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Bonnie Buntain Long mit Yasmin D’Souza

Mark und Huldah Buntain in Kalkutta – es gibt noch so viel zu tun


2 / HÖRT IHR SCHREIEN!

Ich widme dieses Buch drei kostbaren Menschen, die mein Leben geprägt haben: meinem Vater Mark Buntain, der mich mit einem liebenden Gott bekannt gemacht hat, meiner Mutter Huldah Buntain, durch die ich Indien lieb gewonnen habe, und meiner verehrten Mutter Teresa, die mich gelehrt hat, die Armen zu lieben.

© Copyright 2005 by Bonnie Buntain Long Titel englischen Originalausgabe Hear Their Cry © Copyright der deutschen Ausgabe 2005 by ASAPH Verlag Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Njock. Satz: ASAPH/Jens Wirth Druck: Breklumer Druckerei M. Siegel, D-Breklum Umschlag: ASAPH/Jens Wirth Best.-Nr. 147365 ISBN 3-935703-65-1 Printed in the EU Für kostenlose Informationen über unser umfangreiches Lieferprogramm an christlicher Literatur, Musik und vielem mehr wenden Sie sich bitte an: ASAPH, D-58478 Lüdenscheid eMail: asaph@asaph.net – Internet: www.asaph.net


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 Ich freue mich sehr, dass meine Tochter Bonnie und ihr Ehemann Dr. Jim Long die Aufgabe übernommen haben, die humanitären und medizinischen Dienste weiter zu vertreten, die Mark und ich 1954, kurz nach unserer Ankunft in Kalkutta in Indien begonnen haben. Es zerriss uns damals das Herz, die vielen Tausend in Armut lebenden Familien zu sehen, die auf den Straßen von Kalkutta lebten oder auch in den unzähligen Slums, die „Bustees“ genannt werden und in denen ein unbeschreibliches Elend herrscht. Ebenso betroffen waren wir über die Tausende ungebildeter Kinder. Wir wussten gleich, dass wir als Erstes eine Schule für mindestens 200 Kinder bauen mussten. Mit Gottes Hilfe betreuen wir heute insgesamt 16.000 Schüler in unseren verschiedenen Schulprojekten in den 11 indischen Bundesstaaten, in denen wir tätig sind. Wir haben Schulen vom Vorschulkindergarten bis zum Junior College (entspricht den ersten zwei Hochschuljahren), Berufsschulen und Fachhochschulen (Colleges) für die Ausbildung zum Krankenpfleger und zum Lehrer. Täglich waren wir damit konfrontiert, dass viele Kinder aufgrund von Unterernährung krank und schwächlich waren. Angesichts dieser Not fühlten wir uns gedrängt, die Jungen und Mädchen nicht nur zu unterrichten, sondern auch zu ernähren und medizinisch zu versorgen. Wir begannen ein Ernährungsprogramm für Schulkinder, das über die Jahre zahlenmäßig gewachsen ist und durch das heute Tausende von Schülern in unseren Schulen mit Mahlzeiten versorgt werden. Darüber hinaus wurden in einigen anderen Gegenden Kalkuttas weitere Ernährungsprogramme zu unterschiedlichen Tageszeiten gestartet. Wir haben klein angefangen, und heute ernähren wir durch die verschiedenen Projekte 18.000 Kinder. Für viele ist es die einzige richtige Mahlzeit am Tag, die sie bekommen.


4 / HÖRT IHR SCHREIEN! Unser Krankenhaus begann mit nur 16 Betten. Wir stellten bald fest, dass dies für die physischen Bedürfnisse von Tausenden kranker und leidender Menschen in einer 18-Millionen-Stadt bei weitem nicht ausreichte. Heute haben wir ein Krankenhaus mit 173 Betten und verschiedenen Fachbereichen, in dem jedes Jahr über 100.000 Menschen behandelt werden. Jeden Morgen, noch ehe die Krankhaustore geöffnet werden, stehen viele Menschen Schlange und warten darauf behandelt zu werden. In den letzten fünfzig Jahren habe ich immer wieder gemerkt, dass Gott für unser Leben einen Plan und ein Ziel hat. Mark und ich hätten uns niemals träumen lassen, dass wir so viele Jahre in der von Armut und Elend gezeichneten Stadt Kalkutta zubringen würden. Unsere Tochter Bonnie war erst ein Jahr alt, als wir dort hinkamen. Die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens verbrachte sie zum größten Teil in Kalkutta, danach ging sie aufs College in die Vereinigten Staaten. Interessanterweise spielte sie als Kind immer Krankenschwester. Ihre indischen Spielkameraden waren ihre Patienten. Diesen Wunsch, Krankenschwester zu werden, hat Bonnie nie verloren, obwohl ich oft versuchte, sie zu einer Ausbildung in Betriebswirtschaft zu überreden. Das war mein Arbeitsbereich, und deshalb wollte ich gerne, dass sie eines Tages, nach ihrer Ausbildungszeit, zurückkommen und mir zur Seite stehen würde. Unsere Mission erfuhr ein starkes Wachstum, und wir brauchten ausgebildete Kräfte. Doch Gott hatte andere Pläne für ihr Leben. Die Familie Long kam nach Kalkutta, um uns zu vertreten, damit wir für einen kurzen Heimaturlaub in die Staaten zurückkehren konnten. Wir waren fast sieben Jahre nicht zu Hause gewesen. Da es einige Monate dauerte, alle Bereiche des Dienstes an Jim und Velma Long zu übergeben, gingen Bonnie und die beiden älteren Kinder der Longs zusammen zur Schule. Wir waren enttäuscht, als das zweijährige Visum der Familie Long nicht verlängert wurde und sie Indien verlassen mussten. Jim verbrachte den Rest seiner Schulzeit in Manila, auf den Philippinen, wo seine Eltern ihre neue Stelle angetreten hatten. Im College machte Bonnie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Jim, der schon vorher in die Staaten gekommen war, hatte einen Kurs in Naturwissenschaften belegt, um sich auf das Medizinstudium


VORWORT / 5 vorzubereiten. So war Bonnie wieder mit Jim Long, ihrem vormaligen Schulfreund, zusammen. Offensichtlich hatte Gott die beiden mit einer bestimmten Absicht wieder zusammengebracht, die sich, wie ich glaube, jetzt in ihrem Leben erfüllt. Nach Abschluss ihrer Ausbildung heirateten sie, und Bonnie arbeitete als Krankenschwester, während Jim sein Studium noch einige Jahre fortsetzte. Er strebte gleichzeitig einen Abschluss in Medizin und einen Doktortitel an. Mit harter Arbeit und jahrelangem Studieren hat er inzwischen viele Titel erlangt. Heute ist er einer der führenden Thoraxchirurgen in den USA und Leiter der Abteilung für künstliche Herzen und Transplantationen in einem der besten Krankenhäuser von Salt Lake City. Wegen seiner Forschungsarbeit und der Entwicklung eines neuen Gerätes zur Unterstützung der Herzfunktion durch sein Team wird er in vielen Ländern der Welt zu Vorträgen eingeladen. Trotz ihres bewegten Lebens und eines vollen Zeitplans gehört das Krankenhaus in Kalkutta zu den Prioritäten von Bonnie und Jim, der auch Vorsitzender unseres Krankenhausbeirats ist. Bonnie arbeitet weiterhin in Teilzeit als Intensivkrankenschwester, hilft Jim bei der Leitung unseres Krankenhauses und arbeitet auch in vielen anderen unserer Barmherzigkeitsdienste mit. Zurzeit arbeitet Bonnie mit anderen Organisationen, unter anderem den von Mutter Teresa gegründeten „Missionarinnen der Nächstenliebe“, unter den bedauernswerten AIDS-Opfern und unter jungen Mädchen, die in die Prostitution verkauft wurden. Unser Krankenhaus in Kalkutta beteiligt sich an diesen Programmen. Als meine drei Enkelsöhne Mark, Daniel und Paul klein waren, verbrachten sie ihre Sommerferien bei mir in Kalkutta. Mark ist jetzt dabei, seinen Universitätsabschluss zu machen, Daniel hat gerade sein Studium mit einem Bachelor-Titel abgeschlossen und Paul ist in seinem zweiten Collegejahr. Ich bin so dankbar dafür, dass sie Indien lieben und regelmäßig nach Kalkutta kommen und dass sie sich so sehr für alle unsere Dienste interessieren. Obwohl es sehr schwer zu verstehen war, warum mein Mann Mark im Juni 1989 so plötzlich von uns genommen wurde, bin ich dankbar, dass er ein großes Erbe hinterlassen hat. Dieses Erbe hinterließ er nicht nur seiner Familie, sondern auch den indischen Verantwortlichen der Mission, die er selbst noch ausgebildet hat. Es war so herrlich


6 / HÖRT IHR SCHREIEN! für mich, anlässlich meines 50. Dienstjubiläums zu sehen, dass Kinder, die aufgrund ihrer extremen Armut keine Hoffnung auf eine Zukunft hatten, jetzt in unserer Mission als Leiter, Pastoren, Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer, Administratoren und Büroangestellte arbeiten, weil sie eine Ausbildung erhalten haben. Die Worte der Inschrift auf Marks Grab in Kalkutta sprechen Bände: „Er lebt fort in den Menschen, deren Leben er beeinflusste.“ Bonnie hat dieses Buch aus einem tiefen Herzensanliegen heraus geschrieben, und ich bin gewiss, dass es jeden Leser ermutigen wird, die enormen Nöte jener zu verstehen, die in einer von Armut gezeichneten Stadt leben, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ich bin ebenfalls gewiss, dass die Lektüre dieses Buchs jeden Leser inspirieren wird, sich für die Tausende völlig verarmter, leidender und sterbender Menschen in Kalkutta einzusetzen. In dem Teil der Welt, in dem wir leben, sind wir so reich gesegnet, und deshalb fällt es einem Menschen aus dem Westen schwer, die Nöte zu verstehen, die Bonnie in diesem Buch so gut beschreibt. Ich bin Bonnie und Jim und anderen dankbar, die sich der Herausforderung gestellt haben, das Schreien der Armen zu hören. Ich möchte Sie herzlich einladen, unsere Website www.buntain.org zu besuchen, um mit eigenen Augen zu sehen, was Calcutta Mercy Ministries bisher schon bewirkt hat. Schließen Sie sich uns an und helfen auch Sie den Kindern, Frauen und Armen. Sie werden gebraucht! Gottes Segen, Rev. Dr. Huldah Buntain Mutter von Bonnie Long und seit über 50 Jahren Missionarin in Kalkutta, Indien Wenn Sie mehr über unsere Arbeit in Indien erfahren möchten, schreiben Sie mir unter hbuntain@aol.com.


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 



1. Kapitel Heimkehr in die „Stadt der Freude“

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2. Kapitel Frauenprobleme

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3. Kapitel Im Bordell geboren

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4. Kapitel Brustkrebs bei jeder 58. Frau

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5. Kapitel AIDS in Indien

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6. Kapitel Mutter Teresa: Kampf gegen Abtreibung durch Adoption

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7. Kapitel Wer tritt in Mutter Teresas Fußstapfen?

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8 / HÖRT IHR SCHREIEN!

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8. Kapitel Mark, Huldah und Bonnie Buntain

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9. Kapitel Die 50 Jahre des Wirkens von Mark und Huldah Buntain

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 10. Kapitel Calcutta Mercy Ministries: Die Arbeit geht weiter

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10 / HÖRT IHR SCHREIEN!


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  Das Flugzeug kreiste im Luftraum, als wir uns Kalkutta näherten. Ich hörte auf die Durchsage des Piloten, die krächzend durch den Lautsprecher tönte. Die Landung würde sich verzögern. Der Nebel draußen war wie immer undurchdringlich. So nah – und doch so fern, dachte ich, als ich aus dem Fenster schaute. Ich wollte endlich landen, doch dieser Nebel hinderte uns daran. Das Wetter war typisch für Kalkutta. Der Temperaturunterschied zwischen Nacht und Tag sorgte täglich für Dunst, Nebel und Smog. 18 Millionen Menschen leben in dieser Stadt, die sich über nur knapp 40 Quadratkilometer erstreckt und damit von der Oberfläche her kleiner ist als Fort Worth bei Dallas oder der Flughafen von Denver. Die Stadt Kalkutta liegt in Westbengalen, am östlichen Rand von Indien. Sie wurde am östlichen Ufer des Hooghly River erbaut und ist äußerst dicht besiedelt. Sie wird die „Stadt der Freude“ genannt, was auf den ersten Blick sehr schwer nachzuvollziehen ist. Direkt neben wunderschönen Bauten, die zum Teil westlichen Charakter haben, befinden sich die Slums. Armut ist in diesem Land weit verbreitet, ebenso wie Überfluss und Schönheit. Unter all dem jedoch liegt ein alles durchdringendes Gefühl der Harmonie und der Freude in den Menschen. In dieser Stadt gibt es sehr viel Leid, und doch haben Menschen, die zum Helfen kommen, und viele, die dort leben, ein Herz, das bereit ist zu geben.


12 / HÖRT IHR SCHREIEN! Ich wollte hinaus, wollte endlich landen und dieses Stück Erde berühren, zu dem ich 10.000 Meilen oder noch mehr gereist war. Mein Mann Jim saß staunend und voll gespannter Aufmerksamkeit neben mir. Er schwieg, und das war gut. Alles, was man von mir über Indien erfahren konnte, hatte er schon gehört. Dieser Flug war ein bedeutungsvolles Ereignis, und Jim wollte still sein, damit ich meine Gefühle verarbeiten konnte. Als das Flugzeug zum Landeanflug ansetzte, spürte ich einen Adrenalinstoß in den Adern. Ich kam heim, heim in das Land, das ich so sehr vermisst hatte. Ich konnte es nicht erwarten, endlich den Boden zu berühren. Undeutliche Erinnerungen an Indien und an meine Kindheit wurden in mir wach. Mein Vater und meine Mutter hatten hier gelebt, und die ersten Jahren meines Lebens, in denen man die meisten Eindrücke sammelt, hatte auch ich hier gelebt. Ich war hier zur Schule gegangen, bis ich die Hochschulreife erworben hatte. Bis dahin war ich praktisch zu einer Inderin geworden. Ich hatte meine Schule in Kalkutta abgeschlossen und wurde von meinen Klassenkameraden und Freunden geliebt und akzeptiert, obwohl ich eine „Ausländerin“ war. Natürlich fragte man mich immer wieder nach meiner Familie, und warum ich hier lebte. Darauf antwortete ich immer voller Stolz: „Wir sind Missionare, die einen Auftrag zu erfüllen haben.“ Die Mädchen, mit denen ich zur Schule ging, waren auch meine Freundinnen, und ihre Eltern verdienten mit einer ganz normalen Arbeit ihren Lebensunterhalt. Bei meinen Eltern war das anders. Trotzdem machte es ihnen nicht wirklich etwas aus, was mein Vater tat oder nicht tat. Mein Vater predigte eben das Wort Gottes, während meine Mutter dafür Sorge trug, uns bei guter Gesundheit und guter Laune zu halten, und ich wurde nie anders behandelt als alle anderen. Meine Eltern kamen 1954 nach Indien, als ich erst ein Jahr alt war. Wir sollten eigentlich nur ein Jahr dort bleiben, aber als sie mit ihrer Arbeit anfingen, änderten sich unsere Pläne sehr bald. Mein Vater war ein frommer Mann, ein guter Missionar, und als er die Armut in Kalkutta sah, wollte er etwas dagegen tun. Das gelang ihm auch, aber es kostete ihn sehr viel mehr Zeit als nur ein Jahr! Er blieb 35 Jahre, um die Arbeit zu Ende zu bringen, die er sich vorgenommen hatte. Er starb 1989 als ein von allen geliebter und respektierter Mann, der sein Leben für Gott und für die Menschen hingegeben hatte. Vaters Begräbnis machte deutlich, wie sehr er Kalkutta und die Armen


HEIMKEHR IN DIE „STADT DER FREUDE“ / 13 liebte: Tageszeitungen und Fernsehen berichteten, dass ihm 25.000 Menschen das letzte Geleit gaben. Die Hauptstraßen wurden gesperrt, weil die Menschenmassen das Missionsgebäude und die umliegenden Bereiche füllten. Mutter war eine große Hilfe für meinen Vater. Sehr bald arbeiteten sie gemeinsam, weil sie überzeugt war, dass sie ihm zur Seite stehen sollte. Auch sie fühlte den Ruf, ihre Liebe und ihren Dienst bedingungslos Gott zu widmen. Meine Eltern liebten Indien von Anfang an. Mein Vater wusste nicht, was genau sein Auftrag war, außer dass er den Massen von Menschen dort dienen sollte. Es muss sehr schwierig für sie gewesen sein. Anfangs wurden sie nicht ohne Vorbehalte akzeptiert, sondern misstrauisch beobachtet, weil sie Ausländer waren. Jeder gebildete Inder, ob Hindu, Moslem, Buddhist, Sikh oder Christ, hatte die Vorstellung, dass mein Vater in Kalkutta war, um sie zu bekehren. Die Briten waren gekommen und hatten ihre Welt verändert, und nun versuchten dieser westliche Missionar und seine Frau das Gleiche zu tun. Die vor ihnen liegende Aufgabe muss meinen Eltern manchmal sehr beängstigend erschienen sein, doch sie gingen unverzagt ans Werk und rührten die Herzen vieler Menschen an. Bald nach seiner Ankunft in Indien wurde meinem Vater das große Ausmaß der Arbeit bewusst. Die Menschen, denen er helfen wollte, waren nicht wie die, die man in entwickelten Ländern antreffen würde. Hier in Indien, stellte er fest, musste man sich nicht nur um die Seelen der Menschen kümmern, sondern, was noch wichtiger war, auch um ihren Leib. Es gab so viel Armut, Hunger, Krankheit und Tod unter den Armen, dass mein Vater sich einfach bemühen musste ihnen zu helfen. Es wurde ihm klar, dass man einem Verhungernden nichts von Gott erzählen kann, wenn der nur etwas zu essen will. Meine Eltern hatten die Idee, ein Krankenhaus einzurichten, in dem man sich um die geistigen und körperlichen Nöte der Menschen kümmern, die Kranken heilen und sie darauf vorbereiten konnte, das Wort Gottes zu empfangen. Ohne viel Aufhebens, mit einer starken Überzeugung und einem starken Glauben, liebten sie die Menschen, denen sie halfen. Ihr einziger Lohn bestand in einem Blick der Liebe und der Dankbarkeit in den Augen dieser Menschen. Manchmal hörten sie ein geflüstertes Dankeswort. Als ich noch ein Kind war, war ich mir sicher, dass Jesus damals genau dasselbe getan hatte. Er sorgte für die Notleidenden.


14 / HÖRT IHR SCHREIEN! Ich war stolz darauf, zu einer Familie zu gehören, wo meine Eltern die Worte und Taten von Jesus so genau nachahmten, wie sie nur konnten. Meine Kindheit verlief ereignislos, wenn man Leben und Lernen in Indien so bezeichnen kann. Die bewegenden Erinnerungen sind für immer in mein Herz und meinen Sinn eingraviert. Sie sind schwer auszudrücken, aber leicht ins Gedächtnis zu rufen. Am meisten erinnere ich mich an Wärme, Liebe und Angenommensein während der Zeit, die ich dort verbrachte. Wir lebten ein einfaches Leben, gingen viel zur Kirche, sangen Hymnen und nahmen an Gebetsversammlungen teil, die in unserem Haus oder bei Freunden stattfanden. Für mich war das Leben gut und es gab nichts, worüber ich mich beklagen konnte. Eines Tages jedoch wurde ich mit etwas konfrontiert, was kein Teenager je erleben sollte. Meine Eltern beschlossen mich fortzuschicken. Es war schrecklich. Sie schickten mich aufs College in die USA. Ich erinnere mich, dass ich mich verlassen und missverstanden fühlte. Ich konnte mich meinen Eltern nicht widersetzen, und so ging ich, aber mit großer Traurigkeit und Einsamkeit in meinem Herzen. Ich gehörte zu Indien. Dort war ich aufgewachsen. Warum musste ich in einen anderen Teil der Welt gehen? Warum musste ich das verlassen, was mir so vertraut war? Der Westen schien mir so weit weg und entrückt von dem Leben, das ich kannte. Es war sehr schwer, aber ich liebte meine Eltern und tat, worum sie mich baten. Für einige Jahre gingen Indien und meine Vergangenheit an den Westen verloren. Es dauerte nicht lange, nur ein paar Jahre, bis ich meine Ausbildung abgeschlossen hatte und eine staatlich geprüfte Krankenschwester geworden war. Mein Leben ohne meine Eltern, weit weg von Indien, war allerdings nicht nur düster und trist. Etwas Gutes geschah, während ich weg war. Auf dem College traf ich Jim, meinen Mann. Er war ein liebevoller, fürsorglicher Mensch, und ich verliebte mich in ihn. Jim hatte inzwischen ein Medizinstudium begonnen. Es war viel harte Arbeit, aber wir verbrachten weiter unsere Freizeit zusammen. Ich erzählte ihm oft von meiner Vergangenheit und dem Land, in dem ich aufgewachsen war. Dann lächelte er nur und schaute mich verständnisvoll an, nickte und akzeptierte meine Begeisterung. Ich wusste, dass er mich in allem, was ich zu tun wünschte, unterstützen würde, und jetzt war er hier an meiner Seite, auf meinem ersten Flug zurück nach Indien nach vielen Jahren. Ich


HEIMKEHR IN DIE „STADT DER FREUDE“ / 15 war so aufgeregt zurückzukehren. Jim war neben mir, lernte meine Vergangenheit kennen und half mir, in die Zukunft zu schauen. Ich wurde zurückgezogen zu diesem Land, in dem meine Eltern die meiste Zeit ihres Lebens zugebracht hatten. Obwohl mein Vater gestorben war, lebten seine Arbeit und sein Traum fort. Es gab so viele indische Männer und Frauen, die in seine Fußstapfen getreten waren und Gott und den Armen dienten, um so das weiterzuführen, was er begonnen hatte. Ihre Arbeit in Kalkutta steht sowohl für Vision als auch für Aktion. Sie erstreckt sich auf viele verschiedene Bereiche: Bildung, Medizin, Sozialhilfe, Ernährungsprogramme, Altenheime, Waisenhäuser (für Jungen und für Mädchen) und andere Wohltätigkeitsaktionen. Nun war ich hier, mit dem Wunsch und dem Bedürfnis, selber diese Erfüllung in meinem Leben zu spüren, mich selbst hinzugeben, wie er es getan hatte, und Teil zu haben an der Arbeit meiner Eltern in Indien.


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