Ted Dekker THR3E
Ted Dekker
Thr3e
Über den Autor: Als Kind von Missionaren unter Kopfjägern im indonesischen Dschungel entwickelte Dekker einen Sinn für abenteuerliche Geschichten. Er hat in den USA Religionswissenschaften & Philosophie studiert und als Marketingdirektor gearbeitet. Der preisgekrönte Autor verdient nun den Lebensunterhalt für seine sechsköpfige Familie als Schriftsteller. Er lebt auf einer Ranch in Colorado.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-86122-934-6 Alle Rechte vorbehalten Originally published in English under the title: Healer, The by Dee Henderson Copyright © 2002 by Dee Henderson Published by Multnomah Publishers, Inc., USA German © 2007 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH 35037 Marburg an der Lahn Deutsch von Dorothee Dziewas Umschlaggestaltung: Henri Oetjen, DesignStudio Lemgo Satz: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH Druck & Bindung: www.francke-buch.de
1 Freitag Mittag In dem Büro gab es keine Fenster, sondern nur elektrisches Licht, um Hunderte von Buchrücken in ihren Kirschholzregalen zu beleuchten. Eine einsame Bürolampe mit grünem Glasschirm streute gelbliches Licht über den mit Leder bezogenen Schreibtisch. Der Raum roch nach Leinöl und muffigem Papier, aber für Dr. John Francis war das der Duft des Wissens. „Das Böse ist für niemanden unerreichbar.“ „Aber kann sich ein Mensch selbst aus der Reichweite des Bösen bringen?“, fragte Kevin. Der Dekan des Fachbereichs Theologie, Dr. John Francis, betrachtete den Mann, der ihm gegenüber saß, über den Rand seiner Nickelbrille und gestattete sich ein kleines Lächeln. Diese blauen Augen verbargen ein tiefes Geheimnis, und zwar eines, das sich ihm seit ihrer ersten Begegnung vor drei Monaten verbarg. Damals hatte Kevin Parson ihn nach einer Philosophievorlesung angesprochen, und allmählich hatte sich zwischen ihnen eine ungewöhnliche Freundschaft entwickelt, zu der zahlreiche Diskussionen wie diese gehörten. Kevin saß reglos da, beide Füße auf dem Boden, Hände auf den Knien sein Haar war zersaust trotz der zwanghaften Angewohnheit, mit den Fingern durch die wilden braunen Locken zu fahren. Oder vielleicht gerade deswegen. Sein Haar passte nicht zu dem Rest, denn in jeder anderen Hinsicht war der Mann makellos gepflegt. Glatt rasiert, modisch gekleidet, gut riechend – Old Spice, wenn der Professor sich nicht irrte. Kevins wirre Haare waren auf eine künstlerische Weise anderer Meinung. Andere spielten mit Bleistiften, mit ihren Fingern oder rutschten auf ihrem Stuhl herum; Kevin fuhr sich mit den Händen durchs Haar und wippte mit dem rechten Fuß. Nicht hin und wieder oder in passenden Pausen, sondern regelmäßig, zum Schlag einer verborge-
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nen Trommel, die sich hinter seinen blauen Augen verbarg. Manch einen hätten diese Macken geärgert, aber Dr. Francis sah darin lediglich rätselhafte Hinweise auf Kevins Wesen. Die Wahrheit – selten offensichtlich und fast immer in Feinheiten zu entdecken: Im Rhythmus wippender Füße, im Spiel der Hände, in der Bewegung der Augen. Dr. Francis schob seinen schwarzen Ledersessel zurück, erhob sich langsam und ging zu einem Regal, das mit Werken antiker Gelehrter gefüllt war. In vielerlei Hinsicht identifizierte er sich mit diesen Männern ebenso sehr, wie mit dem modernen Menschen. In einer Robe würde er wie ein bärtiger Sokrates aussehen, hatte Kevin einmal zu ihm gesagt. Er fuhr mit dem Finger über eine gebundene Ausgabe der Rollen von Qumran. „Das ist die Frage“, sagte Dr. Francis. „Kann der Mensch aus der Reichweite des Bösen gelangen? Ich glaube nicht. Zumindest nicht zu Lebzeiten.“ „Dann sind alle Menschen zu einem Leben verdammt, das vom Bösen bestimmt ist“, sagte Kevin. Dr. Francis wandte sich zu ihm um. Kevin sah ihn bewegungslos an, bewegungslos, wenn man von seinem rechten Fuß absah, der stetig weiter wippte. Seine runden blauen Augen hielten jedem Blick stand – mit der Unschuld eines Kindes starrten sie prüfend, anziehend, ja unerschrocken. Diese Augen zogen lange Blicke derer auf sich, die sich sicher fühlten, und zwangen die weniger Selbstsicheren dazu, den Blick abzuwenden. Kevin war achtundzwanzig, aber er besaß eine merkwürdige Mischung aus Intelligenz und Naivität, die Dr. Francis nicht einzuordnen vermochte. Dieser erwachsene Mann dürstete nach Wissen wie ein Fünfjähriger. Es hatte irgendetwas mit seiner ungewöhnlichen Kindheit in exzentrischen Familienverhältnissen zu tun, aber Kevin sprach nicht darüber. „Ein lebenlanges Ringen mit dem Bösen, nicht ein Leben, das dem Bösen unterworfen ist“, stellte Dr. Francis klar. „Wählt der Mensch demnach nur das Böse, oder erschafft er es selbst?“, fragte Kevin, der von seiner ursprünglichen Frage bereits eine ganze Reihe von Gedanken weiter war. „Ist das Böse eine
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Kraft, die im menschlichen Blut schwimmt und versucht, ins Herz zu gelangen, oder kommt es von außen an den Mensch heran und will gestaltet werden?“ „Ich würde eher sagen, dass der Mensch das Böse wählt, als dass er es erschafft. Die menschliche Natur ist aufgrund des Sündenfalls vom Bösen durchtränkt. Wir sind alle böse.“ „Und wir sind alle gut“, sagte Kevin zum Rhythmus seiner wippenden Zehen. „Das Gute, das Böse und das Schöne.“ Dr. Francis nickte, als sein Gegenüber die von ihm geprägte Formulierung benutzte. Sie bezog sich auf den Menschen, der nach Gottes Bild geschaffen war, den schönen Menschen, der zwischen dem Guten und dem Bösen hin und her gerissen wurde. „Das Gute, das Böse und das Schöne. So ist es.“ Er trat zur Tür. „Kommen Sie mit, Kevin.“ Kevin fuhr sich mit beiden Händen über die Schläfen und stand auf. Dr. Francis führte ihn aus dem Büro hinaus und eine Treppe hinauf in die „Oberwelt“, wie Kevin es manchmal nannte. „Wie kommen Sie mit Ihrer Hausarbeit über die Wesensarten voran?“, fragte Dr. Francis. „Sie werden garantiert überrascht sein.“ Sie traten in den leeren Hörsaal. „Ich feile gerade an einer Geschichte, um meine Schlussfolgerungen zu veranschaulichen. Das ist unüblich, ich weiß, aber da Jesus am liebsten Geschichten erzählt hat, um die Wahrheit zu vermitteln, dachte ich, dass es Ihnen sicherlich nichts aus macht, wenn ich mir diese Vorgehensweise ausleihe.“ „Solange Ihre Argumente dadurch klar werden. Ich bin gespannt auf die Lektüre.“
Kevin durchquerte gemeinsam mit Dr. Francis den Saal und dachte, dass er diesen Mann neben ihm mochte. Der Klang ihrer Schuhe, die auf den Boden aufsetzten, hallte durch den Raum, der von Tradition durchdrungen war. Der ältere Mann schlenderte mit einem leichten Lächeln, das auf eine Weisheit weit jenseits seiner Worte schließen ließ. Kevin sah zu den Porträts der Gründer des
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Theologischen Seminars hinauf, die an der rechten Wand aufgereiht waren. ,Kühne, sanfte Riesen‘ nannte Dr. Francis sie. „Wo wir gerade vom Bösen sprachen – alle Menschen sind fähig zu tratschen, meinen Sie nicht?“, fragte Kevin. „Zweifellos.“ „Selbst der Bischof ist fähig zu Klatsch und Tratsch.“ „Natürlich.“ „Glauben Sie, dass der Bischof tratscht? Manchmal zumindest?“ Die Antwort des Dekans ließ einige Schritte auf sich warten. „Wir sind alle Menschen.“ Sie kamen an eine große Tür, die auf das Universitätsgelände führte, und Dr. Francis stieß sie auf. Trotz der frischen Brise vom Meer konnte Long Beach sich gelegentlichen Zeiten drückender Hitze nicht entziehen. Kevin trat ins helle Sonnenlicht der Mittagsstunden, und einen Augenblick lang kam ihm ihr philosophisches Geplänkel angesichts der Welt vor seinen Augen banal vor. Ein Dutzend Studenten war in den gepflegten Anlagen unterwegs, die Köpfe nachdenklich gesenkt oder mit einem Lächeln in den Nacken gelegt. Zwei Dutzend Pappeln formten eine Allee mitten durch den ausgedehnten Rasen. Der Turm der Kapelle ragte über die Bäume hinaus, die hinter dem Park wuchsen. Zu seiner Rechten glänzte die Augustinus-Gedächtnis-Bibliothek in der Sonne. Das Theologische Seminar war auf den ersten Blick moderner als seine Mutterinstitution, das Seminar der Episkopalkirche in Berkeley. Dies hier war die echte Welt, bestehend aus normalen Menschen mit vernünftigen Lebensläufen aus gewöhnlichen Familien, die einem bewundernswerten Beruf nachgehen. Er hingegen war ein achtundzwanzigjähriger „Frischbekehrter“, der im Theologiestudium eigentlich überhaupt nichts zu suchen hatte, geschweige denn, dass er eines Tages Pfarrer und damit Hirte für die Schafe sein sollte. Nicht, weil er nicht die besten Absichten hatte, sondern wegen seiner Person. Weil er Kevin Parson war, der eigentlich erst vor drei Jahren seine „spirituelle“ Seite entdeckt hatte. Und obwohl er voller Überzeugung in die Kirche eingetreten war, fühlte er sich kein bisschen heiliger als früher. Nicht einmal der De-
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kan kannte seine ganze Geschichte, und Kevin war sich nicht sicher, ob der Mann ihn weiterhin so unterstützen würde, wenn er sie erfuhr. „Sie haben einen brillanten Verstand, Kevin“, sagte der Dekan, während er den Blick über das Gelände schweifen ließ. „Ich habe schon eine Menge Leute kommen und gehen sehen, und nur wenige von ihnen besaßen Ihre Hartnäckigkeit auf der Suche nach der Wahrheit. Aber glauben Sie mir, die tiefsten Fragen können einen Menschen auch verrückt machen. Das Problem des Bösen ist eine von diesen Fragen. Sie tun gut daran, ihr vorsichtig den Hof zu machen.“ Kevin sah dem grauhaarigen Mann in die Augen, und einen Moment lang sprach keiner von beiden. Der Dekan zwinkerte und Kevin antwortete mit einem schwachen Lächeln. Kevin hatte diesen Mann gern, wie er vielleicht einen Vater hätte gern haben können. „Sie sind ein weiser Mann, Dr. Francis. Danke. Wir sehen uns nächste Woche im Unterricht.“ „Vergessen Sie Ihre Hausarbeit nicht.“ „Auf keinen Fall.“ Der Dekan nickte zum Abschied. Kevin machte einen Schritt auf den steinernen Treppenabsatz und drehte sich dann doch noch einmal um. „Nur noch eins. Wenn man es zu Ende denkt, unterscheidet sich Tratsch gar nicht so sehr von Mord, richtig?“ „Letztendlich nicht.“ „Dann ist der Bischof letztendlich auch fähig, einen Mord zu begehen, richtig?“ Der Dekan hob die Augenbrauen. „Das geht vielleicht doch etwas zu weit.“ Kevin lächelte. „Eigentlich nicht. Schließlich ist doch das eine genauso böse wie das andere.“ „Da haben Sie recht. Ich werde den Bischof warnen, falls er den dringenden Wunsch verspüren sollte, jemanden umzubringen.“ Kevin grinste. Er drehte sich um und stieg die Treppe hinunter. Hinter ihm schloss sich die Tür mit einem dumpfen Ton. Noch
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einmal sah er zurück. Die Stufen waren leer; er war allein. Ein Fremder in einer fremden Welt. Wie viele erwachsene Männer starrten wohl eine Treppe an, auf der soeben noch ein Philosophieprofessor gestanden hatte, und fühlten sich vollkommen verlassen? Er kratzte sich am Kopf und zerzauste sein Haar. Kevin ging in Richtung Parkplatz. Das Gefühl der Einsamkeit wich noch, bevor er sein Auto erreicht hatte, das war gut. Er veränderte sich, oder etwa nicht? Die Hoffnung auf Veränderung war der Grund, warum er überhaupt beschlossen hatte, Pfarrer zu werden. Er war den Dämonen seiner Vergangenheit entflohen und hatte ein neues Leben als neues Geschöpf begonnen. Er hatte sein altes Ich abgelegt, es begraben, und trotz anhaltender Erinnerungen erwachte das Leben in ihm wie eine Knospe im Frühling. So viel Veränderung in so kurzer Zeit. Wenn es Gottes Wille war, würde die Vergangenheit begraben bleiben. Er steuerte seinen beigen Ford vom Parkplatz und fädelte sich in den fließenden Verkehr des Long Beach Boulevard ein. Das Böse. Das Problem des Bösen. Wie der Verkehr – es hört nie auf. Auf der anderen Seite gaben Gnade und Liebe auch nicht gerade klein bei, oder? Er hatte mehr Grund zur Dankbarkeit, als er es je für möglich gehalten hätte. Er hatte so viel Gnade erfahren: Eine gute Schule mit ausgezeichneten Lehrern. Sein eigenes Zuhause. Und auch wenn er vielleicht nicht gerade viele Freunde hatte, die er bei Bedarf anrufen konnte, so hatte er doch ein paar. Oder wenigstens einen. Dr. John Francis mochte ihn. Er schnaubte verächtlich. Na gut, sein Sozialleben war verbesserungswürdig. Aber Samantha hatte ihn angerufen. Sie hatten in den letzten beiden Wochen zweimal miteinander telefoniert. Und Sam war kein Schlaffi; vielleicht war sie sogar mehr als eine – Sein Handy vibrierte im Becherhalter. Er hatte das Ding erst vor einer Woche gekauft und bisher nur einmal für einen Anruf nach Hause benutzt, um zu überprüfen, ob es funktionierte. Das hatte
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es, allerdings erst, nachdem er die Mailbox aktiviert hatte, wozu er noch einmal den Verkäufer hatte anrufen müssen. Das Handy vibrierte weiter und begann nun auch zu klingeln. Das Ding war so klein, dass man es herunterschlucken könnte, wenn der Hunger groß genug war. Er nahm es und drückte auf die rote Taste und wusste sofort, dass es die falsche gewesen war. „Ignorieren Sie die „Senden“-Taste über der grünen. Grün bedeutet „los“ und rot „stopp“„, hatte der Verkäufer gesagt. Kevin hob das Telefon ans Ohr, lauschte einen Moment lang der Stille und warf das Gerät auf den Beifahrersitz. Er kam sich dumm vor. Wahrscheinlich war es der Verkäufer, der anrief um zu hören, ob er Spaß an seinem neuen Handy hatte. Obwohl, warum sollte ein Verkäufer sich mit einem Neunzehn-Dollar-Kauf befassen? Erneut vibrierte es. Hinter ihm hupte jemand. Ein blauer Mercedes fuhr ihm fast auf die Stoßstange. Kevin trat auf das Gaspedal und griff nach dem Telefon. Rote Bremslichter leuchteten vor ihm auf allen drei Spuren. Er wurde langsamer – der Mercedes hinter ihm musste sich gedulden. Er drückte die grüne Taste. „Hallo?“ „Hallo, Kevin.“ Eine männliche Stimme. Tief und atemlos. „Hallo?“ „Wie geht es dir, alter Freund? Ganz gut, nach allem, was ich höre. Wie schön.“ Die Welt um Kevin verblasste. Er brachte den Wagen hinter einem Meer roter Bremsleuchten zum Stehen und spürte nur wage den Druck der Bremsen. Er konzentrierte seine Gedanken auf die Stimme am Telefon. „Es ... es tut mir Leid. Ich glaube nicht–“ „Es ist egal, ob du mich kennst.“ Pause. „Ich kenne dich. Ich würde sogar sagen, wenn du wirklich glaubst, dass du dich für diesen Theologie-Quatsch eignest, dann kenne ich dich besser, als du dich selbst kennst.“ „Ich weiß nicht, für wen Sie sich halten, aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“ „Red’ keinen Blödsinn!“, schrie die Stimme in sein Ohr. Der
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Mann holte tief und rasselnd Luft. Dann sprach er wieder ruhig. „Verzeih mir, ich will wirklich nicht brüllen, aber du hörst mir nicht zu. Es ist Zeit, dass du aufhörst, allen etwas vorzumachen. Glaubst du, du kannst die ganze Welt an der Nase herumführen? Mich kannst du nicht für dumm verkaufen. Wird Zeit, dass du die Katze aus dem Sack lässt. Und ich werde dir dabei helfen.“ Kevin begriff kaum, was er da hörte. War das echt? Es musste ein dummer Scherz sein. Peter? Kannte Peter aus der „Einführung in die Psychologie“ ihn gut genug, um eine solche Nummer abzuziehen? „Wer ... wer ist denn da?“ „Du magst Spielchen, was, Kevin?“ Unmöglich, dass Peter so herablassend klingen konnte. „Also gut“, sagte Kevin. „Es reicht. Ich weiß nicht, was–“ „Es reicht? Es reicht? Nein, das glaube ich kaum. Das Spiel hat gerade erst angefangen. Nur dass dieses Spiel anders ist als die, die du mit den anderen spielst, Kevin. Diesmal ist es ernst. Der wahre Kevin Parson, bitte aufstehen! Ich habe überlegt, dich zu töten, aber dann habe ich beschlossen, das das hier viel besser ist.“ Der Mann machte eine Pause und stieß ein leises Stöhnen aus. „Dies .... dies wird dich vernichten.“ Kevin starrte wie vom Donner gerührt geradeaus. „Du kannst mich Richard Slater nennen. Na, sagt dir das etwas? Genau genommen ist mir nur Slater lieber. Und hier ist das Spiel, das Slater gerne spielen möchte. Ich gebe dir genau drei Minuten, um die Zeitung anzurufen und deine Sünde zu beichten, oder ich jage den lächerlichen Ford, den du dein Auto nennst, in die Luft.“ „Sünde? Wovon reden Sie eigentlich?“ „Das ist die Frage, nicht wahr? Ich wusste, du würdest es vergessen, du blöder Hund.“ Wieder eine Pause. „Du magst Rätsel? Hier ist eins, um deine grauen Zellen in Gang zu bringen: Was bricht herein, aber nie an? Was bricht an, aber nie herein?“ „Was? Was soll –“ „Drei Minuten, Kevin. Ab jetzt. Das Spiel beginnt.“ Die Verbindung war unterbrochen, die Leitung war tot. Einen Moment lang starrte Kevin weiter vor sich hin, das Handy unverändert ans Ohr gepresst.
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Eine Hupe ertönte. Die Autos vor ihm bewegten sich. Der Mercedes wurde wieder ungeduldig. Kevin gab Gas und der Ford machte einen Satz nach vorne. Er legte das Telefon auf den Beifahrersitz und schluckte mit trockener Kehle. Er sah auf die Uhr: 12:03. Okay, verarbeiten. Bleib ruhig und verarbeite das. Ist das gerade eben wirklich passiert? Natürlich ist das gerade passiert! Irgendein Irrer, der sich Slater nennt, hat mich gerade auf dem Handy angerufen und gedroht, mein Auto in die Luft zu jagen. Kevin schnappte sich das Telefon und starrte auf das Display. „Unbekannt, 00:39.“ Aber war die Drohung echt? Wer würde allen Ernstes wegen eines Rätsels ein Auto mitten auf einer befahrenen Straße in die Luft sprengen? Jemand versuchte ihm aus einem völlig wahnsinnigen Grund, eine Höllenangst einzujagen. Oder ein Gestörter hatte ihn willkürlich als nächstes Opfer auserkoren, jemand, der statt Prostituierten Theologiestudenten hasste und ihn einfach so umbringen wollte. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was für eine Sünde sollte er gestehen? Er hatte natürlich auch seine Sünden, aber keine besondere, die auf den ersten Blick auffiel. Was bricht herein, aber nie an? Was bricht an, aber nie herein? Der Puls pochte in seinen Ohren. Vielleicht sollte er von der Straße runterfahren. Natürlich sollte er runterfahren! Wenn auch nur die entfernteste Möglichkeit bestand, dass dieser Slater seine Drohung wirklich ernst meinte ... Zum ersten Mal stellte Kevin sich vor, wie sein Auto tatsächlich in Flammen aufgehen würde. Ein Stachel der Panik bohrte sich in seinen Rücken. Er musste aussteigen! Er musste der Polizei Bescheid sagen! Schnell! Nicht jetzt. Jetzt musste er aussteigen. Raus! Kevin riss den Fuß vom Gaspedal und stemmte ihn mit voller Wucht auf die Bremse. Die Reifen des Fords quietschten. Die Hupe des Mercedes hinter ihm heulte auf. Kevin drehte den Kopf und warf einen Blick durch die Heckscheibe. Dort waren zu viele Autos. Er musste einen freien Fleck finden, wo herumfliegende Splitter am wenigsten Schaden anrich-
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ten konnten. Er jagte den Motor hoch und schoss nach vorne. 12.05 Uhr. Aber wie viele Sekunden? Er musste davon ausgehen, dass die drei Minuten um 12.06 Uhr vorbei waren. Ein Dutzend Gedanken schoss ihm durch den Kopf: Eine plötzliche Explosion, die Stimme am Telefon, der Mercedes. Was bricht herein, aber nie an? Was bricht an, aber nie herein? Kevin sah sich hektisch um. Er musste den Ford loswerden, ohne die ganze Nachbarschaft in die Luft zu jagen. Es wird nicht in die Luft fliegen, Kevin. Geh vom Gas und denk nach. Denk nach! Er riss den Wagen nach rechts und wechselte die Spur, ohne den wütenden Hupton zu beachten. Eine Texaco-Tankstelle lag auf der rechten Seite – keine gute Wahl. Hinter der Tankstelle Dr. Wons Chinesische Kochkunst – auch nicht viel besser. Es gab an diesem Straßenabschnitt keine Parks; in den Seitenstraßen standen überall Wohnhäuser. Vor ihm tummelten sich Leute, die ihre Mittagspause bei McDonalds oder Bürger King verbrachten. Die Uhr zeigte immer noch 12.05 Uhr. Es war schon sehr lange fünf nach zwölf. Jetzt begann sich die Panik in ihm breit zu machen. Was, wenn es wirklich explodiert? Das wird es, oder? Gott, hilf mir! Ich muss aus diesem Ding raus! Er suchte mit zitternder Hand nach dem Verschluss seines Sicherheitsgurtes und löste ihn. Etwa hundert Meter weiter kam links ein Wal-Mart ins Blickfeld. Der riesige Parkplatz war nur halb gefüllt. Ein breiter Grünstreifen, der sich in der Mitte wie ein natürlicher Graben absenkte, umgab den gesamten Platz. Er traf eine schwierige Entscheidung: Wal-Mart oder nichts. Kevin lehnte sich gegen die Hupe und zog mit einem raschen Blick in den Spiegel wieder auf die mittlere Spur zurück. Ein metallisches Kreischen ließ ihn zusammenzucken – er hatte einen Wagen gestreift. Jetzt gab es kein Zurück mehr. „Aus dem Weg! Verschwindet!“ Er gestikulierte wild mit der linken Hand, was aber nur dazu führte, dass er sich seine Knöchel am Fenster anschlug. Mit einem Stöhnen riss er den Wagen nach links in die äußerste Spur und schrammte über den Mittelstreifen woraufhin er auf der Gegen-
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spur landete. Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, dass ein Frontalzusammenstoß auch nicht viel besser war als eine Explosion. Er sah bereits einige Autos auf sich zukommen. Reifen quietschten und Hupen ertönten. Der Ford wurde einmal am vorderen rechten Kotflügel getroffen, bevor er dem Verkehr auf der anderen Seite entkam. Irgendein Teil seines Wagens schleifte auf dem Asphalt. Er schnitt einen Pick-up, der gerade den Parkplatz verlassen wollte. „Aufpassen! Aus dem Weg!“ Kevin brauste auf den Wal-Mart-Parkplatz und sah auf das Display seines Handys. Irgendwann war die Anzeige umgesprungen. 12:06. Zu seiner Rechten war der Verkehr auf dem Long Beach Boulevard zum Erliegen gekommen. Es geschah nicht jeden Tag, dass ein Auto wie eine Bowlingkugel durch den Gegenverkehr raste. Kevin schoss an mehreren Kunden vorüber, die ihm mit offenen Mündern anstarrten, und zielte auf den Grünstreifen. Erst als er schon mitten drauf war, bemerkte er den Bordstein. Ein Reifen des Fords platzte, als er auf die Kante traf; diesmal stieß Kevin mit dem Kopf an die Decke. Ein dumpfer Schmerz zog seinen Nacken hinunter. Raus, raus, raus! Das Auto flog in den Graben und Kevin rammte das Bremspedal in den Boden. Einen kurzen Augenblick lang glaubte er, der Wagen würde sich überschlagen, aber er kam rutschend und stotternd zum Stehen, die Kühlerhaube fest in den gegenüberliegenden Hang gedrückt. Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus, stieß die Tür auf und hechtete auf den Boden, wo er durch den Schwung noch ein Stück weiterrollte. Mindestens ein Dutzend Zuschauer kamen aus dem Meer parkender Autos auf ihn zu. „Zurück! Bleiben Sie zurück!“ Kevin ruderte mit den Armen, um sie fortzuscheuchen. „In dem Auto ist eine Bombe! Gehen Sie zurück!“ Starr vor Schreck starrten sie ihn an, drehten sich dann aber um und rannten weg. Lediglich drei Männer blieben stehen.
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Kevin ging mit wütenden Gesten auf die Männer los. „Zurück, ihr Idioten! Da drin ist eine Bombe!“ Nun rannten auch sie. Eine Sirene heulte. Jemand hatte bereits die Polizei gerufen. Kevin war gut fünfzig Schritte vom Grünstreifen entfernt, bevor ihm bewusst wurde, dass die Bombe nicht explodiert war. Was, wenn es doch keine Bombe gab? Er blieb stehen und wirbelte herum; er zitterte und schnappte nach Luft. Die drei Minuten mussten längst verstrichen sein. Nichts. War es doch ein böser Scherz? Wer auch immer dieser Anrufer war, er hatte allein durch seine Drohung beinahe so viel Schaden angerichtet wie mit der tatsächlichen Zündung einer Bombe. Kevin sah sich um. Eine gebannte Menschenmenge hatte sich auf der Straße in sicherer Entfernung angesammelt. Der Verkehr stand still bis auf einige Autos, die zurücksetzten. Aus einem blauen Honda entwich Qualm – wahrscheinlich der Wagen, der seinen rechten Kotflügel gestreift hatte. Es mussten an die hundert Menschen sein, die den Verrückten anstarrten, der sein Auto in den Graben gefahren hatte. Abgesehen vom lauter werdenden Geheul der Sirenen hatte sich eine unheimliche Stille über den Schauplatz gesenkt. Er ging einen Schritt auf das Auto zu. Wenigstens gab es keine Bombe. Ein paar aufgebrachte Autofahrer und der ein oder andere verbeulte Kotflügel, was soll’s? Er hatte das einzig Richtige getan. Und es konnte ja immer noch eine Bombe da sein. Den Rest würde er der Polizei überlassen, wenn er erst einmal seine Geschichte erzählte. Sie würden ihm sicher glauben. Kevin blieb stehen. Das Auto steckte mit der Nase im Dreck und die Hinterräder hingen in der Luft. Von hier aus wirkte alles irgendwie lächerlich. „Wie war das mit der Bombe?“, rief jemand. Kevin blickte über die Schulter zu einem Mann mittleren Alters mit weißen Haaren und einer grünen Baseballkappe. Der Mann starrte ihn an. „Haben Sie nicht gesagt, es gäbe eine Bombe?“ Kevins Blick wanderte zurück zu seinem Auto, plötzlich kann er sich wie ein Dummkopf vor. „Ich dachte, es–“
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Eine ohrenbetäubende Detonation ließ den Boden unter seinen Füßen erbeben. Instinktiv duckte Kevin sich und riss die Arme hoch, um sein Gesicht zu schützen. Ein leuchtender Feuerball hing über dem Auto; kochend schwarzer Rauch stieg in den Himmel. Die rote Flamme fiel mit einem leisen Puff in sich zusammen. Qualm quoll aus dem verkohlten Skelett dessen, was einmal sein Ford gewesen war. Kevin sank in die Knie und starrte, sprachlos auf die Szene.
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