Vorwort
Ein Vorwort für dieses Buch zu schreib en, fällt mir schwer, weil alles, was mir zum Thema Populis mus einfallen könnte, Ralf Schuler darin geschrieben hat, und das sehr viel fundierter und gründ licher, als ein polit ischer Laie wie ich es könnte.
In seinem Buch beweist Schuler alle Tugend en, die ich an ihm schätze: Er verbindet die aktuellen Geschehnisse mit den großen historischen Linien, präsentier t andere Stimmen, er selbst bleib t bei gebotener Schärfe seiner Kritik immer sachlich, ist nie zynisch oder hämisch , es findet sich kein Gift in seinen Argument en, sonder n das manchmal verzweifelt anmutend e Bemühen, zu verstehen, was nicht zu verstehen ist, vor alle m aber geht es ihm um Aufk lärung.
Ralf Schuler wurd e 1965 in Ost-Berlin geboren und hat die ersten 25 Jahre sein es Lebens in der DDR verbracht . Auf ein Studium an der Filmhochsch ule Babelsberg verzichtete er trotz bestand ener Aufnahm eprüfung , weil der Preis dafür eine Dienstzeit als Unteroffizier bei der National en Volksarmee gewesen wäre. Und seine Arbeit als Leiter der Parlame ntsredaktion bei der BILD-Zeitung kündig te er, als der Vorstand des Hauses Spring er beschloß, sich konsequent auf die Seite der LBTQ -Aktivisten zu stellen. «Ich bin nicht bereit , für eine politische Bewegu ng, welcher Art auch immer, und unter ihrer Flagg e zu arbeiten. Das habe ich früher nicht geta n und tue ich heute erst recht nicht», erklärte er.
Seine Erfahrungen als Parla mentskorr espond ent liefern ihm das Material für seine Analys en der Parteienpolitik mit all dem Taktieren und Verschweig en, den autorit ären Allü ren vor allem der Grün en, der Kump anei zwischen Medien und Politik. Und immer wieder schieb t sich in die Anal yse der Gegenwar t Schulers biografisch e Erfahrung als Ostdeutsch er, der vielleicht empfind licher reagiert, wenn Freiheitsrech te
beschnitten werden, als jeman d, dem solche Erfahrungen erspart geblie ben sind. Jedem Ostd eutschen muß der Parag raph gegen «sta atsfeind liche Hetze» einfall en, wenn Nancy Faeser und ihr Präsident des Verfassu ngsschut zes ein Delikt wie die «verfassungssc hutzreleva nte Delegitimierung des Staa tes» erfinden, also eine illeg itime Verschieb ung der Strafbarkeitsgrenze im Kam pf gegen rechts, gegen die AfD, gegen den Populismus.
Wenn eine Regierung zwanzig bis dreißig Prozent der Wähler hinter eine Brandmauer verbannt und so vom Kampf um die Regierungsm ehrheit ausschl ießt, stimmt etwa s mit dem Demokratieverständnis nicht. Wenn Kritik und Verhöhn ung an der Regierung verfassu ngsrechtlich sanktionier t werden können , als wären die amtierend en Minister die personifizier te Demok ratie und ihre Schmähung demzufolge demokratiefeind lich, liegt entweder ein juristis ches Mißverständn is vor oder eine bedenkl iche Überhöhung der eigenen Person. Auf die Wahl kann die Abwahl folgen, wenn der Souverän es will . Siebzig Prozent der Bevölkerung halten die regierenden Parteien für unfä hig oder soga r unwillig , die Probleme des Landes zu lösen, was für die Regierung aber nicht als ein Signal zur Korrektur erkannt wird, sondern als Bedrohung der Demokra tie. Und selbst die Abwah l dieser Regierung würde die deutschen Wähler nicht vor dem Persona l der einen oder ander en ungelieb ten Partei bewa hren, denn eine von ihnen würd e dana ch wieder mitregieren, und das Vertrauen in die CDU, die sich bis heute nicht öffentlich zu den Fehlern der Merkel-Ze it bekan nt hat, bleib t erschüttert.
Der Populismus erweist sich als letzte Abwehr kraft gegen eine Politik, die den Willen der Mehrheit nicht nur mißac htet, sonde rn diffamiert und kriminalis iert.
Ralf Schuler untersucht die Mechanismen der Machtausübung und Machtabwehr an konkreten Beispielen nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA, Österreich, Frankreich, England, Skandinavien. Sein Fazit: Der Populismus ist
das Ergebnis von Demokratieversagen. Es begann in Deutschland 2013 mit der Gründung der AfD, damals eine seriöse konservative Partei, die vor allem eine andere europäische Geldpolitik forderte, aber von Anfang an als illegitimer Feind unter Naziverdacht gestellt wurde. Dieser undemokratische Umgang hat an der Radikalisierung der AfD einen entscheidenden Anteil. Wenn heute «Hass und Hetze» im Netz und im öffentlichen Umgang beklagt und verklagt werden, sollte man fragen, womit das Hassen und Hetzen eigentlich begonnen hat.
Rudolf Augstein hat den Auftrag der Journal isten in seinem berühmt en Zitat benann t: «Einer Wahrheit ans Licht zu helfen, … eine Wahrheit, der die etablierten Führer und Meinungsmacher aus Bequemlichkeit und Eigensucht bislang ausgewichen sind – das ist die einzige Möglichkei t für den Journa listen, die Wirklichkeit zu verändern: Er kann sagen, was ist!» Ralf Schuler nennt seine Interview reihe im OnlinePortal NIUS «Fragen, was ist». Er interviewte Politiker wie Wolfgang Kubicki, Wolfgang Bosbach, Ralf Stegner, Sahra Wagenknecht und Arnold Vaatz, er sprach mit Dieter Nuhr, dem Rechtsanwal t Joachim Steinhöfel und vielen anderen . Schuler fragt, ohne zu urteilen , er will wissen, nicht bedrängen oder seine Gesprächspa rtner in verbal e Fallen locken. Selbst Ralf Stegner bietet ein anderes Gesicht, als man von ihm aus öffentlichen Auftritten kennt. Auch wenn man seine Meinun g dana ch nicht teilt, versteht man vielleicht besser, warum er sie hat. Daß Schuler vorwiegend konserva tive Gäste begr üßen darf, läßt vermuten, daß auch er für Grüne und Linke schon zu den Populisten gehört, mit denen man nicht spricht, denn eingeladen zum Gespräch waren sie. Ein Satz des Liberalen Wolfgang Kubicki könnte sie ermutigen: «Wenn ein Auftritt bei Ihnen (Schuler) ausreicht, jemand en zum Rechtsradikalen zu machen, komme ich jede Woche zu Ihnen .»
Jedem, der sich darüber wunder t, wie aus ihm plötzlich ein Rechter geworden ist, nachdem er sich sein Leben lang für
links, liberal oder konserva tiv gehalten hat, sei Ralf Schulers
Buch über den Populis mus empfohlen . Es wird ihn beruhigen.
Monika Maron, Schrift stellerin
Prolog
«Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespens t des Populismus.» Als ich diesen berüh mten ersten Satz aus dem «Kommunistischen Manife st» von Karl Marx für den Einstieg in mein Buch «Lasst uns Populisten sein» (2019) leicht abgewand elt entlieh, konnte ich nicht ahnen, dass der Aufst ieg dieser neuen Bewegu ng der sogenan nten Populis ten noch längst nicht zu Ende war und offenbar auch noch lange nicht zu Ende ist. Das Wort «Komm unismus» aus dem «Kommunistischen Manifest» von Marx hatte ich ledigl ich durch «Popul ismus» ersetzt, und schon passte die historische Analogie verblüffend auf unsere Tage. Heute, ein halbes Jahrzeh nt nach «Lasst uns Populisten sein», hat sich daran nichts geänd ert. Im Gegent eil: Die Bewegung en unter dem von außen als negative Konnotation zugewiesenen Titel «Popul ismus» ist eher noch größer, ja stärker geworden. Das Gespenst lebt nicht nur, es gedeiht geradezu: von der Rassemb lement Nationa l (ehemals Front National ) in Frankreich über Geert Wilder s ’ Freiheitspartei in Hollan d, die Schweizerische Volkspartei, die italienisc he Lega und die regierenden Fratelli d’Italia oder die FPÖ in Öster reich und die AfD in Deutschland. Nach gäng iger Lesart fallen auch die Regierungsparteien in der Slowakei und Ungarn unter das Rubrum Rechtspopul ismus, und der mögliche Wahlsieg von Donal d Trump in den USA lässt sich ebenfa lls in dieses politische Phänomen einordnen.
Für gewisse Irritationen sorg t allen falls der neue argentinische Präsident Javi er Milei, der häufig als «ultral iberal» oder «Anarchokapitalist » apostro phiert wird, was auch nicht als Kompliment gemeint ist, aber offenbar noch nicht so ganz ins Raster des «Populism us» passt, obwohl der Mann mit dem wirren Haarsch opf und seinen impulsiv en Auftritten die
Populismus-Witterer durchau s zu einigem Argwohn provoziert . Im Wahlkam pf schwenkte er beispielsweise eine Kettensäge, um zu zeigen, wie er mit dem morschen argentinischen Staat umspringen werde. Er erwarb sich auch sonst den Ruf eines radika len Umkrem plers, der mit seinem Gebaren jene von vielen vermisste Authentizit ät darstel lte, mit der auch Trump in den USA punk tet, wenngleich auf weitaus weniger program matisch verständliche und berechenbare Weise als Milei.
Mit anderen Worten: Der sogen annte Populismus * ist längst kein Gespens t mehr, das hier und da umgeht, sond ern harte politisc he Realitä t, mit der man rechnen, leben und Politik machen muss. In diesem Buch blicken wir deshalb auf Jahre zurück, in denen diese Beweg ungen immer stärker geworden
* Zum Sprachgebrauch des Wortes «Populismus» und «Populisten»: Wie ich im Kapitel «Was ist eigentlich Populismus?» zeige, ist die Vokabel «Populismus» im parteipolitischen Tagesgesch ft zu einem Kampfbegriff geworden, der zur allgemeinen Abwertung konkurrierender Politik und Politiker verwendet wird und als Gattungsbegriff f r eine ganze Parteienfamilie im rechts-b rgerlichen Spektrum geworden ist. Diese Bedeutungsebene mache ich mir ausdr cklich nicht zu eigen und schreibe deshalb der Abwechslung halber von «Populisten», «sogenannten Populisten» etc., um eine gewisse Distanz zur parteitaktischen Instrumentalisierung auszudr cken
Der eigentliche Ursprung des Populismus liegt in der Beschreibung eines Politikstils, der den Menschen nach dem Munde redet, einfache Lçsungen f r komplizierte Probleme verspricht und in einem ungesunden Maß auf Beifall vom politischen Publikum aus ist.
Da diese Art von Populismus eine unerl ssliche, mehr oder weniger reichliche Zutat jeglicher Politik ist, ist es aus meiner Sicht kein wirkliches Monitum und eine geschm cklerische Debatte. Politik sollte die Vertretung von Volksinteressen der B rger sein und enth lt deshalb immer auch populistische Akzente, wenn sie popul r sein will. Das Gegenteil w re eine außenweltunempf ngliche ideologische Erstarrung und p dagogische berwindung des Adressaten.
Ich verwende also den Begriff Populismus in dem von seinen Gegnern konnotierten und gebr uchlichen Sinne f r die Beschreibung der entsprechenden politischen Bewegungen, ohne mir jedoch die Konnotierung zu eigen zu machen Und ich w rde mich freuen, wenn sich diese – zugegeben, nicht ganz einfache – Logik dem Leser im Laufe der Lekt re immer besser erschließt
sind, und wollen die wesentlichsten, die offensichtlich sten Ursach en aufzeigen. Um es ganz klar zu sagen: Die wichtigste und gefährlichste Wurzel jener erstarkenden Parteien und Bewegu ngen neben den etablierten politisc hen Strömungen ist ein massives Demokr atieversagen – und das gleich auf mehreren Ebenen.
Es ist schon einigermaßen verräterisch und alarmierend zugleich, wenn in freien, demokratischen Gesellschaften gestanden e Politiker eine popu läre Bewegu ng geradezu verachten und dies ausgerechnet mit dem Begriff «Pop ulismus» zum Ausdruck bring en. Das Volk (lat. populus) läuft den Falschen nach, sol l das heißen, den «Rattenfänge rn», wie Bundesprä sident Frank-Walter Steinmeier es vor einiger Zeit ausdrückt e. Eine unschöne Metapher, die Bürgern vermeintlich falscher Gesinnu ng die Rolle als Schadna ger zuweist. Das Volk liegt falsch, soll das wohl heißen. Und im Kern: Das Volk stört beim Regieren.
Doch: So sol l es auch sein! In funkt ionierend en Demokratien zumindes t. Das Volk kann, darf und muss sog ar stören, wenn die Vorstellungen der polit ischen Akteu re sich allzu weit von denen der Menschen entfern t habe n und die daraus entstehenden Brüche das Gemeinwesen als Ganzes gefähr den.
Das ist für Politiker schmerzl ich, die ja in der Regel klare Vorstellung en davon hab en, worauf die Dinge hinauslauf en sollen, und sich nur ungern bei der Arbei t am politisc hen Gesamtkuns twerk bremsen oder gar korrigieren lasse n.
Sel bs t in frei hei tlic hen Ges el lsc haften ist da s Denken in po lit ischen Miss io nen, wi e s ie de r reale Sozi ali smus ei nst auf die Spitze trie b, nic ht ganz ausg est orb en. Die «Transfor ma ti on » hin zur Kl im aneutralit ät is t da für ei ne interessa nte Para ll el e, we il si e d as erse tzt, wa s im klas sis chen Soz ia lis mu s /K omm unism us die «h is tor is che Miss io n d er Ar be it erklass e» wa r: ein e Ar t sc hic ks alhafter Vorwä rtsentw ic klung d er m ens chlic hen Gese ll sc haft, d ie – ve rgle ic hba r d er b io lo gis chen E vo luti on – we de r ve rhande lb ar noc h
aufzuhalten se i. Wer si ch d ie se r Vis io n entgegenst el lt, entlarv t s ic h augenbl ic kli ch als (ewig) gest rig , als B re ms er und po tenzie lle r Mensc henfein d, de m ma n im Gr unde d ie Teilnahme am dem okratis chen Mein ungs bildu ngs pr oz ess ve rwe hren m us s, we nn ma n de n Fortbe st and de r Mens chheit nic ht gefährd en wi ll .
Eine weitere Ursache für die Populisten-Konjun ktur, der wir in diesem Buch nachgehen wollen, ist die hier zu Tage tretende Lernu nfähigkeit bzw. -unwilligkeit , die zumindes t für mich deshalb so verblüffend ist, weil ich mit meinen biografischen Wurzeln im ehedem real existierenden Sozialismus die westlichen Demokra tien immer als offene und vor allem lernfähig e Systeme gesehen habe. Die Überlegenh eit des Westens am Ende des Kalten Krieges war und ist in meinen Augen eine Folge davon, dass beim Wirtschaften der Markt (im Gegen satz zur sozialist ischen Planwirt schaft) die Akteure immer wieder zum Abgleich mit der Realitä t, mit den Wünsch en der Kund en und den effizientesten Strategien der Wertschöpfung zwingt (übrigen s ausdrückl ich inklusive Energieeffizienz und Ressourcenschonung !). Wer effizienter ist, macht mehr Gewinn.
Das Gleiche gilt für die freiheitliche Demokrat ie, die es den handel nden Akteuren immer wieder dadurch schwer macht, dass der politisc he «Endverbrau cher» seine Wünsche und Stimmungen – sofern es relevante Inhalte und keine kurzfristigen Aufwa llungen sind – in die parlamentarische Administ ration einsteuern kann. Anders als beim «ideol ogisch wetterfesten» (Karl-E duard von Schnitzler) DDR-Politbüro steigen und fallen demokratische Parteien damit , dass sie die Unterströmun gen im Volk nicht nur erkennen, sonder n aufnehmen und möglichst klug umsetzen. Die verfassungsrechtliche Denk- und Handlungsverbotszone sollte in Demokrat ien nahezu verschw indend klein sein und sich auf jene beschränken, die «aggressiv-kämpferisch» diese demokratische Ordnung überwind en und abschaffen wollen.
Wie wir in der Gegen wart leider sehen, widerstehen aber auch vermeintlich gefestigte Demokratien wie Deutsch land mitunter der Versuchung nicht, sich lästige Konkurrenz dadurch vom Leibe schaffen zu wollen, dass man sie kurzerhand in Gän ze für «gefährlich », «demok ratiefeind lich» und unberührba r erklärt. Damit wird eine auch staatlich e Verfolgun g möglich, die vom Grun dgesetz in weiser Konsequen z aus den Hitler-Jahren ausdrückl ich nicht vorgesehen war.
Die Auswirkung von Demokr atieversagen und demokratischer Lernun willigkeit hat viele Facetten, die ich auf den folgenden Seiten gern im Detail und ohne Anspruch auf Vollständig keit beleucht en möchte. Meine Hoffnung ist es, dass die darge legten Gründe für den Siegeszug der Populisten das Interesse jener ebenso finden, die sie teilen, wie das Interesse derjenig en, die es ander s sehen. Wenn dieses Buch dazu beitragen kann, die Weltsicht der anderen Seite zumindest nachvollziehbarer zu machen, wäre schon viel gewonnen in Zeiten oft unversöhnlicher Debatten .
Ich bitte dabei um Nachsicht, wenn mir hin und wieder (wie auch hier schon) vergleichende Verweise auf meine DDR-Vergangenh eit bewusst unterl aufen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass die Intensität des Erlebten in einem autoritären und repressiven System beson ders prägend ist für einen junge n Menschen, der noch nicht einmal revoluzze rhaft veranlagt war, sondern einfach nur in Ruhe gelass en werden und da nicht mitspielen wollte.
Es ist auch der Tatsach e gesch uldet, dass gern von and erer Seite vermein tlichen Anfän gen gewehrt werden soll, die viel weiter zurückliegen und angeb lich in die Zeit vor 1945 zurückführen. In vielen Fällen muss man aber gar nicht so weit in die nicht mehr selbst erlebte Vergangenh eit abtauchen, sonde rn kann sich bei bestürzend zahlreich en freiheitsbeschränkenden und Konformitätsdruck schaffend en Phänomenen Mecha nismen vor Augen führen, die eine noch sehr lebendig e Generat ion von Ostdeut schen gut im Gedäc htnis hat.
Ausdrück lich nicht gemeint ist damit freilich ein KomplettVergleich der Bund esrepublik Deutschland mit der DDR in all ihren Facetten als gesch lossenes und gleichs chaltend es repressives System . Obwohl es sich eigentlich von selbst versteht und offensichtlich ist, erwähne ich das hier so ausdrückl ich, weil es eine beliebte Methode ist, durch bewuss tes Missv erstehen unerwünsch te Debatten zu beenden, und weil – absurd genug – DDR-Vergleiche im Verfassungsschutzbericht 2021 unter der Rubrik «verfassung sschutzr elevante Delegitimierung des Staa tes» als Indiz dafür erwähnt werden.
Dort heißt es: «Die staatlichen Schutzmaßn ahmen gegen die Corona pandem ie und die damit einhergehenden Freiheitse inschrän kungen lösten nicht nur eine breit e gesellschaftspolitisc he Debatte und verfassungs rechtlich legitime Proteste aus, sondern dienten in einzelnen Fällen auch als Vorwand und Hebel, um die demokratische und rechtsstaatl iche Ordnun g als solch e zu bekämpfen. Um die in diesem Kontext festzustellend en Anhalt spunkte für verfassungsfeindl iche Bestrebung en adäquat bear beiten zu können, hat das BfV im April 2021 den neuen Phäno menbereich ‹Verfassungsschut zrelevante Delegitimierung des Staates› eingerichtet.» 1
Wie dies im Einzelnen aussehen kann, wird so beschrieben: «demokratisch gewäh lte Repräsentanten des Staates verächtlich machen, staatlichen Institutionen und ihren Vertretern die Legitimit ät absprechen , (…) zum Ignorier en gerichtlicher Anordnungen und Entscheidung en aufrufen.»
All das ist insof ern interessan t, als das «Verächtlichmachen» staatlich er Institutionen ganz ausdrückl ich ein normales Freiheitsrec ht ist, zumindest wenn man Majest ätsbeleid igung nicht als rechtsstaatlich e Norm betrachtet. Und nach all den Jahren, man kann fast schon sagen, Jahrzeh nten, in denen linke Beweg ungen sich auf das «Recht auf zivilen Ungehorsam» etwa bei Anti-C astor-Prot esten oder and eren Blockad e-Aktionen (siehe Klima-Kl eber) beruf en haben, das
«Ignorie ren gerichtlicher Anordnungen» als Gefährdung der Verfassungsord nung einzustufen, ist auch eher bedenkl ich.
Und: «Zum Teil wird die Bundesr epublik Deutschland mit den diktatorischen Regimen des National sozialismus und der DDR gleichges etzt.» Mit anderen Worten: Auch hier könnte künftig der Verfassungsschutz zuständig sein. Doch ein medial er oder gesellschaftl icher Aufstan d gegen diese Ausweitung und Verschieb ung des Auftrags für den Inlandsgeheimdienst, der als nachgeo rdnete Behörde des Bundesinnenminister iums und damit nicht ohne Zust immung der Bund esinnenmin isterin agiert, ist weitgehend ausgeblieben.
So wollen wir hier also im Folgenden Spuren und Indizien nachgehen, warum «populistische Bewegungen» trotz aller Anfeindungen und Bekämpfungsversuche nicht verschwinden. Böse Vermutung: weil die Ursachen für ihren Aufstieg nicht verschwunden sind.
· Demokratieversagen
Diese Zeit hat etwas durchau s Gespensterhaftes. Die Leute gehen t glich ihren Gesch ften nach, machen Verordnungen und durchbrechen sie, halten Feste ab und tanzen, heiraten und lesen B cher – aber es ist alles nicht wahr.
Es rumort in der Tiefe, und der Boden schwankt leise. Wohin f hrt das alles? Wir versuchen, dem g nzlich Neuen mit den alten Mitteln beizukommen. Und werden seiner nicht Herr. Es verf ngt alles nicht: Humor nicht, Satire nicht; offener Kampf, Gewalt, Propaganda – die Pfeile fallen matt zu Boden. Wohin f hrt das alles?
Tçricht, die Zerfallssymptome zu leugnen. Eine Welt wankt, und ihr haltet an den alten Vorstell ungen fest und woll t euch einreden, sie seien so nçtig und nat rlich wie die Sonne.
Lange Reden und dicke B cher schaffen es nicht mehr; ungeduldig steht etwas an dem großen Tor und klopft und klopft. Und es wird ihm wohl eines Tages aufgetan werden m ssen.
Das b r gerliche Zeitalter ist dahin. Was jetzt kommt, weiß niemand. Manche ahnen es dumpf und werden verlacht. Was sich da tr ge gegeneinan der schiebt, gereizt sich anknurrt und tobend aufeinander losschl gt: Im tiefst en ist es der un berbr ckb are Gegensatz zwischen Alt und Neu, zwischen dem, was war, und dem, was sein wird.
Es scheint wieder eine der Perioden gekommen zu sein, wo ganz von vorn angefangen werden wird, wo wieder der Mensch auf der Scholle steht und Gr ser, Tiere und sich selbst mit grenzenlo sem Erstaunen betrachtet.
Wohin treiben wir? Wir lenken schon lange nicht mehr, f hren nicht, bestimm en nicht Ein L gner, wer ’s glaubt
Es d mmert, und wir wissen nicht, was das ist: eine Abendd mmerung oder eine Mor gend mmer ung
Es ist verblü ffend, wie der große Kurt Tucholsk y vor über einhundert Jahren in einem Essay für die «Weltwoche» (Nr. 11 vom 11. März 1920) das Zeitgefühl unse rer Tage traf. «Es rumort in der Tiefe, und der Boden schwankt leise», schrieb Tucholsky und meinte damit freilich ganz andere Erscheinungen als die aktuel len.
Ging es damals um «Bolschew ismus und Preußent um, Revolution und Konsistenz» , so wandert heute ein Phäno men um die Welt, das im Vergleich zu den in der Rückschau fest konturierten Ideologien am Anfa ng des 20. Jahrhunderts viel weniger greifb ar ist: Sogenan nter Populismu s sammelt auf, was das zerbröselnde bürgerlich e Nachkr iegszeita lter liegen lässt. «Die Welt driftet, und niemand weiß, wohin», schrieb der Publizis t Gabor Steingart in einem seiner Morning Briefings (12. Februar 2024). Der «mod erate Politiker» sei womöglich das Phänomen einer untergehen den Epoche.
Und noch etwa s ist be me rkensw er t an de m E ssay vo n Tucholsk y: An fang 1920, kurz nach de m E rst en Weltkrie g, sp ürte er angesichts von Okto be rre vol ution und er st en ma rsc hie rend en Parami li tär-H ord en etw as gären, s pü rte de n Unter gang d er «Welt von gest ern» , wi e Stefan Z we ig s ie me hr als zw anzig J ahre s pä ter in se in en Er innerungen besc hrei bt . 2 E in Untergang, der si ch da nn tatsä chlic h erst 25 J ahre nach Tuchols kys Ess ay m it de m En de de s Zweit en Weltkrie gs in alle r Gr aus amk eit vol lz og und d en Be gin n d er Na chkrie gsz ei t ma rkie rte.
Der Rückblick auf diese Abläufe zeigt, welche historischen Zeiträume vergehen können zwischen dem Erkennen der Vorzeichen und dem realen Umbruch. Unglücklicherw eise fehlen den jeweil igen Zeitgen ossen solcher Verände rungen in der Regel die Fanta sie und die Fähigkeit zum Einrech nen des Unerwart eten, Zufälligen, um präzise vorhersag en zu können, wo genau sich der kommen de Umschw ung entzünden und wie er verlaufen und enden wird.
Be trachten wir also zunächs t d ie wi chtig s ten und aus
me in er Sic ht offensichtli chen Ursa chen de s erst arkende n «P opu lism us» . Dass di es er kein tem poräres Phänome n ist und nicht d em nächs t wiede r ver sc hwi nde t, lie gt im Übr ig en auf de r Hand . Oder glaubt im Er nst jem and, da s s d ie Wel t zu ein em w ie auch im me r gearteten «v orp opulis tischen»
Z ust and zurückkehre n w er de , ganz gleic h, wa nn ma n diese n zei tlic h ein ord nen m öc hte? Und: Wir klic h gem ütli cher, übe rsichtli cher, be herrsc hba rer wa r die Welt we de r am
En d e de s Kalten Kr ie ges noch in den hoh en Z eit en de s isl ami st is chen Terro rs A nfang de r 2000er-J ahre – und auch nic ht in de r s chm ale n Spa nne bis etwa 2020, a ls es am Ra nde Ru ss land s (G eo rgie n, B er gkaraba ch, Kri m) be rei ts krie ger is ch rum or te und zwi sc hend urc h Fina nzkrisen um di e Welt gin gen.
Die wohl augenscheinlichste Ursach e für Unzufriedenheit und Hinwen dung vieler Menschen der im weitesten Sinne westlichen Welt (inklus ive Schwellenländ er wie Argenti nien und Brasilien) liegt nach meiner Analys e im Demokra tieversagen. Kluge Köpfe mögen einwenden, dass Demokra tie eine politisc he Organisationsform ist, die bestehe und gar nicht versagen könne, weil sie kein handel ndes Objekt sei. Versagen könnten allenfalls die sie repräsentieren den Personen.
Das ist zweifellos richtig. Da aber offenbar in vielen Teilen der Welt das Austausc hen der politisc hen Akteu re entlan g der etablierten Parteilin ien und -lager in den Augen vieler Wähler keine ihren Erwartungen gemäße Abhilfe mehr schafft, wenden sie sich neuen Repräsenta nten zu. Diese gehen mit der bestehenden Demokrat ie deut lich robus ter um und verfahren oft nach dem Motto: Wenn die Regeln keine pragmatische Lösung zulasse n, pfeife ich auf die Regeln. Man kann also durcha us sagen, dass das demokratische Regelwerk unter Druck gerät – wenngleich dies auch oft im Sinne des mehrheitlichen Wählerwill ens geschieht , was ja eigentlich wieder demokratisch ist.
Demokratie liefert nicht
Dieses Demokratieversagen hat im Wesentlichen zwei Aspekte. Der erste: Demokratie liefert nicht. Das ist nicht gefühlig, sonde rn im ganz pragmatische n Sinne gemeint. Wer sich eine effektive Kontrolle der Mig ration wünscht, bekommt sie nicht. Wer die Sonntagsreden von der überl ebenswichtigen Stärke des europäisch en Wirtschaftsraumes in der Konkurrenz zu den USA und Asien ernst nimmt, bekommt keinen starken europäische n Wirtschaftsrau m. Wer möch te, dass Europa sein e geostrategisc hen und wirtschaftlichen Interessen in der Welt durchsetzen kann, steht einem oft machtlos en Europa gegenüb er. Der Kontinent ist nicht einmal in der Lage, militär isches Drohpoten zial aufzub auen (geschw eige denn einzusetzen), mit dessen Hilfe man den Ausbruch von Konflikten vorab verhindern oder Aggr essoren bestehender Krisenher de zur Eindä mmung zwingen könnte. Stattdessen jammern Europäer, dass die USA ihnen womög lich künft ig weniger bei der Selbstverteidig ung helfen könnten, was schon verbal ein Widerspruch ist, wenn der Wortbestand teil «selbst» ernst gemeint ist.
Für all diese «Lieferengpässe » gibt es gute Begrü ndungen: mangel nde Einigk eit, widerst rebendes Recht in Europa und seinen Ländern, unterschiedliche Interessen, föderal istische Selbstb lockaden und Ähnliches .
Doch die Kenntnis der Begrün dungen macht das Hinnehmen nicht leichter. Selbst beim proklam ierten Top-Thema Klima schutz liefert die Politik vor allem wohlfeile Beschlüsse und steigende Energiep reise, reißt aber trotzdem die selbst gesteckten Ziele. Dass diese Ziele womög lich völlig unrealistisch und im Widerspruch zu einfachen physikalisc hen Gesetzen stehen, sei hier einmal freund lich beiseitegelassen, obwo hl jeder ahnt, dass ein Komplettumbau von Gesellschaft und Wirtschaft schmerzlos und ohne massive Einschnitte nicht zu haben ist.
Politiker aller Parteien sprechen von Digitalis ierung, die vorankommen müsse, von Modernis ierung maroder Infrastru ktur, von dringen der Invest ition in Bildung, Schulen, Hochschul en und Kind erbetreuu ng, von Krimin alitätsbekämp fung, mehr Wertschätzung im Bereich Gesundheit und Pfleg e, sicherer Rente und einer wie auch immer gearteten «Zukunft sfähigkeit » des Landes. Erlebt wird von alledem nichts. Im Alltag ist gerade bei diesen Themen keine Besserun g zu spüren.
Mit and eren Worten: Das Gemeinwesen, der Staat, die Politik und natürl ich dementsprechend die Politiker versagen. Man kann das für zu pauschal und für ungere cht halten, aber die Wahrnehm ung ist schlicht weg ein Faktum. Und dass sich Bürger einsicht ig nickend die Hinw eise auf begren zte Ressourcen und andere milder nde Umstände der Politik zu eigen machen müssten, wird niemand wirkli ch verlang en.
In einer repräsent ativen Befragung (2008 Teilnehmer) des Meinung sforschun gsinstit uts Forsa für den Beamtenb und über die Handlungsf ähigkeit des Staates aus dem Sommer 2023 heißt es: «So halten (…) aktuell zwei Drittel der Befragten (69 Prozent) den Staat in Bezug auf seine Aufgaben und Probleme für überf ordert – insbesond ere hinsicht lich der Asyl- und Flüchtlingsp olitik, der Schul- und Bildungspolitik und dem Klim a- und Umweltschutz. 2022 war zudem der Anteil derer, die eine Abna hme der Leistungsfäh igkeit des Staates wahrgenomm en hatten, im Vergleich zu den Jahren zuvor gestiegen.» 3
Lediglich 27 Prozent der Befragten halten demnach den Staat noch für handl ungsfähig . Interessan terweise wird diese Überforderung des Staates von nahezu allen Bevölkerungsund Wählergrup pen wahrgen ommen, schreib en die Autoren, mit einer Ausnahm e: Lediglich die Anhä nger der Grünen sehen den Staat mit knap per Mehrhei t noch in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. Das allgege nwärtige Thema Klimaschutz schein t hier durch häufig e Erwähnung zumindest den
Ansch ein umfassen den Bemühens zu erwecken, was von dieser Klientel gewür digt wird. Andere Themen sind grünen Milieus womög lich weniger wichtig.
Wörtlich heißt es in der Studie: «Wie bereits in den vergangen en Jahren glauben weiterhin nur wenige Befragte (11 Prozent ), dass die Leistungsfä higkeit des öffentlichen Dienstes in den letzten Jahren größer geworden sei. Deutlich mehr Befragte (45 Prozent ) allerdin gs glauben , wie bereits im letzten Jahr, die Leistungsf ähigkeit des öffentlichen Dienstes sei eher geringer geworden. 35 Prozent sehen keine Veränderu ng bei der Leistung sfähigkeit des öffentlichen Dienstes. Dass die Leistung sfähigkeit des öffentlichen Dienst es in den letzten Jahren abgen ommen hat, meinen in überd urchschnit tlichem Maße die Anhä nger der AfD (65 Prozent).» 4
Letzteres wirft ein Schlaglicht auf die Wahrnehmung wachsender Lieferschwierigkeiten des Staates – für den der öffentliche Dienst exemplarisch steht – durch jene, die sich vom etablierten Parteienspektrum abgewandt haben. Die Erwartung, in einem funktionierenden Staatswesen zu leben, in dem man Ämter- und Arzttermine einfach bekommt, vernünftige Schulen, Bahnen und Straßen vorfindet und nachts unbehelligt nicht nur Teile der Stadt besuchen kann, tritt hier ganz offensichtlich einer unbefriedigenden Realität gegenüber. Dass die dafür verantwortliche Politik in Bund, Land und Kommunen nach den Regeln demokratischer Wahlen und Teilhabe zustande gekommen ist und womöglich föderale, finanzielle oder juristische Hindernisse effizientes Verwaltungshandeln behindern, muss den Bürger als Finanzier und «Endverbraucher» des demokratischen Staates nicht oder nur am Rande interessieren. Er bewertet das Produkt und ist unzufrieden.
Repr sentanzl cken der Demokratie
Der zweite Aspekt des Demokra tieversagens geht noch tiefer an den Kern der «Volksherr schaft» (altgriech isch demos –
Volk, kratos – Kraft, Macht, Herrschaft) und betrifft das demokratische Prinzip selbst: die Repräsentanz des Volkswillens durch die jeweilige Regierung und die mit ihr assozii erten Eliten .
«Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokr atie wieder zurückholen muss», rief Bayerns stellvert retender Ministerpräsid ent und Bundesche f der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, am 10. Juni 2023 in die johlende und applaud ierende Menge von Erding , wo die Kabarettistin Monika Grube r mit einigen Mitstreit ern eine Demonstration gegen das Heizungsgesetz der Berliner Bund esregier ung organis iert hatte. Der Historiker Andrea s Rödder (CDU) bezeichnete diese Demonstration und im Speziellen diesen Satz als einen «ikonis chen Moment» und wurde dafür ebenso heftig gesch olten wie Aiwanger selbst, der im Landta g gar zum Rücktritt aufgefordert wurde, weil er die Demokra tie verächtlich mache, die er selbst an herausgehobener Stelle repräsent iere. Rödder hat völlig recht: Aiwanger s Rede ist ein «ikonis cher Moment» – nicht wegen Aiwang ers volkstüm licher Invektive («ihr in Berlin habt’s wohl den Arsch offen»), sondern weil er im eher gefühlsg esteuerten Redeschw all genau jenes Empfinden auf den Punkt brachte, hinter dem sich der zweite Aspekt des Demokra tieversagens verbirgt: eine beträchtliche Repräsentanzl ücke. Diese treibt jene zu den politisc hen Rändern, die in den zurückliegenden Nachkrieg sjahrzehnten mit dem parteipolitischen Angebot entwed er zufrieden waren, womög lich wechsel nd wählten oder den allgem einen Politikbetrieb zumindest so gleichmüt ig über sich ergehen ließen, dass sich keine bruchh aften Veränder ungen abzeichneten.
Aiwang er liefert einen Schlüssel satz für das Verständnis dieses heraufziehenden Neuen, das Tucholsky schon vor einhundert Jahren beschrieb: eine innere Unruhe, ein Nichtzufriedensein mit dem demokratischen Mess- und Regelsystem. Im Kern spricht der demokratisch gewähl te und
legitimier te Aiwang er aus, was er in seiner Position eigentlich nicht formulieren dürfte, ohne die Verfasstheit zu beschädigen , auf der sein Amt beruht : Er benennt jenes Empfinden vieler Menschen, wonach es einen Unterschied gibt zwisch en «formaler Demokrat ie» mit ihren gesetzlich fixierten Regeln und jener Mitwirkungszusag e, die die Wähler damit verbinde n (womöglich zu Unrecht) und nicht eingelöst sehen.
Der Konflikt, der sich dahinter verbirgt, lässt sich freilich nicht mit dem Verweis darauf entkräften, dass alle vorgesch riebenen Regeln, Quoren und Stufen etwa von Gesetzgebung sverfahren eingehalten wurd en oder dass es nun mal nur alle vier Jahre Wahlen im Bund gebe und man in der Zwischenzeit die legale Gesetzgebungsko mpeten z zwar nicht klaglos, aber doch ertragen müsse. Ebenso wenig hilft der Einwa nd, dass auch in einer Demokra tie das Volk die Regeln akzeptieren müsse und nicht wie ein bockiges Kind, das beim Brettspiel nicht verlieren kann, den Tisch einfach umwerfen darf, wenn sich die Dinge in eine unwillkom mene Richtung entwickeln.
Das ist grund sätzlich richtig, hilft aber nicht weiter, denn das Volk kann selbstverständlich aufbraus end und unwirs ch reagieren, weshalb kluge Regenten die Stimmungslage im Land im Blick behal ten und sich nicht auf dem formal erteilten Machtmandat ausruhen sollten. Denn ander s als beim bockigen Kind hat die von ihren Bürgern gewählt e Regierung zwar ein Mandat, aber keinen Erzieh ungsauftr ag. Wenn der klügste Regentenplan den Regierten nicht passt, dürfen sie es kundt un. Das Regierungsmand at bedeut et in einer funktionie renden Demokra tie nicht vier Jahre Allmacht, sond ern vier Jahre Politik mit Rückbindun g, Erklären und Überzeugen. Anders als in der Familie können die bockigen «Kinder» Regierungen abwählen, die sich zu Vormündern aufschwingen. Das macht demokratisches Regieren schwierig er und Rechthabere i im Amt langfri stig riskant.
Bund estagsvize präsident Wolfgang Kubick i (FDP) brach te das in einem Leit artikel für die Welt (25. Januar 2024) auf den Punkt: «Die derzeitige Stärke des rechten politisc hen Randes resultiert vor allem aus der Schwäche der polit ischen Mitte. Es ist in den vergangenen Jahren eine politisc he Repräsentationslücke entstanden , weil ‹die› Politik mutmaßlich immer selbstreferenzieller geworden ist.»
Bestimmten politisc hen Milieu s sei es in den zurückliegend en Jahren anschein end vor allem darum gegangen, Dinge durch zusetzen, die für das Selbstverständ nis, das (Über)Leben der eigenen Klien tel und den eigenen Machterhalt wichtig und vorrangig waren. «Anders ist nicht zu erklären, dass gesells chaftlich e Mehrheiten in großen und kleinen Fragen wie dem Atomausstieg, der Migrationsp olitik oder auch beim Selbstb estimmu ngsgeset z sowie dem Gendern in der Verwaltungssp rache keine Rolle spielen. Der mündige Bürger ist als politisc her Referenzpunkt offenbar obsolet geworden» , so Kubicki weiter.
Besser und deutlicher kann man Demokra tieversagen nicht beschreiben. Das ist umso bemerkenswerter, als Kubicki Teil jener Ampel -Regierung ist, die oft genug in genau diesem Stil handel t und argument iert. So erfrischend diese nicht vom Amt verstellte Klarsicht auch ist, so nachvollziehbar ist es, wenn kritische Bürg er es bemän geln, dass Kubic ki im Sinne der Koalit ionsräso n dan n doch vielen Vorhaben zustimm t.
Der Schärfe und Treffsicherheit seiner Analys e nimmt das allerdings nichts, wenn er schreib t: «Wer die Abwen dung großer Teile der Wählerschaft von der demokratischen Mitte beklagt, der versucht, das eigene Versagen zu kaschieren. Manch e politisc hen Kräfte versuch en dabei soga r noch, sich zugleich selbst als Kämpfer gegen ‹Rechts› zu stilisieren.
Denn wer erklärt, mit den ‹Nazis› geht es euch schlecht, der muss irgendwa nn die Kommunikatio nsstrategie ändern, wenn die Menschen merken: Es geht ihnen auch so schlecht. Dann wird die ‹rich tige Haltung› zur letzten Bastion der
politisc hen Antwor ten. Man erklärt also sinngem äß: Wir sind besser, weil wir besser sind. Ob das in der Breite überzeugend ist, mag jeder für sich selbst beantwor ten.»
Das Kuriose ist, dass sich dieser zu den polit ischen Rändern (vor allem nach rechts) drängend e Frust auch in den sechzehn Jahren aufgebaut hat, als man von einer Kanzl erin regiert wurd e, die sich durcha us an Stimmungen orientier te und Politik eher unter sich geschehen ließ, statt sie selbst zu gestalt en. Angela Merk el (CDU) kämpfte richtigerweis e für länger e Laufze iten der Kernk raftwerke und kassierte diesen Beschluss entgeg en ihren Überzeugungen gewisserm aßen über Nacht , als die (wenig rationa le) Superg au-Angs t in eine Anti-Atom-Stimmun g zu kippen drohte. Merkel führte auch den Mindestloh n gegen ihren eigenen Wirtschaftsfl ügel ein, redete Geschlechterparität das Wort und ermöglichte die gleichges chlechtliche Ehe, obwohl sie selbst anschli eßend aus Überzeugung dagegen stimmte.
So gesehen hab en die Deutschen den kritischen Umgang mit Ideologen wie den Grünen, die in der Regierung ihre Projekte im Sinne höhe rer Menschheitsbeglückung stur durchziehen , schlicht weg verlernt. Die Frage ist am Ende allerdings nicht, ob man sich ein Sensoriu m für die Stimmung im Land bewah rt hat, sonder n ob man mit diesem Sensorium die wirklich prägenden Stimmungen wahrnimm t. Wer auf die falschen Milieus hört und setzt, läuft trotz weltansch aulicher
Flexib ilität in die Irre.
Doch bei allem Unmut und allen Umfragen, die der AmpelRegierung in der Beliebtheit ein Allzeit-Tief zuweisen, geht es gar nicht um gewaltsame Umstürze, wilde Barrikaden oder besetzte Rathäuser. Die Deutschen, Amerikaner, Argentinier, Niederländer, Schweden usw. tun nichts anderes, als die Demokratie und die Demokraten beim Wort zu nehmen und Parteien zu wählen, die einen massiven Politikwechsel versprechen. Und auf einmal soll nun auch das falsch sein, beschließen Eliten aus Kultur, Wirtschaft und Politik, die mit der bestehenden
Ordnung gut leben und davon profitieren können oder sich mit ihr zumindest weitgehend arrangiert haben. Dieser Misston und dieser Widerspruch teilen sich auch jenen mit, die nicht täglich Nachrichten konsumieren und die Spiegelstriche des Berliner Parlamentsbetriebs intensiv beobachten.
So hat etwa in den ostdeutschen Bundesländern der Umgang mit der AfD und anderen «rechtspopulistischen» Bewegungen einen besonderen Beigeschmack, der mit den Umbrüchen der Wende- und Nach-Wendezeit zusammenhängt. Damals mussten Ostdeutsche in kurzer Zeit nicht nur marktwirtschaftliches Wirtschaften (mit all seinen Härten) lernen, sondern auch einen Crashkurs in Demokratie absolvieren. Diese kommt zwar nicht immer effizienter und schneller zu Entscheidungen, erhebt aber dafür den Anspruch, staatliches Handeln nach rechtsstaatlichen Grundsätzen überprüfbar zu machen und etwa durch Bürgerbeteiligung die sogenannte Zivilgesellschaft (welche gibt es denn sonst noch?) mit einzubeziehen. Das ging so lange gut, wie sich das bürgerliche Enga gement auf kleine Initiative n beschränkte und weder kommun alnoch landes- oder bund espolitisch wirklich einflussr eich wurde. Spätesten s seit dem Aufkommen der «Pegida »-Demonstrationen in Dresden aber war vom Einb ringen «zivilg esellschaftl icher» Impulse in das demokratische Gemeinwesen nicht mehr die Rede. Stattdessen mischten sich deutlich obrigkeitsstaatl iche Untertöne in die Debatte. Kan zlerin Angel a Merkel etwa forderte in ihrer Neujahrsa nsprache 2016, «denen nicht zu folgen» . Und als der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel einen Versuch unterna hm, mit den Demonstranten ins Gespräch zu kommen , wurde er öffentlich schwer unter Beschuss genomm en, obwo hl das im Grun de die richtige und vernünftige Reaktion eines Demokraten ist.
Mit ander en Worten: In der Wahrneh mung vieler Ostdeutscher erweisen sich die Hohelieder auf die Vorzüge der Demokra tie in dem Moment als hohl und heuchlerisch, in dem ein ernsthafter Politikwechsel auch nur in die sichtbare
Nähe des Möglichen gerät. Interessan terweise teilen dieses Bild Menschen der unterschiedlichs ten Milieus – abgesehen von den Grünen, die es allerdings im Osten auch sehr schwer haben. Der Tenor, dem ich hier immer wieder begegn e, lautet: Man hat uns erklärt, Demokra tie sei «friedlicher Machtwechsel», und jetzt heißt es: «Aber nicht so, wie ihr das wollt, nicht mit dieser Partei und nicht mit diesen Inhalten. Bitte wählt aus dem bestehenden Menü aus.» Dass eine solche Argumentation nicht besonders überzeugend wirkt, dürfte nachvollziehbar sein.
Noch einmal Bundesta gsvizep räsident Wolfgang Kubicki: «Wenn die AfD in Berlin nur noch plakatieren muss: ‹Jetzt AfD›, dann ist der Protest bereits das Programm.» Es entgeht auch jenen, die nur mäßig politisc h interessiert sind, nicht, dass angesichts der hohen Umfragewert e der AfD etliche der sich markig und couragiert ins Zeug werfend en «Demokraten» mit undemokratischen Mitteln unterw egs sind und sich damit selbst widerl egen.
Wenn etwa Regeln für die Parteienfinanz ierung oder die Finanzierung der parteinahen Stiftung en so abgefasst werden, dass ausgerechnet eine Partei (die AfD) nicht in den Genuss der ansonsten allen zustehenden Gelder kommt, mag das formal rechtens sein, dem demokratischen Geist folgt es ganz sicher nicht. Ganz zu schwe igen von so bizarren Schaustücken wie der Rückabwickl ung der Thür ingen-Wahl 2020, weil FDP-Mann Thoma s Kemmerich mit den Stimmen der AfD ins Amt kam. Die Liste ließe sich beliebig verläng ern.
Dazu Kubicki: «Wir wären dumm, auf diesem Weg einfach weiterzumachen, anstatt endlich wieder unsere eigentliche demokratische Aufg abe zu erfüllen: zuhören, die unterschiedlichen Interessen abwägen, Lösungen erarbeite n und anbieten – Lösungen, die die übergroß e Mehrheit der Menschen zumindest nachvollziehen kann. Der Gipfel der Hilflosigke it sind allerdings die immer lauter werdend en Rufe nach Parteiverboten und dem Entzug von Grundrechten. Und hier wird
es gefährlich, denn manche Demokr aten drohen undem okratisch zu überziehen und selbst den Boden der Verfassun g zu verlassen.»
Dem ist nichts hinzuzu fügen. Wer nach den tieferen Gründen für den Siegeszug der Populisten sucht, bekommt hier Futter. Und auch an dieser Stelle gilt der Satz von Kurt Tucholsk y: «Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.» 5 Es ist kein Wunder, wenn sich gerade im Osten eine Art Micha el-Kohlhaas-St immung breitma cht, aus Trotz und verletztem Rechtsempfind en.
Je ne, de nen m an imm er wi ed er erklärt hat, d ass d ie freiheit li che Dem ok ratie ebe n ger ade kein « Sy st em » im realso zi ali st is chen Sin ne ist , wo d ie Ob ri gkei t zurücksc hlägt, we nn si e in frage gest ell t w ir d, so nde rn ein e lernende , offen e Ges el lsc haft de r Re de und Ge genre de – all jene se hen s ic h du rch s ol che kasc hie rten, abe r letztli ch do ch autori täre n Ak zente ih rer Ge gner nun da rin b es täti gt, da ss Dem okratie auch nic hts and er es s ei als ein «M achtin st rume nt de r her rsc hende n Kl ass e» , wie ma n es ehede m s chon im DDRStaats bü rger kunde unter ric ht gele rnt hat.
Es wäre darum eine wesentliche und dring liche Aufgabe der demokratischen Kräfte in Deutschl and, dies durch eine geläut erte, gelebte und lebend ige Demokr atie als Trugschluss zu wider legen oder – wo nötig – als Fehlentwicklu ng zu beklagen und sie gemeinsa m wieder aufzuricht en. Demokra tie ist in ihrem Kern ein Wettbewerb der Ideen, ein Ort, wo in der Sache gestritten werden darf und sogar gestritten werden muss, um für komplex e Fragestellung en die bestmö glichen Antwort en zu finden und umzuset zen.
Die Nachkriegsordnung der Bundesregierung zerf llt
Dabei steht derzeit mehr auf dem Spiel, als wir womögl ich glauben. Es geht darum, ob wir das Erbe der Nachkriegsordnung erhalten oder ob deren Grundlagen dem Zerfall
anheimgestellt werden. Das ist kein Griff in die Kiste der ganz großen Schlagwort e, sond ern ein schleichen des Auflöse n eines polit-ges ellschaft lichen Geflechts, das sich seiner selbst noch vor einem Jahrzeh nt gewiss war und funktionie rte.
Um zu verstehen, was dam it gemeint ist, müssen wir zu den Anfän gen der Bund esrepublik zurückkehren, vor allem aber zu den Intentionen des Grundgesetzes. Dessen Autoren hatten die Gräuel der nationa lsozialist ischen Verbrechen, aber auch die für den Aufstieg des Hitlerismus ursächlichen Mechanismen noch plastisch vor Augen und zogen im Grundgesetz die Lehren daraus.
Der Bundesp räsident kann deshalb den Bund estag heute nicht mehr so ohne Weiteres auflöse n. Der Bundest ag selbst kann es schon gar nicht. Das vorzeitige Ende der Legislat urperiode, die Kanzl er Gerha rd Schröder 2005 mutwill ig herbeiführ en ließ, war ein in dieser Form nicht wiederho lbarer Trick, der die bestehende Rechtslage weit über Gebühr dehnte. Man kann nicht einfach so lange wählen, bis das Ergebnis passt. Die Aufteilu ng der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern, unter der wir heute so oft stöhnen , folgte einem klugen und lange Zeit eben auch funktionie renden Ratschluss, dass näml ich eine deut sche Bund esregi erung nicht wieder von Berlin (oder von wo auch immer) aus durchreg ieren können sollte.
Die Unterteilung in Bund und Länder folgte ebenfalls dieser Logik: Wenn erneut düstere Stimmungsstürme über dem Kernland Europas aufzögen, würden sie allenfalls nach und nach in manifeste Politik umschlagen können. Fiele etwa der Bund in die Hände von Scharlatanen, so gäbe es noch sechzehn Bundesländer, die über den Bundesrat und ganz unterschiedliche parteipolitische Landesregierungen die Schlagkraft von Kanzleramt und Bundeskabinett ausbremsen könnten. Das ist der klugen Architektur unserer Verfassung geschuldet, die uns auch in anderer Hinsicht bis heute einen sehr tragenden Rahmen gibt.
Erst längerfristig anhal tende politisc he Strömungen würden nach diesem im Grundgesetz angelegt en Schnittmuster nach und nach auf die föderalen Ebenen überschwappen, sodass bruchha ftes Umschla gen der deutschen Politik kaum möglich wäre. Im Falle der Grünen beispielsweise – die Ende der Siebziger-, Anfang der Achtziger jahre als Bewegung , später als Partei aufst iegen – hat es Jahre geda uert, bis sie die ersten Landesminister stellten; der erste Ministerpräsident folgte Jahrzehnte später. Und die im Osten ehedem starke Linksp artei stellt erst seit 2014 einen Landeschef.
Das personalisierte Verhältnisw ahlrecht trägt ebenfalls dazu bei, dass popul äre Parteie n kaum einen Durchma rsch hinlegen können wie etwa im anglo- amerikanis chen Wahlsystem. Und selbst der öffentlich-recht liche Rundfunk (ÖRR) ist so zugeschnitten, dass ein einseitig er politisc her Zugriff kaum möglich ist, weil die nach unterschiedlichen parteipolitisc hen Farbe n regierten Länder sich gegenseit ig kontrollieren . Das Bundesverfassungsgericht hat in der Zwischenzeit die Finanzierung des ÖRR zur zentralen Säule demokratischer, freier und (vermeintlich) verlässlich er Information erklärt, sodass auch ein einfaches Zudreh en des Geldhahns nicht funkt ioniert.
Im Zusamm enspiel dieser Gesamtkons truktion sollte nach dem Willen der Verfassungsväter und -mütter eines garantier t sein: Stabilität. Demokratisch e Verläss lichkeit und Unanfälligkeit für kurzfristige politisc he Schlagwetter. Ein weiser Entwurf, der die Bund esrepublik mindestens siebzig Jahre gut durch die stürmischen Zeitläufe gebra cht hat und von den Bürger n – vorsichtig e, evolutionä re Reformen eingeschloss en – ohne grundsä tzliches Murren mitgetra gen wurde.
Ein stabil es Gerüst, das in den letzten Jahren von immer mehr Menschen als ein starres Korsett wahrgenom men wurde, eine beeng ende Schale wie das Außen skelett eines Krustent iers, das sich nicht abstreife n lässt. Es ist immer schwierig, historische Abläufe nach den entscheid enden
Wendemarken zu sortieren. In meiner Wahrnehmu ng als im Innern des Berliner Politikbetriebs agieren der Beobacht er waren die Finanz- und Euro- Krise, in der es fast zum Rauswurf Griechenlands gekomme n wäre, gewitt rige Vorläufer tiefer Polarisierung in der Gesellschaft, die allerdings noch keine wirklich umwälzend e Wucht erlangten.
Das war in der Migrationskr ise 2015/2016 und den Folgejahren ander s. Im Herbst 2015 schlug die ursprüngl iche Hilfsbereitschaft gegenüb er den zuströmend en Flüchtling en mehr und mehr in Sorge, Angst und Entsetzen um, weil die Überforderung in Bund , Ländern und Kommunen entgegen dem Kanzl erdiktum «Wir schaffen das» immer deutlicher wurde. Auch die Veränder ungen im Straßenbild bis hin zu Kleinstä dten und kleineren Ortschaf ten alarmiert en über Parteigrenzen hinweg die Pragmat iker, die mit Unterbring ung, Integrat ion, Betreuung usw. zu tun hatten.
Dass Vertreter einer staatstragenden Partei wie der Union ernsthaft darüber nachdachten, die Kanzlerin zu stürzen, so etwas ist mir in mehr als dreißig Jahren journalistischer Erfahrung nicht untergekommen. Damals kamen auch Überlegungen auf, ob es nicht plebiszitäre Elemente brauche, um eine Politik zu stoppen, die das Land nicht nur teuer zu stehen kam, sondern ihm in den Augen vieler auch massiv schadete.
Die Mig ratio nsk ris e w ar nic ht die Gebu rts st unde de s w iede rer st arkend en Pop uli smus in Ge st alt de r A fD, abe r es wa r jener hist or isc he Wende pu nkt, an de m di e Af D aufst ie g und si ch im Parteie nsp ektrum etabl ie rte. Seit de m ist da s Knirsc hen im de mo kratisc hen Gebälk de r B undes regier ung nic ht le is er gew or de n. Im Sommer 2018 dr oh te tats ächlic h da s vo rfri st ig e En d e d er Kanzl ers chaft An gela Mer kels , die si ch nur m it aller lei Tri cks (z. B. vö ll ig si nnlo se n E UGipfeln) und du rch d as Ei nle nken de r CSU (vor a ll em des da m ali gen B unde sinnenmi nisters Ho rst Seehof er) retten kon nte.
In Deutschl and zumindes t ist es genau diese in der Staatsverfasstheit angelegt e Orientieru ng auf Stabilität, die knapp achtzig Jahre nach Kriegsende von vielen Menschen nicht mehr als verlässlich wahrg enommen wird, sondern als verkrustet, als Stillsta nd und unfähig zur Reform. Wenn in einer INSA-Umfrage für die CSU 76 Prozent der Befragten einen «Politik wechsel » wünschen, wird das mehr als deutlich. Dabei wurde im Nachk riegsdeutschland akrib isch darauf geachtet, gerad e durch Bildu ngsföderal ismus eine Vielstimmigkeit zu etablieren, die mit einer Zentralregierung und zentraler Bildungsp olitik nicht möglich gewesen wäre. So sollte verhindert werden, dass die Jugend aberm als, wie im Dritten Reich, indoktrinier t werden kann. Der Bildungsfö deralismus sollte durch einen «gesu nden» Wettbewerb der bildungspo litischen Ansätze auf Landesebene die besten Konzepte zum Vorschein bringen und ihnen durch Nacha hmung zum Durchbruch verhelfen.
In der Realität hat das nur in Teilen funktionie rt. So eindrückl ich, wie der Plural ismus hochgeh alten wurde, so dramatisch waren die Untersch iede in der Exzellenz: Bayern, durchw eg CSU-regiert, lag mit seinen Ergebnissen 70 Jahre lang an der Spitze der Bildungsergebniss e, Bremen, 70 Jahre durchw eg SPD-regiert, lag ebenso daue rhaft und hartnäck ig am Ende der Leistungss kala. Mit and eren Worten: Anstatt um die «Best Practice» zu eifern, haben sich hier offensichtlich über Jahre Apparate geweigert, die Realitä t zur Kennt nis zu nehmen. Anstatt «der Stadt Bestes zu such en» 6 und der nächsten Genera tion die Steigbü gel zu halten, verwaltete man stoisch die rote Laterne. Das schafft Verdruss, lässt Innovation ersticken und Bürge r an den Institutionen zweifeln. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie die demokratische Verfasstheit der Bundesrep ublik als unzulänglich empfund en wird und der Eindr uck entsteht, das System taug e und liefere nicht.
Die Seiten 36 bis 301 sind nicht in dieser Leseprobe erhalten.