Vorwort vonMarkusHoffmann
«Weilicheswill»–DiesesBuchisteineWortmeldungvonMenschen,diehomosexuellempfinden.Aberdasistschonfalsch.Denndie39Personen,die hierausihremLebenberichten,erlebenunddeutenihre(Homo-)Sexualitätje anders:MarceloderDavidempfindenausschließlichhomosexuell.Samuel, derals18-Jährigerhomosexuellempfand,empfindetheuteeherheterosexuell. ErhatsichineineFrauverliebtundistheuteverheiratet.Carlaerzähltvon mehrfachemsexuellemMissbrauch.AuchsielebtezeitweiseineinergleichgeschlechtlichenBeziehung,fühltesichdamitabernichtwohl,dennsiekonnte sichinderBeziehungnichtabgrenzenundhatteSchwierigkeiten,ihreeigenen Bedürfnissewahrzunehmen.ErstalssieanihrerFähigkeitzurAbgrenzungarbeitete,merktesie,dasssiebeiFraueneigentlichnicht-sexuelleNähesucht. HeutekannsiediesinderGemeinschaftmitFrauenverwirklichen.
DieBeispielewerfendieFrageauf:WelchePersonenmeldensichmitdiesemBuchzuWortundwarum?EssindMenschen,dienichtindiemittlerweile gewohntenSchablonenvon«homosexuell»und«heterosexuell»passen.Auch ihreLebenssituationenpassennichtzumTypusdes«homosexuellenMenschen»,dervondenMedienvermitteltwird.DenneinigederAutorinnenund AutorenlebenbewusstledigundverzichtenaufSexualität.Siebegründendas entwedermitihremchristlichenGlaubenodermiteineminnerenKonflikt,der esihnennichtmöglichmacht,einePartnerschaftaufAugenhöhezuführen. Anderehingegensindverheiratet,weilsieeineÖffnungihrerhomosexuellen GefühleinRichtungHeterosexualitäterlebthaben.Manchevonihnenhaben einestarkeVeränderungerlebt,anderenehmensowohlheterosexuellealsauch homosexuelleImpulseinihremLebenwahr.
Fragtmandaher,wasdenAutorinnenundAutorendiesesBuchsgemeinsam ist,dannistesdies:HierschreibenPersonen,diegelernthaben,ihrehomosexuellenImpulse,obvergangenoderfortbestehend,alsAspektihresLebens anzunehmen,ohnedarauseinenLebensstilodereinehomosexuelleoder queereIdentitätabzuleiten.Gemeinsamistihnenauch,dasssiesichinjeunterschiedlichenLebenssituationenbefinden,dasssiesichinihremLebenje
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andereFragenbeantwortethabenundeinenWegfindenmussten,ihrenchristlichenGlaubeninBezugaufihrenicht-heterosexuelleOrientierungzuverstehen.Und:SiemusstenzueinerLebensgestaltungfinden,fürdieeskeinVorbild gibt.ÜberdieseLebensgestaltungredensieindiesemBuchunterelfverschiedenenÜberschriftenundgebendamitEinblickindas,waseinenMenschenbewegenkann,wennersichinseinemLebenvordasThemaHomosexualitätgestelltsieht.
SosprechendieAutorinnenundAutorenüberdieSuchenacheinemUmgangmitihrersexuellenOrientierung,sieschreibenüberdieBedeutungdes GlaubensfürihrenWegundsieerzählenüberihrenUmgangmitsichundihren Beziehungen,wennsiesowohlhomosexuellewieheterosexuelleImpulsein sichspüren.AndereZeugnisseerzählenvonderGestaltungdesLedigseins undderEnthaltsamkeit,derElternschaft,derEhemiteinemgegengeschlechtlichenPartnerodervomUmgangmitderschmerzhaftenErfahrungvon TraumaundsexuellemMissbrauch.
DannwirdindenZeugnissenauchdasThema«Veränderung»angesprochen. NichtumdensimplenSloganzubedienen,«Veränderungistmöglich»,sondern umzurSprachezubringen,dassMenschendiessehrunterschiedlicherleben.
Mancheberichten,dasssieheutenurnochheterosexuellempfinden,andere sprechenehervoneinerstarkenVerlagerungihresEmpfindensinRichtungHeterosexualität.Odersieberichten,dasssichderCharakterderhomoerotischen Anziehungveränderthat.AlldieseSchwerpunktewerdenindenZeugnissen nichtfachpsychologischentfaltetundkönnenauchnichteinfachalsAnleitung füreineneigenenProzessgelesenwerden.VielmehrgebendieZeugnisseeinen EinblickinsehrpersönlicheProzesse,überdieöffentlichkaumoderniegeredet wird.OderdiealsTeilderRealitäteinfachausgeschwiegenwerden.
MitdemTitel«Weilicheswill»wollendieAutorinnenundAutorendieses Schweigendurchbrechen.NichtausGründenderSelbstdarstellung,sondern weilsieeineTürefürdiejenigenöffnenwollen,dieihresexuelleOrientierung nichteinfachdemIdentitätsbegriff«schwul»,«lesbisch»oder«bisexuell»zuordnenwollenundkönnen.SieselbstsindaufgrunddersexuellenOrientierung insFragengekommenundermutigenmitdiesemBuchdaherandere,Fragenzu stellen.
SieverbindenmitdemTiteldesBuchesauchdenWunsch,dassMenschen, dieähnlichfühlen,inihremNachdenkennichtgestörtwerden.Sieselbsthaben
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erlebt,dassdieGesellschafteinsolchesNachdenkenalsanstößigodergardiskriminierendgegenüberdenjenigenempfindet,dieihrenicht-heterosexuelle OrientierungalsLebensstilverwirklichenwollen.DasBuchistdaherauchein ProtestgegeneineGesellschaft,inderdieselbstkritischeAnalyseoderdieInfragestellungdessen,wasmaningleichgeschlechtlichemEmpfindenerlebt, mitStrafebedrohtwird.
EsistaberaucheineEinladungzumdifferenziertenDialog.Dennhinter demThemaHomosexualitätsammelnsichnichtnurMenschen,diemitihrer sexuellenOrientierungakzeptiertwerdenwollen,sondernauchMenschenmit konkretenFragen,NötenundLebenssituationen,dievombekanntenMainstreamabweichen.
«Weilicheswill»heißtdaherauch:WirwollenalsMenschen,dieihreSexualitätundihrPersonseinandersverstehen,ernstgenommenundinGesellschaftundKirchenichtandenRandgedrängt,ausgegrenztundübersehenwerden.DennwirhabeneinberechtigtesAnliegen,einfachschondeshalb,weil wirinLebenssituationenstehen,indenenwirnachAntwortensuchenunduns vorallemauchvonderchristlichenGemeindeOrientierungundWegbegleitungwünschen.
WersichaufdieFüllederPerspektiveneinlässt,diesichindenunterschiedlichenZeugnissenspiegeln,versteht,dassdieseineinemVorwortkaumabgebildetwerdenkönnen.DasVorwortwilldennocheinegewisseLese-und Verständnishilfegeben.DabeistelltsichdieFrage:WerliestdiesesBuch? UndwelcheOrientierungmusseineLesehilfedaherbieten?
DieWegbegleiter
DasvorliegendeBuchistausderÜberzeugungentstanden,dassdieStimmen dieserMenschenundihreGeschichtengehörtwerdenmüssen.FünfWegbegleiterhabendieGeschichtenderMenschenzusammengebracht,diesichin diesemBucheingefundenhaben.SiehabenGesprächeundInterviewsgeführt unddenAutorinnenundAutorenHilfestellungbeiderKonkretisierungihrer Zeugnissegegeben.DabeiwareseinVorteil,dasssicheinTeilderMännerbereitsüberlängereZeitmitihrerGeschichteundihremWegauseinandergesetzt hatte.AuchdieZeugnissederFrauenhabensichfeinsinnigentwickelt:Die
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meistenderAutorinnenhabensichimLaufedesProjektespersönlichkennengelernt.DaswareingroßerSchatzundeineenormegegenseitigeErmutigung.
DerWegvomWillen,dieeigeneGeschichteaufzuschreiben,biszumfertigenText,brauchteZeit.IneinigenFällenmehrereMonate.DieBegleitung warlohnendundauchnotwendig.VielederAutorinnenundAutorensindaufgrunddermedialenundgesellschaftlichenAtmosphäreunsicher,wieihreLebensberichteinderÖffentlichkeitaufgenommenwerden.Manchedurchliefen imEntstehungsprozessihrerZeugnisseauchPhasendesZweifelsundder Angst.AuchAngstdavor,dassjemandsieaufgrundihrerGeschichteerkennen unddiskreditierenkönnte.
DieseRealitätistmiteinGrunddafür,dassvielederZeugnisseuntereinem Pseudonymerscheinen.AlleAutorinnenundAutoren,undauchdieWegbegleiterdiesesBuches,kennendieErfahrungvonDiskriminierungunddie AuswirkungaufdieeigeneberuflicheKarriere,wennmanetwasDifferenzierteszumThema«Homosexualität»sagt,dasnichtdemMainstreamentspricht. SchnellfallendannWortewie«Homoheiler»,«Konversionsbefürworter»oder «Scharlatan».UndmithoherWahrscheinlichkeitwirdmaneinemrechten SpektrumzugeordnetundimöffentlichenDiskursgebrandmarkt.
WirsinddemFontis-Verlagdaherdankbar,dasserdenMuthat,diesesBuch inseinVerlagsprogrammaufzunehmen.DennnurdadurchkannunserWunsch erfülltwerden,derStimmederinderGesellschaftundzumTeilauchinder KirchezumSchweigenGebrachtenGehörzuverschaffen.
WaskanndasBuchleisten–fürwen?
IchstellemirvierGruppenvonLeserinnenundLesernvor.DieersteGruppe sindMenschen,dieselbstaufirgendeineWeisevomThemaHomosexualität betroffensind.DiezweiteGruppesindMenscheninseelsorgerlichenoder beratendenBerufen.DiedritteGruppeverschiedeneMenschen,denensichjemandaufgrundseinergleichgeschlechtlichenEmpfindungenanvertrauthat. UnddievierteGruppekönntenKritikersein,diedemBuchmitArgwohnbegegnenundjetztschonbeschlossenhaben,wassievonihmzuhaltenhaben.
WasnunkönnendieseunterschiedlichenGruppenvondiesemBucherwarten?
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ZunächsteinWortandieMenschen,diedasBuchalssogenannte«Betroffene» lesen.DadasThemameineigenesLebengeprägthat,kannichmichinsiebesondersguteinfühlen.VielleichterwartenSiealsBetroffeneindiesemBuch eineAntwortaufdieFragederVeränderung.DieseAntwortkannIhnendas Buchnichtgeben.AuchnichtdieZeugnisse,dievonVeränderungerzählen. DennwaseinMenschalsseineErfahrungberichtet,kannnichteinfachkopiert werden.DennVeränderungistnichteinfachmöglich.Werdasbehauptet,ist unseriösundleitetMenschenindieIrre.
DiebesteAntwort,dieSiealsBetroffeneindemeinenoderanderenZeugnis finden,kleidetsichmeistindieGestalteinerFrage,dieSiezureigenenReflexioneinlädt.EtwadieFrage:Wieerlebeichdennmeinenicht-heterosexuellen Empfindungen?GleichtsiederAnnahmevonHomosexualität,dieinunserer Gesellschaftheuteverbreitetist,oderistsiedochganzanders?VielleichtentdeckenSieineinemZeugnisaucheineTüre,durchdieSieselbstnochniegegangensind,unddamitverbundeneineEinladung,denSchritteinervertieften ReflexiondereigenenEmpfindungenzuwagen.
DasBuchkannSieaberauchzurGestaltungIhresLebenseinladenunddamitzufolgendenFragen:WiegestalteichmeinenGlauben?Dürfenmeine nicht-heterosexuellenEmpfindungendarineineRollespielen?Werweißeigentlich,dassichvondiesemThemainmeinemLebenumgetriebenwerde?
WeißmeineGemeindedavon?Weiß,wennSieverheiratetseinsollten,Ihr Ehepartnerdavon?Oder,wennSiesichgeradedoch,widerErwarten,ineinen gegengeschlechtlichenPartnerverliebthaben,habenSiemitihmoderihrdarübergesprochen?Oder:WiegestaltenSiedann,wennSiesichfürdasLedigsein entschiedenhaben,IhrLeben?HabenSieFreundinnenundFreunde,dieum Siewissen?HabenSieeinenOrt,andemSiesichsicherfühlenundNäheund Wärmeempfangenkönnen?
AufmanchedieserFragenfindenSieindiesemBucheineAntwortoder könnenlesen,wieanderemitdieserFrageumgegangensind.Vorallemwollen IhnendieAutorinnenundAutorendiesesBucheseinesvermitteln:Siesind nichtallein!UndSiebrauchensichfürIhrehomosexuellenGefühlenichtzu schämen!DieseAussageunterstreichenalle,diehierschreiben,mitihrem Mut.LassenSiesichalsoermutigen,bleibenSiemitIhrenFragennichtlänger allein!
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DanneinWortandieLeserinnenundLeserinseelsorgerlichenoderberatendenBerufen:VorallemwollenwirSiemitdenverschiedenenZeugnissenzu einemdifferenziertenBlickaufdasThema«Homosexualität»einladen.Denn esgibtnichtdenTypusdesHomosexuellen,sondernallenfallsMenschen,die solcheGefühlejeunterschiedlicherlebenundjeandersfürsichdeuten.Die Entscheidung,obSiedieseMenschenkennenlernenwollen,liegtanIhnen. DieEinladungdazuwirdinjedemderZeugnisseausgesprochen.Sicher,die Menschen,dieindiesemBuchschreiben,gebenkeineobjektivenAntworten aufdasPhänomenderHomosexualität.AberalsProfessionellewissenSiedas bereits.DennSiewissen,dassesaufdereinenSeiteobjektivierbareKriterien fürdasgibt,waswirpsychischenKonfliktnennen.
DanebengibtesaberauchdieGeschichte,diesichMenschenvonihrem subjektivenErlebenundLeidenerzählen.DiesenErzählungenmitRespekteinerseitsundmitprofessionellemVerstandandererseitsgegenüberzutreten,gehörtzumEthosIhresBerufes.
MeineEinladungalsMensch,derselbstimBereichPsychotherapieund Seelsorgeausgebildetist,wäredaher:TretenSiebeijedemZeugniseinen Schrittzurück.VersuchenSieeinfach,zuverstehen,wasderMenschIhnenerzählt.WennSiediesdannmitIhremFachwissenkontextualisieren,kommen SieaufneueFragen,vielleichtauchaufErkenntnisse,dieSiealsAnnahmein IhrtheoretischesForschenoderinIhrePraxismitnehmenkönnen.Dasz.B. wäreeinErgebnis,überdassichdieAutorinnenundAutorenfreuenwürden. DennmitihrenZeugnissenwollensiekeinewissenschaftlicheTheseaufstellen.SiewollenvielmehrdasFensterzueinemErlebenundeinerWirklichkeit aufstoßen,diesiebislangvielleichtaufgrundvonDenkverbotenundVorbehaltensonichthabenwahrnehmenkönnen.
MachenSiesichdabeibewusst:DiesesBuchsagtnicht:«WirhabendieWahrheit!»Essagtlediglich:DieseWirklichkeitunddiesesErlebengibtesauch.
NebenprofessionellenTherapeutinnenundTherapeutengibtesdannauchden theologischstudiertenMenschen,derimBereichvonSeelsorgearbeitet.Vor allemSiedürfensichvondenAutorinnenundAutorendiesesBucheszur WahrnehmungdermannigfaltigenGlaubens-undLebensfrageneingeladen wissen,dieindenZeugnissenzuTagetreten.Dennsiealleverstehensichals Christen.
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VermutlichsindSieinIhrerseelsorgerlichenoderpastoralenPraxisdereinenoderanderenähnlichenLebensgeschichtebegegnet.HabenSiesichaber schoneinmalgefragt,wieSieeinenMenschenmiteinersolchenGeschichte undmitseinenFrageninIhreGemeindeintegrieren?WieSieihnentlangseinerFragenundinnerenNötebegleitenkönnen?OderhabenSiesichschonmal gefragt,wieSieihntheologischfürseinenWegermutigenkönnen?DieTexte gebenaufdieseFragezwarnurzumTeileineAntwort,wollenSieaberzum Weiterdenkenermutigenoderdazu,geradedieseZeugnisseindiegemeindlicheoderseelsorgerlicheSchulungvonMitarbeiterinnenundMitarbeiterneinzubeziehen.
GanzinderNähederebenerwähntenGruppebefindensichFreundinnenund Freunde,SchwesternundBrüdereinerchristlichenGemeindeoderFamilienangehörige,denensicheinMenschmitseinengleichgeschlechtlichenNeigungenanvertrauthat.VielleichthatSiediesverunsichertoderSiefragensich, welcheFrageneinsolcherMenschbewegtoderwieSieihnunterstützenkönnen.SicherbildendieZeugnissenichtjedeSituationundjedenMenschenab. Abersiemachendochdeutlich,dassbetroffeneMenschenBeziehungund Freundschaftbrauchen.UnddasssiegeschützteOrtebenötigen,andenensie überihreProzesse,ÄngsteundNötesprechenoderandenensieverlässliche Beziehungenwagenkönnen.GeradedieNotwendigkeitvonneuenBeziehungserfahrungenwirdinvielenZeugnissenunterstrichen.VielleichtsindSie alsFreundinoderFreund,alsSchwesteroderBruderdiePerson,dieeine solcheErfahrungschenkenkann.
VielleichtlesenSiedasBuchaberauchalsEhepartnerinoderEhepartnereines Menschen,dergleichgeschlechtlicheImpulseinseinemLebenkennt,undsind deshalbverunsichert.NichtseltenhöreichvonEheleuten,dasssieAngsthaben,dassdergleichgeschlechtlichempfindendePartneroderdiePartnerinsich injemandenvomgleichenGeschlechtverliebenkönnte.Ichhoffe,dassIhnen manchederZeugnissehelfen,IhrenEhepartnerzuverstehen,unddassesfür Sienachvollziehbarwird,warumgleichgeschlechtlicheFreundschaftenfür daspersönlicheWachstumundihreoderseineIdentitätwichtigseinkönnen.
Trotzdemabergiltauchdas:KeineEhepartnerinundkeinEhepartneristder TherapeutoderSeelsorgerseinesPartners.Verstehenmeintdaherweder,den
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Ehepartnerzuretten,nochihmirgendwelcheBedürfnissevondenAugenabzulesen.BedürfnissekönnenineinerPartnerschaftnuraufAugenhöheausgehandeltwerden.
SchließlichmöchteichjeneLeserinnenundLeseransprechen,diedasBuch untereinenAnfangsverdachtstellen.Etwaden,dasssichhierMenschenzu Wortmelden,dieihreHomosexualitätverdrängenoderdiealshomophobzu etikettierensind.IchbitteSie,sehenSiedieAutorinnenundAutorennichtals GegneroderalsMenschen,diedurchihreLebensentscheidunganderediskriminierenwollen.ErkennenSieinihnenvielmehrMenschen,diemitdiesem BucheinDialogangebotmachen.Sietundas,indemsieeinenehrlichenEinblickinihrErlebenundihreLebensbewältigunggeben.WennSieamEnde derLektürezurErkenntniskommen,dasssicheinDialoglohnenwürde,so sindwiralsHerausgebergemeinschaftoffendafür.DenneineFragewirdvom derzeitigenDiskursnichtbeantwortet:WohabenMenschenmitdenhierdargestelltenLebensthemenihrenPlatzunterdemRegenbogen? EineLesehilfe
UmIhnenalsLeserinundLesereinbesseresVor-VerständnisfürdieLektüre derZeugnissemitaufdenWegzugeben,sindnachfolgendeinigeLesehilfen formuliert.
Lesehilfe1–Esgibtnicht«den»homosexuellenMenschen Eswurdeeingangsbereitserwähnt,dassdieAutorinnenundAutorennichtin dasüblicheSchema«desHomosexuellen»passen.Dennvonihmnimmtman an,dassersichseinerOrientierunggewissist,undsollteerdaranzweifelnoder sichdochmalindasandereGeschlechtverlieben,dannnurdeshalb,weiler nochnichtzuseinerwahrensexuellenIdentitätstehenkann.MitdiesemVerständnisimHintergrundwirdmanesschwerhaben,denAutorinnenundAutorenindiesemBuchfolgenzukönnen.Dennsiehinterfragenihresexuelle Orientierung,beobachtendarinKonflikte,erlebenkleineundgrößereVeränderungenundverliebensichdurchausübereinelängereZeitspannehinwegin einengegengeschlechtlichenPartnerodererlebenihreSexualitätfluideetc.–
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DamitstelltsichfürSiealsLeserinoderLeserdieFrage,wieSiedieseGruppe einordnenkönnen.
Bedenktman,dasssichiminternationalenVergleichzwischen1,5und2% derMenschenalsausschließlichhomosexuellempfindenddefinieren,aber4 bis6%sichirgendwozwischendenPolen«homosexuell»und«heterosexuell» platzieren,dannwirddeutlich,dasssichindiesemBuchkeineMinderheit,sondernehereineMehrheitzuWortmeldet.UnddiesekannsichvorLebensfragen gestelltsehen.
DaistzumBeispielSamuel(58).Mit18Jahrenempfanderhomosexuell. AlsersichjedochinseineFrauverliebte,empfanderaufeinmalausschließlichheterosexuell.DazumussteerseinegleichgeschlechtlichenEmpfindungenwederverleugnennochunterdrücken.AlsjedochJahrespäternebender heterosexuellenOrientierungwiederhomosexuelleGefühleauftauchten,er aberinzwischenVatergewordenwar,standervorFragen:Sollteerseine FrauaufgrundvonhomosexuellenGefühlen,dienebenseinenheterosexuellenauftauchten,verlassen?SollteerindenhomosexuellenGefühlendas AuftauchenseinerwahrenIdentitäterkennen?AberwenndieHomosexualitätdiewahreIdentitätist,warumwarendanochheterosexuelleGefühlefür seineFrau?
Wirsindgewohnt,Folgen,diesichauseinersexuellenOrientierungergeben könnten,reduziertundindividualisiertzubetrachten.Wirreduzierensieetwa aufdieFragevonLustundLiebe.ReduzierenSexualitätaufdasErlebenim Augenblick.Oderindividualisierensieundermutigen,dassjedernachseiner Fassonglücklichwerdensoll.DieseArtderReduktionklammertaberdie FragederLebensperspektiveaus,dieüberdenaugenblicklichenMomenthinausweist.DochgenaudieserFragehabensichdieAutorinnenundAutorenin ihremLebengestellt.Johannes(41)zumBeispiel.ErhateineÖffnungseiner gleichgeschlechtlichenNeigunginRichtungHeterosexualitäterlebt.Dennoch nimmterheutenochhomosexuelleImpulseinseinemLebenwahr.Männer undFrauenwieermüssendaherirgendwanneineEntscheidungfällen.Will ichtrotzzeitweiserhomosexuellerAnziehungeinegegengeschlechtlichePartnerschafteingehen?WieundwannerzähleichmeinerPartnerinodermeinem PartnervondiesenGefühlen?WiegestalteichsieimRahmeneinerEhe?
GleichgeschlechtlicheGefühlekönnendannaberauchandereEntscheidungennotwendigmachen.Sodann,wennmanwieCharlotte(36)einenKonflikt
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darinentdecktundmerkt,dassmansichu.a.deshalbbishernichtaufMänner einlassenkann,weilmansichvonihnenbeschämt,bedrohtoderbenutztfühlt.
OderwieHanna(67),diemerkt,dassihreLeereauchineinergleichgeschlechtlichenPartnerschaftnichtausgefülltwird.
CharlotteundHannahabensichaufgrundihrereigenenWahrnehmungentschieden,ihreSexualitätzuhinterfragen,undsinddabeiaufKonfliktegestoßen,fürderenLösungsiesichbewusstentscheidenmussten.Denneinsolches «aufdemWegsein»istschmerzhaftundbrauchtdenbewusstenWillen,sich daraufeinzulassen,wieinvielenZeugnissengelesenwerdenkann.
UnddannkanndieEntdeckung,dasssichmitderSexualitätKonflikteverwobenhaben,zuweiterenKonsequenzenundLebensthemenführen.
David(50)hatfestgestellt,dasserinseinerSexualitätnurdieUnterwerfung unterMännerwiederholt,wieersieinseinemMissbraucherlebthat.ErentscheidetsichdaherfüreinenthaltsamesLebenalsLediger.Damitdrängen sichaberFragenderLebensgestaltungauf:WielebeichLedigsein,wieEnthaltsamkeit,wiekannichdenWeginFreundschaftenfinden,woichdurcherlebtenMissbrauchvonmeinenBedürfnissenabgeschnittenbin,etc.?
DieBeispielemachendeutlich:MitdemThemaHomosexualitätkönnen verschiedeneLebensthemenundLebensfragenverbundensein,dieweitüber dieheuteinderKirchefavorisierteFragevonSegnungundEhehinausgeht. WerdasThemanuraufdieseFragereduziertbetrachtet,übersiehtdieFülle vonLebenssituationen,indieMenschengestelltsind,diegleichgeschlechtlicheImpulseinihremLebenkennen.
Undwerglaubt,dassselbstMenschen,dieausschließlichhomosexuellfühlen,zumLebensglücknurderpassendePartnerfehlt,irrt.Dennselbstdiese MenschenstehenvorderFrageihrerLebensgestaltung,dieebennichteinfach dadurchgelöstwird.WerdieZeugnisseverstehenwill,mussdiesmitdemVorwissentun,dass«Homosexualität»vieleErlebnisweisenkenntundunterschiedlichmitdemErleben,demSchicksalunddemLebenswegeinesMenschenverbundenseinkann.
Lesehilfe2–DieZeugnissealsSuchelesen
EinigeZeugnisselassenerkennen:HieristeinMenschaufderSucheoderamAnfangeinesWeges:Carla(60)zumBeispiel.SiehatinunterschiedlichenhomosexuellenBeziehungengelebt.DochtrotzäußererIntimitätbliebsieüberviele
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Jahreinnerlichallein.IrgendwannkommtsieinihrerNotneuinsFragenund Hinterfragen:ihrerMusterinBeziehung,ihrerVersuche,unterFrauendazuzugehören–undauchihrerhomosexuellenAnziehung.Darfsiedas?Istdasnicht derAnfangeinesfalschenWegesodergarKennzeicheneinerauftauchendenAblehnungdereigenensexuellenOrientierung?InderLGBTQ+-Szene,wieauch vonKritikern,wirddiesoftalsIrrwegoderals«brainwashing»dargestellt.Mit diesemPunktderLesehilfesolldemdeutlichwidersprochenwerden.
SogarLiteratur,diederaffirmativenundunterstützendenTherapiebeiFragendersexuellenOrientierungzugerechnetwerdenkann,erlaubtBetroffenen, Fragenzustellen,undsiehtinderVerunsicherung,diesolcheFrageninder Personbewirken,denWegzueinerselbstbewusstenEntscheidung.AlsBeispielkannVivienneCassdienen:Siefindetesvöllignormal,wennMenschen mithomosexuellenGefühleninsicheineIdentitätskonfusionwahrnehmen,die Fragenaufwirft.Dennimmerhinstehtdas,wasdieseMenscheninsichentdecken,gegendasErlebenderMehrheit.NachCassdarf,kannundmusseine Frau,diehomosexuelleEmpfindungeninsichspürt,dieFragestellen:«Istdas, wasichdaempfinde,homosexuellodergarAusdruckeinerlesbischenIdentität,dieichanstrebensollte?»
SolcheFragensindwederindenSexualwissenschaftennochimKontextvon Sexualtherapieungewöhnlich.DenndortsetztmandieWorte«schwul»oder «lesbisch»nichteinfachdemBegriffderHomosexualitätgleich.DennHomosexualitätkannallesMöglichesein:EskanneineeinmalauftretendeAnziehungsein,siekannnebenheterosexuellenAnziehungengleichzeitigempfundenwerden,u.a.m.
«Schwul»oder«lesbisch»hingegenisteineSelbstbezeichnung,dieMenschennurdannwählen,wennsiesichsichersind,dasssieihrehomosexuelle OrientierungalsLebensstilinderÖffentlichkeitlebenwollen.VoreinersolchenEntscheidungsolltensichMenschen,soCass,dahersehrsichersein,weshalbsieempfiehlt,sichaufeinenWegderSuche,desFragens,desinnerenFühlensundPrüfenseinzulassen.
AufdemWegdesSuchensundPrüfenskanndieUnterscheidungzwischen denBegriffen«sexuelleIdentität»,«sexuelleFantasie»,«sexuellesVerhalten» oder«sexuelleOrientierung»helfen.Denneskannvorkommen,dasseinePersonzwargleichgeschlechtliche Fantasien hat,sichaberniemalsineinePerson desgleichenGeschlechts verliebt. Odereskannsein,dasseinMenscheinige
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Zeiteinhomosexuelles Verhalten praktiziert,ohnejemalseinedauerhafte Anziehung zueinerPersondesgleichenGeschlechtszuerleben.
Undeskannsogarsein,dasseinePersonsichzwarsexuellimmervoneinem bestimmtenGeschlecht angezogenfühlt, aberdieseOrientierungnichtzuseiner Identitätsbeschreibung erhebenwill.CarlaisteinesolchePerson.Alssie entdeckt,dassdiesexuelleBeziehungzueinerFraufürsiesoetwaswie «Selbstbefriedigungmitjemandanderem»istundeinGefühlderEinsamkeit zurückbleibt,beginntsie,Fragenzustellen.DiesewarendernotwendigeAnfangihresSuchprozesses.
Dasheißt,Fragensindokay!BetroffeneMenschensolltensiesichstellen, auchwennjedeAntwortnurderÜbergangzueinernächstenLebensetappeist undvielesoffenbleibenmuss.
DieZeugnisseindiesemBuchsindAusdruckeinesSuchprozessesundmüssenalsoffenerProzessgelesenwerden.Wirwissennicht,woeinigederAutorinnenundAutorenineinigenJahrenstehenwerden,zuwelchenErkenntnissensiekommenoderwelcheLebensentscheidungensiefällenwerden.Aber trotzdemerlaubtdiesniemandem,notwendigeFrage-,Such-undErkenntnisprozesseeinfachalsirreführendoder«brainwashing»abzutun.Genausowenig isteserlaubt,festzulegen,dasssolcheProzesseimmernotwendigaufein bestimmtesZielzuzulaufenhaben.–KönnenwirdieseSpannungalsBetroffene,alsprofessionelleHelferundauchalsKritikerzulassen?
Lesehilfe3–SexualitätimZusammenhangmitderPerson WarumMenschenenthaltsamlebenoderwarumsiedieEhevonMannund FraualseinzigeFormdefinieren,indermenschlicheSexualitätverwirklicht werdenkann,istfürvieleMenschenheutenichtverstehbar.DahereinWort zumVerständnisundKonzeptvonSexualität,wieesdenAutorinnenundAutorengemeinsamist.
DieMenschen,diesichmitdiesemBuchzuWortmelden,rechnensichdem christlichenGlaubenzu.DamitistaucheinbestimmtesMenschenbildundein besonderesVerstehenderSexualitätverbunden.SosehensieihrPersonsein, einschließlichihrerLeiblichkeit,GeschlechtlichkeitundSexualität,unterdas VorzeichenderHeiligenSchriftgestellt.InderHeiligenSchrift,etwainMatthäus19,lesensie,dassSexualitätentwederinderEhezwischenMannund FrauverwirklichtwerdensolloderimLedigseindurchEnthaltsamkeit.Dasie
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nunaberansichnichtfeststellenkönnen,dasssiezurEhemiteinemgegengeschlechtlichenPartnerfähigsind,versuchensie,ihreSexualitätnunmit demWortGottesinÜbereinstimmungzubringen,undkommendaherzum Schluss,dassihnendasnuraufdemWegderEnthaltsamkeitmöglichist.
DerSchlussistfürsieeinnotwendigerdeshalb,weilsiedieVerwirklichung ihresPersonseinsundihrerSexualitätnichtvoneinandertrennenwollen,etwa indemsiesagen,meinesexuelleLusthatnichtsmitmeinerGotteskindschaftzu tun,oderindemsiesagen,esistdochallesnur«Liebe».DennLiebeistfürsie immerzuerstLiebegegenüberGottundseinemWort.Unddiesemfühlensie sichdeshalbverpflichtet,weilsieglauben,dassGottdemLebeneineguteOrdnunggegebenhat.
AndereargumentierenmiteinerVariante,dieaberaufdergleichenBindung andasWortGottesberuht.Siesagen,dassGottinderSchöpfungvonMann undFraudieSexualitätineineleiblicheOrdnunggesetzthat.NachihremVerständnisistindieNaturdesMenscheneineheterosexuelleHinordnungeingezeichnet.DieseNaturmachtdieimgöttlichenGesetzderSchöpfungverbürgte GrundorientierungdesHandelnsoffenbar,diederganzenMenschennaturgilt undausdersichdieOrdnungdesLebensergibt.DasieaberdieseNaturemotionalaufgrundihrergleichgeschlechtlichenEmpfindungennichtmitvollziehenkönnen,siedievonGottgegebeneSchöpfungaberehrenwollen,verzichtensieaufSexualität.
SichergibtesinunsererZeitauchMenschen,dieeinsolchesMenschenbild nichtnachvollziehenkönnen.Sieentscheidensichanders.Vielleichtweilsie dieBibelandersauslegen,vielleichtweilsiekeinemmetaphysischenMenschenbildfolgenwollen.WennSiedieMenschen,diedurchdieseZeugnisse zuIhnensprechen,aberverstehenwollen,solltenSiesichbeimLesenfragen, obSiediefreieEntscheidungdieserMenschenfürdiesesMenschenbildanerkennenkönnen.
Dasheißtjanicht,dassSiedieserAnthropologiefolgenmüssen.Dasheißt nur,demSelbstverständnisdieserMenschenfüreinigeAugenblickeeinenVorrangeinzuräumen,einfachumihrePerspektivezuverstehen.Dennerstdurch diesenVorrangwirdbewusst,dassdieseMenscheneinemanderenKonzept vonPersonundSexualitätfolgenalsandere.AbergenaudiesesKonzeptgehört zuderIdentität,entlangderersieihrLebenzuverwirklichensuchen.
WerdiesenSchrittzumindestgedanklichmitvollzieht,kannentdecken,dass
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dieseMenschenselbstbewusstaufdieVerwirklichungeinerWahrheitzustreben,indersiedieWahrheitihresPersonseinserkannthaben.Natürlichfolgen einersowesentlichenSichtaufdaseigeneLebenSpannungen.MitdiesenmüssendieMenschenumgehen.Wiesiedastun,kannindemeinenoderanderen Zeugnisnachgelesenwerden.
SolltenSiealsBetroffeneoderBetroffenerdieseZeilenlesenundvielleicht ähnlicheEntscheidungenfürsichgefällthaben,dannbitteichSie:GehenSie mitdenSpannungen,diesichauseinersolchenEntscheidungergeben,sorgfältigum.SuchenSiesichBegleitung.UndauchwennSievondereinenoder anderenLebenspraxisindenZeugnissenlesen,prüfenSie,ambestenimDialogmitanderen,obdieseaufIhreigenesLebenanwendbarsind.WennSieals psychotherapeutischarbeitendePersondasGesagtelesen,fragenSiesich: Kannichanerkennen,dassnichtalleindieErfüllungsexuellerLustzueiner erfülltenIdentitätführenkann,sondernauchdieIdentität,diejemandinseiner Glaubensorientierungfindet?
Undalle,dieimseelsorgerlichenDienststehen,ladeichzufolgenderÜberlegungein:FührteinesolcheEntscheidungletztlichnichtzueinerEinheitzwischendenen,dieinderEhestehen,unddenjenigen,diediegöttlicheStiftung derEhedurchihreEnthaltsamkeitehren?Ichkennenichtwenigeenthaltsam lebendeBetroffene,diesichgeradedurchdiesenGedankenmitdenenverbundenfühlen,dieeineheterosexuelleEheleben.
Lesehilfe4–SexualitätundKonflikt
IndenZeugnissengibtesnichtwenige,dieihreSexualitätalskonflikthaftbeschreiben.WasaberistdamitgemeintundwiekommendieseMenschendarauf,voneinemsexuellenKonfliktzusprechen?DieseFragesollineinerfür einVorwortangemessenenKürzeindreiSchrittenbeantwortetwerden:Erstens:WasverstehendieHerausgebernichtalsKonflikt?Zweitens:Welchen WegmüssteeinMenschmithomosexuellenEmpfindungengehen,umeinen Konfliktinsichseriösausmachenzukönnen?Unddrittens:Wasgenaukann dennüberhauptalskonflikthafteSexualitätverstandenwerden?
Erstens:EinigevonIhnenkennenvielleichtdieFormel,dasshomosexuelle MenschenmeisteinestarkeMutterundeinenschwachenVaterhatten.Folgtaus dieserAnnahme,dassichhomosexuellbin?Dasistmehralsfragwürdig.Wenn dasstimmenwürde,müsstebeinahejederzweiteMenschhomosexuellsein.
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AuchderZusammenhang,dassfrüheVerführungzuhomosexuellem Empfindenführt,istkeineallgemeingültigeAussage.SichergibtesMenschen,beidenensexuelleErsterfahrungeneinebestimmteerotischeAusrichtunginGanggesetzthaben.EsgibtabermehrMenschen,beidenendas nichtderFallist.
UndauchwenndasThemaTraumaundsexuellerMissbrauchineinigen Zeugnissenauftaucht,begründetsichdarausnichtdasGesetz,dassjedermissbrauchteMenschautomatischhomosexuelleEmpfindungenausprägt.Was vielmehrgilt,ist,dassdieSexualitäteinbio-psycho-sozialesKonstruktist,in dasAnlagen,UmweltundpsychischeVerarbeitungeingehen,wasdieArtmeinersexuellenSehnsüchtemitbestimmenkann.
Bisheutewissenwirweder,obHomosexualitätodersonsteineFormder sexuellenOrientierungvonbiologischenFaktoren(Hormone,Gene,Gehirn) abhängen,nochwissenwir,wiedieBiologie,Psychologieoderdiesoziale UmweltsexuelleOrientierungenexaktbegünstigen.SolltenSiealsMensch, derhomosexuelleGefühleinseinemLebenkennt,indiesemBuchalsovon einerLebensgeschichtelesen,dieIhrerähnlichist,dannheißtdiesnicht,dass derGrundfürIhresexuelleOrientierunginIhrerLebensgeschichteliegt.Dazu sindSiealsMenschvielzukomplex.
Zweitens:WelchenWegmusseinMenschgehen,undwelchenWegsind diemeistenAutorinnenundAutorenindiesemBuchgegangen,umihre sexuelleOrientierungalskonflikthaftzudefinieren?DieFrageistwichtig. Übersiehtmansie,soläuftmanGefahr,dassmansicheinebestimmteDeutungseinerHomosexualitätanliest.DahereinigewichtigeHinweise:Menschen,dieihreSexualitätalskonflikthaftidentifizierthaben,sindmeisteinenlangenWeggegangen.NichtwenigevonihnenhattenamBeginnihres WegesdenWunsch,ihrehomosexuellenGefühlewieeinenaltenMantel abzulegen.OftwarendieseGedankenvonSelbsthassbegleitet.Undmit diesemSelbsthasswarnichtseltensozialerDruckverbunden.Manchmal wurdeerausderAngstvorDiskriminierunggespeist,manchmalberuhteer bereitsaufDiskriminierungserfahrungenoderwurdedurchreligiösenDruck begünstigt.
DamitistschonetwasüberdenWeggesagt,dendieAutorinnenundAutorenindiesemBuchgegangensind:DieeinensetztensichmitdemSelbsthass auseinanderundmusstenzurAnnahmeihrerhomosexuellenGefühlefinden.
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DieanderenmusstensichgegendensozialenoderreligiösenDruckwehren undsichklarmachen,dasssieGottesgeliebteKindermitoderohnehomosexuelleGefühlesind.DassdaskeineinfacherWegist,kannindemeinenoderanderenZeugnisnachgelesenwerden.
AlsHerausgebergemeinschaftwollenwirabernochmalsunterstreichen: WerseinehomosexuellenGefühlenichtannehmenkann,wirdkaumklären können,obseinesexuelleOrientierungmiteinemKonfliktverbundenistoder nicht.DadasWort«Annahme»mehrdeutigist,hiernochmalseinePräzisierung:AnnahmemeinersexuellenEmpfindungenheißtnicht,dassichsiezu meinemLebenskonzeptmachenmuss.AnnahmemeintvielmehrAnerkenntnis.SoerkenneichinderAnnahmedasan,wasinmirdaist.Wasichlebeund wieichbestimmteGefühleinmeineGesamtpersönlichkeitintegriere,stehtauf einemanderenBlattundistderWegeinerSelbstentscheidung.
Drittens:WannaberkannsicheinMenschsichersein,dassmitseinersexuellenOrientierungeinKonfliktverbundenist?DasistmitunterdieschwierigsteFrage.IchgreifedaheraufdasZeugnisvonMarcel(36)zurück:Er erzähltinseinemZeugnisvonBeschämungen,dieernichtnurfrüherinseinemLebenerfahrenhat,sonderndiebisheuteeineWirkungaufseinePerson haben.SokannersichundseinMannseinnichtannehmen.Bautsichdieses GefühlderSelbstablehnungz.B.durchKränkungenauf,dieerinseinemAlltagerlebt,ziehtsichMarcelinsexuelleFantasienzurück.Inihnenwillernicht sicherleben,sondernseinbeschämtesMannseinwegmachen.Wasnunist darankonflikthaft?
DerSexualtherapeutDavidSchnarch,indessenWerkesmeistumheterosexuelleBeziehungengeht,sagtdazuFolgendes:Wennichmichundmeine PersonnichtvollständigannehmenkannundichBeziehungenbenutze,um meineinnereWundezuheilen,dannisteinesolcherartmotiviertesexuelle HandlungmiteinemKonfliktverbunden.(WassichimÜbrigenauchaufeine nicht-sexuelleHandlungübertragenlässt.)DiesemArgumentkannmannatürlichmitderFragebegegnen,obnichtinjedersexuellenBeziehungeinsolcher Vorgangabläuft.Dennistesnichtso,dassinsexuellenBeziehungenBedürfnisseausgetauschtwerden?Dasistrichtig.
WarumSchnarchimFallvonMarcelabertrotzdemvoneinemKonfliktredenwürde,hängtmitderBalancevonSelbstseinundBeziehungzusammen. Schnarchgehtdavonaus,dasseinemMenschendannSexualitätgelingt,wenn
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erseinSelbstseinganzundgarannehmenkann.UndwenndieseAnnahme auchdemgilt,dermirinderSexualitätgegenübertritt.
MarcelabernunkommtinseinemZeugniszurAussage,dassersichja selbstnichtannehmenkann,unddasseresnichtschafft,denanderenindessen Ganzheitanzunehmen.DennerwillindersexuellenBegegnungdenanderenja geradenichtmitseinerganzenPersonannehmen,sondernnurdas,waserzur StabilisierungseinerdurchBeschämungbrüchiggewordenenPersönlichkeit braucht.AndieserStelleseinerSelbstbeobachtungangekommen,sagtMarcel: Ichsuchejanicht,meinselbstbewusstesMannseinindersexuellenBegegnung zuleben,sondernichversuche,meinbeschämtesMannseindurchdasMannseineinesanderenzuheilen.DaihmdasabernichtgelingtundinderRealität einerBeziehungauchnichtgelingenkann,wirderamEndeimmerwiederauf sichundseineBeschämungzurückgeworfen.
EntlangvonMarcelsBeispielkanneinVierfachesgesagtwerden:Umvon konflikthafterSexualitätzusprechen,brauchtesklareKriterien.DasKriterium vonDavidSchnarchistnureines.WeiterekönneninverschiedenensexualtherapeutischenQuellengefundenwerden.Zweitens:KonflikthafteSexualität liegtbeiMarcelnichtdeshalbvor,weilseinehomosexuellenEmpfindungen ansicheinenKonfliktdarstellenwürden,sondernweilsicheinnicht-sexueller KonfliktmitseinerSexualitätverbundenhat.DerKonfliktistdieBeschämung unddiemangelndeSelbstannahme,nichtdieHomosexualitätselbst.Dasheißt drittens,einsolcherKonfliktkannalsoMenschengrundsätzlichbetreffen,unabhängigdavon,welcheAusrichtungsieinihrerSexualitäterleben.Viertens undschließlich:Umauszumachen,obsichmitmeinerSexualitäteinKonflikt verbindet,mussichmichganzundgaraufmeineGefühleundmeininneres Erlebeneinlassen.DennletztlichkannnurjedereinzelneMenschselbstdurch inneresSpürenundFühlenentscheiden,obseineSexualitätkonflikthaftist odernicht.
Undnocheinsistwichtig:AndieBearbeitungsolcherKonflikteistnichtdie VeränderungdersexuellenOrientierunggebunden.SiekannamEndeaberdie ErhöhungderLebensqualitätermöglichen.BeiMarcellesenwir,dasserimmer nochhomosexuellempfindet.Weileresbislangabernichtgeschaffthat,seine Beschämungzuüberwinden,verzichteteraufdasAuslebenseinerHomosexualität.Dazusagterselbst,dasseranderenichtzurHeilungseinesSelbsthassesbenutzenwill.
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Lesehilfe5–Veränderungjaodernein Marcel,Davidundandere,dieindiesemBuchschreiben,sprechendavon,dass sichinihrersexuellenOrientierungnichtsveränderthat.Danebenstehenaber dieZeugnissevonMarco(60),Pascal(30),Suki(24)oderJohannes(41).Sie sprechenvoneinerdeutlichenVeränderunginRichtungHeterosexualität.Wir alsHerausgebergemeinschaftknüpfenandieseZeugnissenichtdasVersprechen,dassVeränderungeinfachmöglichist.Daswäreunseriösundwürde demKontextdesganzenBucheswidersprechen.DerGrund,weshalbdiese ZeugnisseindasBuchaufgenommenwordensind,liegtwoanders.
WerdieZeugnissevonMarco(60)undBernd(50)aufmerksamliest,kann dortsehen,aufwelchenverschlungenenPfadenKonfliktegelöstwerdenkönnen.BeiMarcolesenwir,wieerzurSelbstannahmegefundenhat,oderbei Johannes,wieerVertraueninBezugaufseinemännlichenGabenaufbauen konnte.ImKernwollenalsodieseZeugnissezeigen,wiemaneinennichtsexuellenKonflikt,dersichmitderSexualitätverbundenhat,lösenkann. Mehrnicht.WarumMarcooderJohannesheuteeherheterosexuellempfinden, kannimLetztennichtgesagtwerden.Vielleichtwarihnenheterosexuelles FühlennachderLösungihresKonfliktesdeshalbmöglich,weilsienieausschließlichhomosexuellgefühlthatten.DasaberistnureineVermutungund nichtmehr.
Waswirabersagenkönnen,ist,dassesinderLiteraturHinweiseundBeispielefürdieVeränderungdersexuellenOrientierunggibt.StatistischeDaten weiseneinesolcheVeränderungvorallemvordem25.Lebensjahraus.So kommtSavin-Williams,dervielüberdieHomosexualitätbeiTeenagerngeschriebenhat,2007zufolgenderFeststellung:DieWahrscheinlichkeit,dass ein16-Jähriger,dersichalshomo-oderbisexuellbezeichnet,sichbereitsein Jahrspäteralsheterosexuellbezeichnet,ist25malhöher,alsesfüreinenheterosexuellen16-Jährigenwahrscheinlichist,sichmit17alshomosexuellzubezeichnen.
UndMayerundMcHughkommenineinergroßenMetauntersuchung,die sieimJahr2016vorgelegthaben,sogarzurAussage,dasssich80%derhomosexuellenMenschenunter25JahreninRichtungHeterosexualitätverändert hätten.–DarauseinallgemeinesGesetzabzuleiten,istnichtmöglich.Genauso wenigdieAnnahme,dasseinerVeränderungeinkonfliktfreiesLebenfolgt. GeradedavonsprechenzumBeispielBerndoderJohannesnicht.
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Veränderung,dasseibetont,wirdindiesemBuchabernichtausschließlich mitsexuellerOrientierungverbunden.IndenZeugnissenwirdvonunterschiedlichenVeränderungenberichtet:VeränderunghinzurFähigkeit,emotionaleBeziehungeneinzugehenundNähezulassenzukönnen;Veränderungin RichtungeinerbesserenSelbstbehauptungoderGrenzsetzunginBeziehungen; VeränderungeninBezugaufeinSuchtverhaltenu.v.a.m.
Schluss–DasLebenistFragment
Ichweißnicht,wasSiedenkenwerden,wennSiealleZeugnissediesesBuches gelesenhaben.EinigeLesersindvielleichtenttäuscht.DennsiehabenindiesemBuchnichtdieErfolgsgeschichtengefunden,diesieerwartethatten.Anderesindvielleichterschlagen,weilindenGeschichtenvielvonKonflikten undVerletzungenzulesenist.DahereinletzterHinweis:LesenSiedieZeugnisseimKontextdesmenschlichenLebens.Heutesetzenwirdasmenschliche LebengernindenKontextvonErfolgundWachstum.Undwirdenkenunsden Menschenalsjemanden,derselbstbewusstseinLebenindieHandnimmt,um esaufderLeiterderKarrierezuentwickeln.
StimmtdasBildaber?StimmtnichtvielmehrdasBild,dasunsindenZeugnissenentgegenkommt?DasLebenistunvollständig.Oftsehenwirunsmit Unfertigemkonfrontiert,dennnichtalleshatsichidealentwickelt.EineerfolgreicheZukunftistdahernichtohnedienachholendeBeschäftigungmitder Vergangenheitmöglich.UndmanchmalführtgenaudieseVergangenheitdann inLebenswegehinein,diewirunsnichtausgesuchthaben,aufdenenwiruns abergenaujetztbefinden,unddieheuteunserLebenprägen.BeiLichtebetrachtetistabergenaudasmenschlichesLeben.
AuchwennindenZeugnissenvielvonSchmerz,Not,KrisenundKonflikten zulesenist,sokönnensieunsallengeradedeshalbHoffnungmachen.Dennsie zeigen,dassZukunft,VeränderungundderZugewinnvonLebensqualitätauch fürverletzteMenschenmöglichist.Nichtabernurdas:DieZeugnisseverweisenauchdarauf,dassdieletzteAntwortaufdieFrage«Werbinich?»nichtin unsliegt,sonderninGott.SomachenalleAutorinnenundAutorenihrLeben undihreIdentitätanGottfest.DenkenSiebeimLesenderZeugnissedeshalb dochauchüberdieFragenach:WasmüssendieMenschen,diehierschreiben, mitGotterleben,wennsietrotzeinessoschwierigenWegesimmernochan ihmfesthalten?
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1.Werbinich?AufderSuche! Unterwegs!
NichtjedeSexualitätistgleich.DastrifftauchaufMenschenzu,dienicht-heterosexuellempfinden.Hier,wieinallenLebensberichten,erzählenMenschen, dieinihrersexuellenOrientierungnichtschonihresexuelleIdentitäterkennen können,nachdersieihrLebengestaltenwollen.DenninihremErlebenstolpernsieüberFragen,diewidersprüchlichsindunddiekeineschnelleAntwort zulassen.
Eva(53)realisiert,dassemotionaleVerstrickungenundTagträumezwareinen«Kick»bringen,sieaberauchgefangenhalten.Sienimmtwahr,dasssie anderenundsichselbstSouveränitätundaufopferndeStärkevorspielt.Innerlichistsieabererschöpftunddaherbeginntsie,Alternativenzusuchen.
EineFrau,Anonym(47),hateineschmerzhafteSchwebedurchlebt.Lange ZeitkonntesieihrFrauseinundihrenKörperschwerannehmen.IhrLebenwar überJahreeineGratwanderung,aufderihrTherapeutmitging.Heutekannsie VerbundenheitundtragfähigeBeziehunglebenundspüren.
Anna(25)glaubtmehrfach,mitdemThemaHomosexualität«durch»zu sein,besondersnachdemdieintensiveBegegnungmitdemWortGottesihre Wahrnehmungzuprägenbeginnt.Dochsieerkennt:UmAntwortdaraufzubekommen,wasinihrlosist,musssieeinemtieferenSchmerzbegegnen.Sie brauchtfürihrenWegRäumedesVertrauens–undZeit.
Jasmin(44)hatlangeimVerborgenenumdasVerhältniszwischenihrenhomosexuellenErfahrungenbzw.SehnsüchtenundihremGlaubengerungen.InzwischenhatsieeinwichtigesLernfeldfürsichentdeckt:Langsamlerntsie,mitihren Emotionenumzugehen,wasihreBeziehungenaufeineneueBasisstellt.
TrotzeinerGeschichte,dieÜbergriffevonMännern,ihrerPartnerinund auchAutoritätsmissbrauchenthält,istesJulia(49)gelungen,langsamwieder einGespürfürihreBedürfnisseundGrenzenzuentwickeln.Ineinervertrauten GruppevonFrauenkannsiesichinzwischenwillkommenfühlen.Sieringt weitermitderFrage,wiesieinverbindlichenBeziehungeneinZuhausefinden undlebenkann.
Caterina(36)willsichmitihrergleichgeschlechtlichenAnziehungaus-
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einandersetzen,nachdemwichtigeFreundschaftsbeziehungenanemotionaler Verstrickungzerbrechen.Sieerkennt,dasssieihrenEmpfindungennichteinfachausgeliefertist,undmachtauchEntdeckungen,dieihrStückfürStück helfen,ihrenPlatzunterFrauenzufinden.
OhnediesechsZeugnisseinihrerKomplexitätzuschmälern,könnenwirin ihnendocheineBittehören:LasstunsZeit!LasstunsZeit,unsereSexualitätzu verstehen!LasstunsZeit,dieFragen,diedarinverborgensind,selbstständigzu erkennen!LasstunsZeit,unserenWegzufinden!DennnichtschnelleAntwortenbietendieLösung,sondernnurdieehrlicheAuseinandersetzungmitden eigenenGefühlen,BeziehungenunddenFragendereigenenSexualität.
IhreBitterichtensiedabeiu.a.anMenschen,diesichderLGBTQ+-Bewegungzuordnen.DennvondortverspürensieAbwertungunddenDruck,nur durcheinComing-outkönntemanzuseinerwahrensexuellenIdentitätfinden. Wasaber,wennMenscheninihrerSexualitätnicht-sexuelleFragenentdecken?
Was,wennsiedarinaufKonfliktestoßen,dienichtmitdemübereinstimmen, washeuteunter«Homosexualität»verstandenwird?InderSexualwissenschaft undSexualtherapieweißman,dasssichnicht-sexuelleThemenmitderSexualitätverknüpfenkönnen.InderBeratungspraxiskommendieseErkenntnisse aberoftnichtmehran.UndnichtseltenwerdendieReflexionunddieeigene Einsicht,wiesiesichindensechsZeugnissenausdrücken,unterSchlagworten begraben.WerdenwirdemMenschenundseinereigenenErkenntnisdadurch gerecht?
DieZeugnissedersechsFrauenmitihrenjeunterschiedlichenEntdeckungenundbisherigenErkenntnissenwollendaherprofessionelleBeraterinnen undBerater,SeelsorgerinnenundSeelsorgerzumHinhöreneinladen.Dennoft istesnichteineabstrakteTheorie,dieetwasüberdiemenschlicheSexualität aussagt,sondernderbetroffeneMenschselbst.SeineErkenntnisfähigkeitin Bezugaufdas,waseranFragenundWidersprücheninseinerSexualitätentdeckt,solltewiederVorrangerhalten.DennerstwennMenschenZeithaben, ihreFragenzuklären,könnensieeineselbstbestimmteEntscheidungfällen. DahermachendieZeugnisseauchmitbetroffenenMenschenMut,sichauf demWegihrerEntscheidungZeitzulassen,Fragennachzugehen,umaufdiesemWegzureigenenEntscheidungzufinden.
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EinClownohneManege? VomfalschenIdyllzurwahrenEva
Eva
InmeinemTeenie-ZimmerhingeinauseinerZeitschriftausgeschnittenesZitat:«VielleichtbinicheinClownohneManege.»DaswarmeinLebensempfinden.Nachaußenfröhlichundselbstsicher,hinterderMaskeinnerlichtraurig undnichtwissend,woichhingehöre.JahrelanghatteichkeinenZugangzu mir,meinerIdentitätalsFrau,meinemKörper,meinemNamen.Ichheiße Eva.DerNameEvakommtausdemHebräischenundbedeutetLeben.Abmeinem14.LebensjahrrichtetesichmeineganzeemotionaleAufmerksamkeitauf selbstbewussteFrauen.Statt mein Lebenzuleben,idealisierte,erotisierteund vergötterteichsie–undpasstemichihrenBedürfnissenundAnsprüchenan, umnichtdenVerlustihrerNähezuriskieren.Wiekamesdazu?
EinWildfang
InfrühenKindergarten-ErinnerungenseheichmichbeidenSpielenderJungs. DrinnenbauteichHäuser,TürmeundganzeLego-StädteoderspielteAbenteuergeschichtenmitPlaymobil.DasWilde,Unkonventionellebegeistertemich–imWaldherumtoben,Fußballspielen!PuppenundRollenspiele«Mama,Papa, Kind»–daswarmirzulangweilig.ZudenMädchenundihrerErlebniswelt fandichkeinenDrahtundtrautemichirgendwienichthinein.
MitdenJungsfühlteichmichhingegensicherundichmachtedasBeste draus.DochimGrundewussteichnicht,woichhingehörte.SchonderVergleichmitmeinerälterenSchwesterverunsichertemich:Siewarbedacht, schüchtern,sauber.Dasschienbeianderenbesseranzukommen.
Ichhingegenwarhörbar,ideenreich,unkonventionell,oftvonobenbisuntenschmutzigvomSpielenoderEssenundernteteKommentarewie:«Das konntejanur dir passieren»,oder:«SowildkannjanureinJungesein»etc.
WarumkonnteichmitmeinemVerhalten,meinenInteressennichteinfach auchMädchensein?!EinmalwollteichmichmitmeinenkleinerenCousinen ineinemBach«verstecken».Ichrutschteaus,dasWasserrissmichmit.Da nichtsweiterpassierte,wardasThemafürmichschnellerledigt.MeineTante reagiertejedochheftigundverbotmirfürmehrereTagedenUmgangmitihren
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Töchtern.Ichfühltemichaussätzig,ausgesondertwieeineBedrohungfür andere.
Wiederundwiederzuerleben,dassichinsovielemvölligandersreagiere, funktioniere,denkeundfühlealsmeinUmfeld,verunsicherteundbeschämte meinInnerstes.Esgabquasi«keineÜbersetzung»,keineBrücke,keinen Platz.NichtnuralsMädchen.MeinganzesSein,meineLebensberechtigung, meineIdentitätwarinFragegestellt:«Wasstimmtmitmirnicht?»VieleReaktionenimfamiliärenUmfeldaufmeinNaturell–vielleichtteilssogargut gemeint–habensichwieHypothekenaufmeineSelbstwerdunggelegt.Aber waresnurdas?
WennichFolgendesschreibe,sonicht(mehr),umanzuklagen,sondernum einEinfühlenundVerstehenzuermöglichen.
MeineMutter–inmittengroßerAmbivalenzen
WirwareneinedurchschnittlicheArbeiterfamilieinden70-erJahren.Meine MutterlegteWertaufunserZuhause,aufeineFamilie,dieunterallenUmständenzusammenbleibtundnachaußenIdyllevermittelt.SieselbstalsKriegsundNachkriegskindhattediesallesnicht.Siearbeiteteviel,umdieFamilie überWasserzuhalten,wardabeiauchgastfreundlichundgroßzügig.Sie konnteauchsehrgutkochen.MitdemErgebniswarsieallerdingsseltenzufrieden–nichtmitsichselbstundschongarnicht,wennwiretwasausprobierten.Eswarnierichtig,niegutgenug.Bisheutevermeideicheszukochenund alleindieVorstellung,eineFamilieversorgenzumüssen,empfindeichals überfordernd.
ZeitlebenskämpftesiegegenDepressionenundAngstzustände,einunberechenbaresAufundAb.Wennesihrgutging,kannteichsiealseinefröhliche, herzliche,tiefgläubigeundvergebungsbereiteFrau,diegernerzählteundmit Menschenzusammenwar.WurdesievonihrenÄngsteneingeholt,kamihre kritiksüchtigeundmisstrauischeoderihrehilfloseundnachtragendeSeite zumVorschein.
NachHausekommen–nachderSchuleodernachderArbeit–warwierussischesRoulette.Wirwusstennie,inwelcherBefindlichkeitwirsieantreffen würden!AlsTeenagerkamenwirmanchmalspätheim.Icherinneremichgut daran,wiesieunsvölligverzweifelt,tränenüberströmtundmitVorwürfen empfing.BeimirlösteeseineMischungauswütendemUnverständnis,Scham
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undSchuldgefühlenaus.DiesepaarMinutenVerspätungstandeninkeinem VerhältniszuihrerReaktionundoftgingichverwirrtinsBett.
AuchungefilterteKritikanmeinerFrisur,meinerKleidungunddieAbwertungmeinerErscheinungmussteichmirvonkleinaufanhören.Wertschätzung undAnerkennungverdientenwirunsvorallemdurchLeistungwieputzen, Nachbarinnenhelfen–odereinfachderMutterzuhören.WirKinderwarenihr Halt,wassieauchimmerwiederbetonte.Michnanntesieoft«meinenFels». AuchinihreEheproblemezogsieunsregelmäßigmithineinundhieltuns LitaneienüberdieUnartenunseresVaters.Überhauptvermitteltesieunsein abschreckendesMännerbild.ErstspätsprachsieüberihreMissbrauchserfahrungenalsMädchenundjungeFrau,wasmirihreeigenenÄngsteundihrMännerbildverständlichmachte.
MeineLebensstrategie,mitdiesenAmbivalenzenumzugehen,wares,ihr «Sonnenschein»zuwerden.DasgabmirdasGefühl,wichtigzusein.Aber meine Interessen,meineWünsche,meinKleidungsstil,meineArt,dasLeben zugestalten,galtenihrnichtviel,wenigernochalsdieMeinungDritterüber mich.Ichlerntefrüh,meineSorgen,Fragen,Ängste,Herausforderungenbesser nichtmitihrzuteilen.WieeinBumerangkamsonst ihreAngst zumirzurück undklebtealsSelbstzweifelanmirfest:ObichdasLebenschaffenwürde?
IhreAmbivalenzgegenüberMännern,Sexualität,anderenMenschenübertrugsieaufunsTöchter.«Vertraueniemandem»warihreDevise.Wennich aberselbstinKonfliktgerietmitFreunden,Seelsorgern,Nachbarn,VerwandtenodermichgegenGrenzüberschreitungenwehrte,ergriffmeineMutterreflexartigParteifürmeineKontrahenten.IchwarbereitsMitte40,alsmichein ältererMannimZugsexuellbelästigte.NachdemerstenSchockschickteich ihnmitlauterStimmeweg,informiertedenZugführerunderstatteteAnzeige. AlsichspätermeinerMutterdavonerzählte,erwidertesie:«Womöglichhast dudemMannUnrechtgetan!EristvielleichtkrankundbrauchtHilfe.»Esgelangihrnicht,meineEmpfindungernstzunehmen,meineReaktiongutzuheißenoderzubestätigen.
DieseErfahrungführtemiralserwachsenerFraueinerschreckendesMuster vorAugen:Siehatmichnieermutigt,meinerIntuitionzutrauenundfürmich einzustehen.Grenzenziehen,Gefühlebenennenundzeigen,zudeneigenen StärkenundSchwächenstehenwarunsKindernuntersagt,wirbliebenbefangenimdiffusenGefühlvonVerwirrungundBeschämung.ErstJahrespäterge-
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langesmeinerMutterundmirdurchehrlicheundklärendeGespräche,einanderWertschätzung,DankbarkeitundLiebeauszudrückenundtatsächlichspürbarzumachen.
MeinVater–DistanzundSuchtstruktur
AufgewachsenineinergroßenBauernfamilie,warereinhilfsbereiter,arbeitsamerMensch.KeineAufgabewarihmzugeringunderwarbeiNachbarn undBekanntenbeliebt.Erredetenichtviel.AuchseineWertschätzunguns KinderngegenüberzeigteerdurchHilfestellungen.Icherinneremichgerne daran,wieermichindenSkiferienimmerwiederdenHanghochzogundunten wiederabholte,weilichnochAngstvordemLifthatte.SpäterinderOberstufe holteerunsoftvonderSchuleaboderfuhrmich,wennichverspätetwar,zum Unterricht.Erwargroßzügig,kaufteunsSchleckereien,beiihmdurfteichauf Bäumeklettern,erkammitindenWald,erspieltemitmirFußball!Wennich inSchwierigkeitengeriet,z.B.ohneFahrscheinerwischtwurde,bliebergelassen,ruhigundverständnisvoll.
DochStabilität,Sicherheit,AbsehbarkeitoderOrientierungkonnteaucher unsnichtvermitteln.SeitseinerJugendwareralkoholkrankundspielsüchtig. OftkamernachderArbeitnichtnachHause,weilermitseinenFreundenam Stammtischsaß.Wieabsurd,dassMutterunsschonimVorschulalterinsGasthauszumVaterundseinenzechendenKumpanenschickte,umihnheimzuholen. Eswarschrecklichpeinlich,ichhatteAngstvordenWitzenderangetrunkenen Männer.NochheutemeldetsicheinmulmigesGefühl,wennicheinRestaurant betreteundMännermitgefülltenBiergläsernamStammtischsitzensehe.
EineBegebenheitinmeinerTeenagerzeithatsichmirbesonderseingebrannt.NacheinemFestwolltemeinVaterbetrunkennachHausefahren.ErstmalsweigertesichmeineMutter,mitunsKinderneinzusteigen,undwirfuhren mitFreundennachHause.Dasbeeindrucktemichsehr.IchrechnetemitheftigenAuseinandersetzungen,aberkaumwarenwirzuHause,umarmteundlobte unsereMutterdenVater,alshätteerunserLebennieaufsSpielgesetzt.
WiederverstandichdieWeltnicht.Warumließsiedasmitsichmachen?!In mirbliebWut,EnttäuschungundEinsamkeitzurück.Ichkonntenichtnachvollziehen,warumwiralsFamiliezusammengebliebensind,obwohlderAlkoholismusunseresVaterszuvielenunschönenSzenenführte.Ichdistanzierte michimmermehrvonmeinerMutter:vonihremNörgelnunddannEinlenken,
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ihremRichtgeistundzugleichihrerUnterwürfigkeit.SowiemeineMutter wollteichsichernichtwerden!
Esekeltemich,wennmeinVaternachAlkoholrochoderüberandereLeute lästerte.AuchihmgegenübererlebteichvielSchamundUnsicherheit,was sichimTeeniealterverschärfte:MeinVaterrespektiertemeineGrenzenoft nicht,klopftenichtanoderwartetenicht,bisichmitdemDuschenfertigwar. Erspöttelte,wennichmichschminkteundweiblichanzog,undnanntemich weiterhinBub,wieeresfrühergetanhatte.IchfühltemichalsMädchennicht wahrgenommen,inmeinemAndersseinnichtwertgeschätzt.Ichzogmichvon ihmzurückundbegannihnzuverachten.InderTiefebliebermirfremdund unzugänglich.
OftzogichmichinmeinZimmerzurück,weilichdieKonfliktedaheim nichtaushaltenkonnte.InRollenspielen,durchAbtaucheninFantasiewelten undmitTagträumenlenkteichmichab.MitHumor,FröhlichkeitundSprüchen überspielteichSpannungenundschlüpfteoftindieRolledesClowns,derUnbeschwerten,derSelbstbewussten.BesondersmeineMutterwollteichfröhlich machen,sieinihrerTraurigkeitaufmuntern!DaswarmeineStrategie.Innerlichbliebichdabeieinsam,verwirrt,traurig,wütend,wasschonimjugendlichenAlterzumelancholischen,fastdepressivenPhasenführte.
ZuschreibungenundGrenzüberschreitungen
NichtnurdieAussagenmeinerElternübermeinGeschlechtverunsicherten mich.AuchÄußerungen,dievonanderenanmichherangetragenwurden, nährtenmeineAmbivalenzundScham:«BistdueinhübscherkleinerJunge!» –«Soeinliebenswerter,hilfsbereiterJunge!»–«NichtmaleinJungeverhält sichsowiedu!»–«DaskannjanureinemJungenpassieren!»,hörteichvon kleinaufimmerwiedervonverschiedenenSeiten.DurchdieAnerkennung «fürdenJungen»fühlteichmicheinerseitsgeschmeicheltundbestätigt;andererseitsverwirrtesiemich:IchwardocheinMädchen!
InunsererFamiliegabeswenigwohltuendephysischeNähe.Küsseaufden MundvonbeidenEltern,TantenundOnkelnfandichekelhaft.Kammeine MuttermanchmalsonntagmorgenszumirinsBettzumKuscheln,empfand ichmichdurchihreNähenichtbeschenkt,hatteeherdasGefühl,fürsieda seinzumüssen:psychisch,körperlich,seelisch.Dassdasfürmichnichtangenehmseinkönnte,schienihrgarnichtindenSinnzukommen.Wirhattenzu
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HausekeineWortefürdieseDingeundichbliebstumm.NurwennmeineMuttermitihrerFigurkämpfteundauchunsKinderstrengmusterte:malzudick, malzudünn,warderKörperThema.Alles,wasKörperoderSexualitätsonst betraf,warwieausgeblendet–unddochunterschwelligangstbesetzt.Beim DuschennachdemTurnunterrichtwardieSchammeinständigerBegleiter. «Bloßweghier.»Ichwarmirabsolutsicher:Wennsiemichnacktsehen,lachenmichalleaus!
Mit12JahrenerlebteichsexuelleÜbergriffedurchdenälterenJungeneiner befreundetenFamilie.WirverbrachtendieWochenendenoftinihremWaldhäuschen.EinesNachmittagswarichnachdemSpielenbisaufdieUnterhosen nass.Sieschicktenunshinein,umtrockeneKleideranzuziehen.Daerschon malAnnäherungsversuchegestartethatte,machtesichinmirPanikbreit.
NochheutespüreichdieWutunddieFassungslosigkeit,dassmeineMutter –obwohlichsiebat,mirbeimUmziehenzuhelfen–michmitihmalleinließ. Ausgerechnetsie,dieunsimmersovorJungswarnte!JahrespäterverharmlostesieseinGrabschen,demichschutzlosausgeliefertgewesenwar:«Erwar halteinLausbub.»
DiesesErlebnishatmeinVertrauenimInnerstenerschüttert.Obwohlichseit meinemjungenErwachsenenaltertiefe,wertschätzendeFreundschaftenzu gleichaltrigenMännernknüpfenkonnteundmichdarinsicherundgeborgen fühle,steigeninmirAngstundSelbstzweifelauf,wennicherotischesInteresse anmir alsFrau wahrnehme.
BisichalsTeenagerimAustauschmitGleichaltrigeneineAhnungundeigeneWortefürKörper,GeschlechtundSexualitätbekam,hatteichzumeinem eigenenweiblicherwerdendenKörperbereitsdenZugangverloren.Einsorgfältiger,liebevollerUmgangmitmirfehlte.OftwarenmeineBeineundArme zerkratztodermitblauenFleckenübersät,daichmichbeimSpielen,Klettern usw.nichtspürteundverletzte.
IchschämtemichfürmeineRundungenundverbargmichuntergroßenOberteilen.MeineHaaretrugichkurzundunkompliziert.BisindieOberstufewurde ichvondenJungsgefragt,obicheinMädchenodereinJungesei.Ichwusstees selbernicht!AuchwennichmitfrechenSprüchenkonterte–dieseSticheleien fürchteteichschonaufdemSchulweg.UndhinterdercoolenMaske…?Kein Mädchen,keinJunge–einNeutrum?MeinegeschlechtlicheIdentitäthingim luftleerenRaum.
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InderSehnsuchtabgeholtwerden
InmittenmeinesRingensummeineIdentitätpassierteetwasBesonderes:Eine jungeLehrerinnahmsichauchaußerhalbdesUnterrichtsZeitfürAktivitäten mitunsTeens.IndenFerienzeigtesieunsdieStadtoderMuseen–nichtals Pflichtübung,sonderneinfach,umihreBegeisterungmitunszuteilen.
IhrzugewandtesInteressewecktebeimirein«Achso… esdarfummich gehen!»InFächern,indenenichmichschwertat,stelltesiemichnichtbloß. SieließmichineinerliebevollenArtspüren:IchsehedeineIdeen,dieKreativitätunddeineGabenmitihremganzeigenenWert!Daskannteichvonzuhausesonicht.IhreAnerkennungsaugteichaufwieeintrockenerSchwamm. IchsuchteundgenossjedeGelegenheit,inihrerNähezusein.Ihreliebevolle unddochcooleArtlösteinmireinetiefeSehnsuchtnachAnkommenund Umarmtwerdenaus.
DiesesEmpfindenwiederholtesich.WannimmerFraueninmeinenAugen selbstbewusstundeigenständigauftraten,wünschteichmirihreNähe,vonihnenumarmtundgesehenzuwerden.Mitetwa17JahrenerlebteichdieseAnziehungerstmalsgegenüberGleichaltrigen.StundenlangeTelefonate,ständig zusammenseinzuwollen,SchäkereienwarenanderTagesordnungundwurdenvonmeinerMuttermitUnverständnisundNörgeleienquittiert.Obwohlich diesesTeenie-VerhaltenauchbeianderenMädchenausmachte,überforderte michdie Intensität meinerGefühle.Eigentlichhätteichmichgerneinfach auchfürJungsinteressiert.Aberselbstwenn–ichhättedochsowiesonicht mitdenanderenMädelsmithaltenkönnen!SobliebenJungsKumpelfürmich, guteFreunde,dieichabernichtalsFrauanmichheranlassenkonnte.Zugleich machtemirmeineSehnsuchtnachNähezuFrauenAngstundführtenochtiefer inSelbstzweifelundUnsicherheit.Ichsehntemichso,mitjemandemdarüber sprechenzukönnen,verstandenzuwerden,michselbstzuverstehen…und hättemichdochzusehrgeschämt.
Verliebtheiten
MitachtzehnbesuchteicheinenTanzkurs.IchfühltemichfehlamPlatzund befürchtete,amRandesitzendwartenzumüssen,bisichaufgefordertwerde. IchschämtemichfürmeinunweiblichesÄußeres,meineHaltung,meinDaSein.DochdannpassiertedasUnglaubliche:ZuBeginneinerneuenLektion wähltederTanzlehrer mich, umdieFigurenvorzuzeigen.Nachdemermichzu-
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rückanmeinenPlatzbegleitethatte,lobteervorallenmeinenAuftritt,meinen Tanzstil.ZumerstenMalfühlteichmichvoneinemattraktivenMannrespektvoll,aufAugenhöhe,beachtetundwertgeschätzt.Ichwurde alsFrau wahrgenommenundkonnteinderKonkurrenzzuanderenFrauenbestehen.
Einneues,kribbelndes,spannendes,reizvollesErlebenundaucherotisches Spüren!Ichwarverliebt.IneinenMann.WochenlangsuchteichinTagträumen nachNäheundIntimitätmitihm.
WennichdiesebeidenVerliebtheits-Phasenvergleiche,fühlensiesichtatsächlichsehrunterschiedlichan:InderNäheundderempfundenenResonanz meinesTanzlehrersfühlteichmichstark,selbstwirksam,weiblich,attraktiv. GegenüberderLehrerinerlebteichmichalsbedürftig,suchend,sehnend,anhänglich,schwach.
AuchderTypFrau,dermichanzog,ändertesich:RichtetesichmeineerotischeAnziehunganfänglicheheraufmütterliche,zugewandte,zugleichcoole, abenteuerlustigeFrauen,wurdenfürmichspäterschöneFraueninteressant–schlank,stylisch,mitfeinenGesichtszügen–,dieselbstsicherwirktenundin sichruhend.Sieverkörpertenfürmich«richtigesFrausein».ImVergleichzu ihnenempfandichmichalsunweiblich,dickundunästhetisch.Ichsehnte michnachihrerNähe,alskönnteichsoanihrenEigenschaftenteilhaben.
ParadoxeBeziehungsmuster
WieschoninderBeziehungzumeinerMutterhalfmirdiegewohnteStrategie, meineUnsicherheitundmeineSehnsuchtnachNäheundGesehenwerdenzu stillen:Ichwarhilfsbereit,zuhörend,gabmichselberundmeineBedürfnisse auf.InnerlichbliebenUnsicherheit,Angst,SchamundSelbstzweifel,doch nachaußenzeigteichmichfröhlich,selbstbewusst,starkundhingebungsvoll. Darinverhieltichmichauchmanipulativ,indemichderAnderen«dieSouveräne»vorspielteundsiewiederuminihrerBedürftigkeitvonmirabhängig machte.Gleichzeitigverlorichmichinihr,inihrenThemen,ihrenErwartungenundfandmichmitmiralleinenichtmehrzurecht.Ichvernachlässigte andereBeziehungenundAufgaben,meineigenesLeben,reagierteabereifersüchtigoderverletzt,wennsiesichanderenzuwandte.
Obwohleszukeinem«Outing»undkeinersexuellenkörperlichenNähe kam,fühlteichmichohnedieanderehilflos,einsam,antriebslosundhandlungsunfähig;obwohlkeineBeziehungineinemDramaendete,fielichoftin
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einetiefeEinsamkeitundSinnlosigkeit.MeineUnsicherheitinmeinerIdentitätalsFrau,inBeziehungen,inBezugaufmeineFähigkeitenkompensierteich auchallgemeindurchLeistung,HilfsbereitschaftundruheloseGeschäftigkeit.
MeineeigenentieferenBedürfnisse,Ängste,SchamundSelbstzweifelüberspielteich–auchmirselbstgegenüber!–mitFröhlichkeitundStärke,undsie bliebenunadressiert.
Aha-Erlebnis:MehrOffenheitwagen
EineersteKlärungerlebteichmitMitte20.InmeinerArbeitfielmireinBuch indieHände,dassichauspsychologischerPerspektivemitHomosexualitätbefasste.Anfangseherfachlichinteressiert,wendetesichdieszumpersönlichen ErkennenundVerstehen:ErstmalskonnteichWortefürmeinFühlen,mein Denken,mein«emotionalesFunktionieren»undvorallemfürmeineSuche undSehnsuchtgreifen!EshatteetwasBefreiendes!MichinLebensgeschichtenhomosexuellempfindenderMenschenwiederfindenzukönnen,warzugleichbeängstigendundverunsichertemich.MitwemkannichalldiesesErleben,Fühlen,diesesEntdeckenaustauschen?
MeinenElterngegenüberwuchsenWut,Ablehnung,AnklageundUnversöhnlichkeit.IchgabihnendievolleSchuldfürmeineUnfähigkeit,meinLebenauthentischundselbstbewusstzugestalten.Derunausgesprochene,stetige, bisinsInnersteverwirrendeStresswaräußerstkräftezehrend.Ichfühltemich fremdinderWelt,konntemichnichtartikulierenundfandbeiniemandemGehör.SuizidgedankenausfrühenJugendjahrenmeldetensicherneut.Diesich wiederholendenromantischenVerstrickungenzermürbtenmichundsostellte ichmichderquälendenFrage:«Werbinichwirklich?»
DieLastunddieErschöpfungwurdenzugroß,dieEinsamkeitundmeine Fragenunerträglich.InmeinerVerzweiflung«outete»ichmichbeieinembefreundetenEhepaar.IchhattefürchterlicheAngstvorihrerReaktion!Aberihr wohlwollendesInteresse,ihreliebendeAnnahmehabenmichüberrascht: KeineWertung,keineDistanzierung,ichkonnteunddurfteeinfachseinund erzählen!DieseErfahrunghatmeineEntscheidung,genauerhinzusehen,gefestigtundgefördert.Indemsiemirspiegelten,wiesiemichwahrnahmen,halfensiemir,ausmeinemVersteckherauszutretenundmichvorihnenundvor Gottzuzeigen!
IchmachtemichaufdieSuchenachseelsorgerlicherundtherapeutischer
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HilfeundfandMenschen,diemichinmeinemProzessunterstützten,herausforderten,ermutigten.Niehabeichempfunden,dassichalsPersonaufgrund meinerEmpfindungen,meinesVerhaltensodermeinesDenkensinFragegestelltoderineinebestimmteRichtunggeführtwurde.Esgingummich,nicht ummoralischeodergesellschaftlicheNormen.IchdurftemitmeinenZweifeln, meinenFragen,meinerSehnsuchtnachVerstehenundVerstandenwerdenankommen,«nachHausekommen»,michselberfinden,meinenEmpfindungen, tiefstenWünschenundSehnsüchtentrauen,michanderengegenüberöffnen undAkzeptanzerfahren–daswareinProzess,dermeinLebenentscheidend veränderthat.
DurchschauendereigenenMuster
ÜberdielängsteZeitmeinesLebenswarichkaum3Monateohneemotional abhängigeBeziehungen.HattesicheineBeziehunggelöst,suchteichnach emotionalemHalt,aberauchnachdemKick,deneineneueerotischeAnziehungmitsichbrachte.DasLeben«ohne»warlangweilig,einsam,trost-und kraftlos.DurchpsychologischeBeratungnachdemschematheoretischenAnsatzgewannichendlicheinbefreiendesinneresVerstehenfürdas,wasichimmerundimmerwiedererlebte,wasmichbiszurErschöpfungsdepressionzermürbteunddemichdochsolangewiesüchtigausgeliefertblieb.
EinenSchlüsselliefertemirmeineinnereGedankenwelt.Immerwennsich meinLeben, aberauchmeineFantasie umeine«neue»Fraudrehenkonnte, empfandichEntlastungausderEinsamkeit,demabwertendenBlickaufmich selber,meinerempfundenenWertlosigkeit.
AufZugfahrtenodervordemEinschlafenmalteichmirAbenteueraus,in denenichsieausdenheftigstenNotlagenrettete.DasgabmireinEmpfinden vonStärke,aberauchBeziehungssicherheit:Jemanden,dereinemaussoeinemSchlamasselhilftundderdabeiallesaufsSpielsetzt,denkannmannicht einfachsolinksliegenlassen!
InmeinenTagträumenstarbichnatürlichnie,sonsthätteichmichjaumden Gewinngebracht.WardieanderePersonaberersteinmalgerettet,brachbald dasEmpfindenvonNutzlosigkeitübermichherein–undAbhängigkeit.Außerdemwareinfachnichtzuleugnen,dassichselbstinalldemnichtvorkam.
EswarwieeinErwachen. Mirwurdedramatischbewusst,wieichnichtwenigeralsmeinIch-Seinaufgab,ummichnurfüreinigeStundenstarkzufühlen
(S.40 bis S.422 dieses Buchs sind nicht Teil der Leseprobe.)
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