Der Hilferuf Es war Samstagabend. Fabian und Lisa standen an der Haustür und verabschiedeten ihre Eltern. „Mama, du siehst sehr gut aus“, beteuerte Lisa, als ihre Mutter Anstalten machte, sich noch einmal vor den großen Spiegel im Flur zu stellen. Heute durften die beiden das erste Mal ohne Aufsicht zu Hause bleiben. Die Eltern waren zu einer Geburtstagsfeier bei Freunden eingeladen und Fabian und Lisa waren stolz darauf, dass sie kein Kindermädchen brauchten. Doch ihrer Mutter, Frau Hartmann, war nicht ganz wohl bei der Sache. „Ich weiß nicht, mir gefällt es ganz und gar nicht, dass wir euch allein lassen. Hier ist die Telefonnummer. Ihr könnt jederzeit anrufen, falls etwas ist.“ Fabian verdrehte die Augen. „Mama, ich bin schon groß. Ich passe auf, dass nichts passiert, und jetzt beeilt euch, sonst kommt ihr zu spät.“ Hektisch verließen die Eltern das Haus. Als die Tür hinter ihnen zufiel, sahen sich die Kinder vielsagend an. Sturmfreie Bude! „Was machen wir zuerst?“, fragte Lisa unternehmungslustig. „Kissenschlacht im Schlafzimmer!“ Und schon flitzten sie beide die Treppe hinauf ins Schlafzimmer der Eltern, wo 7
Mamas Parfümduft noch in der Luft hing. Die Matratzen waren ein gutes Trampolin, und die großen Kissen waren so weich, sie luden geradezu zum Spielen ein. Fabian und Lisa lieferten sich eine erbitterte Kissenschlacht, bis beide sich vor Lachen kringelten. Dann kam Lisa die Idee mit dem Verkleiden. Vorsichtig öffnete sie den Kleiderschrank der Eltern. „Sieh mal, Fabian, dieses Kleid hier möchte ich anziehen!“ Ein Kleidungsstück nach dem anderen verließ seinen gewohnten Platz im Kleiderschrank. Fabian fand den passenden Hut, und schon sah Lisa aus wie eine richtige Dame. Nun war Fabian dran. Papas Anzüge waren zwar alle sehr groß, aber wenn er die Ärmel und Hosenbeine umkrempelte, passten sie ihm. Lisa kicherte. „Du siehst aus wie Onkel Paul.“ „Wie Onkel Paul? Vielleicht bin ich ja Onkel ...“ Plötzlich hielt Fabian inne. „Hast du das auch gehört?“ Lisas Augen weiteten sich. „Was?“ „Das kam doch aus der Küche. Komm mit!” Leise schlichen sie über den Flur zur Treppe. Kein Geräusch war zu hören. Nur der Regen prasselte gleichmäßig auf das Dach. Die Treppe knarrte, als der edle Herr mit der feinen Dame auf Zehenspitzen hinunterschlich. Die Küchentür stand weit offen. Es war dunkel darin. Vorsichtig lugte Fabian um die Ecke und drückte schnell den Lichtschalter. Die Lampe 8
ging flackernd an, und dann gab es ein kleines knallendes Geräusch und es war stockdunkel im ganzen Haus. Lisa schrie auf und klammerte sich an ihren Bruder. „Was war das?“ Fabian unterdrückte das Zittern in seiner Stimme. „Ich weiß es nicht.“ Sie tasteten sich an der Wand entlang und kauerten sich eng aneinander in eine Ecke.
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„Vielleicht waren das Einbrecher, die haben einfach ein Kabel durchgeschnitten“, flüsterte Lisa voller Entsetzen. „Und manche Einbrecher klauen sogar Kinder und verkaufen sie.“ Fabian legte seinen Arm ganz fest um seine kleine Schwester. Fieberhaft dachte er nach, wie er sie beruhigen konnte. Da kam ihm etwas in den Sinn. „Lisa, du brauchst keine Angst zu haben. Uns passiert nichts.“ Lisa knuffte ihn in die Seite. „Woher willst du das wissen?“ „Weil ich einen Freund habe, der auf uns aufpasst. Einen unsichtbaren.“ „Echt? Das glaube ich dir nicht.“ „Doch, du weißt schon, Jesus. Und er hat gesagt, ich brauche mich nicht zu fürchten, weil er immer bei mir ist.“ Lisa wischte ihre Tränen weg. „Dann sag ihm doch bitte, dass er alles wieder hell machen soll.“ Das tat Fabian auch, und Lisa bekräftigte das Gebet mit einem lauten „Amen“. Plötzlich hörten sie ein Geräusch an der Haustür. Lisa klammerte sich wieder ganz fest an Fabian. „Da ist jemand an der Tür!“ „Psst!“ Sie hörten Schlüssel im Schloss, und dann wurde die Tür aufgemacht. Stille. „Fabian, Lisa! Wo seid ihr?” Ihre Eltern waren da! Beide schrien gleichzeitig: „In der Küche!“ Herr Hartmann hantierte am Zählerkasten 10
herum, und nach einiger Zeit flammte das Licht wieder auf. Die Geschwister rannten ihren Eltern in die Arme. Deren Verblüffung war nicht klein, als sie ihre Kinder in diesem Aufzug sahen. „Hattet ihr vor, heute Abend auszugehen?“, fragte Herr Hartmann mit gerunzelter Stirn. Schuldbewusst biss Lisa sich auf die Unterlippe. „Das war meine Idee. Aber wieso seid ihr schon wieder da?“ Frau Hartmann drehte sich schmunzelnd um und zeigte auf einen hässlichen Riss in ihrem neuen Kleid. „Wir waren gerade angekommen, und beim Aussteigen klemmte ich das Kleid ein, ohne es zu bemerken. Na ja, so konnte ich unmöglich zu der Feier gehen.“ Fabian und Lisa sahen sich bedeutungsvoll an. „Das hat Jesus gemacht!“, rief Lisa. Und als sie ihren Eltern von ihrer Angst und dem Gebet erzählt hatten, zeigte ihnen Herr Hartmann eine Stelle in der Bibel, die genau auf sie zutraf: Jesaja 65,24: Und es soll geschehen: ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören.
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Mama macht auch Fehler Endlich Schulferien! Fabian stürmte mit seinem Freund Jonas aus dem Klassenzimmer. Nun konnten sie die Sommertage richtig genießen. Seine kleine Schwester stand schon mit ihrem Roller auf dem Schulhof und wartete auf ihn. Lisa sehnte den Tag herbei, an dem auch sie endlich mal zur Schule gehen durfte. Aber bis dahin begnügte sie sich damit, ihren Bruder von der Schule abzuholen. Zum Glück war diese nicht weit von ihrem Haus entfernt. „Tschüss, Jonas“, rief Fabian und machte sich mit Lisa auf den Heimweg. Lisa schob ihren Roller und hüpfte dabei von einem Bein aufs andere. Dabei sang sie: „Noch eine Woche und dann fahren wir zu Onkel Paul und Tante Kathy. Wir ganz allein.“ Onkel Paul und Tante Kathy wohnten nämlich in der Schweiz, und diesen Sommer hatten sie Fabian und Lisa zu sich eingeladen. Ihnen gehörte eine kleine Pension, und im Sommer hatten sie immer ein volles Haus. Das fanden Lisa und Fabian ungeheuer aufregend. Sie sprachen seit Tagen von nichts anderem mehr. Da blieb Lisa plötzlich stehen. „Hey, Fabian, sieh mal da!“ Auf der anderen Straßenseite schlichen zwei Jungen auf den Hof von Frau 13
Stein, einer älteren Dame in ihrer Nachbarschaft. Frau Stein lebte allein in dem alten Haus, und sie war immer sehr schlecht gelaunt, wenn sie Kinder sah. Um die Wahrheit zu sagen: Sie konnte Kinder nicht ausstehen. Was also wollten diese beiden Jungen bei ihr? Jetzt sahen sie, wie der größere der beiden einen Stein nahm und ihn genau in ein Fenster warf. Es gab ein lautes Klirren und die Scheibe zersprang in tausend Stücke. Wie der Blitz verschwanden die beiden Jungen hinter den Büschen. Es dauerte gar nicht lange, da wurde auch schon die Tür aufgerissen und Frau Stein kam auf einen Stock gestützt nach draußen. Als sie Fabian und Lisa auf der anderen Straßenseite sah, fing sie an zu schimpfen und zu zetern. „Ihr frechen Gören! Ich hole gleich meinen Hund. Wie könnt ihr es wagen, anderen Leuten die Fenster einzuschlagen. Wenn ich euch erwische.“ Fabian stotterte: „Aber ... aber wir ...“ Ein lautes Bellen ertönte aus dem Haus. Da nahmen sie die Beine in die Hände und liefen so schnell sie konnten nach Hause. Außer Atem klingelten sie Sturm. Frau Hartmann öffnete die Tür. „Was ist denn mit euch passiert?“ Doch bevor die Kinder etwas sagen konnten, war schon die wütende Stimme von Frau Stein zu hören. „Na wartet, euch krieg ich. Ungehobeltes Pack!“ 14
Verwundert sah Frau Hartmann ihre Kinder an. Und schon humpelte Frau Stein um die Ecke. „Sie ist erstaunlich schnell“, flüsterte Fabian, als er in ihr faltiges Gesicht blickte. Frau Stein baute sich vor ihrer Mutter auf. „Also hören Sie mal, junge Frau. Diese beiden 15
Gören haben mein Fenster eingeschlagen. Mit einem Stein, das haben sie, jawohl! Eine Frechheit ist das! Mich so zu erschrecken!“ Frau Hartmann zog die Augenbrauen zusammen und sah ihre Kinder scharf an. „Fabian, Lisa, was sagt ihr dazu?“ Fabian rief aufgebracht: „Wir waren das nicht, Mama!“ Wie wild fuchtelte Frau Stein nun mit den Armen. „Jetzt lügen sie auch noch. Also, so etwas Unverschämtes ist mir ja mein Lebtag nicht untergekommen!“ Frau Hartmann bemühte sich, die alte Frau zu beruhigen. „Frau Stein, sehen Sie, mein Mann kommt heute Abend gleich vorbei und sieht sich das einmal an. Natürlich kommen wir für den Schaden auf.“ „Das ist ja wohl das Mindeste.“ Frau Hartmann wandte sich streng an ihre Kinder. „Ihr wisst, was ihr zu tun habt.“ Protestierend hob Fabian die Hände, doch Frau Hartmann schnitt ihm das Wort ab. „Keine Widerrede, ihr beiden.“ Zwei Köpfe senkten sich. Fabians Ohren waren knallrot, als er sich entschuldigte. Lisa presste zwischen zusammengebissenen Zähnen ein „Es tut mir leid“ hervor. Dann trotteten sie beide die Treppe hinauf. Einen Augenblick später erschien Frau Hartmann im Kinderzimmer. „Ich bin wirklich enttäuscht von euch. Statt alten Leuten be16
hilflich zu sein, wie wir es euch beigebracht haben, schlagt ihr Scheiben ein.“ Lisa sprang entrüstet auf. „Mama, wieso glaubst du uns nicht? Wir waren es nicht. Da waren zwei Jungs, wir haben es gesehen.“ Traurig schüttelte Frau Hartmann den Kopf. „Ich kann es nicht verstehen, dass ihr meint, mit einer Lüge davonzukommen. Ihr zwingt mich dazu, die Ferien bei Onkel Paul und Tante Kathy zu streichen. Diesen Sommer bleibt ihr zu Hause. Das wird euch eine Lehre sein.“ Ungläubig starrte Fabian sie an. „Aber Mama!“ „Es gibt kein Aber. Das hättet ihr euch früher überlegen sollen.“ Und sie zog die Tür hinter sich zu. Wütend sprang Fabian auf und rannte die Treppe hinunter, Lisa hinterher. „Wo willst du hin?“, schrie sie. Aber sie wusste die Antwort schon, natürlich würde er jetzt zu Jonas laufen. Jonas blickte fragend von seinem Teller Suppe auf, als seine Mutter die beiden aufgeregten Freunde hereinbat. „Wollten wir nicht erst um drei Uhr ins Schwimmbad?“ Fabian winkte verächtlich ab. „Ach, vergiss doch das Schwimmen.“ Jonas sah von einem zum anderen. „Was ist denn los?“ Lisa schrie es fast: „Unsere Mama ist so gemein!“ 17
Nachdem sie ihrem Ärger Luft gemacht hatten, legte Jonas’ Mutter ihnen ihre Hände auf die Schultern. „Ich kann euch verstehen, Kinder. Trotzdem ist es nicht richtig, wütend auf eure Mama zu sein und hässliche Dinge über sie zu sagen. Habt ihr nicht schon oft etwas getan, was nicht richtig war? Und Mama hat es mit euch durchgesprochen und euch vergeben, oder? Nun, eure Mama macht eben auch manchmal Fehler, und dann seid ihr an der Reihe ihr zu vergeben. So sehr wir Eltern es uns auch wünschen, aber wir alle machen Fehler.“ Sie gab ihnen einen sanften Klaps. „Und jetzt geht nach Hause und redet in Ruhe mit eurer Mutter, ich bin sicher, es wird sich alles klären.“ Genau in diesem Moment klingelte es an der Haustür. Es war Frau Hartmann. Sie hatte Tränen in den Augen. „Hey, meine beiden. Verzeiht ihr mir? Ich habe euch wohl Unrecht getan.“ Fabian und Lisa stürmten auf sie zu und drückten sie ganz fest. „Natürlich, du verzeihst uns ja auch immer. Aber woher weißt du ...?“ Frau Hartmann verzog das Gesicht. „Ich bin euch hinterhergegangen. Als ich bei Frau Stein vorbeikam, sah ich sie an einem Jungen herumzerren, der sich wohl den Knöchel verstaucht haben muss. Sie schimpfte so laut, dass es die ganze Nachbarschaft hören konn18
te. Es tut mir wirklich leid, dass ich euch nicht geglaubt habe.“
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