine es nicht. Ich weiß es“, gab sie ihm sehr bestimmt zur Antwort. Es klang fast schon trotzig. 159 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Wie in aller Welt kannst du das wissen?“ Adrians diskussionsfreudiges Gemüt meldete sich zu Wort, ohne dass er lange darüber nachdenken konnte. Nun lächelte sie. Es war ein wunderschönes Lächeln an eine wunderschöne Erinnerung. „Gott hat es mir gesagt. Und es ist mir scheißegal, ob du mir das glaubst oder nicht.“ Adrian konnte in diesem Moment nichts anderes sagen als: „Ich glaub’s dir.“ Neala kraulte den kleinen Kater. „Ich vermiss ihn trotzdem“, gab sie zu. „Kann ich mir vorstellen.“ Adrian dachte plötzlich an seinen Vater. Vielleicht war der auch schon lange tot und er wusste es nur nicht. „Manchmal überlege ich, was er wohl heute machen würde. Er hatte immer viele Pläne. Aber ich weiß, dass das Quatsch ist. Es hat wenig Sinn, sich mit so etwas zu befassen.“ Jimminy schnurrte vernehmlich. „Wie alt war er?“ „Neunzehn. Hatte gerade das Abi gemacht.“ „So alt wie ich“, dachte Adrian. „Nächstes Jahr kann ich ihn überrunden, wenn alles gut geht.“ „Hast du Angst?“, fragte er sie. Sie schüttelte den Kopf. „Nicht vor dem Tod. Nur vor der Art und Weise.“ „So geht’s mir auch.“ Das überraschte sie. „Ich glaube nicht, dass wir das aus den gleichen Motiven heraus sagen.“ Adrian zuckte mit den Schultern. 160 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Ich liebe ihn jetzt schon“, stellte Neala urplötzlich fest und kraulte Jimminy hinter den Ohren. Adrian grinste. „Dann behältst du ihn hoffentlich?“ „Liebe ist wohl immer ein Risiko.“ Neala betrachtete den schwarzen Stubentiger. „Wem sagst du das“, dachte Adrian, aber er sagte es nicht laut. „Hei, was machst du heute noch?“, wollte sie wissen. Adrian zuckte wieder mit den Schultern. „Ich gehöre nicht wirklich zu den Menschen mit Freizeitplanung …“ „Wir gehen Billard spielen. So gegen neun, was meinst du?“ Sie fragte ihn doch nicht gerade wirklich, ob er mitkommen wollte? Das erwischte ihn unvorbereitet und er dachte nach. Leben geht wohl weiter. „Wer ist wir?“ „Paar Freunde, Connie wird dabei sein, schätze ich, Franzi weniger, die hatte was anderes vor, falls dir das bei der Entscheidung hilft. Ansonsten keinen Plan.“ Er musste grinsen. „Kannst auch spontan dazukommen. Sind in der Scheuer, einzige Kneipe, wo man spielen kann.“ Neala sagte es so locker daher, dass Adrian ins Grübeln kam. „Du meinst, es stört dich wirklich nicht, wenn ich dabei bin?“ „Gibt’s ’nen Grund, warum es das sollte?“, antwortete sie mal wieder mit einer Gegenfrage. „Vielleicht“, war alles was Adrian sagte. Beim Verabschieden lief er an ihrem Bücher- und DVDRegal vorbei und stutzte kurz. Neben einem Stapel unsortier161 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


ter Filme lag ein abgegriffenes altes Buch mit ziemlich stark ramponiertem Einband. Der Rücken hatte sich schon fast abgelöst und die Unterseite war mit Kuli vollgekritzelt worden. An verschiedenen Stellen steckten Lesezeichen oder Klebenotizen sahen zwischen den eselsohrigen Seiten hervor. Das allein war es aber nicht, was ihn verwunderte, sondern der Titel des Buches. Es war eine Bibel.

Benn sog die Nachtluft ein. Er fand mehr und mehr Gefallen daran, die Kühle in sich zu spüren, wenn er einen Atemzug tat. Gegen Abend hatte es aufgehört zu regnen, die Straße glänzte im Schein der Laternen. Ein Duft streifte ihn, der ihm mittlerweile sehr vertraut war: Essensduft. Die Imbissbude schräg am Eck war dafür verantwortlich. In einer Kneipe war er bisher in seiner menschlichen Gestalt noch nicht gewesen. Er bog in eine Seitengasse und ließ sich weiter dirigieren. Die Wege des Städtchens hatte er nun verinnerlicht. Er hatte gute Laune, wenn man das von einem Wesen wie ihm behaupten konnte. Er sah den drohenden Schatten zurückgedrängt, doch er wusste auch, dass dem Feind sein schwindender Einfluss nicht entging. Es war keine Frage, wer in diesem Kampf der Stärkere war. Darum ging es nicht. Sieg oder Niederlage hingen nicht von seiner oder der Kraft seines Meisters ab. Allerdings: Ungefragt griffen sie nicht ein. „Warum eigentlich, Meister? Er macht es doch auch.“ „Was er macht, kann uns egal sein. Er verschenkt, was 162 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


nicht sein ist, er zerstört und missbraucht meine Gedanken. Ich kann mit seinen Werken nichts anfangen. Sie enden immer nur in Dunkelheit, suchen den Abbruch und Verfall. Ich suche die Einheit und das Ganze.“ „Ich weiß, Meister, du bist schließlich der Anfang und das Ende. Aber ich ärgere mich, wenn ich sehe, wie er hämisch um Adrian herumschleicht.“ „Ich mich auch.“ Benn stieß die Tür der „Scheuer“ auf und steuerte zu dem langen Bartresen, wo er sich genau auf den dritten Barhocker von links setzte. „Was darf ’s denn sein?“, fragte ihn die Bedienung. Benn dachte einen Moment lang nach. „Flüssige Schokolade, bitte.“ Die Bedienung stutzte einen Augenblick, aber dann nickte sie. „Heiße Schokolade meinen Sie wohl. Mit oder ohne Sahne?“ „Richtig, so heißt es hier. Mit Sahne, bitte.“ Benn strahlte sie freundlich an und die Bedienung musste zurücklächeln, obwohl sie erst einen genervten Eindruck gemacht hatte. Wenig später stand die dampfende Tasse vor Benn. Er wusste, dass ihm die Hitze des Gebräus nichts ausmachen würde, aber er wartete, weil sich jeder normale Mensch bestimmt die Zunge verbrennen würde, wenn er es sofort trank. Spannend, wie die Sahne langsam zerfloss. Er war auf den Geschmack gespannt. Es roch süßlich und ein bisschen nach Zimt. Benn sah zu der altmodischen Wanduhr über dem Tresen. Darunter die langen Regalbretter, auf denen verschiedene Flaschen standen mit klaren, hellbraunen, goldenen, 163 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


roten und sogar blauen Flüssigkeiten. Kurz nach neun. Bens Blick wanderte zu der Eingangstür. Er befand sich hinten im Raum, konnte aber die Tür trotzdem gut beobachten. Und da kamen sie auch schon. Neala lachte gerade über etwas, das Connie gesagt hatte. Tom sah aus wie aus dem Sportmodekatalog. Die beiden anderen kannte Benn auch, ein Mädchen, das vielleicht Anfang zwanzig war, und ein Junge. Sie orderten einen der Billardtische und bekamen die Kugeln ausgehändigt. Um zu den Tischen zu gelangen, musste man neben dem Eingang eine Treppe nach oben steigen. Der Raum war sehr hoch, weil er einmal ein altes Speicherhaus gewesen war. Eine hölzerne Galerie führte oben noch einmal rundherum. Dort auf der Empore standen drei Billardtische und man konnte Dart spielen – wie in einem Irish Pub. Da sie zu fünft waren, bildeten die drei Mädchen gegen die Jungs ein Team. Tom begann die Kugeln auf dem Tisch richtig anzuordnen, während Cat, eine von Nealas engsten Freundinnen, sich einen Queue aussuchte. Diese standen an der Wand in einem Ständer aufgereiht. Neala schlüpfte aus ihrer Jacke und legte sie auf einen Stuhl, wo schon die anderen einen Berg aus Jacken angehäuft hatten. Dann trat sie an die hölzerne Balustrade der Empore und sah nach unten. Benn bemerkte sie nicht. Der hatte gerade seinen vorsichtigen ersten Schluck getan und genoss das warme Rinnsal aus Sahne, Milch und Kakao, das ihm die Kehle hinunterfloss. Die Menschen hatten zumindest in einem Punkt recht: Das war etwas wirklich Gutes. Es war nicht einmal so klebrig süß, wie er es fast schon erwartet hat164 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


te, sondern der Kakao war ziemlich naturbelassen und wenig gesüßt. Nachdem er sich von diesem Sinnesrausch ein wenig erholt hatte, schaute er wieder zum Eingang. Der wohlbekannte Parka mit dem dazugehörigen schmalen Jungen mit dem schwarzen Haar und den blauen Augen kam gerade zur Tür herein. „He, Adrian, hier oben sind wir“, plärrte Neala nach unten und winkte, sodass er erschrocken herumwirbelte. Er schaute kurz hoch, nickte und ging auf die Treppe zu. Benn lehnte sich auf seinem Barhocker zurück, jetzt konnte er die Billardspieler in der zweiten Ebene beobachten. Beim Hinaufgehen fragte sich Adrian, ob es eine gute Idee gewesen war, hierher zu kommen. Aber kaum war er zu Hause gewesen, hatte er daran gedacht, dass seine Mutter gegen neun auftauchen würde – und er hatte absolut keine Lust, sie zu sehen. Wahrscheinlich verstand sie nicht einmal, warum er sauer auf sie war. Und so hatte er sich letztendlich doch auf den Weg gemacht … aus Mangel an anderweitigen Plänen. Vielleicht war’s ja ganz okay. Vielleicht waren Nealas Freunde ja ein bisschen wie sie …, und hoffentlich keine Bibelsprüche klopfenden Jesus Freaks, was er insgeheim befürchtete. Nealas Begrüßung war ihm etwas peinlich gewesen, aber nun stieg er die Stufen hinauf und mit jedem Schritt stieg die Anspannung. Er wusste nicht, wie er sich in einer Gruppe verhalten sollte. Neala begrüßte ihn erneut mit einem echten, breiten Lächeln, was ihn verwirrte. Er ließ seinen Blick über die anderen drei wandern. Da war Connie, sie winkte ihm mit der einen Hand, in der Rechten hielt sie einen Billardqueue. 165 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Er hörte Neala sagen: „Das ist meine Freundin Cat und die Jungs sind Tom und Lukas.“ Tom grüßte ihn mit einem coolen Kopfnicken, aber Adrian reagierte nicht darauf. Er stand da wie eingefroren. Der Typ mit der Kurzhaarfrisur wandte sich vom Billardtisch ihm zu und schien genauso geschockt wie er. „Fuck“, dachte Adrian. Neala wich ein bisschen zurück. „Auweia. Ganz, ganz blöde Idee. Jetzt versteh ich, was Franzi mit dem besessenen Blick gemeint hat“, dachte sie erschrocken. Aber hatte Adrian nicht gesagt, er kenne Lukas Bauer nur flüchtig? Sein böser Blick ließ auf etwas anderes schließen. Lukas fand zuerst seine Sprache und die dazugehörige Coolness wieder. „Hi Birki. Was geht in der Schule?“ Dazu grinste er recht dämlich. „Ein paar Arschlöcher weniger“, dachte Adrian, aber er sagte das nicht laut, sondern musterte Lukas weiter kalt. Das verunsicherte diesen und er meinte: „Ja, also, spielen wir weiter, oder was?“ Adrian überlegte. Er konnte jetzt nicht nach Hause gehen. Das würde so aussehen, als wäre er feige und würde davonlaufen. Aber in ihm stieg die Wut hoch und er wusste nicht, ob er sich im Griff hatte. Der Bauer tat so, als wäre nichts geschehen, und Neala fragte ihn, ob er in die Jungenmannschaft einsteigen wollte. Adrian reagierte nicht. „Ich kann bei den Jungs mitspielen, dann spielt Adrian bei euch“, schlug Connie vor. Lukas Bauer grinste. „Jau, zu den Mädels, das passt“, murmelte er halblaut zu Tom, der aber die Anspielung nicht ganz verstand und außerdem viel zu sehr auf Connie fixiert war. 166 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Adrian nahm wortlos den Queue von Neala entgegen und überlegte, ob er ihn Lukas über den Kopf dreschen sollte, aber er hielt sich zurück. So begann das Spiel. Adrian hatte ewig nicht gespielt und war nicht sonderlich gut. Neala versuchte mehrmals, ihn in ein Gespräch einzubeziehen, aber er konnte nicht darauf eingehen. Er wollte nichts von sich preisgeben, erst recht nicht in Lukas’ Gegenwart. Tom lobte Connie übertrieben, wenn sie eine Kugel versenkte, was ihr aber nicht auffiel. Cat schien irgendwie über den Dingen zu stehen. Als ihre Getränke kamen, leerte Adrian sein Bier fast in einem Zug. Dann ging er nach draußen, um zu rauchen, da es in der Kneipe nicht gestattet war. Kaum war er außer Hörweite, fragte Lukas: „Wie kommt’s, dass du den mit eingeladen hast?“ Neala sah ihn verblüfft an. „Wie kommt’s, dass du hier dabei bist?“ Sie kannte ihn eigentlich nur vom Sehen und hatte nicht gewusst, dass Tom und Connie gesagt hatten, er könne mit. „Ich mein ja nur … Der Birki ist nicht gerade ’ne Stimmungskanone“, bemerkte Lukas. „Aber du, ja? Ihr habt euch angestarrt, als hättet ihr ein Deathmatch auszutragen. Woher kennst du ihn überhaupt?“, konterte Neala, nun mit mehr Schärfe in der Stimme. Lukas’ Großkotzigkeit ging ihr auf den Wecker. „Ich war lang genug mit ihm in einer Klasse. Hab gehört er wär durchgerasselt“, gab Lukas zurück, ohne eine Erklärung zu liefern, warum sie sich so offensichtlich nicht leiden konnten. „Er ist bei uns im Kurs“, sagte Connie. „Er probiert’s noch 167 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


mal. Komisch, er hat doch das letzte Mal zu Franzi gesagt, er kenne keinen Lukas Bauer.“ „Na ja, kennen ist ja auch zu viel gesagt“, meinte dieser und ließ den Queue spielerisch von einer Hand in die andere wandern. „Soll heißen, ihr hattet nichts miteinander zu tun“, stellte Neala fest. „So isses. Ist der jetzt etwa anders drauf? Mit uns wollte er nie was zu tun haben, hält sich wohl für was Besseres“, vermutete Lukas. „Da kenn ich so manche“, dachte Neala leicht genervt. „Ich finde es nett, dass Neala ihn eingeladen hat. Er scheint nicht oft Gelegenheit zu haben, mit anderen Leuten was zu machen“, sagte Connie. „Das hat wahrscheinlich was mit seiner ach so sozialen Ader zu tun“, bemerkte Lukas. Nun schaltete sich Tom ein. „Hey, Connie hat recht, es ist nicht fair, über ihn herzuziehen, nur weil ihr euch nicht leiden könnt.“ Connie strahlte Tom an. Er lächelte zurück. Neala verdrehte die Augen und Cat legte ihr die Hand auf die Schulter. Es war eine Geste, die sie beruhigen sollte, und das half ihr auch. „Lukas, du hast nichts Konkretes gesagt, warum du mit Adrian ein Problem hast. Entweder redest du Klartext mit uns oder du hörst auf, fadenscheinige Andeutungen zu machen“, sagte sie mit fester Stimme. Cat war ein ruhiger Mensch, wirkte oft in sich gekehrt, aber sie war jemand, der durchaus Autorität in der Stimme hatte, wenn sie einmal den Mund aufmachte. Und sie machte ihn auf, wenn sie eine Ungerechtigkeit witterte. Neala hatte schon oft von ihr den 168 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Kopf zurechtgerückt bekommen und es war immer zu ihrem Besten gewesen. Außerdem war sie immer da, seit der Sache mit Tobi, wenn Neala jemanden zum Reden brauchte. Cat war drei Jahre älter als Neala und hatte bereits ihre Ausbildung in einem Grafikbüro absolviert. Jetzt arbeitete sie dort in Sachen Printmedien. Lukas lief ein bisschen rot an und meinte dann nur: „Das sind alles alte Kamellen. Kein Grund, sie wieder aufzuwärmen.“ „Wenn das so ist, dann lass uns nicht weiter davon reden und spielen“, gab Cat zurück. In dem Moment tauchte Adrian wieder auf. Seine Laune hatte sich nicht wesentlich gebessert. Während seiner Zigarettenpause war er zu dem Entschluss gekommen, Lukas einfach zu ignorieren. Er wollte versuchen, sich beim Spielen nicht zu blamieren. Das Tom-Lukas-Connie-Team gewann und Adrian fing einen überheblichen Blick von Lukas Bauer auf. Dabei war es bestimmt nicht das Verdienst des Chorknaben, eher schon das von Tom gewesen. Cat und Neala machten sich nicht viel daraus. Sie forderten die Jungs und Connie umgehend zu einer Revanche auf und Adrian bestellte noch ein Bier. Seine Hände zitterten, als er wieder an der Reihe war, und er verwünschte sich innerlich. Konnte es ihm nicht einfach egal sein, was Lukas Bauer dachte? Wenn er ihn so dämlich grinsend vor sich stehen sah, stieg in ihm der starke Wunsch auf, ihm den Queue in den Bauch zu rammen. Seine Kugel ging total daneben. „Pech aber auch“, stellte Lukas mit geheucheltem Bedauern fest. 169 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Adrian wusste, er sollte eigentlich nicht so schnell trinken, aber sein zweites Bier war leer und er orderte Nachschub. Cat warf Neala einen Blick zu, der Besorgnis ausdrückte. Sie waren nicht hierher gekommen, um sich die Kante zu geben, noch um Stress zu bekommen. „Toll, und was soll ich jetzt daran ändern?“, dachte Neala genervt. Wirklich – ein Abend wie im Bilderbuch. Sie dachte an den kleinen Jimminy zu Hause. Viel lieber wäre sie jetzt in ihrem Bett, den kleinen Kater auf dem Schoß. Dann dachte sie wieder, wie wichtig das Tierchen für Adrian gewesen war. Er hatte also durchaus eine weiche Seite … Cat war an der Reihe und Neala stand neben Adrian. Sie hoffte, niemand würde sie belauschen, als sie ihm zuraunte. „He, was auch immer dich so anpisst, der Lukas ist es bestimmt nicht wert, dass du dir hier die Birne zuknallst.“ Adrian musste schlucken und musterte sie scheu von der Seite. Was für ein Tag! Er konnte es nicht leiden, wenn jemand ihn bevormunden wollte, so wie seine Ma. Aber Neala war nicht seine Ma, und außerdem hatte er das Gefühl, dass sie ihn nicht total scheiße fand. Sonst hätte sie ihm das heute Nachmittag wohl kaum erzählt. Er nickte leicht. „Hast recht. Am besten, ich geh einfach nach Hause.“ Er lehnte den Billardqueue an die Wand. „So hab ich das nicht gemeint“, wandte Neala ein, obwohl sie zugeben musste, dass sie bei seinen Worten Erleichterung verspürte. Aber dann sah sie kurz in seine Augen, die er vorhin nur noch auf den Boden gerichtet hatte. Und er tat ihr leid. „Is’ schon okay. Trotzdem, danke.“ Adrian nahm seine Jacke und ging zur Treppe. 170 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Gehst du schon?“, fragte Connie überrascht. Adrian hatte keine Lust zu antworten. „Er hat noch was zu tun“, beeilte sich Neala zu sagen. War hoffentlich keine Lüge. Aber sie wollte ihn nicht so im Regen stehen lassen. „Anderer Leute Leben ausspionieren, weil man selber keins hat … oder?“, murmelte Lukas halblaut mehr zu sich selbst. Aber alle hörten es und sahen ihn fragend an. Plötzlich hielt es Adrian nicht mehr und etwas in ihm sprang an. Alle seine guten Vorsätze flogen über Bord. Er wirbelte herum und war mit einem langen Satz bei Lukas, riss ihm dessen Billardqueue aus der Hand und stieß ihn damit vor die Brust, sodass dieser, der mit keiner Attacke gerechnet hatte, rückwärts gegen die Wand taumelte. Adrian schob alle Vorsicht beiseite. Es war ihm egal, dass Lukas bei der Bundeswehr im Training stand, egal dass er gegen ihn keine Chance hatte. Er wollte ihm wehtun. So fest er eben konnte. „Verdammtes Arschloch“, zischte er und rammte ihm sein Knie in den Magen. Lukas krümmte sich vor Schmerzen zusammen, aber Adrian ließ ihn nicht aus seinem Schwitzkasten und presste ihm den hölzernen Stab noch fester gegen den Körper. Die anderen standen vor Schreck wie gelähmt, das alles hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Adrian wollte noch einmal zutreten, aber da wurde er von hinten gepackt und mit großer Kraft zurückgerissen. Er wollte sich umdrehen, den Queue noch immer fest umklammert, um seinen Gegner abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht. Zwei Hände klammerten sich um seine Handgelenke und drückten sie nach unten, während starke Arme seinen Brustkorb umschlossen. Er musste 171 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


seine Waffe sinken lassen und starrte auf Lukas, der nach Luft rang und halb zusammengesackt an der Wand lehnte. Connie war die Erste, die neben ihm war. „Geht’s Lukas? Bist du okay?“ Tom schob sich dazwischen. Wahrscheinlich befürchtete er, Adrian könne sich doch noch losreißen und auch noch Connie attackieren. Neala war immer noch nicht aus ihrem Schockzustand erwacht. Ihre Freundin Cat legte einen Arm um ihre Schulter. Adrian wollte weg – nicht nur fort aus dieser Stadt, nein, von diesem Planeten. Er war ausgerastet. Nicht gut. Vor einem Haufen Zeugen. Gar nicht gut. Hatte vielleicht sogar diesen Vollidioten da drüben an der Wand ernsthaft verletzt. Verdammte Scheiße! Zaghaft versuchte er, sich aus dem Griff dieses Fremden zu befreien. Wer hatte ihn da überhaupt gepackt? Keiner sagte ein Wort. Jemand rief etwas unten in der Kneipe – und dann kam ein Mann die Stufen zur Empore heraufgestürmt. Adrian nahm das alles nur noch nebelhaft wahr. Er sah auf seine Hände. Die Knöchel waren ganz weiß, so fest klammerten sich seine Finger um den Holzstab. Wie in Zeitlupe schaffte er es, Finger um Finger zu lösen. Es klapperte laut, als seine Waffe zu Boden fiel. „So ist es besser“, sagte eine Stimme ganz nah an seinem Ohr. Adrian jagte ein Zittern durch den Körper. Er kannte diese Stimme und seine Furcht wurde noch größer. Was würde jetzt mit ihm geschehen? Connie fragte Lukas immer wieder, ob er einen Arzt brauche, aber der schüttelte nur den Kopf. „Wer hat angefangen?“, wollte der Kneipenwirt wissen. 172 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Ich will hier keinen Ärger, verstanden? Wenn ihr euch nicht benehmt, fliegt ihr allesamt raus. Zwingt mich nicht, die Polizei zu rufen!“ Auf einmal redeten alle durcheinander. Connie, Cat und Tom versuchten zu erklären, dass sie mit dem Ganzen nichts zu tun hatten. Lukas deutete auf Adrian. „Der Typ ist ausgerastet“, sagte er, „aber der Mann da hat ihn zum Glück gleich in den Griff bekommen.“ Neala wusste gar nichts mehr zu sagen. Sie war blass, zupfte Cat am Ärmel und bat mit weinerlicher Stimme, jetzt nach Hause gehen zu dürfen. Cat zog sie an sich und Adrian gab es einen Stich. Er schämte sich. Alle langsam aufkeimende Hoffnungen auf eine Freundschaft mit ihr konnte er nun begraben. War das wirklich sein wahres Gesicht, das nun zutage gekommen war? „Jetzt hasst sie mich. So wie alle anderen.“ Ihn würgte es und er musste all seine Kraft aufbieten, um sich nicht augenblicklich zu übergeben. „Gott, bring mich hier raus“, dachte er verzweifelt. Die Arme, die ihn eben noch fest umklammert gehalten hatten, lösten sich. In einer geschmeidigen Bewegung schob sich Benn vor ihn. „Es wird nicht nötig sein, die Polizei zu verständigen.“ Seine ruhige Stimme schien die der anderen zu übertönen, obwohl er nicht besonders laut sprach. Alle blickten den Mann an, der vorhin wie aus dem Nichts aufgetaucht war und Adrian von Lukas weggerissen hatte. „Dir geht es gut, nicht wahr? Er hat dich nicht ernsthaft verletzt“, richtete Benn das Wort an Lukas. Dieser nickte verwirrt. 173 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Was meinst du, Adrian, willst du ein Stück mit mir laufen?“, fragte Benn daraufhin und wandte sich halb zu ihm. Adrian nickte, mehr brachte er nicht zustande. Das schwarze Loch in seinem Magen wurde immer größer und größer. Es wirbelte, als wolle es in jedem Moment aus ihm herausbrechen und ihn verschlucken, das Innere nach außen gestülpt, sodass er sich einfach in sich selbst auflösen konnte. „Also, dann raus hier. Hausverbot, Freundchen! Hast du mich verstanden?“ Adrian nickte wieder, aber man konnte es kaum erkennen, da er seinen Blick nicht hob und konsequent zu Boden starrte. „Ich bezahle“, sagte Benn urplötzlich und reichte dem Wirt einen Schein, mit dem dieser anscheinend zufrieden war. „Pass das nächste Mal ein bisschen besser auf deinen Freund hier auf“, mahnte er, während er das Geld in seine Börse steckte. Auch die anderen bezahlten. Ihnen saß der Schreck noch in den Knochen. Tom erklärte, er würde Lukas und Connie heimbringen, Cat wollte Neala nach Hause fahren. Adrian ließ sich von Benn vor die Tür begleiten. Kaum waren sie ein paar Schritte gegangen, da wandte er sich der alten Stadtmauer zu und musste sich übergeben. Benn stand geduldig daneben und wartete. Er ekelte sich nicht. Als Adrians Magen leer war, spuckte er noch ein paar Mal aus und richtete sich dann auf. Mit zitternden Fingern suchte er in seiner Jackentasche nach einem Papiertaschentuch, um sich den Mund abzuwischen. Dann stolperte er weiter, so schnell es seine wackeligen Knie erlaubten. Benn folgte ihm. Adrians Kopf fühlte sich völlig leer an, er wusste nicht, was 174 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


er noch sagen oder tun sollte. Er wollte nach Hause in sein Zimmer. Sich endlich verstecken können. Niemanden seine Schwäche sehen lassen.

Es war dunkel im Zimmer, nur ein einsames Teelicht flackerte auf dem Fenstersims. Cat saß im Schneidersitz, den Rücken an die Wand gelehnt, auf Nealas Bett. Ihre Freundin hatte ihren Kopf in ihren Schoß gebettet und Cat streichelte ihr über die Haare. Sie hatte gesagt, sie würde bei ihr übernachten, aber momentan war beiden noch nicht nach Schlafen zumute. „Tobi hätte gewusst, wie er mit der Situation umgehen soll“, sagte Neala nun schon zum wiederholten Mal. „Oh hush … Hör endlich auf, dir die Schuld an dem Ganzen zu geben. Du konntest nichts dafür. Du wolltest nur nett sein.“ „Da sieht man mal, wohin das führt. Ich hätte ihn gar nicht einladen sollen …“ Cat schüttelte ungeduldig den Kopf, was Neala allerdings nicht sehen konnte. Sie lag auf der Seite, ihre Hände unter der linken Wange gefaltet, die Knie angezogen. Cat hatte eine Wolldecke über sie gebreitet, da sie zunächst nur gezittert hatte, aber mittlerweile war sie etwas ruhiger geworden. Ihre Eltern hatten an diesem Abend noch im Wohnzimmer gesessen und sich einen Film angesehen. Sie waren verwundert gewesen, dass Neala schon so früh zurück war. Ihre Mutter hatte die kleine Katze auf dem Schoß liegen gehabt. Sie hatte gemeint, vielleicht sollten sie versuchen, ihr anzu175 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


gewöhnen, in einem Korb im Flur zu schlafen. Dazu hatte Neala genickt und gemeint, sie und Cat würden dann mal hochgehen. Natürlich hatte ihre Mutter sie mit diesem fragenden Blick gemustert, weil sie genau merkte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Aber sie hatte nicht weiter nachgefragt. „Woher solltest du denn wissen, dass Lukas heute kommt? Und dass die beiden aus irgendeinem Grund Erzfeinde sind? Und wie hättest du wissen sollen, dass Lukas seine Klappe nicht halten kann … Denn provoziert hat er ihn, das hast du ja mitbekommen.“ „Ja, schon. Das fand ich auch nicht okay. Aber deswegen greift man jemanden doch nicht so brutal an. Ich dachte, er erwürgt ihn gleich. Hast du nicht auch Angst bekommen?“, gab Neala zurück. „Doch, allerdings“, gab Cat zu. „Aber da war ja zum Glück gleich der Mann – und der schien Adrian zu kennen. Wir können nur dankbar sein …“ „Ja, der Mann … ich weiß gar nicht, wie der so plötzlich auftauchen konnte. Er schien aus dem Nichts zu kommen …“ „Der hat vielleicht schon vorher gemerkt, dass sich da etwas anbahnt“, vermutete Cat. „Ich hab den Mann schon mal gesehen.“ Neala hatte den ganzen Abend überlegt, woher er ihr bekannt vorgekommen war. Dann fiel es ihr ein. Sollte sie Cat davon erzählen? Was, wenn sie das alles für verrückt hielt? „Echt? Wo denn?“, fragte Cat. Und als würde es einen logischen Sinn ergeben, fuhr sie fort: „Sag mal, hast du Schokolade?“ 176 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Nun musste Neala lachen. „Du bist süchtig, weißt du das? Ja, ich hab Schokolade.“ Sie schlug die Decke zurück und stand auf. Zielsicher langte sie in ihr Regal und brachte eine Auswahl an Schokoriegeln zum Vorschein, die sie auf ihrem Nachttischchen ablegte. „Du bist ein Schatz“, lachte Cat. Neala nahm ihre gemütliche Stellung wieder ein und sah diesmal zu Cat hoch, die gerade einen Riegel aus der Verpackung wickelte, ihn in der Mitte durchbrach und ihr eine Hälfte anbot. Aber Neala schüttelte den Kopf. „Also, woher kam dir der Mann bekannt vor?“ „Letzte Praise Night war er da.“ „Cool. Dann kennt Adrian vielleicht doch ein paar von unserer Sorte.“ Neala musste wieder leicht lachen. „Schön, wie du das umschreibst. Du meinst wohl ein paar vom Christenpack.“ „Wollte es nicht so drastisch ausdrücken“, gab Cat amüsiert zurück. „Ja, ich weiß nicht. Der Mann war mir erst ein bisschen komisch vorgekommen“, schwenkte Neala nun zurück zum eigentlichen Thema. „Warum?“ „Er hat so seltsame Andeutungen gemacht. Aber weißt du was … Ach, ich weiß gar nicht, ob ich dir das erzählen soll …“ Damit hatte Neala natürlich Cats Neugier geweckt. „Komm schon …“ „Der Mann, also, er schien irgendwie zu wissen, wie es mir so geht … na ja, wegen Tobi und so … Na gut, es haben ja genug Leute mitbekommen, als er gestorben ist … 177 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Komisch, erst heute Nachmittag habe ich das Adrian erzählt. Es war echt okay mit ihm heute Nachmittag, ich meine auch mit Jimminy und so …“ Neala strich sich mit einer fahrigen Handbewegung durch ihre Haare. Sie verstand nicht, wie Menschen sich so grundverschieden verhalten konnten, obwohl es doch immer ein und dieselbe Person war. Die Umstände, sie bestimmten wohl sehr stark, wer man war. Neala hatte schon oft überlegt, ob sie wohl an Jesus glauben würde, wenn sie in einem Slum in Indien oder in einem Bergdorf in den Anden zur Welt gekommen wäre. Aber natürlich waren das Fragen, auf die sich schlecht eine Antwort finden ließ. Genauso wie auf die Frage nach dem „Warum“, Tobis Tod betreffend. Niemand konnte ihr das erklären, auch ihre Ma und ihr Papa nicht. Sie machten weiter. Und sie wollten immer noch daran glauben, dass Gott gut war. „This is the world we live in …“ Hatte das nicht einmal jemand gesagt? „Was hat der Mann gesagt?“, bohrte Cat nach und hielt Nealas Hände fest, die unruhig an ihrem Haar herumzupften. „Er … er hat gesagt, ich solle mir keine Sorgen mehr machen. Mein Leben sei wichtig. Und Tobi gehe es gut, er sei dort, wo er sein wollte.“ Cat hielt immer noch ihre Hände fest und schwieg. „Du glaubst mir nicht, oder? Du denkst, er ist ein Spinner, oder? Deshalb hab ich dir das auch noch nicht erzählt. Ich will nicht, dass mir das jemand kaputt macht. Ich weiß, normalerweise würde ich selber denken, dass der Typ nicht richtig tickt, aber … Ich hab ihn gesehen und ich weiß noch, wie seine Stimme klang … Ich hab mir das nicht eingebildet …“ 178 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Cat ließ ihre Hände los. „Hör auf, Neala, ich glaub dir. Der Mann, ich hab’s gespürt, er hat so eine Ruhe verbreitet. Niemand hat herumgeschrien. Lukas ist nicht ausgerastet und wollte Adrian auch nicht anzeigen oder sonst was … ich kann’s nicht benennen, aber ich glaube, der Mann war mehr als nur ein Mann.“ Neala schluckte, weil ihr in diesem Moment wieder ein Schauer über den Rücken jagte. Ein wenig Furcht, aber keine negative Angst. Mehr einer dieser seltenen Augenblicke, in denen man das Gefühl hatte, etwas Heiliges und Kostbares zu berühren. Manchmal, wenn sie gemeinsam beteten oder wenn sie allein für sich ein Lied sang und das Gefühl hatte, sich jetzt ganz in Gottes Vaterschoß kuscheln zu können, dann fühlte sie sich genauso. „Vielleicht beten wir für die ganze Sache. Und für Adrian. Ich glaube, dem geht’s jetzt nicht so toll“, meinte Cat schließlich in die andächtige Stille hinein. „Okay.“ Etwas Besseres fiel Neala auch nicht ein. Das Gebet half ihr wirklich, zur Ruhe zu kommen. Anschließend bauten die beiden Mädchen ein Nachtlager für Cat auf und schliefen ein.

Benn und Adrian überquerten eine Fußgängerbrücke und schlugen dann einen dunklen, von Büschen zugewachsenen Spazierweg hinauf in Adrians Wohngebiet ein. Bis jetzt hatten sie noch kein Wort miteinander gewechselt. Adrian fühlte sich wieder einigermaßen sicher auf den Beinen. Er strebte voran und ignorierte den seltsamen jungen Mann, der ihm 179 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


nun schon so oft in den ungewöhnlichsten Situationen begegnet war. „Bist du sehr wütend auf dich selbst?“, fragte Benn, der plötzlich auf seine Augenhöhe aufgeschlossen hatte. Adrian blieb stehen und funkelte ihn zornig an. „Was willst du damit sagen? Dass es mal wieder meine verdammte Schuld war? Dass der Birki einfach ein verdammter Vollidiot ist? Was geht’s dich an? Wieso klebst du mir eigentlich an den Hacken? Und wehe, wenn ich jetzt nicht mal ’ne klare Antwort bekomme. Ich hab die Scheiße satt, verstanden?“ Benn breitete mit einem Lächeln seine Arme aus, die Handflächen nach oben gekehrt. Im kalten Licht der Straßenlaternen sah er noch blasser aus als sonst. Es begann wieder zu regnen und der Asphalt glänzte. Auch die Haut des fremden Mannes schien von den Regentropfen in glänzendes Silberglas verwandelt zu werden. Durch seinen Pullover leuchtete einen Moment lang ein warmer Schein auf. Adrian wich zurück. „Was zur …“ „Nein, mit der Hölle hat es nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Lass mich eine Frage nach der anderen beantworten. Ich will sagen, dass ich vermute, dass du nicht glücklich bist mit dem, was heute Abend geschehen ist. Ich will nicht sagen, dass es deine Schuld war … Unschuldig bist du aber auch nicht. Ich beurteile diese Dinge nicht. Ich denke nicht, dass du ein Vollidiot bist. Es geht mich nur darum etwas an, weil der Meister sich um dich sorgt und ich immer in seinem Auftrag handle. Ich begleite dich auf deinen eigenen Wunsch – vorhin in der Kneipe, weißt du noch?“ Adrian musste ihm recht geben. Er hatte jemanden an sei180 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


ner Seite haben wollen. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Benn war vielleicht noch verrückter, als Adrian sich selbst vorkam. „Oh fucking shit!“ Adrian hob resigniert seine Hände und fuhr sich zu beiden Seiten seines Kopfes durch die Haare. Er hielt die Haarbüschel fest, so als wolle er sie ausreißen, und versuchte durchzuatmen. „Hast du die leiseste Ahnung, wie ich am Montag diesen Leuten wieder gegenübertreten soll?“ Adrian sagte es eigentlich mehr in die Leere hinein als zu Benn. „Du könntest sagen, dass es dir leidtut“, schlug Benn vor. „Aber das tut es nicht“, gab Adrian gereizt zurück und ließ seine Haare wieder los. „Doch, das tut es. Es tut dir leid, die Beherrschung verloren zu haben. Und es tut dir leid, dass es die anderen sehen mussten. Und es tut dir leid, dass du Lukas attackiert hast … Ich weiß es ganz genau, ich sehe es in deiner Seele.“ Darauf wusste Adrian nichts zu erwidern. Er nickte stumm. Dann wischte er sich mit der rechten Hand über die Augen. Er würde nicht zu heulen beginnen. Auf gar keinen Fall. „Mir tut leid, dass Neala das gesehen hat“, gab er schließlich zu. „Ich wollte … Ich hatte gehofft … Scheiße.“ Benn sah ihn auffordernd an. „Du hattest gehofft. Und Hoffnung ist gut. Und Glaube und Liebe.“ Adrian schüttelte ärgerlich den Kopf. „Komm mir jetzt bloß nicht mit Liebe.“ „Aber hier im Mezzanin funktioniert nichts ohne sie“, erklärte Benn ernst. Er sah mit seinen seltsamen klaren Augen 181 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


hinauf, wo sich zwischen den Büschen ein kleines Stückchen Nachthimmel sehen ließ. Dann seufzte er. Er war müde. Er hatte gerungen und obwohl seine Kräfte längst nicht aufgesogen waren, merkte er doch die Erschöpfung nach dem Zerren mit dem Schatten. Könnte er nun diesen limitierten Körper verlassen, dann wäre es ihm leichter, ihn zu orten und in seine Schranken zu weisen. Sofern es der Meister erlaubte. Diese Daseinsform hier, sie war anstrengend. Dieser Planet ebenso. Seine Süße mochte zwar gut schmecken, aber seine Bitterkeit durchdrang fast jeden Augenblick. In Adrian konnte er die Hoffnungsflammen nur flackern sehen, wenn er ihn als Seele betrachtete. Aber genau das ging momentan nicht. Er war sich nicht einmal sicher, ob dieser Abend die kleinen Flämmchen nicht wieder im Keim erstickt hatte. Sein Zorn richtete sich nicht auf den Jungen vor ihm, sondern auf den Schatten. Und er verstand einmal mehr nicht, warum sein Meister ihn nicht einfach zu Boden drückte. „Dieses Mezzanin, wie du es nennst, funktioniert komplett ohne sie! Falls du das noch nicht gecheckt hast, tust du mir wirklich leid! Mann, du glaubst doch wohl nicht, dass jene, die hier am Hebel sitzen, ihre Entscheidungen aufgrund von Liebe treffen? Vielleicht aus Eigenliebe. Jeder macht doch am Ende das, was ihm selbst nützt und in den Kram passt. Als Kind denkst du vielleicht noch, dass deine Eltern dich lieb haben und nur das Beste für dich wollen und so’n Scheiß … Aber im Endeffekt handeln sie auch nur nach dem, was ihr Lebensglück bestimmt. Wenn’s so was wie Glück gibt. Oder das, was sie dafür halten. Und wehe, jemand steht im Weg.“ „Redest du hier von deiner Mutter?“, wollte Benn wissen. „Das geht dich ’n Scheißdreck an. Glaubst doch wohl 182 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


nicht, dass ich mich jetzt bei dir ausheule … Ich kenn dich doch gar nicht.“ Plötzlich war Benns Gesicht ganz nah vor dem seinen. Adrian wurde leicht benebelt von dem süßen Atem, den dieser Fremde aushauchte, als er ihn eindringlich bat: „Dann lerne mich kennen. Und vor allem: meinen Meister.“ „Wer in aller Welt ist dieser Meister?“, wagte er es zitternd zu fragen, während er ein paar Schritte zurückwich. Benn war ungewöhnlich schnell und geschmeidig in seinen Bewegungen. „Er hat viele Namen und in ihm und durch ihn ist alles gegründet. Er kennt dich besser, als du dich selbst. Er ist der Anfang und er wird die Dinge eines Tages vollenden, zu einer Zeit, die selbst mir nicht bekannt ist. Ich bin ein Wesen seiner Hallen und du bist ein Wesen seiner Gedanken. Ich diene ihm, da ich keine andere Existenz erfülle … Aber du … du bist der, dessen Liebe er sich ersehnt. Und obwohl ihm alles möglich ist, wird er dich nicht zwingen. Es liegt allein in deiner Macht, ob du dich von ihm lieben lässt …“ Je länger er sprach, desto mehr schien Benn aufzuleuchten, als könne er ein inneres Feuer einfach nicht am Lodern hindern. Adrian wich noch mehr zurück, Angstschauer jagten ihm über den Rücken. „Ich bin besoffener, als ich dachte. Ich hab schon voll die Hallus …“, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Herz klopfte sehr schnell. Der Regen wurde stärker und sickerte ihm den Nacken hinunter. „Ich … muss jetzt echt nach Hause“, schaffte er es schließlich über die Lippen zu bringen. „O Adrian … nicht schon wieder. Wann wirst du es endlich begreifen … seine Hand streckt sich nach dir. Du bist 183 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


nicht das, was du denkst. Und auch nicht, was deine Mutter denkt oder der Rest der Welt. Er will es dir zeigen, wenn du nur willst.“ „Ich will jetzt gar nichts mehr. Nur in mein Bett“, gab Adrian ruppig zurück. Und dann begann er zu rennen. Er spurtete den Hügel hinauf, so schnell er konnte, und bekam bald Seitenstechen, aber trotzdem verlangsamte er sein Tempo nicht. Er rutschte auf dem regennassen Laub aus und fiel auf den Hosenboden, aber er rappelte sich sofort wieder auf und lief weiter. Nach wenigen Augenblicken warf er einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob Benn ihm folgte. Aber das war nicht der Fall. Sein Begleiter schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

Benn stöhnte auf. Es fühlte sich an, als wolle ihn jemand in Stücke zerteilen, ja vielleicht sogar seinem Meister entziehen und das Licht und die Farben aus seinem Inneren reißen. Er wurde herumgeschleudert und wirbelte wie eine vom Sturm gepeitschte Staubwolke durch die Sphäre. Tausende Stimmen schrien auf ihn ein. Der ganze Schmerz des Mezzanin, die brüllenden Massen … Er sehnte sich nach dem heiligen Thronsaal, wo alles Licht und reiner Klang war. Aber nun war er festgehalten durch die blaurote düster werdende Seele, die sich kaum noch aufbäumte, deren Farben fast schon erloschen zu sein schien. „Meister!“ Mit letzter Kraft schickte er seinen Hilfeschrei 184 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


auf die Reise. „Ich unterliege. Er zerrt mit all seinen Dämonen an mir. Ich … kann nicht …“ Ein scharfer lauter Misston erklang in seinem Bewusstsein. Zum ersten Mal fürchtete er, zu fern zu sein, um noch die Stimme seines Meisters herausfiltern zu können. Dieser Auftrag, er hätte nie gedacht, dass er ihn so unendlich viel Kraft kosten würde. Von allen Seiten rissen sie an ihm. Er fühlte ihre giftigen, tiefe Wunden schlagenden Reißzähne. Das Licht sickerte aus ihm wie Blut … So endete also ein Diener des Meisters. Einer, der keinen Anfang und kein Ende kennen sollte … Doch in diesem Augenblick erklang eine Melodie – so schön und prächtig, dass der Lärm der Welt sie nicht mehr überdecken konnte, und eine Stimme wurde laut und mächtig: „Ich bin meines Dieners Kraft und Stärke! Ich unterliege nicht!“ Und da waren sie und sangen, alle seine Brüder. Im gleißenden Schein des Meisters wirbelten sie wie ein Kaleidoskop aus lauter Edelsteinen. Sie glänzten und reflektierten sein Licht in jeden Winkel dieser Sphäre. Benn sog sich voll. Und dann ließ er seine kraftlos gewordene Stimme ertönen. Erst zaghaft und schwach, dann aber mit neuem Triumph stimmte er in den Gesang seiner Brüder ein.

Adrian erwachte von einem lauten Schrei. Einen Moment brauchte er, um zu begreifen, dass er selbst es war, der geschrien hatte. Er starrte und horchte angespannt ins Dunkel. Nichts regte sich in der Wohnung. Dann hatte seine Mutter ihn wohl nicht gehört. Oder sie schlief bei Paul. Gut. 185 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Ein dunkler Traum. Er wusste nicht, was er gesehen hatte, nur das Gefühl des Traumes klammerte sich noch um ihn, lag auf ihm wie eine schwere Decke. Er zitterte und gleichzeitig fühlte er, wie ihm der Schweiß das Gesicht hinabrann. Oder waren es Tränen? Seine Augen waren ganz feucht. Das Gefühl, die unheimliche Einsamkeit dieses Traumes verursachte ihm fast schon körperliche Schmerzen. Er hatte kaum die Kraft, seine Arme zu heben, um sich mit seinen Händen über das Gesicht zu wischen. „Das war nicht nur ein Traum“, durchzuckte ihn schließlich die Erkenntnis. „Du bist allein. Und wirst es auch immer sein.“ Langsam tastet Adrian sich aus dem Bett, er wollte das Licht nicht einschalten. Die Leuchtanzeige seines Weckers zeigte sechs Uhr einundzwanzig. Im Dunkeln zog er sich an und schlich in die Küche. Dort machte er sich einen Kaffee, trank ihn langsam und hörte etwas Musik auf seinem MP3-Player dazu. „It’s a beautiful morning, the sky is black as ink. The city’s sleeping still, but soon they’ll wake up to the stink, soon they wake up to the stink of life passing them by, wake up and smell the stink of their lives …“, sang Mr E in sein Ohr. Er schmunzelte. Draußen verfärbte sich der Himmel langsam zu einem helleren Blaugrau. Er rauchte aus dem Fenster, auch auf die Gefahr hin, dass seine Mutter zu Hause war und es bemerken könnte. Dann saß er längere Zeit vor einem leeren Stück Papier, einen Bleistift in der Hand, den er zwischen Daumen und Zeigefinger hin- und herrollte, während er nachdachte. Schließlich schrieb er. „Nicht wegen Lukas. Und auch nicht wegen der Schule. 186 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Auch nicht wegen dir, Papa. Ich pack’s nur einfach nicht hier. Es ist besser so.“ Klang nicht so heroisch, wie er sich das insgeheim immer vorgestellt hatte. Aber er fand, dass es keinen Sinn hatte, jetzt noch groß an seinem Ausdruck zu feilen. Es gab ohnehin nichts, was er hinterließ. Nichts, worauf er besonders stolz war. Aber immerhin auch noch nichts, das man ihm ernsthaft zur Last legen konnte. Und er wollte dafür sorgen, dass es so blieb.

Adrian saß auf dem Dachfirst und rauchte. Der Wind zerrte an seinem Haar und er sah nach unten. Das Spiel mit der Gefahr. So oft hatte er es gespielt und gewonnen. Anscheinend war es Zeit zu verlieren. Eine Formsache. Der Schlusspunkt. Die logische Konsequenz. Er kramte in seiner Jackentasche. Drei Pillen hatte er noch, mehr waren nicht mehr da gewesen. Er rauchte seine Kippe zu Ende und drückte sie aus. „Eine letzte Zigarette“, dachte er, „wie melodramatisch.“ Dann schluckte er alle drei auf einmal. Ob sie ihm genug halfen? Er stand auf und kletterte auf die Dachkante. Die Welt unter ihm schwankte leicht. Er atmete ein paar Mal tief ein. „Okay, that’s it. Wenigstens gibt’s ne ordentliche Sauerei.“ Er vergewisserte sich, dass unten niemand entlangging. Dann dachte er an sie. Bescheuert. Er wollte nicht, dass seine letzten Gedanken zu ihr wanderten – und zu all dem, was er gern noch getan hätte. Zum Beispiel ausprobiert, wie ihre 187 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Lippen sich an den seinen anfühlten. Oder ihr Haar angefasst. Wenigstens konnte keiner seine letzten Gedanken wissen. Zum Glück gab es keinen eingebauten inneren Flugschreiber, der das einer beschissenen Nachwelt verriet. „Mach schon!“, befahl er sich.

„Nein, das machst du mal lieber nicht.“ Benn zog ihn mit einem gewaltigen Ruck an den Schultern von der Dachkante fort und hielt ihn fest. Genau zum richtigen Zeitpunkt hatte er wieder die Kraft bekommen, sich zu sammeln und hier im Mezzanin in seiner menschlichen Gestalt aufzutauchen. Adrian lag auf dem Rücken und versuchte halbherzig, sich aus dem Griff, der ihn stahlhart zu Boden drückte, zu befreien. „Kannst du mir einen guten Grund nennen, warum nicht?“ Seine Augen waren glasig. „Für die Gründe bin ich nicht verantwortlich. Ich weiß nur, dass du im Augenblick nicht ganz zurechnungsfähig bist. Du würdest dich später ewig darüber ärgern.“ „Ach ja?“ Adrian schnaubte verächtlich. „Ich dachte, das mit dem Ärgern und zurechnungsfähig sein und dem Anstrengen hätte dann ein Ende.“ Benn schüttelte den Kopf. „Es würde dir nicht gefallen. Glaub mir. Nicht so.“ „Woher willst du das wissen?“ Adrian klang auf einmal sehr schwach und müde. Das Tavor schien ihn langsam lahmzulegen. „Ich kenne beide Seiten. Ich habe gesehen, was du nicht 188 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


gesehen hast – das Dunkel … Und ich sehe, wie er an dir zerrt. Er will dich. Aber mein Meister … Er will dich auch. Dein Leben war sein Geschenk.“ „Ein Geschenk kann man zurückgeben …“, murmelte Adrian. Der Wind strich eisig über das Dach und ließ ihn bis in sein Innerstes erschauern. „Oder wenigstens umtauschen.“ Jetzt wanderte ein Lächeln über Bens glattes Gesicht. „Siehst du … eigentlich willst du den Tod gar nicht. Du willst nur ein anderes Leben. Du bist nicht mit dem zufrieden, was du hast“, stellte er voller Genugtuung fest. Eine Weile lag Adrian ganz still. Wenn es anders wäre – würde er dann noch gehen wollen? „Aber, es wird nicht anders. Wie denn auch?“ „Doch“, sagte Benn und nahm seine Hände von Adrians Schultern. „Dazu bin ich ja da.“ Benn wusste, er war nicht durch dieses beißende Dunkel gegangen, um jetzt zu verlieren. Die Schlacht war bereits ausgetragen. „Wie meinst du das?“ Er brachte die Frage nur noch mühevoll über die Lippen. Die Bleischwere des Medikaments legte sich auf ihn und er driftete davon. Benn schüttelte ihn leicht, aber Adrians Augen waren zugefallen. Er überlegte einen Moment. Dann hob er den Jungen hoch und trug ihn bis zu der Eisentür, die zum Treppenhaus führte. „Kannst du ihn frei machen?“, fragte er seinen Meister. „Ich könnte, aber es ist besser, du bringst ihn nach Hause. Er wird in diesem Zustand länger nicht aufwachen“, gab der Meister zurück. Benn öffnete die Eisentür, nahm Adrian erneut in sei189 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


ne Arme und machte sich mit seiner Fracht auf den Weg zu Adrians Wohnung hinunter. Er klingelte. Es dauerte lange, bis sich im Inneren der Wohnung etwas regte. Die Tür wurde einen kleinen Spalt geöffnet und das verschlafene Gesicht von Cornelia Schoch lugte heraus. „Es ist halb acht am Samstagmorgen! Wenn Sie mir eine Zeitschrift andrehen wollen, dann …“ Sie stockte, als sie erkannte, dass der Fremde vor der Tür ihren Sohn festhielt. Die Tür ging etwas weiter auf. Adrians Mutter knotete ihren Bademantel enger um sich. „Was hat er angestellt? Ist er betrunken?“, fragte sie in genervtem Ton. „Das nicht, aber er hat Beruhigungsmittel geschluckt. Er wird längere Zeit nicht aufwachen. Ich würde ihn gern in sein Zimmer bringen.“ Paul tapste nun auch in den Flur und stellte sich neben sie, seine Brille auf der Nase, aber mit zerzaustem Haar. „Was ist los? Was wollen Sie?“ Cornelia Schoch schüttelte müde den Kopf und machte Platz, damit Benn hereinkommen konnte. Zielstrebig ging er in Adrians Zimmer, obwohl er zum ersten Mal in dieser Wohnung war. „Gab es da Drogen? Was hat er genommen? Waren Sie auch auf dieser Party?“, fragte sie, aus ihrer Verärgerung keinen Hehl machend. „Er war auf keiner Party. Er war auf dem Dach“, erklärte Benn höflich und schob Adrian auf dem Bett zurecht. „Auf dem Dach? Was in aller Welt macht er denn auf dem Dach?“ Benn sah die Frau mit den schwarzen kurzen Haaren und 190 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


den Ringen unter den Augen freundlich an. „Vielleicht sollten Sie ihn danach fragen, wenn er aufwacht.“ Unwillkürlich wich Frau Schoch ein Stück zurück. Paul legte ihr beruhigend seine Hand auf die linke Schulter. „Sind Sie … ein Freund von ihm?“ „Könnte man so sagen, ja. Obwohl ich nicht weiß, ob er das auch so sieht“, antwortete Benn, während er Adrians Schuhe von seinen Füßen zog. „Na, mit mir redet er ja nicht. Beruhigt mich, dass er das bei anderen auch nicht anders hält.“ Cornelia Schoch verschränkte ihre Arme vor der Brust und beobachtete Benn, wie er Adrians Docs behutsam nebeneinander auf den Boden stellte. „Was hat er denn nun genommen? Ich will wissen, ob ich ihn in die Klinik bringen muss.“ Paul schnaubte verächtlich. Anscheinend hatte er wenig Lust, an seinem freien Tag auch noch dorthin zu müssen. „Klinik wird nicht nötig sein. Es war nur das Tavor aus Ihrer Badschublade“, gab Benn mit seiner üblichen Höflichkeit zurück. „Aus meiner …?“ Paul sah sie überrascht an. „Du nimmst Tavor?“ „Nur manchmal, wenn ich Schlafstörungen habe. Ich hab Adrian bestimmt nicht gestattet, sich zu bedienen.“ Paul lachte. „Als ob er dazu eine Einladung bräuchte. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Wenn er keinen Alkohol dazu getrunken hat, ist es höchst unwahrscheinlich, dass Komplikationen auftreten. Er wird jetzt einfach nur recht lang schlafen …“ „Das weiß ich selbst“, entgegnete Adrians Mutter gereizt. 191 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Benn nickte. „Die Frage wird nur sein, was sie tun werden, wenn er aufwacht.“ Dann machte er Anstalten zu gehen und Frau Schoch machte ihm Platz. An der Wohnungstür verabschiedete sie sich von ihm. „Danke, dass Sie ihn heimgebracht haben. Wie heißen Sie eigentlich?“ „Nennen Sie mich Benn. Ich wünsche Ihnen noch einen gesegneten Tag.“ Mit diesen Worten und einem Lächeln verschwand der junge Mann im Treppenhaus. Cornelia Schoch schloss langsam die Tür. Sie musste sich einen Moment dagegenlehnen und tief durchatmen. „Ich weiß einfach nicht, was in diesem Kerl vorgeht.“ Paul versicherte ihr, alle Jugendlichen würden einmal schräge Sachen ausprobieren. Sie solle sich nicht zu viele Sorgen machen. „Sein Vater hatte auch den Hang zu solch unüberlegten Aktionen“, bemerkte sie säuerlich. „Ach, das wird schon. Er muss halt noch kapieren, dass das Leben nicht nur aus Computerspielen und Sichzudröhnen besteht. Nach dem Abi wird er sich schon noch umschauen …“, vermutete Paul. „Nach dem Abi … Gott, ich mach drei Kreuze, wenn er das packt.“ Dann beschlossen sie, da sie nun ohnehin schon wach waren, sich in einem der Cafés der Innenstadt ein Frühstück zu gönnen. Cornelia Schoch sah nicht ein, sich von den Eskapaden ihres Sohnes ihren Tagesablauf diktieren zu lassen. Sie hatte nicht vor, an seinem Bett zu wachen und Händchen zu hal192 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


ten, bis die Wirkung der Medis nachließ. Wenn er aufwachte, dann würde sie ihm eine Standpauke halten. Eine halbe Stunde später fiel die Haustür ins Schloss und Adrian war wieder allein.

Neala rührte gedankenverloren mit dem Strohhalm in den Überresten ihres Chai Latte. Ihr gegenüber saß Cat, die gerade ihren Cappuccino beendete. Nach dem Gottesdienst hatten sie beschlossen, sich noch in ihr Lieblingscafé in der Innenstadt zu setzen und dort ein bisschen zu chillen. Neala gingen noch ein paar Sätze der Predigt durch den Kopf. „Ich weiß auch nicht“, sagte sie schließlich zu Cat, „irgendwie musste ich an Adrian denken.“ „Wegen Michas Thema?“ Sie nickte. „Ich meine, ich hab schon hundert Mal gehört, dass ich hier einen bestimmten Platz ausfüllen soll. Dass mein Leben etwas bedeutet, dass ich nicht zufällig hier auf der Welt bin … aber …“ „Was?“, fragte Cat. „Ich meine, ich weiß doch genauso wenig, was es ist, das ich tun soll. Jedenfalls noch nicht …“ Cat grinste. „Zu blöd, dass es nicht in einem Brief vom Himmel geflattert kommt, was? So viele Freiheiten, so viele Wahlmöglichkeiten – echt fies eingefädelt von Gott. Und dann immer nur diese subtilen Hinweise …“ Neala lachte. „Ja, reib es mir nur wieder unter die Nase, dass ich es gerne bequem hätte und alle Antworten auf einmal wissen will.“ Dann wurde sie aber wieder ernst und fuhr 193 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


fort: „Ich versteh auch nicht, warum Tobi schon fertig war, ich meine, mit seinem Platz hier. Und dann denk ich wieder: Klar, ich glaub ja an Gott und deswegen an einen Sinn in dem Ganzen, auch wenn ich ihn nicht sehe, aber Adrian …“ „Ja, ich verstehe was du meinst“, nickte Cat zustimmend. „Ihm hat vielleicht nie jemand gesagt, dass es einen Grund gibt, warum er lebt.“ „So wie Micha es heute gesagt hat: Das Leben fordert deine Existenz – was ist es, was von dir allein getan werden muss?“, erinnerte sich Neala laut. Sie sah aus dem Fenster. Es waren nur wenige Leute in der Stadt, denn dies war kein goldener Herbsttag mit raschelnden Blättern. Es war regnerisch und trüb, die toten Blätter lagen matschig auf dem Kopfsteinpflaster oder im Rinnstein. Und da am Sonntag die Läden geschlossen hatten, gab es wenig Grund, sich draußen herumzutreiben. „Ein Tag für ein gutes Buch und eine Kanne Tee gemütlich im Bett“, dachte Neala. „Meinst du, es wäre an dir, es ihm zu sagen?“ Verwirrt blickte Neala ihre Freundin an. „Häh?“ „Na ja, ich meine Adrian. Er ist ausgetickt am Freitag. Du weißt eigentlich gar nicht, ob du überhaupt etwas mit ihm zu tun haben willst … und trotzdem. Hier sitzt du und grübelst. Meinst du, Gott möchte, dass du ihm sagst, dass er auch noch was anderes kann, als sich zu prügeln?“ „Wieso ausgerechnet ich?“ Cat zuckte mit den Achseln. „Warum nicht du? Glaubst du, nur Tobi konnte mit Leuten umgehen?“ „Meine Stärke ist es jedenfalls nicht“, gab Neala patzig zurück. „Im Prinzip, könntest du ebenso mit ihm reden. Oder Tom …“ 194 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Du bist in seiner Klasse. Du siehst ihn jeden Tag. Und er scheint dich zu mögen“, listete Cat mit einem schelmischen Lächeln auf. „Du bist blöd“, brummte Neala und schob die Plastikverpackung, in der sich einer dieser kleinen Kekse befunden hatte, die man in Cafés zum Getränk serviert bekam, wie ein Schiffchen über die hellblaue Tischdecke. „Komm schon, Neala. Du scheinst mit ihm klarzukommen – jedenfalls mehr als alle anderen bisher. Was meinst du, wie’s ihm jetzt geht? Wahrscheinlich ist es ihm ziemlich peinlich und er weiß morgen nicht mal, wie er dir in die Augen schauen soll.“ Neala ließ ihr Schiffchen zurück zu ihrem Glas fahren. „Ach was, wir sitzen hier und zerbrechen uns den Kopf … und ihm ist es wahrscheinlich total egal. Solange Lukas ihn nicht anzeigt, was er ja nicht vorhat, kann es ihm das ja auch sein.“ Nun schüttelte Cat energisch den Kopf. „Hast du Adrians Gesicht gesehen? Er mag ja ausgerastet sein, aber egal war ihm das nicht. Er sah elend aus.“ Neala wollte nicht an diesen Abend zurückdenken, deswegen wechselte sie das Thema. „Findest du das mit dem Anbetungsabend eine gute Idee?“ Cat zog ihre Augenbrauen hoch, um ihr zu zeigen, dass sie das Ablenkungsmanöver wohl bemerkte, aber sie beschloss, Neala nicht länger zu nerven. Sie wusste, dass ihre Freundin oft erst über etwas nachdenken musste, bevor sie bereit war, es in die Tat umzusetzen. So wie fast jeder Mensch.

195 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Nicht wegen Lukas. Und auch nicht wegen der Schule. Auch nicht wegen dir, Papa. Ich pack’s nur einfach nicht hier. Es ist besser so.“ Cornelia Schoch betrachtete den Zettel in ihrer Hand. Sie hatte ihn schon mehrmals gelesen, konnte sich aber nicht recht einen Reim darauf machen. Sie weigerte sich zu glauben, dass Adrian wirklich ernst gemacht hätte. Er hatte es ja auch nicht. Er lebte, lag in seinem Bett und atmete. Sie hatte seinen Puls kontrolliert. Bald musste er aufwachen. Sie schüttelte den Kopf. Paul hatte sie nach Hause geschickt. Er war es gewesen, der den Zettel auf dem Küchentisch zuerst entdeckt hatte. Nachmittags, als sie nach ihrer gemeinsamen Einkaufstour zurück in die Wohnung kamen. Sie hatte kurz nach Adrian gesehen, der sich immer noch in seinem selbst gewählten Zustand der Betäubung befand, dann war sie in die Küche gekommen, um etwas zu trinken. „Schau mal, ist das Adrians Schrift?“ Sie hatte sich über die Notiz gebeugt und dann genickt. Allerdings hatte sie den Worten keine Bedeutung beigemessen. Sie schienen an seinen Vater gerichtet zu sein und von dem hatte sie selbst seit fast sechs Jahren nichts mehr gehört. War Adrian davon ausgegangen, dass sie ihm diese Nachricht hätte geben können? Sie wusste nicht einmal eine Telefonnummer. Ihr war es zu anstrengend gewesen mit seinen Aufenthaltsorten Schritt zu halten. Die Briefe mit den Scheidungsunterlagen hatte er noch unterschrieben und zurückgesandt. Da sie wusste, dass er ohnehin kein Geld hatte, war sie ihm nicht mit Unterhaltszahlungen auf den Pelz gerückt. Im Gegenzug hatte er dafür auf das Sorgerecht komplett verzichtet. So war der Deal. 196 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Ob er mittlerweile zu Geld gekommen war, wusste sie nicht. Aber sie wollte keinen Cent von ihm. Sie hatte es immer allein geschafft. Sie war wohl in der Lage, für sich und ihren Sohn zu sorgen, Abhängigkeit war ihr zuwider. Und dem Jungen hatte es an nichts gefehlt! Natürlich konnte sie ihm nicht den Vater ersetzen, das war klar. Paul konnte er nicht leiden, auch gut. Er musste halt lernen, dass man im Leben nicht immer alles bekam, was man wollte. Man musste sich mit den gegebenen Umständen abfinden. Auch sie hatte diese Lektion schmerzlich gelernt. Warum gelang es ihr nicht, Adrian das klarzumachen? Sie war es leid, tauben Ohren zu predigen. „Fast alle Teenager haben Selbstmordgedanken. Mach dir keine Sorgen“, sagte Paul. Sie hatte am Tisch Platz genommen und starrte den Zettel an. „Entschuldige, was hast du gesagt?“ Paul setzte sich ihr gegenüber. „Du solltest das nicht überbewerten … Ich meine, natürlich macht er eine schwierige Phase durch, aber …“ „Ich soll das nicht überbewerten? Bist du Psychologe? Ich glaube, von einer schwierigen Phase kann man bei Adrian nicht mehr sprechen …“, brauste sie plötzlich auf. Aber ihre Wut war mehr auf sich selbst gerichtet als auf Paul, und das wusste sie auch. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass sie versagt hatte. Nicht nach allem, was sie die letzten Jahre geleistet hatte. Auf ihre Bitte hin war Paul gegangen. Sie musste mit Adrian allein sein. Wie es regnete! Heute war bereits ein Hauch des nahen Winters in der Luft gewesen. Es war eisig draußen. Die letz197 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


ten sonnigen Herbsttage waren wohl vorbei. Sie langte nach dem Henkel ihres Kaffeebechers und nahm einen vorsichtigen Schluck, während sie gedankenverloren durch das Küchenfenster nach draußen starrte.

Langsam kehrte er zurück aus dem Watteraum. Sein rechter Arm tat weh, vermutlich hatte er längere Zeit darauf gelegen. Schlimmer noch war sein Mund, der völlig ausgetrocknet war. Vom Gehirn kam der Befehl, sich aufzurichten und eine Wasserflasche zu suchen, um diesem Zustand ein Ende zu setzen, aber sein Körper kam noch nicht hinterher. Mit Mühe brachte er schließlich seine Augen auf. Es war zu hell im Zimmer, obwohl von draußen nur trübes Herbstlicht hereinkam. Es dauerte eine ganze Weile, bis Adrian überhaupt klar wurde, wo er sich befand. „Ich bin nicht gesprungen“, stellte er fest. „Ich bin immer noch hier und alles ist wie vorher.“ Er wusste nicht, ob dieser Gedanke ihn glücklich oder traurig stimmen sollte. Aber das war vielleicht schon ein Fortschritt. Er war doch auf dem Dach gewesen. Und dann war plötzlich wieder dieser Benn aufgetaucht. Dieser verrückte Benn. Der hatte ihm etwas gesagt über das Leben … ein Geschenk … Adrian schnaubte. Ein Geschenk ohne Umtauschgarantie. Was bedeutete es nun, dass er sich in seinem Bett befand? Wie spät war es überhaupt und wie lange hatte er geschlafen? In schildkrötenartigem Tempo schob er seine Bettdecke von sich, setzte die Füße auf den Boden und stand auf. 198 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Der schwarze Wecker auf seinem Bettkasten, der zwischen Büchern und DVD-Hüllen stand, beantwortete ihm eine seiner Fragen. Elf Uhr. Hatte er jemals schon einen solchen Durst gehabt? Er suchte den kürzesten Weg zur nächsten Wasserquelle, stieß die Badtür gegenüber von seinem Zimmer auf, drehte eilig am Wasserhahn und hielt seinen Kopf unter den kalten Strahl. Zuerst verschluckte er sich und musste husten, aber seine trockene Kehle forderte mehr. So zwang er sich, konzentrierter zu schlucken. Er bemerkte nicht, dass er Gesellschaft bekam. Das Wasser half nicht nur gegen seinen Durst, sondern machte ihn zudem richtig wach. Es rann über sein Gesicht, dann weiter an Hals und Brust hinunter und verursachte ihm eine Gänsehaut. Als er schließlich genug getrunken hatte, richtete er sich auf und ließ das Wasser über seine Hände laufen. Da sah er ihre Reflexion im Badspiegel. Er hielt in seiner Bewegung inne und wartete. Bestimmt hatte sie etwas zu sagen. Sie würde mal wieder ihre Leier abspulen – warum brüllte sie nicht schon und brachte es hinter sich? Ihr Schweigen verunsicherte ihn. Er hasste es, wenn sie nichts sagte. War es nicht besser, wenn sie ihn anbrüllte? Dann wusste er wenigstens, dass sie noch da war. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und drehte energisch den Hahn zu. „Is’ was?“, fragte er aggressiv. „Ich habe gehört, wie du gehustet hast. Da wollte ich mich davon überzeugen, dass du endlich wach bist“, sagte sie. Komischerweise machte ihn ihre Antwort gar nicht wü199 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


tend. Es klang fast, als habe sie sich Sorgen um ihn gemacht. „War’s so lang?“ Sie nickte. „Es gibt einen Grund, warum man Beruhigungsmittel nicht einfach so einnimmt. Aber was erzähl ich dir das …“ Seine Mutter strich sich durch ihr kurzes Haar. Sie sah plötzlich viel älter aus. Sie trug auch nur eine bequeme Jogginghose und einen warmen langen Wollpullover. So sah er sie selten. Wahrscheinlich war Paul nicht da. Dieser Gedanke rang ihm ein kleines Lächeln ab. „Das ist nicht lustig.“ Nun verschränkte sie die Arme vor der Brust und warf ihm einen scharfen Blick zu. So kannte er sie. Das war schon besser. Es stimmte ihn milde. „Ich weiß. Ich hab nicht deswegen gegrinst.“ „Möchtest du Frühstück?“, fragte sie. Adrians Überraschung war groß und wahrscheinlich an seinem Gesicht abzulesen. Deshalb fuhr seine Mutter wohl auch erklärend fort: „Ich würde mich gern ein bisschen mit dir hinsetzen. Und wenn man über vierundzwanzig Stunden lang ruhig gestellt war, hat man vielleicht Hunger. Lass uns doch in die Küche gehen.“ Er musste zugeben, dass er wirklich großen Hunger hatte. So wie er war, in seinen alten Jeans und dem Pulli, den er gestern auf dem Dach getragen hatte, folgte er ihr. Er setzte sich an den Tisch unter dem Fenster, ihr gegenüber, da, wo ihr blauer Kaffeebecher stand. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt gemeinsam an diesem Tisch gesessen hatten. Sie schenkte ihm Kaffee ein und gab ihm aufgebackene Brötchen, schob ihm das Nutella zu, weil sie wusste, dass er 200 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


verrückt nach dem Zeug war, dann nahm sie aus dem Küchenschrank eine neue Milchpackung und reichte sie ihm, damit er seinen Kaffee aufhellen konnte. Adrian war so verwirrt, dass er vergaß, dass er seinen Kaffee sonst immer schwarz trank, und goss mechanisch etwas Milch in sein Gebräu. Sie setzte sich wieder ihm gegenüber und sah ihn versonnen an. Adrian war das unangenehm. Es war dieser Mutterblick, dieser Versuch, seine Gedanken zu lesen. Er schaute auf seinen Teller und begann sich sein Brötchen zu schmieren. Es dauerte viel länger als gewöhnlich. „Weißt du noch, wie du nach Hause gekommen bist?“, fragte sie schließlich. Er schüttelte den Kopf. „Dein Freund hat dich gebracht. Benn. Du hast ihn noch nie erwähnt, aber das wundert mich auch nicht …“ Klar, Benn, wer sonst? Adrian wusste darauf nichts zu erwidern. „Ist er in deiner Klasse?“ Er schüttelte den Kopf. „Nee, der ist doch viel älter …“ Nicht gerade die logischste aller Antworten, denn Benn sah nicht besonders alt aus. Aber instinktiv wusste Adrian, dass er recht hatte, mit dem was er gerade gesagt hatte. „Woher kennst du ihn dann?“, wollte seine Mutter wissen. Adrian seufzte. Er hatte sich ja schon innerlich auf eine Standpauke eingestellt, aber diese Fragerei davor musste doch wohl nicht sein? „Keine Ahnung. Haben uns einfach getroffen. Freund is’ vielleicht auch nicht ganz das passende Wort. Man kennt sich halt vom Sehen.“ 201 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Innerlich spürte Adrian, dass er nun unehrlich war. Wenn jemand einen von der Dachkante holte, war es wohl mehr als dass man sich nur „vom Sehen kannte“. Seltsamerweise glaubte er plötzlich selbst, dass Benn sein Freund war. Oder vielleicht nicht unbedingt Freund, sondern eher so etwas wie ein … Hüter? Wo kam das jetzt auf einmal her? Adrian hätte gern den Kopf geschüttelt, um diesen Gedanken loszuwerden. Aber er wollte seiner Mutter nicht noch mehr Anlass zum Nachfragen geben. Hätte seine Mutter ihn nicht auch gesehen, dann wäre Adrian auf die Idee gekommen, dass das alles gestern Morgen gar nicht passiert wäre. Er war gar nicht auf dem Dach gewesen. Er hatte nicht ernst machen wollen. Es schien so unwirklich – hier in der Gegenwart seiner Mutter und mit dem Nutella-Geschmack im Mund. „Warum warst du auf dem Dach?“ Hatte er sich gerade verhört oder hatte die Stimme seiner Mutter bei der Frage leicht gezittert? „Ich war nicht …“, setzte er an, aber sie hob ihre Hand, als wolle sie ihm ein Stoppsignal geben. „Können wir uns darauf einigen, dass ich nicht ganz bescheuert bin?“ Adrian nickte stumm. „Also?“ Nun war ihre Stimme eindringlich und fordernd. Das war die Mutter, wie er sie kannte. Mit ihrer „Was-hastdu-angestellt?“-Stimme. Und er fühlte sich wieder als Elfjähriger, schüchtern zu Boden starrend und verschämt vor sich hinmurmelnd. „Das hat gar nichts zu sagen. Ich … wollte nur mal runtersehen. Ich meine, der Ausblick ist …“ 202 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Adrian! Willst du mich für dumm verkaufen?“ Er sah auf. Was war das in ihrem Gesicht? Entglitt ihr etwa die Kontrolle über irgendeinen Teil ihres ach-so-perfekten Lebens? Adrian musste zugeben, dass ihm das gefiel. Sie langte hinter sich auf die Anrichte und knallte ihm den Zettel, den er gestern Morgen von ihrem Notizblock gerissen hatte, vor die Nase. „Was in aller Welt hattest du da vor?“ Dabei wurde sie richtig laut. Ihm fiel keine Antwort ein. Er wusste einfach nicht, was er dazu sagen sollte. „Ich wollte springen“, dachte er. „Was sonst?“ Aber sag das mal deiner Mutter eiskalt ins Gesicht. „I hate myself and want to die.“ Das hatte der Cobain gesagt. Aber bestimmt nicht zu seiner Mutter. Es war ihm ein Rätsel. Anscheinend liebte sie ihn, weil sie ihn schließlich auf die Welt gebracht hatte, und all dieses Mutterzeug eben. Aber andererseits schien er ihr meistens nur auf die Nerven zu gehen. Weil er nicht so war, wie sie ihn haben wollte. Weil er einem Vater ähnlich war, den er nicht wirklich kannte und den sie vergessen wollte. Er zuckte die Schultern. „Steht da doch. Dachte, es ist besser so.“ „Verdammt noch mal, Adrian! Und was denkst du heute? Denkst du immer noch, es ist besser so? Und morgen, was fällt dir da ein?“ Er hatte keine Ahnung. Das war die reine Wahrheit. Es fühlte sich so an, als sei die Niete noch mal in die Lostrommel zurückgelegt worden. Nun wurde die Lostrommel gedreht und alles wirbelte durcheinander. Wenn er erneut zog, was würde ihn dann erwarten? 203 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Ich … ich weiß es nicht. Tut mir leid, aber ich hab keine Ahnung.“ Adrian sah ihr in die Augen. Er saß auf seinem Stuhl wie angewachsen. Seine Mutter stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch, faltete ihre Hände vor Mund und Nase. Sie atmete ein und aus, als sei das eine Sauerstoffmaske. Schließlich hob sie ihren Kopf wieder und ihre Fingerspitzen berührten nun das Kinn. „Ich versteh es nicht, Adrian … warum du glaubst, alles wegschmeißen zu müssen, was dir unverdient zu Füßen liegt. Die Schule, Freunde, dein Leben …“ Adrian schnaubte verächtlich. „Welche Freunde? Von was für einem Leben sprichst du, bitte? Und die Schule … Verdammter Scheißort, wo sie dir einbläuen, wie du zu denken hast, um in dieser Scheißgesellschaft zu funktionieren. Aber ich funktioniere nicht.“ Er beugte sich vor und stemmte dabei seine Unterarme auf die Tischplatte. „Defekt. Willst du mich an den Absender zurückschicken? Oder vielleicht an meinen Versagervater, von dem ich nichts weiß, außer dass er ein Vollidiot war?“ „Das habe ich nie gesagt“, gab sie scharf zurück. Adrian lachte auf und lehnte sich zurück. „O doch, das hast du. Glaubst du etwa, ich bin bescheuert? Du magst mich ja für nicht ganz helle halten, aber so verblödet haben mich meine Computerspiele nun auch nicht.“ „Ist es also das, um was es hier geht? Um deinen Vater? Ist das so was wie eine späte Rebellionsphase, oder wie?“ „O ja, such eine Schublade, in die du es einsortieren kannst. Denn wenn es einfach keinen Grund gäbe oder nicht erklärbar wäre, dann müsste man sich ja wirklich Sorgen machen, nicht wahr?“, entgegnete Adrian sarkastisch. 204 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Adrian, ich will, dass du professionelle Hilfe in Anspruch nimmst.“ Fordernd sah sie ihn an. „Sicher willst du das. Dann kann dir irgendein Doc bescheinigen, was mit deinem verfehlten Sohn nicht stimmt. Aber vielleicht hab ich keine Lust, mich kategorisieren zu lassen. Oder meinst du, sie verschreiben mir ein paar von diesen Happy-Pillen? Die dir langsam die Birne weich kochen, deine Libido zum Abkacken bringen und deinen Körper in so ’ne Art Giftdepot verwandeln? Ich hab keine Lust, meine lausige Existenz an so ’nem Scheiß festzumachen. Da nehm ich lieber Tavor und das Land der Träume oder vielleicht den schnellen Ausstieg. Mir ist es egal, ob ich mit ein paar Psychodrugs vielleicht noch in dieser Gesellschaft zum Funktionieren gebracht werden kann, weil es mir nämlich am Arsch vorbeigeht.“ Er stand auf und schickte sich an, die Küche zu verlassen. „Du weißt ganz genau, dass es mir nicht darum geht, dich mit Medikamenten vollzustopfen. Was denkst du denn, wer ich bin? Ich will, dass du glücklich wirst. Dass du endlich siehst, was du alles hast. Wie gut es dir geht!“ Jetzt war seine Mutter aufgesprungen und hielt ihn am Arm fest, ihre Finger krallten sich richtig in seinen Oberarm. „Ich will nicht, dass mein Sohn sich sang- und klanglos davonmacht, und ich habe nichts getan, um ihm zu helfen! Aber ich weiß nicht, wie – sag mir, wie! Und wenn ich dir noch das kleinste bisschen bedeute, dann versprich mir – hörst du, versprich mir! –, dass du nicht auf irgendwelche Dächer steigst und …“ Nun brach ihre Stimme. Adrian sah in das Gesicht seiner Mutter, das zu einer verlaufenen Grimasse wurde. Sie weinte doch nicht etwa? Er 205 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals weinen gesehen zu haben. Er schluckte. Sie hatte nichts davon gesagt, ihn zwangseinweisen zu lassen. Sie hätte das durchdrücken können, mit dem blöden Zettel hatte er ihr das Handwerkszeug dafür geliefert. Sie schien einfach nur hören zu wollen, dass er seinem Leben nicht ein Ende setzen würde. Aber konnte er ihr das versprechen? Er dachte an Benn. Was hatte der gesagt? Du willst nur ein anderes Leben. Gab es diese Chance noch? Konnte sich jemals etwas ändern, das schon so festgefahren war? Konnte er das von seiner Mutter erwarten? Nein, er musste aufhören, von ihr zu erwarten, dass sich etwas ändern würde. Die platte Weisheit, dass man mit Veränderung nur bei sich selbst beginnen konnte, kam ihm in den Kopf. Er hatte allerdings keine Ahnung wie. Dennoch, seine Mutter ließ ihn nicht kalt. „Es tut mir leid. Ehrlich. Aber ich weiß auch noch nicht, wie sich was ändern soll. Trotzdem versprech ich dir, dass ich’s versuche. Bitte, schick mich nicht in ’ne Klinik oder so“, bat er eindringlich. Sie ließ seinen Arm los. Dann nickte sie und strich ihm kurz über die Wange. Eine ungewohnte Berührung. Adrian war einen halben Kopf größer als sie. Jetzt, wo sie so nah vor ihm stand, merkte er, dass sie zerbrechlich wirkte. „Du bist doch mein einziger Junge“, sagte sie plötzlich. Dann trat sie einen Schritt zurück und lächelte. Er nickte verwirrt. Was das bedeutete, war ihm nicht recht klar. Er wusste nur, dass er im Moment nicht wütend auf sie sein konnte. Und dass er sie auch nicht mehr mit seinem Ableben schockieren wollte. Sie war immer noch seine Mutter. 206 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Es schien ihr wirklich etwas auszumachen. Und in diesem Moment wurde ihm klar, dass er froh war. Froh, am Leben zu sein. Und froh, dass Benn ihn zurückgerissen hatte. Er musste dringend mit ihm reden. Aber er hatte keine Ahnung, wie er Kontakt zu ihm aufnehmen konnte. Wo er sich herumtrieb oder wohnte.

Benn betrachtete mit großer Freude die beiden Seelen in dem sonst so trübe wirkenden Ambiente. Adrians Blau war ein klein wenig heller geworden. Und der rote Riss in der Mitte war nun rostbraun. Wie der Schorf auf einer Wunde. Nicht verheilt. Sollte jemand daran kratzen, würde wieder das Rot darunter zum Vorschein kommen. Aber immerhin, auf dem Weg der Heilung. Zum ersten Mal freute er sich darauf, wieder in sein menschliches Erscheinungsbild zurückzukehren, um sich mit Adrian zu unterhalten. „Was denkst du Meister? Wird es ein gutes Gespräch?“ Der Meister schien zu schmunzeln, als er ihm antwortete: „Das verrate ich dir nicht.“

Adrian starrte auf den schwarzen Computerbildschirm. Seine Haare waren noch nass, er hatte geduscht, was seine Mutter als ein positives Zeichen wertete. Nun saß er untätig am Schreibtisch. Es lief keine Musik, der Computer war aus 207 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


und auch seine Spielkonsole leuchtete auf Stand-by. Es war still. Vor wenigen Augenblicken hatte seine Mutter den Kopf zur Tür hereingesteckt. „Ich muss jetzt zum Dienst.“ Sie hatte unsicher geklungen, hatte ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, zu Hause zu bleiben. Das war das letzte Mal der Fall gewesen, als Adrian mit dreizehn eine Lungenentzündung hatte. „Mach dir keine Sorgen. Echt. Ich bau keinen Scheiß“, versuchte er sie zu beruhigen. Sie zögerte. „Ruf mich an, wenn was ist, ja? Egal was.“ Er nickte. „Klar.“ Sie hatte ihn angelächelt. Es sollte wohl ermutigend wirken, machte auf Adrian aber eher einen hilflosen Eindruck. „So hilflos wie ich“, dachte Adrian. „Irgendwie sind wir doch alle gleich.“ Langsamer als gewöhnlich entfernten sich ihre Schritte. Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Nun saß Adrian in der Stille und dachte nach. Dies war so ungefähr das verrückteste Wochenende seines ganzen Lebens. Er hatte es nicht getan. Er war nicht gesprungen. Er hatte nur geschlafen. Und jetzt schien es ihm, als sei er zum ersten Mal wirklich aufgewacht. Aber die Welt, die sich ihm bot, schien immer noch dunkel und bedrohlich. Er stand am Rand und überlegte, ob er sich wirklich hinauswagen sollte. Ob es einen Sinn machte oder ob es nicht schon viel zu spät dazu war. Ob wieder ein Lukas Bauer kommen würde mit ein paar idiotischen Kumpels, um ihn zurückzudrängen. Er zog seine Knie an und setzte seine Füße auf den Schreibtischstuhl, sodass er den Boden nicht mehr berührte. 208 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Dann stieß er sich mit einer Hand von der Schreibtischkante ab und brachte den Drehstuhl zum Wirbeln. Immer schneller. Er schloss die Augen und wartete, bis der Stuhl langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Da klingelte das Telefon. Schrill zerriss es die Stille. Adrian fand sein Gleichgewicht nicht so rasch wieder und stieß sich beim Verlassen des Zimmers gehörig den Fuß an. Das Telefon war nicht auf der Ladestation und auch nicht in der Küche. Endlich fand er es auf dem Nachttisch seiner Mutter. Als er sich atemlos meldete, vermutete er schon fast, dass er nur noch das leere Tuten hören würde, weil am anderen Ende bereits aufgelegt worden war. Doch alles blieb still. „Hallo?“, fragte Adrian noch einmal nach. „Wahrscheinlich verarscht mich jemand“, dachte er. „Hi. Hier ist Neala.“ Adrian musste sich setzen, so überrascht war er. „Hi“, murmelte er schüchtern. Das konnte nichts Gutes bedeuten … „Ja, ähm, also … Ich wollte …“ Neala war froh, dass Adrian nicht ihre Gedanken lesen konnte, denn innerlich verwünschte sie sich gerade. „Verflixt noch mal, warum rufe ich an?“ Plötzlich sprachen sie beide gleichzeitig, ohne das Gesagte des anderen zu verstehen. „Du zuerst“, meinte Adrian dann und verstummte. „Sorry“, sagte Neala. „Also, ich weiß auch nicht. Ehrlich gesagt, ich … Ich hatte keine Lust anzurufen und dir auf die Nerven zu gehen, aber mir lässt das vom Freitag einfach keine Ruhe … Bitte, werd jetzt nicht sauer, aber ich wollte fragen, was da los war.“ 209 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Für einen kurzen Moment wünschte Adrian, er wäre doch gesprungen. Ihm wurde heiß, aber er schob diesen zynischen Gedanken rasch von sich. „Ich, also … Das war so ungefähr der beschissenste Abend meines Lebens“, beeilte er sich zu sagen, aus Angst, sie würde ihm gleich um die Ohren knallen, wie Scheiße sie ihn doch fand. Allerdings fiel ihm gleich auf, dass die Wortwahl auch nicht besonders intelligent gewesen war. Komischerweise fuhr sie ihn nicht an. Ihre Reaktion erstaunte ihn noch mehr. „Es tut mir wirklich leid. Hab mir voll den Kopf zerbrochen. Ich hatte gehofft, es wäre schön für dich, mit uns abzuhängen und dann … Na ja, ist auch schwierig, am Telefon zu sagen, ich weiß. Und du musst natürlich auch nichts sagen. Ich hoffe nur, du rennst jetzt nicht mit ’nem Mordshass auf mich ’rum, weil … ganz ehrlich … Dich will ich nicht zum Feind haben.“ Sie lachte nervös auf, aber hinter dem Scherz schlummerte eine echte Angst, die Adrian nicht überhörte. Das gab ihm wieder einen Stich. „Absoluter Quatsch. Denk bloß nicht so von mir. Ich weiß, ich geb dir allen Grund zu so ’ner Annahme, aber … So bin ich nicht. Das heißt, jedenfalls will ich nicht so sein“, versuchte er ihr zu erklären. In seinen Ohren klang es jämmerlich. Sie holte Luft und er dachte, nun sei es gelaufen. Schön und gut, Sache geklärt, dann konnte man sich jetzt gepflegt aus dem Weg gehen. Neala war immerhin so anständig, noch mal mit ihm zu reden, bevor sie ihn schnitt. „Hör mal, wenn du Lust hast, mir das Ganze ein bisschen klarzumachen und vielleicht Jimminy zu besuchen … Also, ich wär den ganzen Nachmittag sowieso zu Hause.“ Adrian dachte, er habe sich verhört. 210 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


War das ernst gemeint? „Ich meine, falls du überhaupt Zeit hast …“, schickte Neala hinterher. Sie klang sehr unsicher. „Doch, doch, Zeit hab ich schon, es ist nur …“ Adrian schaffte es nicht, seinen Gedankenwirrwarr klar zu formulieren. „Du willst das nicht erklären … schon gut. Hab verstanden.“ Neala schickte sich an, das Gespräch zu beenden, und Adrian wusste sich nicht anders zu helfen als „Nein, nein, nein“ in den Hörer zu rufen. Und weil er merkte, wie dämlich das klang, fügte er eilig hinzu: „Also, ich komme. Ich steh Rede und Antwort. Willst du das echt?“ Neala grinste am anderen Ende der Leitung, was er selbstverständlich nicht sehen konnte. „Ich bin nun einmal von Natur aus neugierig.“ Adrian entspannte sich. „Vielleicht schwindle ich dir ja was vor?“ „Dazu müsstest du nicht vorbeikommen“, gab sie trocken zurück. „Stimmt.“

„Enter the life.“ Jemand hatte diesen Spruch in Giftgrün mit zerlaufenen runden Buchstaben auf die Litfaßsäule gesprüht. Es schien eine Aufforderung zu sein, die ihm persönlich galt. Der Wind trieb einen zusammengedrückten Plastikkaffeebecher vor sich her. Er klapperte über das Kopfsteinpflaster 211 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


und die Herbstblätter schienen vor ihm Reißaus zu nehmen. Es hatte aufgehört zu regnen. Adrian schlug die Kapuze von seinem alten Parka zurück. Die Autos rauschten auf der Hauptstraße vorbei und er wollte gerade die Stufen zu der Fußgängerunterführung nehmen, damit er die steile gegenüberliegende Straße, in der Neala wohnte, sicher erreichen konnte, da vernahm er die vertraute Stimme neben sich. „Na, Adrian?“ Adrian musste grinsen. „Hallo Benn. Lange nicht gesehen, was?“ „Oh, das kann ich nicht behaupten, ich sehe dich fast ständig. Du mich allerdings nicht, das muss ich zugeben“, antwortete Benn und lehnte sich lässig gegen das Geländer der Unterführung. Adrian wunderte sich nicht mehr. Er glaubte auch nicht mehr, Benn zu halluzinieren, schließlich hatte seine Mutter ihn auch gesehen. Und das Wegreißen von der Dachkante war schon ziemlich real gewesen. Benn war kein armer Irrer – unmöglich. „Was bist du?“, fragte Adrian diesmal mutig. Benn lächelte. „Ein Diener des Meisters. Und hoffentlich ein Freund.“ „Ich wäre schön blöd, wenn ich, was Freunde angeht, noch wählerisch wär. Ich hab nämlich keine“, sagte Adrian mit sarkastischem Unterton. Benn begann zu kichern. „Da wäre ich nicht so sicher. Was ist mit Neala? Zu ihr gehst du doch gerade?“ „Um was klarzustellen“, sagte Adrian schnell. „Und überhaupt, woher zum T… Ich meine, warum weißt du das schon wieder?“ 212 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Mein Meister hat es mir gesagt. Er kennt Neala gut. Und er freut sich, wenn ihr ins Gespräch kommt.“ Adrian legte die Stirn in Falten und warf Benn einen skeptischen Blick zu. „Keine Angst, ich will dich nicht lange aufhalten. Mein Ziel ist es schließlich, mich hier überflüssig zu machen. Aber du wolltest mir etwas erzählen?“ Benn setzte sich abwartend auf die oberste Treppenstufe und sah ihm ins Gesicht. Adrian zögerte, setzte sich aber schließlich neben Benn. Er fischte in seiner Jackentasche nach einer Zigarette, aber da war nichts mehr. Gestern hatte er die letzte geraucht, zu dumm. Nun hatte er nichts zum Festhalten. Er knüllte die leere Zigarettenschachtel in seinen Händen und begann zu reden. „Also, das auf dem Dach … Ich meine, das war schon … Ich glaub ich hätt’s echt gemacht. Ich hab schließlich lang genug darüber nachgedacht.“ Er zielte mit der Schachtel auf den eisernen Mülleimer, der gleich neben dem Eingang der mit Graffiti gezierten Unterführung lag, und traf tatsächlich hinein. „Ich wollte nur sagen: Danke! Du hattest recht. Ich hab mir mein Leben anders vorgestellt. Gewünscht. Nun hoff ich, es wird wirklich mal anders. Bin bereit, was dafür zu tun, wenn sich’s lohnt … Was meinst du, tut es das?“ Er sah Benn an und studierte dessen Gesicht. „Was wäre denn in deinen Augen lohnend?“, fragte dieser zurück. „Nicht schon wieder eine Gegenfrage!“ Frustriert sah Adrian in den Himmel, wo die Wolken eilig dahinsegelten. „Mein Meister würde sich freuen, wenn du es lohnend empfindest, ihn kennenzulernen.“ 213 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Wenn er dich vorbeigeschickt hat, kann er so übel nicht sein“, gab Adrian zurück. Benn schmunzelte. „Wer ist denn nun dein Meister? Du hast zwar gesagt, er hätte viele Namen, aber …“ Adrian stockte. Ihn fröstelte und das kam sicher nicht nur von der kalten Steintreppe. „Neala nennt ihn Gott oder Jesus. Das war sein Name zumindest in dieser Form hier.“ Benn deutete an sich herunter. „Und auf den hört er immer noch.“ Adrian stützte seine Ellbogen auf die Knie. „Weißt du, noch vor zwei Tagen hätte ich gesagt: Das kann alles nicht sein …“ Benn grinste. „Und heute? Du musst wissen, mein Meister legt den größten Wert auf das Heute. Seltsam, dabei spielt Zeit für ihn keine Rolle.“ Adrian sah in Benns klare Augen. Es schien, als spiegelte sich der blaugraue Himmel und die Wolken darin. „Mein Begriff von dem, was unmöglich ist, hat sich etwas auf den Kopf gestellt. Darum denke ich heute, du hast mich verdammt noch mal vom Dach gerissen. Und deshalb hat dein Meister allen Anspruch auf …“ Er schlug sich mit der Hand vor die Brust. „Falls er wirklich Interesse an so etwas wie mir hat. Das kapier ich nicht so ganz.“ „O ja, das hat er. Sehr sogar.“ Benn schaute in das Gesicht des blassen Jungen mit den hellblauen Augen. „Und es interessiert ihn sehr, wofür du leben möchtest … was deine Träume und Wünsche betrifft. Und vor allem, wie das, was er in dein Herz gepflanzt hat, wachsen und zur Entfaltung kommen kann, ich meine die Gaben, die in jedem seiner Geschöpfe schlummern.“ 214 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Gaben?“ Adrian schüttelte den Kopf. Was sollte er schon können? „Keine Angst. Du hast ein ganzes Leben Zeit herauszufinden, welche es bei dir sind.“ „Wie kommt es, dass ich diese Zeit bekomme und andere nicht?“, wollte Adrian wissen. Er dachte an Tobi und dessen frühen Tod. „Es ist nicht so sehr die Lebensspanne, die zählt. Was zählt, ist ein Leben, das Bedeutung hat. Ganz egal, wie lang oder kurz es sein mag.“ Benn stand auf. „So, ich glaube, Nah-TodErfahrungen hattest du nun genug. Ich denke, es wird Zeit für eine Nah-Leben-Erfahrung.“ Dabei schmunzelte er so verschmitzt, dass Adrian nicht umhin konnte, sich ertappt zu fühlen. Neala. „Kennst du dich aus mit Beziehungskram? Ich bin der absolute Laie“, gab Adrian zu. „Tut mir leid. Du spielst gerade auf einen der kompliziertesten Teile eurer Existenz hier im Mezzanin an. Der Einzige, der sich wirklich damit auskennt, ist der Meister. Er ist der Ursprung all jener Gefühle, die die Menschen zueinander bringen. Ein Abbild seiner Vollkommenheit.“ Benn war es wirklich ein Rätsel. Vor allem weil die Menschen sich oft gegenseitig so sehr verletzten, obwohl sie doch voneinander so abhängig waren. Adrian seufzte. „Und du hast nicht mal den kleinsten Tipp, wie ich das vom Freitag erklären soll?“ „Wie wäre es mit der Wahrheit?“ Adrian nickte schicksalsergeben. „Werd ich wohl nicht drum herumkommen.“ Auch er stand auf. „Tja dann … Seh ich dich?“ 215 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Auf die eine oder andere Art … gewiss.“ Benn legte ihm kurz seine Hand auf die Schulter. Sie schien zu glühen, trotz der kalten Temperaturen und der leichten Bekleidung des Mannes. Adrian atmete tief ein. Ihm war, als durchströme ihn plötzlich eine neue Kraft. Als könne er alles bewältigen. „Ja, du schaffst das.“ Benn sagte es mehr zu sich selbst, aber Adrian wusste, es bestätigte seine Gedanken. Sie nickten sich noch einmal zu und Adrian setzte seinen Weg fort. Am Ende der Unterführung sah er kurz zurück. Das Licht des Tunneleingangs schien Benns Silhouette zu umstrahlen wie ein greller Lichterkranz, dann war er plötzlich nicht mehr zu sehen. Adrian wischte sich über die Augen und schniefte zweimal. Er wollte nicht verheult vor Nealas Tür stehen.

Als er heute bei Familie Mahler klingelte, öffnete ihm ein Mann mit kurzen grau melierten Haaren und einer Lesebrille auf der Nase. In der einen Hand hielt er eine dicke Sonntagszeitung. Diesmal hatte er also Nealas Vater vor sich. „Adrian, richtig? Grüß dich.“ Er ging zur Seite, um ihn eintreten zu lassen. Es machte Adrian ein bisschen schüchtern, dass er anscheinend erwartet wurde. Er nickte und kniete sich dann nieder, um die Schnürsenkel seiner Docs aufzudröseln. Neala kam kurz darauf aus der Küche, beladen mit einer Teekanne und zwei Tassen, die sie an den Henkeln festhielt. Sie nickte: „Hi.“ Und an ihren Vater gewandt: „Wo steckt denn Jimminy?“ 216 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Zerfleddert die Zeitung vom letzten Wochenende.“ „Dad is’ sauer, weil sein Sportteil hinüber ist“, fügte Neala erklärend hinzu. „Oh“, war alles, was er dazu sagen konnte. Ob es doch keine so gute Idee war, Jimminy hier unterzubringen? In diesem Moment kam Nealas Mutter mit dem Kater auf dem Arm in den Flur und überreichte ihn Adrian. „Take him upstairs, will ya’?“, sagte sie zu ihrer Tochter. „Sure.“ Sie gingen nach oben in Nealas Zimmer, wo sie erst mal den Tee abstellte. „Halt ihn noch kurz fest“, bat sie Adrian. „Ich muss erst meine Projektsachen zusammenräumen.“ Auf dem Fußboden waren überall Fotos verstreut, zum Teil sehr große Schwarz-Weiß-Abzüge, die in scheinbar geordneten Gruppen lagen. Neala verstaute sie sorgfältig in ihrer Mappe. „Hast du die alle gemacht?“ Adrian kraulte den kleinen Kater und drückte ihn leicht gegen seine Schulter, damit er sich nicht davonmachte. „Mmmh. Facharbeit für Kunst“, sagte Neala. „Da muss ich aufpassen. Deshalb ist es mir lieber, Jimminy nimmt sich Dad’s Zeitung vor.“ „Was ist das denn, ein Esel?“ Adrian betrachtete fasziniert eines der Bilder zu seinen Füßen. „Ein toter Esel.“ Sie hob es auf und hielt es prüfend von sich entfernt. „Wo in aller Welt kann man so was fotografieren?“ Adrian war nicht angewidert, er war ehrlich erstaunt. „Ja, das war ein Zufall. Auf dem Hof einer Bekannten hatte 217 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


der Esel das Zeitliche gesegnet. Schau, sie haben ihm sogar einen Kranz gewunden. Aus Heu und Hafergarben.“ „Du machst ein Fotoprojekt über den Tod?“ Adrian hatte die anderen Bilder mit seinen Augen gescannt und diese Gemeinsamkeit ausmachen können. Vom kopflosen Vogel in zerrupftem Federkleid bis zum überfahrenen Igel war alles vertreten. Sogar Aufnahmen von Schlachtvieh. Er war beeindruckt. „Schau mich nicht so an, als sei ich irre, das bin ich nicht“, sagte Neala etwas ruppig. „Quatsch. Ich halte dich nicht für irre … Ich finde das sogar ziemlich … wow. Ich meine, wie kamst du da drauf?“ „In den Filmen zeigen sie dir meist ein idealisiertes Bild, friedlich und leicht, wenn du ein guter Mensch warst … hässlich und laut, wenn du ein Schurke bist … na ja. Ich wollte den Tod zeigen, wie er ist. In unserem Alltag. Ich meine: das, was man davon sehen kann. Meistens ist es nicht hübsch, weil der Tod nicht hübsch ist. Nein, das ist er nicht.“ Einen Moment stellte Adrian sich vor, wie das Foto von seinem Abgang ausgesehen hätte. Bestimmt nicht hübsch. Blut. Hirnmasse … „Du glaubst also nicht, dass der Tod friedlich ist?“ Sie zuckte die Schultern. „Ich glaube, in den meisten Fällen nicht. Das Einzige, was mich tröstet, ist, dass ich weiß, wo ich danach lande.“ Adrian fühlte sich fast versucht, ihr zu sagen, gestern hätte er noch gedacht, der Tod sei das Friedlichste, was ihn hier erwarten könne. Und danach sei endlich alles vorbei. Aber er schwieg und grübelte über das nach, was Benn vorhin alles gesagt hatte. Wie man seine Lebensspanne nutzen sollte … 218 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Kann ich mir die Bilder mal alle ansehen?“, fragte er. „Klar. Aber dann müssten wir Jimminy rausschmeißen. Vielleicht ein andermal, wenn ich mit meiner Auswahl fertig bin und die Präsentation in der Schule aufgebaut habe.“ „Gut. Bin gespannt.“ Neala verstaute ihre Mappe und setzte sich dann im Schneidersitz neben ihrem Bett an die Wand. Adrian ließ die Katze zu Boden und setzte sich ebenfalls, das Bett im Rücken. Neala schenkte Tee ein, sie fragte gar nicht erst, ob er welchen wollte. Tee oder etwas zu trinken schien für sie essenziell zu einem Gespräch dazuzugehören. Sie brauchte wohl etwas, an dem sie sich festhalten oder hinter dem sie sich verstecken konnte, falls nötig. Es war englischer Tee mit Milch und Zucker, aber Adrian mochte ihn zu seiner eigenen Überraschung. „Also, was war das mit Lukas Bauer?“, kam sie schließlich direkt zur Sache. Adrian schüttelte grinsend den Kopf. „Das willst du unbedingt wissen, was?“ Neala legte ihre Stirn in Falten. „Mich interessiert eben der Grund, warum du ihn absolut nicht leiden kannst. Ich meine, ich kenn ihn ja gar nicht wirklich. Vielleicht hab ich ihn mal mit dem Chor singen gehört, aber Connie hat noch nie ein Problem mit ihm gehabt.“ „Wenn man so cool ist wie Connie, hat man, glaub ich, nie ein Problem mit irgendjemand“, stellte Adrian trocken fest. Er meinte das durchaus ernst. Connie war eine der unkompliziertesten und offenherzigsten Personen, der er je begegnet war. Sie schien mit jedem auszukommen. „Das muss ich ihr sagen, das fasst sie sicher als Kompliment auf.“ Neala musste lächeln und schlang ihre Arme um 219 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


die Knie. „Ich will nur wissen, warum du ihn verprügeln wolltest. Ich hatte richtig Angst am Freitag. Da muss doch schon früher was passiert sein?“ Sie saß da und wartete angespannt. Adrian wusste, er kam nun nicht mehr drum herum. „Zunächst mal: Es tut mir leid. Wirklich. Ich wollte das nicht. Ich hasse es, mich nicht im Griff zu haben. Und das Letzte, was ich wollte, war dir Angst zu machen. Kannst du mir das verzeihen?“ Das klang schrecklich pathetisch in seinen Ohren. Jimminy roch an Nealas Teetasse und sie schob ihn fort. Dann zupfte sie an den grünen Stulpen, die sie über ihrer Wollstrumpfhose trug, und zog ihren knielangen bauschigen Rock zurecht, bevor sie ihn ansah. „Ich will’s dir gern verzeihen. Aber ich möchte auch verstehen, was da abging …“ „Also gut … Es ist ein paar Jahre her, siebte, achte Klasse, da meinten er und seine Kumpels, sie müssten mich ein bisschen …“ Er suchte nach einem passenden Wort, das nicht zu dramatisch klang. „… provozieren.“ Neala hob fragend eine Augenbraue. Das konnte sie gut, durchdringender Blick. „Provozieren?“ „Na ja, halt verarschen und ’rumstressen und bisschen verkloppen auf dem Schulweg und so Scherze halt“, sagte Adrian schnell und versuchte, seine Stimme weiter ganz unbeteiligt klingen zu lassen. „Ich meine, ich war ja damals nur ein halbes Hemd … woran sich bis heute nicht viel geändert hat.“ Er machte eine vielsagende Geste an seinem schlaksigen Körper herunter. 220 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Du bist gut – das klingt für mich wie Mobbing aus dem Lehrbuch.“ Neala klang ehrlich empört. Adrian winkte ab. „Ich hab mich schon zu wehren gewusst, wenn auch nicht mit Muskelkraft.“ „Und wie?“, hakte sie nach. Adrian nahm die Teetasse, die sie vor ihm auf den Boden abgestellt hatte, trank einen Schluck, um Zeit zu gewinnen, und lehnte sich dann gegen den Bettrahmen zurück. Sollte er wirklich damit herausrücken? Er hatte noch nie jemandem von dieser Aktion erzählt. „Zunächst hab ich mal unauffällig in seinen Schulranzen geschaut, mir aus dem Hausi-Heft seine komplette Adresse samt E-Mail notiert, sein Handy auf SMS gecheckt …“ Neala schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich meine, ich musste ihn halt ein bisschen ausspionieren, um eine Schwachstelle zu finden. Er hat es mir allerdings auch recht einfach gemacht … Im Handy waren die Daten der Kreditkarte seines Papas, keine Ahnung warum. Also hab ich erst mal im Internet ein bisschen für Lukas eingekauft …“ „Bitte? Du hast doch nicht etwa Schulden gemacht?“ Neala sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Nein, keine Unsummen. Nur – was ich gekauft hab, war ein bisschen gemein. Ich denke, er weiß heute noch nicht, dass ich es war. Jedenfalls kann er das nicht beweisen.“ „Was in aller Welt hast du bestellt?“ Adrian zuckte mit den Schultern. „Einschlägige Herrenliteratur und Videomaterial.“ Neala brauchte einen Moment, bis sie verstand, was er damit meinte. Dann wurde sie rot. „Das ist fies.“ 221 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Adrian sah ihr ins Gesicht und sie konnte klar erkennen, dass er auf Moralvorträge keine Lust hatte. Es war schon ein großes Ding für ihn, es ihr zu erzählen. Also schob sie rasch hinterher: „Ich hätte nicht mal gewusst, wo man so was herbekommt.“ Jetzt wirkte Adrian verlegen. „Ach, im Netz findet man ganz easy so Zeug … Aber denk jetzt nicht, ich würd mich auch mit so was eindecken. Ich bin zwar Filmfreak und nicht zimperlich, aber das ist mir zu entwürdigend. Echt.“ Schnell trank er noch etwas Tee und verschluckte sich fast. Mit ’nem Mädchen über das Ganze zu reden, machte es auch nicht gerade leichter. „Und dann? Ich meine, er hat wahrscheinlich Stress bekommen und du konntest dir still ins Fäustchen lachen. Aber im Endeffekt hat das doch nichts an deiner Situation verbessert.“ „Ja klar, ich musste mir noch was anderes einfallen lassen … Also hab ich bisschen weiter den Detektiv gemimt. Es war wie ein Spiel für mich.“ Neala schaute Adrian verblüfft an. So viel Elan hätte sie ihm in diesem Fall gar nicht zugetraut. Sah so aus, als hätte sie sich noch in einigem anderen bei ihm getäuscht. „Paul, das ist der Typ von meiner Ma, hatte sich damals gerade so’n schicken Digi-Camcorder zugelegt, relativ neu auf dem Markt. Den hab ich mir unauffällig „ausgeliehen“ und bin an den Fersen des Bauer geklebt.“ O ja, an den Ärger, den er hinterher bekommen hatte, weil er vorher nicht gefragt hatte, erinnerte er sich noch gut. Paul war stinkwütend gewesen und seine Ma hatte ihm zwei Ohrfeigen verpasst, wo sie doch sonst gegen Schlagen in der Erziehung war … 222 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Es war eigentlich ganz banal, nur ein Wochenende hat es gebraucht, um ihn bei einer kleinen inoffiziellen Saufparty mit seinen Kumpels zu filmen und ihn danach ’ne Runde mit dem Moped drehen zu sehen, wo er in einen Weidezaun fuhr. Kein großer Schaden, aber megapeinlich. Und das am helllichten Tag.“ „Wie in aller Welt konntest du das filmen, ohne dass sie dich entdeckt haben?“ „Bin ihnen ein Wochenende auf dem Fahrrad gefolgt und hab dabei ’rausgefunden, dass sie öfter da bei ’nem Schuppen ’rumhängen. Dann musste ich in der Schule nur ein bisschen die Ohren aufhalten, was ihre Gesprächsfetzen anging. An einem anderen Wochenende, wo ich vermutete, sie würden sich wieder treffen, habe ich mich vorher dort versteckt. Es gab einen Holzstapel gegenüber, perfekt mit Kameraguckloch … und die hatte ’nen guten Zoom.“ Neala war beeindruckt, obwohl sie wusste, dass sie es eigentlich nicht sein sollte. Auch wenn Lukas und seine Kumpels ihm übel mitgespielt hatten – Rache und Erpressung waren keine besonders christliche Reaktion. „Ja, und der Film?“ Sie ahnte Übles. „Ich hab ihn auf meinen Rechner gezogen und ihm eine Disc gebrannt. Die hab ich ihm persönlich übergeben – auf dem Nachhauseweg, als sie gerade wieder Bock hatten, mich anzugehen. Ich hab ihm gesagt, er soll sie sich daheim mal auf seinem Computer anschauen. Und wenn er mir weiter auf den Senkel geht, dann stell ich’s ins Netz und verbreite das Ganze großzügig.“ „Du hast es also nicht online gestellt?“ Adrian schüttelte den Kopf. „War nicht nötig. Die Dro223 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


hung hat zum Glück gereicht. Ich meine, das war ihm dann wohl doch zu peinlich. Seine Kumpels haben dichtgehalten und ich hatte Ruhe. Allerdings hat er dafür gesorgt, dass mich alle für einen absoluten Spinner halten, aber das war mir dann auch schon egal. Mit den Vollidioten in meiner Klasse wollte ich sowieso nichts zu tun haben.“ Er sah wieder auf zu ihr. „Denkst du jetzt auch, ich bin ‚creepy‘, weil ich den Bauer beschattet hab?“ Neala dachte einen Moment nach. „Nein, ich glaube nicht, dass du gruselig bist. Und du warst auch nicht völlig gemein … Ich meine, du hast den Film nicht veröffentlicht, obwohl du es leicht hättest machen können.“ „Ach was, dann hätte ich mich ja nur meiner eigenen Waffe beraubt. Ich hatte dann meine Ruhe, aber ich war trotzdem froh, als er von der Schule war. Und jetzt treff ich ihn ausgerechnet wieder, als du mich zum Billard einlädst … Kein Plan, warum ich mich so von seinen Sticheleien hab reizen lassen …“ „Nach allem, was du mir gerade erzählt hast, finde ich es stark, wie lange du ruhig geblieben bist“, war Nealas Antwort. Sein Herz schien um einige Kilo leichter zu werden und das aufgeregte Zittern in sich, das sich während seiner Schilderung in ihm aufgebaut hatte, klang ab. „Wahnsinn, das mit dem Detektivspielen und dem Film. Da hast du ganz schön Energie reingesteckt. Wie kommt’s, dass du das nicht auf die Schule übertragen kannst?“, fragte Neala. Er sah sie nur mit einem bedeutungsschweren Blick an und sie winkte ab. „Ja, schon gut, ich weiß, es ist nicht prickelnd. Aber man 224 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


muss sich doch nur eine Weile damit arrangieren, damit man später das weiterverfolgen kann, was einen interessiert.“ „Siehst du das so?“ Adrian zuckte die Schultern. „Ja.“ Neala wippte mit den Zehen. „Ich seh das so.“ Seltsamerweise konnte Adrian das so stehen lassen. Das Bedürfnis, dagegen zu argumentieren, verflüchtigte sich. Vielleicht hatte sie nicht ganz unrecht. „Das mit dem Lukas schockt mich jetzt nicht so sehr, wie ich’s erwartet hatte“, stellte sie mit Erleichterung in der Stimme fest. „Dachtest du, ich hätte vor seinem Haus Voodoorituale abgehalten und Rachegeister heraufbeschworen, oder was?“ Sie gab ihm einen unerwarteten Schubs. „Ach, sei nicht blöd“, lachte sie. Er mochte das. Und das erschreckte ihn. Wie kam es, dass er hier in ihrem Zimmer saß, sich mit ihr über Geheimnisse seiner Kindheit unterhielt und sie eigentlich erst seit so kurzer Zeit ein bisschen kannte? Kannte er sie überhaupt? Er wusste, dass er sie auf jeden Fall gern kennenlernen würde. „Was würdest du anders machen, wenn dein Bruder noch am Leben wäre?“, wollte er unvermittelt wissen. „Anders machen …“ Sie überlegte. „Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nicht viel … oder doch?“ Sie drehte wieder ihre Tasse in den Händen hin und her. „Ich denke, wahrscheinlich hätte ich dich nicht angerufen heute.“ Überrascht sah Adrian sie an. „Versteh ich nicht.“ „Na ja … Tobi, der war immer unheimlich gut mit Menschen. Wenn er noch da wäre, dann hätte ich gewartet, bis 225 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


er dich vielleicht mal anquatscht oder so“, versuchte sie zu erklären. „Warum hätte er das machen sollen? Ich kannte ihn doch nicht mal, als wir noch auf derselben Schule waren“, entgegnete Adrian irritiert. „Oh, er hätte schon mitbekommen, wenn ich zu Hause von dir erzählt hätte, und dann hätte er es versucht. So war Tobi immer. Hat versucht, Leute mit ’reinzunehmen, die …“ Jetzt stockte sie. „Die was? Die einen an der Waffel haben?“ Er sagte das sarkastisch, um sich gegen die Wahrheit dieser Worte, die gleich kommen würden, zu wappnen. „Das wollte ich nicht sagen. Ich meinte, Leute, die am Rand stehen. Die irgendwie ausgeschlossen scheinen … Würdest du dich selbst nicht dazuzählen?“ Adrian schluckte seine schmerzhafte Antwort herunter. Eigentlich hatte sie ihm schon auf der Zunge gelegen, dies sei nun mal das Los aller Psychos … Stattdessen meinte er nur: „Stimmt schon.“ „Er hätte das sicher besser geschafft als ich … vor allem letzten Freitag.“ „Was gab’s denn da zu schaffen? Ich hatte einen sitzen und hab mich provozieren lassen wie ’n Kleinkind. Was hättest du da, bitte schön, machen können? Oder sonst jemand?“ „Ich glaub, Tobi hätte sich schon früher getraut, einfach mal zu fragen, was da eigentlich los ist mit Lukas und dir. Und er hätte bestimmt Lukas den Marsch geblasen.“ Sie musste grinsen, anscheinend gefiel ihr diese Vorstellung. „He, aber dann fühl ich mich doppelt geehrt, dass du angerufen hast.“ 226 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Sie zuckte mit den Schultern. „It felt like the right thing to do.“ Manchmal fiel es ihr einfach leichter, sich Englisch auszudrücken. Und Adrian konnte das gut nachvollziehen. „Guess I owe him some.“ „Wem schuldest du was?“ „Deinem Bruder. Dafür, dass er so ein klasse Bruder war für dich.“ Nun lachte sie, aber es klang auch ein bisschen traurig. „Und warum hast du mich heute angerufen?“, bohrte Adrian weiter. „Ich sag’s dir, wenn du mich nicht anschaust, als sei ich verrückt“, gab sie zurück. „Okay.“ Adrian dachte nur, er selbst sei garantiert der Verrücktere von ihnen beiden. „Ich hatte das Gefühl, Jesus wollte, dass ich dich anrufe“, sagte sie ernst. Sie blickte dabei in ihre Tasse, als sei es ihr peinlich, und ihr kastanienbraunes Haar bildete einen Vorhang zu beiden Seiten des Gesichts. „Machst du immer, was er will?“ „Wer?“ „Jesus.“ Adrian lehnte sich gegen die Wand zurück. „Na ja, ich versuch’s. Gelingt mir mal mehr, mal weniger. Vor allem wenn es was ist, vor dem ich mich eigentlich drücken will oder Schiss hab“, gab sie zu. „So wie mich anzurufen“, stellte er fest. Sie verdrehte die Augen. „Ich mag es nicht, dass ich Cat mal wieder sagen muss, dass sie recht hatte. Weißt du, dass sie von Anfang an gemeint hat, ich solle mal auf dich zugehen? Schon am ersten Schultag, als ich ihr erzählt habe, dass du jetzt in der Klasse bist und dass ich …“ 227 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Adrian legte seine Stirn in Falten und beugte sich leicht vor, als ob er besonders aufpassen müsste, alles richtig mitzubekommen. „Dass ich irgendwie ein bisschen, na ja, eingeschüchtert von dir war. Weil du da so cool saßt mit deinem gleichgültigen Gesichtsausdruck, als ob du echt über allen Dingen stehen würdest.“ „Schön wär’s“, schnaubte Adrian. „Aber so hast du halt auf mich gewirkt.“ Neala lockte Jimminy wieder näher zu sich heran, nahm ihn auf den Schoß und schlug dann ihre Beine unter. „Und was war dann mit Cat?“ „Sie hat gesagt, ich soll für dich beten.“ Neala zog einen Flunsch. Adrians Herz klopfte plötzlich ganz schnell. Er versuchte seine nächste Frage cool zu stellen, dennoch war da ein leichtes Zittern in seiner Stimme: „Und? Hast du?“ Neala sah auf und dann stahl sich ein Lächeln über ihr Gesicht. „Rate mal.“ ***

228 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Epilog Er stand neben dem gotischen Kirchturm, den Marktplatz und die Stufen der großen Kirchentreppe zu seinen Füßen, und genoss den Ausblick. In seiner rechten Hand hielt er eine Eiswaffel mit einer Kugel Vanilleeiskrem. Die Temperatur der Waffel machte seine Finger klamm und das Eis schien an diesem Tag gar nicht flüssig werden zu wollen. Er leckte langsam und vorsichtig daran. Wie ließ sich dieser Geschmack einordnen? Süß, mild, leicht und irgendwie auch erschreckend kalt, was es ihm schwer machte, diese Gewürzpflanze überhaupt herauszuspüren. Seine Zunge prickelte schon vor lauter Kälte. Ein Junge in einem blauen Mantel mit großen Knöpfen und einer braunen gestrickten Mütze auf dem Kopf stapfte entschlossen eine Stufe nach der anderen herauf. Er hatte ihn schon fast erreicht. Unten auf dem Platz stand ein Mann, wohl der Vater, der ihn bei seinem Gang beobachtete, sich aber wohl selbst die Mühe des Aufstiegs ersparen wollte. Der kleine Junge sah hinauf zu den Wolken. Offenbar freute er sich, dem Himmel ein bisschen näher gekommen zu sein. Ohne Scheu stellte er sich neben ihn. Seine Atemzüge hinterließen in kurzen Abständen kleine weiße Fähnchen, die wie Rauch aus seinem Mund hervorquollen. „Weißt du, warum es helle und dunkle Wolken gibt?“, fragte er in etwas altklugem Tonfall. Benn lächelte. Irgendwie schien ihm klar zu sein, dass der kleine Junge ihm gern dieses Mysterium erläutern wollte. Deshalb sagte er: „Nein, ich habe keine Ahnung.“ 229 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


„Wegen der Engel“, flüsterte der kleine Junge andächtig. „Ach ja? Das musst du mir näher erklären.“ „Ganz einfach: Die Engel wohnen doch in den Wolken“, der kleine Junge deutete hinauf zu den weißen Gebilden oben am blauen Herbsthimmel, die vom Wind rasch vorwärtsgetrieben wurden, „und die Engel leuchten – deshalb sind alle Engelwolken hell … und die dunklen – ja, da sind gerade keine Engel drin.“ Benn grinste. „Das leuchtet mir ein. Da hast du wohl völlig recht. Aber wo sind denn die Engel, die gerade nicht in ihrer Wolke sind?“ Der kleine Junge zuckte mit den Schultern. „Vielleicht haben sie gerade was zu tun. Seelen sammeln oder so.“ Benn nickte. „Das ist gut möglich.“ „Mein Papa sagt, es ist zu kalt zum Eisessen.“ Mit diesen Worten wandte sich der kleine Junge um und trippelte die Stufen wieder hinunter. Benn sah, wie der Vater des Kindes ihn heranwinkte, ihm seine Hand hinstreckte, die der Junge ergriff. Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. Er blickte auf die Waffel in seiner Hand. Es stimmte: Für Eis war es wirklich zu kalt. Er sah zum Himmel hinauf. Und im nächsten Wimpernschlag seiner menschlichen Augen verschwand er durch die Schichten des Mezzanin zurück in die Hallen seines Meisters … gerade zur rechten Zeit, um seine Stimme in dem soeben begonnenen großen Freudengesang erklingen zu lassen.

230 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Ich danke Meiner Schwester für ihr Ohr und ihre Ermutigung, meinen Freunden, die glauben, ich solle schreiben, dem Meister, dem Ursprung aller Kreativität. Ein paar der Bands, die mich beim Schreibprozess unterstützt haben: Eels, The Killers, Muse, Future of Forestry, Travis, U2, Sigur Rós

231 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Copyright Brunnen Verlag GieĂ&#x;en 2011


Leseprobe aus „Nick Vujicic, Mein Leben ohne Limits“

Vorwort Ich heiße Nick Vujicic (ausgesprochen Wu-ji-tschitsch). Ich bin achtundzwanzig. Von Geburt an fehlen mir Arme und Beine, aber ich lasse mich davon nicht behindern. Ich reise um die Welt und spreche Millionen von Menschen Mut zu, wie sie ihre eigenen Schwierigkeiten überwinden und ihre Träume verwirklichen können. In diesem Buch habe ich meine persönlichen Erfahrungen mit Schwierigkeiten und Hindernissen aufgeschrieben. Manche davon betreffen speziell meine Situation, mit den meisten hat aber jeder Mensch irgendwann zu kämpfen. Was ich damit bezwecke? Ich will die Leute, die meine Geschichte hören und lesen, ermutigen, ihre eigenen Herausforderungen zu meistern. Ihre ganz persönliche Bestimmung zu finden. Denn das gilt für jeden Menschen: Auf dich wartet ein unverschämt gutes Leben! Oft finden wir das Leben unfair. Kommen schlechte Zeiten, plagen uns Selbstzweifel und wir verlieren jede Hoffnung. Ich kenne das nur zu gut. Umso erstaunlicher, was dazu in der Bibel steht: Wir sollen uns sogar freuen, wenn uns Schwierigkeiten begegnen! Ich habe viele Jahre gebraucht, um diese Lektion zu lernen. Aber irgendwann kam ich dahinter. Durch das, was ich erlebt habe, kann man sehen: Die meisten Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert werden, sind zugleich Möglichkeiten. An ihnen können wir entdecken, wer wir sind. Wer wir sein wollen. Und was in uns steckt. Meine Eltern sind gläubig, aber als ich ohne Arme und Bei233 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


ne auf die Welt kam, fragten sie sich ernsthaft, was Gott sich dabei gedacht hatte. Für mich gab es in ihren Augen doch keine Zukunft! Wie sollte ich je ein normales oder gar produktives Leben führen? Wenn ich es heute betrachte, hat mein Leben letzten Endes alle unsere Erwartungen bei Weitem übertroffen. Jeden Tag nehmen wildfremde Menschen über Telefon, E-Mail, Brief oder Twitter Kontakt zu mir auf. Sie kommen in Flughäfen, Hotels und Restaurants auf mich zu, umarmen mich und sagen mir, dass ich ihr Leben berührt habe. Ich bin wahrlich gesegnet. Ich bin unverschämt gut dran! Eins hatten meine Familie und ich nämlich übersehen: Meine Behinderung – mein „Fluch“ – konnte genauso ein Segen sein. Ich kann auf eine ganz spezielle Weise andere Menschen erreichen, mich in sie hineinfühlen, ihren Schmerz nachempfinden und ihnen Trost spenden. Natürlich sind meine tagtäglichen Herausforderungen nicht ohne. Aber ich bin mit einer liebevollen Familie, einem schlauen Kopf und Gottvertrauen gesegnet. Bevor ich das alles jedoch verstanden hatte, musste ich einige fürchterliche Zeiten durchmachen. Das will ich nicht verschweigen. Als ich in die Pubertät kam, in der jeder auf der Suche nach seinem Platz im Leben ist, bin ich an meinem Körper verzweifelt. Nach und nach dämmerte mir, ich würde nie „normal“ sein. Jeder konnte es sofort sehen: Ich sah nicht so aus wie meine Klassenkameraden. Auch wenn ich mir alle Mühe gab, normale Dinge zu tun wie Schwimmen oder Skateboard fahren, wurde mir mit jedem Tag bewusster: Vieles würde ich einfach nie tun können. Von anderen Kindern wurde ich als Monster und Außerirdischer beschimpft. Das hat nicht gerade geholfen. Letz234 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


ten Endes bin ich einfach ein Mensch und wollte sein wie alle anderen auch. Aber meine Chancen standen verdammt schlecht. Ich wollte akzeptiert sein – und war es nicht. Ich wollte dazugehören – und durfte es nicht. Irgendwann stand ich vor einer Wand. Ich versank in Selbstmitleid. Depression und negative Gedanken überrollten mich. Welchen Sinn hatte das Leben überhaupt? Sogar wenn ich unter Freunden und bei meiner Familie war, fühlte ich mich einsam. Ich hatte eine Riesenangst davor, mein Leben lang nur eine Last zu sein. Aber ich lag falsch. So falsch! Was mir damals alles nicht klar war, damit könnte ich ein ganzes Buch füllen. Und das habe ich. Hier ist es. Auf den folgenden Seiten möchte ich erzählen, wie ich inmitten von Sorge und Verzweiflung die Hoffnung nicht verloren, sondern gefunden habe. Wie ich Schmerz und Trauer überwand und am Ende stärker und entschlossener war. Bereit, meinem Lebenstraum nachzujagen. Bereit, ein Leben zu suchen, das meine kühnsten Träume übertrifft. Wenn du den Wunsch und den Ehrgeiz hast, etwas Bestimmtes zu schaffen (und Gott nichts dagegen hat), dann kannst du es vollbringen! Ich weiß, das ist eine gewaltige Aussage. Um ehrlich zu sein: Ich habe selbst nicht immer daran geglaubt. Wenn du eins meiner Videos im Internet gesehen hast, dann kann ich nur sagen: Die Freude und Zufriedenheit, die ich dort ausstrahle, sind das Ergebnis einer langen Reise. Sie waren mir nicht gleich in die Wiege gelegt. Ich musste mir im Laufe der Zeit lauter wichtige Eigenschaften dafür aneignen. Nach und nach fand ich heraus, dass ich für ein unverschämt gutes Leben Folgendes brauchte: 235 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


die feste Überzeugung, dass das Leben einen Sinn hat Hoffnung, die unüberwindbar ist Vertrauen in Gott und seine unendlichen Möglichkeiten Liebe und Selbstannahme eine positive Grundeinstellung ein mutiges Wesen Bereitschaft zur Veränderung ein vertrauensvolles Herz Hunger nach Chancen die Fähigkeit, Risiken einzuschätzen und über das Leben zu lachen den Wunsch, zuerst das Wohl der anderen zu fördern Jeder Eigenschaft habe ich in diesem Buch ein Kapitel gewidmet. Ich versuche, sie so zu erklären, dass du etwas davon hast. Ich biete dir an, zu teilen, was ich herausgefunden habe. Weil du es genauso verdienst wie ich. Du sollst in deinem Leben genauso Freude und Erfüllung finden! Trotz aller Grenzen. Gehörst du zu den Menschen, für die jeder Tag ein Kampf ist? Vergiss nicht: Sogar mich hat eine großartige Bestimmung erwartet. Und sie hat meine kühnsten Träume weit, weit, weit übertroffen. Vielleicht kommen gerade harte Zeiten auf dich zu. Vielleicht bist du schon am Boden und fühlst dich zu schwach, um wieder aufzustehen. Ich kenne das Gefühl. Und da bin ich nicht der Einzige. Das Leben ist nicht immer leicht. Aber wenn man Herausforderungen meistert und Schwierigkeiten überwindet, dann ist man am Ende stärker. Und dankbarer 236 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


für die Chancen, die sich einem bieten. Was wirklich zählt, ist nämlich, was für Impulse man unterwegs weitergibt. Und wie man ins Ziel einläuft. Ich liebe mein Leben. Deins ist genauso liebens-wert! Es liegen unverschämt viele Möglichkeiten vor uns. Höchste Zeit, sie zu nutzen. Wie wär’s?

Kapitel 1

Wenn kein Wunder passiert, sei selbst eins! Eins meiner bekanntesten Videos auf YouTube zeigt, wie ich Skateboard fahre, surfe, Musik mache, einen Golfball schlage, hinfalle und wieder aufstehe, vor vielen Leuten spreche und – meine Lieblingsszene – von lauter Menschen umarmt werde. Nichts Besonderes, oder? Das kann doch jeder! Warum wird das Video dann millionenfach angeklickt? Was meinst du? Meine Theorie: Es zieht die Leute an, weil sie das Gefühl haben, dass ich trotz meiner physischen Einschränkungen lebe, als hätte ich keine. Man erwartet ja von einem Schwerbehinderten eigentlich, dass er inaktiv ist, zurückgezogen lebt und an seiner Existenz verzweifelt. Also überrasche ich die Leute gern damit, dass ich ein höchst abenteuerlustiges und erfülltes Leben führe. Hier ein typischer Kommentar, der neben Hunderten anderen unter meinem Video steht: „Wenn ich sehe, wie glücklich dieser Typ ist, dann frage ich mich ernsthaft, wieso ich mich manchmal selbst bedauere … oder mich nicht hübsch genug finde, oder witzig genug, oder EGAL WAS. Wie zum 237 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Kuckuck komme ich auf solche Gedanken, und dieser Kerl hat keine Arme und Beine und ist trotzdem GLÜCKLICH!?“ Die Frage höre ich oft: „Nick, wie schaffst du es, glücklich zu sein?“ Ich vermute mal, du hast selbst gerade an dem einen oder anderen zu knabbern, also antworte ich mit der Kurzversion. Es ging mit mir bergauf, als mir Folgendes klar wurde: Obwohl ich alles andere als perfekt bin, bin ich trotzdem der perfekte Nick Vujicic. Ich bin ein Gedanke Gottes. Das bedeutet nicht, dass das Nonplusultra schon erreicht ist. Ich habe noch jede Menge Entwicklungspotenzial! Mein Leben kennt wirklich keine Grenzen – daran glaube ich. Und ich möchte, dass auch du so denkst. Egal, mit welchen Schwierigkeiten du konfrontiert bist. Am Anfang unserer gemeinsamen Reise habe ich daher eine kleine Bitte: Nimm dir einen Moment Zeit und versuche dir über alle Einschränkungen klar zu werden, die du deinem Leben selbst auferlegt hast oder von anderen auferlegt bekommen hast. Und dann stell dir vor, wie es wäre, frei davon zu sein. Wenn alles möglich ist – was für ein Leben hättest du vor dir? Offiziell gelte ich als „behindert“. In Wahrheit bin ich aber durch die fehlenden Gliedmaßen „ent-hindert“. Dank meiner besonderen Situation haben sich mir auch besondere Möglichkeiten eröffnet, wie ich unzähligen anderen Leuten helfen kann. Und wenn ich es so weit gebracht habe, was kannst du erst erreichen! Viel zu oft reden wir uns ein, wir wären nicht intelligent oder hübsch oder talentiert genug, um unsere Träume zu verwirklichen. Wir glauben das, was andere über uns sagen oder machen uns selbst klein. Wer seine Träume aufgibt, steckt Gott in eine kleine Box. Dabei bist du sein kreatives 238 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Werk! Du bist kein Zufallsprodukt. Dein Leben hat genauso wenig Grenzen, wie man Gottes Liebe einzäunen kann. Wir haben die Wahl. Entweder wir konzentrieren uns auf unsere Enttäuschungen und Defizite. Dann schlagen wir den Weg der Verbitterung ein, des Zorns, des Selbstmitleids. Oder wir entschließen uns, aus allem etwas zu lernen und vorwärtszukommen. Und übernehmen Verantwortung für unser Leben und öffnen uns für alles Glück. Jeder Mensch ist wunderschön und kostbar. Er ist mehr wert als alle Diamanten dieser Welt. So, wie man einen Edelstein schleift und poliert, können auch wir immer weiter an uns arbeiten und unsere Grenzen durch große Träume sprengen. Das Leben ist oft kein Zuckerschlecken und manchmal muss man sich ganz neu arrangieren. Das gehört dazu. Aber es ist die Mühe wert. Das Leben ist immer lebenswert. Egal, wie deine Situation im Moment aussieht – solange du atmest, ist noch nichts verloren. Leider habe ich keine Hand parat, die ich dir auf die Schulter legen kann, aber was ich sagen will, kommt von Herzen. Ganz egal, wie aussichtslos dein Leben im Moment aussehen mag, es gibt Hoffnung. So schlimm es sich auch gerade anfühlt, es warten bessere Zeiten auf dich. Wie hoch die Hürden im Moment auch scheinen, du kannst sie überwinden. Wenn du dir Veränderung nur wünschst, wird nichts passieren. Wenn du dich aber entscheidest, jetzt zu handeln, wird sich dein Leben verändern. Versprochen! Aus allem kann nämlich etwas Gutes werden. Wieso ich mir da so sicher bin? Weil ich das von meinem eigenen Leben sagen kann. Was bitte ist an einem Leben ohne Arme und Beine gut? So einiges! Schon wenn man mich nur sieht, weiß 239 Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


man, dass ich große Hürden überwinden musste und überwinden muss. Deswegen hören die Menschen mir zu und lassen sich von mir inspirieren. Ich darf ihnen stundenlang von meinem Leben erzählen und ihnen Mut machen. Das ist mein Beitrag auf dieser Welt. Es ist wichtig, dass du anfängst, deinen eigenen Wert zu erkennen. Denn auch du kannst etwas beitragen! Wenn du im Moment total frustriert bist, ist das okay. Dein Frust ist ein Signal dafür, dass du noch mehr vom Leben willst. Das ist doch gut! Oft merken wir erst in schwierigen Zeiten, wer wir wirklich sein wollen.

Nick Vujicic

Mein Leben ohne Limits „Wenn kein Wunder passiert, sei selbst eins!“ 272 Seiten, mit Farbfotos ISBN 978-3-7655-1119-6 „Ich bewundere Nick Vujicic, weil er erkannt hat und praktiziert, worum es letztlich geht im Leben: sich selbst und seine Mitmenschen lieben. Diese Botschaft gibt er auf beeindruckende Weise weiter.“ Timo Hildebrand, Fußballprofi BRUNNEN VERLAG GIESSEN www.brunnen-verlag.de

Copyright Brunnen Verlag Gießen 2011


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.