Benedict kirchliche gemeinwesenarbeit 2010 01

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1 Hans-Jürgen Benedict Kirchliche Gemeinwesenarbeit. Historische Entwicklung, theologische Grundlegung und praktische Probleme gemeinwesenorientierter Arbeit von Kirchengemeinden und Diakonie im aktivierenden Sozialstaat 1 Am Tag vor Sylvester 2009 hat der Vorsitzende des Deutschen Mieterbundes darauf hingewiesen, dass es in den großen Städten der Bundesrepublik bei Mietpreisen von 9-10 € pro Quadratmeter für große Teile der Bevölkerung praktisch keine bezahlbaren Mieten mehr in den zentrumsnahen Vierteln gibt.2 Es drohe die Gefahr der Entwicklung noch mehr abgehängter Stadtteile und Verelendung. Ein sozialer Wohnungsbau finde praktisch nicht mehr statt.3 Er forderte die Politik auf, hier korrigierend einzugreifen. Es klang wie die Stimme des Rufers in der Wüste, denn zum 1.Januar 2010 werden erst einmal die Hoteliers und die Erben durch das neue Wachstumsbeschleunigungsgesetz der Bundesregierung begünstigt. In Hamburg hat sich der Bestand der Sozialwohnungen seit 1990 um mehr als die Hälfte verringert. Gleichzeitig redet die Stadtregierung von Visionen, preist sich als wachsende Stadt und Kulturmetropole an und steckt hunderte von Millionen in Prestigeprojekte wie die Elbphilharmonie.4„Sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ Wohnungsnot in Bethlehem damals und heute sind ganz unterschiedlich. Und doch meint der damals ausgerufene Frieden auch den sozialen Stadtfrieden in den Wohnquartieren heute. War der Anblick erleuchteter Weihnachtsbäume in den Hinterhöfen früher „ein unnahbares und doch nahes Sternbild“ der Hoffnung „im trüben Fenster einer Hinterwohnung“(W.Benjamin)5, so können die vielen Lichterketten gerade in heruntergekommenen Stadtteilen das „mittlere Elend“ heute nur notdürftig überstrahlen. Auch die Kirchen in den sog. Problemstadtteilen sind zu Weihnachten gut besucht, aber der Test auf das Ankommen der Weihnachtsbotschaft findet hinterher statt.„Sehen wir die Armen im Lande, die Überschuldeten, die Obdachlosen, die Hartz-IV-Empfänger, die Alleinerziehenden als Subjekte des Glaubens oder als Objekte unserer Betreuung,“ fragte M.Käßmann auf dem Kirchentag in Bremen 2009. Und natürlich – was können Kirche und Diakonie gemeinwesenorientiert tun, was können sie ändern oder zumindest mildern an den Faktoren, die Benachteiligung in den Stadtteilen produzieren? In Hamburg gibt es seit dem Jahr 2000 einen Arbeitskreis Stadtteildiakonie, in dem einige Gemeinden mit kreiskirchlichen diakonischen Einrichtungen zusammenarbeiten. Seit circa 2 Jahren hat der Begriff Gemeinwesendiakonie auf diakonischen Konferenzen eine verstärkte Aufmerksamkeit gefunden. Zuvor war bereits das Programm Soziale Stadt von der Diakonie entdeckt worden. All das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verhältnis von Kirche zu Stadt- und Gemeinwesenentwicklung lange Zeit ambivalent gewesen ist. Das hat geschichtliche Gründe .Ich beginne deswegen mit einer historischen Vorbemerkung. 1.Das prekäre jüdisch-christliche Verhältnis zum Gemeinwesen und zur Stadt. Judentum und Christentum ist zumal in ihren eschatologischen Strömungen eine originäre Stadtfeindschaft und Kritik eingeschrieben. Alle Gemeinwesenorientierung galt als vorläufige 1

Teile dieses Artikels habe ich auf den Konferenzen des Diakonischen Werks der EKD in Berlin zum Programm Soziale Stadt am 9.6.0 6 und zur „Allgemeinen Sozialen Arbeit im Wandel“ am 23.10.2007 vorgetragen. 2 Nachrichten Deutschlandradio Kultur am 30.12.2009 3 S.dazu auch H.-J.Benedict. Stadt als Wüste. Erfahrungen und Beobachtungen in Hamburg in: Junge Kirche 65,H.1 2004,15f 4 Das bereits an einen holländischen Investor verkaufte letzte Gängeviertel ist durch den Protest einer Künstlerinitiative, die selbst vom konservativen Hamburger Abendblatt unterstützt wurde, vom Senat zurückgekauft worden, s. dazu T.Briegleb, Der Sieg der Freibeuter, in: SZ 17.12.2009,11 5 W.Benjamin,Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, zit.in E.Borchers,Das Weihnachtsbuch,Frankfurt 1974,193


2 auf dem Weg zur himmlischen Stadt Jerusalem. Eine verhängnisvolle Spaltung zwischen Innen und Außen durch die Zwei-Reiche-Lehre belastete eine positive Stadtorientierung. Im 19.Jahrhundert waren die rasch wachsenden Städte unheimliche Orte der Sittenverderben, die durch Taten der rettenden Liebe(Wichern) christlich verbessert werden sollten, aber kein von Menschen autonom zu gestaltendes Gemeinwesen. Juden und Christen hatten oft ein prekäres Verhältnis zur Stadt. Der Mörder Kain war der erste Stadtgründer. Stadt par excellence ist das sündige Babel aus Sicht der vorbeiziehenden abrahamitischen Nomaden .Der Prophet Jona will die Rettung der großen Stadt Ninive um jeden Preis verhindern. Immerhin: im Exil in Babylon rät der Prophet Jeremia den Exilierten: „Suchet der Stadt Bestes. Baut Häuser, heiratet etc“. Das wurde 2500 Jahre später zum Motto städtischer, gemeinwesenorientierter Verantwortung der Christenheit in Mitteleuropa. Aber wie gesagt: es ist eine Anweisung im Exil. Und Exilsbewusstsein ist und bleibt prägend. Auch in der Christenheit. Jesus stammt aus Galiläa. Die große Stadt Tiberias mied er. Die Jesusbewegung ist agrarischprovinziell, siehe die Bildwelt der Gleichnisse. Das Landkind Jesus in Jerusalem - was für prächtige Bauten, Meister!,rufen die Jünger. Die ernüchternde Antwort: „Kein Stein wird auf dem andern bleiben.“ Tempelkritik gleich Stadtkritik. Anders dann Paulus aus Tarsos mit römischem Bürgerrecht. Er nutzt die hellenistischen Städte für die Mission, aber er durcheilt sie. Ohne Stadtgesellschaft keine Ausbreitung der neuen Religion, wie Meeks gezeigt hat.6 Aber die Christen danken ihr es noch nicht, treten nicht für gemeinwesenorientierte Stadtentwicklung ein sondern missionieren für die jenseitige Stadt. „Unsere Bürgerschaft ist im Himmel“, schreibt Paulus den Philippern. „Wir haben hier keine bleibende Stadt“, konstatiert der Hebräerbrief. Und der Diognetbrief: „Jedes Vaterland ist ihnen Fremde.“ Christliche Pilgerfahrt durch die Zeit, auf dem Weg zur civitas dei, dem himmlischen Jerusalem, sagt dann Augustin. Mit ihm beginnt eine verhängnisvolle Spaltung zwischen Innen und Außen, die sich bis heute im kirchlichen Selbstverständnis und auch im Städtebau in der Neutralisierung des Raums fortsetzt. Auf der andern Seite eröffnet das christliche Verständnis des Leidens, seine Wahrnehmung des gebrechlichen Körpers, eine Möglichkeit, dem Schmerz in der Stadt Anerkennung zu verschaffen und ihn nicht durch großartige Bauten zu überspielen. Das ist Richard Sennetts These in Fleisch und Stein.7 Er weist auf das christliche Haus, die kleinen Zellen als Ort der Glaubensreise hin, auf das Schichten übergreifende Ritual des gemeinsamen Essens. Die Gemeinde als neue Welt, als kleines Reich Gottes. Doch 200 Jahre später schon findet sich bei Basilius von Cäsarea institutionalisierte Caritas, er gründet eine Stadt der Nächstenliebe im Chaos des untergehenden römischen Reichs.8 Dann nach Jahrhunderten politischer Wirren im Früh-Mittelalter entstehen merkantilchristliche Stadtrepubliken der Renaissance in Italien und auch in Deutschland: Stadtluft macht frei. Erinnert sei daran, dass die Reformation vor allem Städtereformation war, bürgerlich-kommunale Anliegen vertrat gegen katholische Hierarchie und Patrizier. Diakonie im 19. Jahrhundert entstand als Zweitstruktur von Vereinen, Stiftungen und Anstalten neben der Kirche und ihren Großgemeinden. „Nachrichten aus dem wahren und geheimen Volksleben Hamburgs“ nannte Wichern seine Erkundungen in St.Georg.9 Es ging schon um Überschreitung der Grenzen zu den anderen, aber diese wahrgenommene Differenz sollte 6

Wayne A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, Gütersloh 1993 7 Richard Sennett, Fleisch und Stein, Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Frankfurt/M 1977,170ff 8 s.dazu H.-J. Benedict, Barmherzigkeit und Diakonie,Stuttgart 2008,68ff 9 Johann Hinrich Wichern, Hamburgs wahres und geheimes Volksleben 1832/33 in; ders., Sämtliche Werke hg v. Peter Meinhold, Bd V/1 Berlin 1958,32-46


3 eingeebnet werden. Ziel war es, die problematischen Gruppen zu „retten“, zu bessern, zu anständigen Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen. Entsittlichung, Trunksucht, Kriminalität auf der einen, Krankheit und Behinderung waren die Haupttätigkeitsfelder. Durch Veränderung der Problemgruppen und den Bau von Anstalten und Städten der Nächstenliebe sollte der Gesellschaftskörper im christlichen Geist reformiert werden und so gesunden(Reich der rettenden Liebe). Man hoffte, so die Städte dem Griff von Säkularisierung und Sozialismus entreißen zu können. Ausnahme blieben Versuche der solidarischen Teilnahme wie die von dem Berliner Pfarrer Siegmund-Schultze. Nach dem Vorbild der englischen Settlements im Londoner Eastend, die Siegmund-Schultze auf einer Studienreise kennenlernte, zog er am 1. Oktober 1911 mit seiner Frau und 3 Theologiestudenten in den Berliner Osten. Absicht der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost“ war es, die soziale Wirklichkeit kennen zu lernen und so die soziale Versöhnung und eine neue Gemeinschaft voranzutreiben. Dazu bedurfte es des täglichen Zusammenlebens, des Austausches am Morgen und Abend, des Verkehrs an denselben Stätten der Arbeit und Erholung.10 Eine neue Form von Barmherzigkeit und Betroffenheit vor Ort - durch Teilen, durch Anteilnahme, nicht theoretisch, sondern praktisch. Ziel war „die Änderung dieser traurigen, fluchwürdigen Zustände; neben dem Kampf um und für die Wahrheit das Eintreten für die Gerechtigkeit.“11

2. Ich mache eine zweite Vorbemerkung zur sozialen Stadt im 20.Jahrhundert und zur kirchlichen Gemeinwesenorientierung in der jüngsten Vergangenheit. Die sozial gerechte Stadt, das um menschenwürdige Wohnquartiere, die Versorgung der Grundbedürfnisse und ausreichende Arbeit zentrierte Gemeinwesen war weder Ziel der Inneren Mission noch der Kirchengemeinden. Den Gedanken der „Assoziation der Hilfebedürftigen“ gab es nur am Rande.(Wichern sprach einmal davon mit Bezug auf Victor A.Huber) Diese gesellschaftliche Vision ist mit der Sozialdemokratie verknüpft. Es ist der Versuch eines städtischen Sozialismus, wie er dann nach 1918 in den Städten der Weimarer Republik Wirklichkeit wurde und an den auch nach 1945 wieder angeknüpft wurde - die großen Städte waren jahrzehntelang sozialdemokratisch regiert. Ausreichend Wohnraum, soziale Sicherheit und Arbeitsplatzsicherheit waren sozialdemokratische Verheißungen Übrigens hat das Evangelische Hilfswerk nach 1945 ein konservatives Pendant zu schaffen versucht mit Stadtgründungen wie Espelkamp, mit Material- und Arbeitsbeschaffung plus Notkirchenbau – Johannes Degen deutete es als restaurativen Versuch in der Rekonstruktionsphase des Kapitalismus.12 Dies Muster städtischer Politik hat bis in die 80er Jahre funktioniert – es ist dann durch strukturelle Arbeitslosigkeit, neoliberale Politik und die Zunahme stagnierender Stadtteile in die Krise geraten.13 Es kam zu einer städtischen Segregation mit einem auffälligen Anstieg von Armutsstadtteilen; eine Reaktion drauf sind die Stadtentwicklungsprogramme von Bund und Ländern in den neunziger Jahren. Die Stadt ohne Gott wurde bis in 70er Jahre beklagt, die Säkularisierung nicht als Chance der Mündigkeit gesehen - das geschah unter Bezug auf Harvey Cox’ „Secular City“, auf deutsch missverständlich unter dem Titel: „Stadt ohne Gott“ veröffentlicht.

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F.Siegmund-Schultze, Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision. Texte 1910-1969,hg.von W.Grünberg, München 1990, 354 11 Siegmund-Schultze,357 12 Johannes Degen, Diakonie und Restauration, Kritik am sozialen Protestantismus in der BRD, Neuwied/Darmstadt,1975 13 Jens Dangschat, Zwei-Drittel-Stadt Hamburg in: S.Borck,Hg, Stadt als Chance der Kirche, Hamburg 1997,175-183


4 Die Kirche hat in der BRD mit dem Prinzip „überschaubare Gemeinde“ die christliche Parallelgesellschaft im nachtotalitären Biedermeier zu errichten versucht. Der in den 50 und 60er Jahren noch einmal kräftig forcierte Versuch, eine eigene Welt kirchlicher Betreuungsstrukturen aufzubauen, die die Kinder, Jugendlichen, Familien und alte Menschen zusätzlich zur pastoralen Betreuung mit sozialen Einrichtungen neben denen des Gemeinwesens und anderer gesellschaftlicher Gruppierungen versorgt, ist längst gescheitert. Faktisch ist das alte Parochialprinzip in die Krise geraten. Trotzdem hält die Kirche an dem flächendeckenden Parochialprinzip fest, hilft sich mit Regionalgemeinden und Fusionen. Eine Folgerung wäre also: Wenn der Gedanke von der kreativen Minderheit ernst genommen wird, ist das Konzept der Volkskirche(Kirche für das Volk) nicht länger zu halten. An seine Stelle müsste der Gedanke der Kirche des Volkes, des wandernden Gottesvolks treten. Das 2. Vatikanum sprach vom Volk Gottes in der Welt. Dieses Konzept hat heute allerdings bei fortschrittlichen katholischen Theologen das düstere Gepräge einer Exilexistenz im kapitalistischen Babylon angenommen, auch eine Übersteigerung.14 3. Die Wende zur Gemeinwesenarbeit – vom GWA-Weiterbildungsprogramm des Burckhardthauses bis zum Studiengang Gemeinwesenökonomie der Evangelischen Hochschule des Rauhen Hauses a) Agressive Gemeinwesenarbeit in den 60er Jahren In der Nachkriegszeit war die Gemeinwesenarbeit(GWA) Import aus den Niederlanden und den USA. Basierend auf einem harmonistischen Gesellschaftsbild sollte GWA noch nicht erkannte Defizite des Gemeinwesens ins Bewusstsein bringen und beheben. Das änderte sich Mitte der 60 er Jahre, als sich gesellschaftliche Krisenerscheinungen verstärkten und die sozialen Träger sozialer Dienstleistungen überfordert waren. Die Sozialarbeiter, „als Prellbock zwischen erhöhter Leistungsnachfrage und verstärkten Leistungsdefiziten sozialer Dienste, verlangten nach neuen professionellen Strategien.“15 Zunächst noch als Hilfe zur Selbsthilfe in Obdachlosensiedlungen umgesetzt orientierte man sich später verstärkt an Saul Alinskis aggressiver konfliktorientierter GWA. Es begann eine eigenständige westdeutsche GWARezeption(Victor Gollancz-Stiftung) und die Zeit der großen GWA-Projekte in Neubausiedlungen unter Beteiligung von Studierenden der Sozialarbeit.(Berlin Märkisches Viertel, Osdorfer Born in Hamburg, Bockenheim in Frankfurt) Erste bewusste kirchengemeindliche Gemeinwesenansätze gab es Ende der 60er Jahre(in Berlin vor allem, aber auch beim Bau neuer Stadtteile in Hamburg- Steilshoop und Osdorfer Born, in Kassel-Baunatal und Leonberg-Ramtel)16 Reformkonzepte wurden entwickelt, es entstand die Forderung, Kirche sollte sich grundsätzlich an Community Organizing beteiligen. Die Studentenbewegung wirkte als Verstärker entsprechender Forderungen. „Die informative Tätigkeit des Pfarrers muß durch die des community organizers ergänzt werden. In prinzipieller Anerkennung der Tatsache, daß die gesamte kommunale Einheit sein Arbeitsgebiet ist, wird er versuchen, dort, wo meist sehr verdeckt die Ungerechtigkeiten des Systems sich manifestieren, Methoden und Organisationsformen zu entwickeln, mit deren Hilfe die Betroffenen eine Besserung der Verhältnisse erreichen, und zwar so, daß sie selbst an dem

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Beispielsweise bei R. Zerfaß, s. dazu Thomas Seiterich-Kreuzkamp: Wie glauben, wenn die Götzen überlegen sind? publik forum 13/2000

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D.Oelschlägel,Art Gemeinwesenarbeit in:H.U.Otto,H.Thiersch;Hg;Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik.2.völlig neu bearbeitete Aufl.,Neuwied 2001,656 16 S.dazu G.Schnath(Hg),Fantasie für die Welt. Gemeinden in neuer Gestalt, Stuttgart 1967,57f;70ff


5 Lösungsprozess entscheidend beteiligt sind.“17 Immerhin setzten sich solche Ansätze dann vermehrt in den 70er Jahren gemeindekonzeptionell durch. Das geschah vor allem in theoretischer Begleitung und praktischer Ausbildung durch das Burckhardthaus in Gelnhausen bei Frankfurt, der Ausbildungsstätte für Gruppenleiterinnen und Gemeindehelferinnen der Evangelischen weiblichen Jugend Deutschlands .Das Burckhardthaus begann 1969 ein Weiterbildungsprogramm in Gemeinwesenarbeit und Gemeindeaufbau für Sozialarbeiter, Pfarrer und Vikare in Kirchenkreisen und Kirchengemeinden. Es umfasste 160 Lehrgangstage und mehrere Praxisphasen. Vermittelt werden sollten vor allem Methoden zur Erfassung gesellschaftlicher Strukturen(empirische Sozialforschung), Methoden zur Arbeit mit Gruppen und Methoden der Gemeinwesenarbeit. Dahinter stand das US-amerikanische Konzept der Urban Mission und das vom ÖRK entwickelte Programm „Mission als Strukturprinzip“. Entscheidend sei nicht die Steigerung des Gottesdienstbesuches, Kirche solle vielmehr helfen, die Lebensräume der Menschen menschlich zu gestalten und sich zur kommunalen Gemeinde hin zu öffnen. Das Burckhardthaus reagierte damit auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die sich in Gesellschaft und Kirche der BRD vollzogen – die Entwicklung neuer Trabantenstädte am Stadtrand, die zu Mitgliederschwund führte, die neuen sozialen und politischen Bewegungen, Schüler-, Lehrlings-, Heim- und Studentenrevolte und kritische Sozialarbeiterbewegung, den Nachwuchsmangel bzw. die Radikalisierung der neuen Theologengeneration (Celler Konferenz).18 Die Doppelqualifikation von Theologie und Sozialwissenschaft/Sozialarbeit sollte den Protestimpuls in professionelle soziale Arbeit von Kirchengemeinden vor Ort umsetzen. Die in Gelnhausen ausgebildeten kirchlichen Gemeinwesenarbeiter lösten damit ihrerseits wieder Unruhe aus, wenn sie Betroffenenbeteiligungen in Obdachlosensiedlungen und kirchlichen Sozialeinrichtungen durchführte. Die für die Finanzierung ab 1970 zuständige EKD intervenierte, veränderte die Verträge der Dozenten, drei wurden gekündigt. Von 197577 fanden keine Fortbildungen statt. Danach wurde das GWA-Fortbildungsprogramm im Burckhardthaus fortgesetzt.19 Reduziert existiert es noch heute. Der Arbeitsbereich „ Soziale Arbeit im Gemeinwesen“ bietet praxisorientierte Fortbildungsangebote als Grundlagen- und Qualifizierungskurse mit Zertifikat. Einzelbausteine nehmen aktuelle Themen auf Fachtagungen dienen dem fachlichen Austausch und der Vernetzung. Neben einem grundlegenden Methodenseminar etwa „Forum Quartiersmanagement“; „Kirche im Quartier. Gemeinwesendiakonie profilieren“; „Wie werden Bürger zu Akteuren?“ Aber Bibliodrama und feministische Theologie sind seit den 90er Jahren eher das Markenzeichen von Gelnhausen. b)Was versteht man heute unter Gemeinwesenarbeit? In kritischer Abgrenzung von der „alten GWA“ als politischer Aktivierung der Betroffenen hat sich die „stadtteilbezogene soziale Arbeit“ von Wolfgang Hinte in Essen vollzogen. Die Professionellen sind die Moderatoren der Stadtteilentwicklung, die Verwaltungen werden nicht mehr als politische Gegner gesehen. Ähnlich betont Oelschlägel den nützlichen Aspekt von Community Organization und definiert: „Gemeinwesenarbeit(GWA) ist eine sozialräumliche Strategie, die sich ganzheitlich auf den Stadtteil und nicht pädagogisch auf einzelne Initiativen richtet. Sie arbeitet mit den Ressourcen des Stadtteils und seinen Bewohnerinnen,um seine Defizite aufzuheben.“20 Auf diese Weise möchte sie Lebensverhältnisse der Bewohnerinnen verändern, und zwar so, dass diese dadurch selbst handlungsfähiger werden. GWA ist also nicht die dritte Methode der sozialen Arbeit sondern eine sozialkulturelle Handlungsstra17

Die Pastorenkirche als Demokratisierungsfaktor in der bundesrepublikanischen Gesellschaft in: Theodor Ebert/Hans-Jürgen Benedict,(Hg.), Macht von unten. Bürgerrechtsbewegung, Außerparlamentarische Opposition und Kirchenreform, Hamburg 1968,195f. 18 S.dazu H.-J.Benedict, Die Celler Konferenz in: H.Grosse ua, Die Hannoversche Landeskirche und 1968(im Erscheinen) 19 C.W.Müller, Wie Helfen zum Beruf wurde, Bd.2, Weinheim und Basel 1988,122f 20 Oelschlägel,Gemeinwesenarbeit,653


6 tegie, die sich nach den jeweiligen lokalen Möglichkeiten richtet. Im einzelnen nennt Oelschägel: - GWA stellt nützliche Dienstleistungen zur Verfügung(Räume, Mittagessen, Klamotten, Beratung etc)21 Denn je ärmer die Menschen sind, desto mehr wird der Stadtteil ihr Lebensbereich und umso mehr fragen sie nach dem Nutzen sozialer Arbeit. - Neben materiellen und personellen Ressourcen ist die Ressource Netzwerk wichtig. Für viele Probleme, von der Schwangerschaft bis zum Verlust einer Vertrauensperson, von der Arbeitslosigkeit bis zu Krankheiten, ist die Unterstützung aus dem eigenen Beziehungsnetz wichtig. Das kann ein Nachbarschaftstreff sein, eine Elternschule, die Hausgemeinschaft, der Frauen- oder Mädchentreff, ein Jugendhaus, der Sportverein ua. - GWA berät und aktiviert die Menschen , ihr Schicksal selbst aktiv in die Hand zu nehmen. Dabei richtet sie sich an den Möglichkeiten der Menschen aus und fragt nach ihrer Perspektive. - GWA ist immer auch Kulturarbeit, in diesem Sinn fördert sie Eigentätigkeit und Genuss. Denn Menschen aller sozialen Schichten haben kulturelle Ausdrucksbedürfnisse. Kultur gehört zum guten Leben als Ziel von GWA. Das betrifft sowohl den Konsum von Kultur wie auch die eigene schöpferische kulturelle Tätigkeit. - GWA ist Teil lokaler Politik. Denn die Sozialpolitik wird immer mehr kommunalisiert, in die Stadtteil verlagert. Von dort her muss reagiert werden.GWA als Gestaltung von sozialen Räume ist immer auch Politik und bedarf der Einmischung. c) Gemeinwesenökonomie Nach der Wandlung von der Methode zum Arbeitsprinzip, dann zur politischen Gemeinwesenarbeit sowie einem kurzfristigen Verschwinden hinter therapeutisch ausgerichteten Ansätzen, erstarkte Gemeinwesenarbeit ua. durch das KJHG wieder und bildet heute einen Kern dessen, was Sozialraumorientierung genannt wird. Mit Bourdieu ist der soziale Raum als das Feld zu charakterisieren, in dem soziales Denken und Handeln als Teil des sozialen und politischen Beziehungsgeflechts wirkt.22 Statt der moralischen Parteilichkeit mit den Opfern begibt sich die Profession so unmittelbar in das Macht- und Konfliktgerangel vor Ort, zusammen mit den Menschen, deren Aktivierung sie anregen möchte. Wie die Gemeinwesenorientierung in der Ausbildung von Sozialarbeitern und Diakonen umgesetzt werden kann, das hat die Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie(früher Ev.Fachhochschule für Sozialpädagogik) des Rauhen Hauses 1998 in der Reform ihres Studiengangs gezeigt. War die Praxisphase des Studiums vorher an Zielgruppen orientiert(Jugendliche, alleinerziehende Frauen, Obdachlose, Strafgefangene uä), so sah die Fachhochschule ihren Bildungsauftrag jetzt darin, sich auf das Gemeinwesen und seine sozialen Räume zu beziehen und diese als Schnittpunkte des sozialen Lernens und Studierens zu verstehen. Sie hat dazu im grundständigen Studium ein Modell entwickelt, in dem die Ausbildungsinhalte auf ausgewählte Hamburger sogenannte Problem-Stadtteile(Billstedt, Horn,Wilhemsburg, St.Georg) und den Kontakt mit den verschiedenen Akteuren und Institutionen vor Ort bezogen wurden. So arbeiteten in Billstedt unter dem Focus „Sozialarbeit als Kulturarbeit“ die Studierenden in ihrer Praxisphase in Kirchengemeinden, Elterntreffpunkten, Beratungsstellen, Kulturhäusern, Familienhilfezentren und Förderschulen an der Entwicklung gemeinsamer Projekte wie einer Sommer-Kinowoche, einem Theaterfestival, der Gründung eines Umsonstladens oder einer Erhebung über den Zustand der Spielplätze – Projekte, die die im Stadtteil sozial und kulturell Tätigen sonst kaum hätten auf die Beine stellen können. Sie brachten die Kapazitäten ihrer jeweiligen Praxisstelle in die Projektentwicklung ein. Die Kirchengemeinden konnten sich dadurch stärker zum Stadtteil hin öffnen. Die Entwicklung eines postgradualen, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Studiengangs „Gemeinwesenökonomie“ schloß sich 2001 an. Dieser Studien21 22

ebd 654 S. dazu Benedict, Der soziale Raum als Ort sozialer Hierarchien in: ders, Barmherzigkeit und Diakonie,215ff


7 gang war gedacht als „Qualifizierungsoffensive für gemeinwesenökonomisch ausgerichtetes Denken und Handeln Professioneller mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen“. Er sollte „ die wissenschaftlichen und fachspezifischen Grenzziehungen zwischen Sozialer Arbeit, Kultur- und Bildungsarbeit, Stadtplanung, lokaler Wirtschaftsförderung und Administration überwinden.“23 Mit dem Begriff Gemeinwesenökonomie soll das Ökonomische neu vom Sozialen her gedacht werden, geht also über eine Gemeinwesenarbeit als Gegengift, das die Verslumung und den Verfall von städtischen Quartieren aufhält, hinaus, bindet die erste Ökonomie der Wirtschaft an die zweite, die Reproduktionsökonomie von Kindererziehung, Familienleben, Freiwilligen- und Nachbarschaftsarbeit. Auch die Solidarökonomie im Wohnbereich(Genossenschaften) wird einbezogen. Gelehrt und eingeübt wird ein professionelles soziales Denken und Handeln in räumlichen und ökonomischen Kategorien. Gerade die Programme Soziale Stadt für „Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf“ brauchen so ausgebildete QuartiersmanagerInnen. Leider konnte der Studiengang nach zwei Durchläufen nicht fortgeführt werden. Die Bologna-Reform mit der Entwicklung von Bachelor-Studiengängen nahm alle Kraft in Anspruch. Gleichzeitig wurde die Existenz Kirchlicher Fachhochschulen von Seiten der kirchlichen Träger teilweise in Frage gestellt und die großen Diakonieträger legten den Akzent einseitig auf die Entwicklung von Studiengängen zum Diakoniemanagement.

4. Die verbandliche Diakonie entdeckt die Notwendigkeit gemeinwesenorientierten Handelns. In der Anstaltsdiakonie kam erst in den 90er Jahren das Gemeinwesen im Blick, mit der Auflösung von Behinderten-Anstalten und ihrer Normalisierung, so Hephatah in Mönchengladbach und Alsterdorf in Hamburg. Vorherige Dezentralisierungen( etwa der diakonisch getragenen Jugendhilfe) waren weder gemeinde- noch gemeinwesenbezogen. Und erst 2002 gab es den ersten bundesweiten Kongress zum Thema „Diakonie und soziale Stadt.“ in Berlin. In Ergänzung zur Zielgruppenorientierung nun also Gemeinwesen- und Stadtteilorientierung, die aber nicht besonders beliebt ist in der gegenwärtigen Rückbesinnung aufs Eigentliche, sprich auf Verkündigung und Spiritualität! Umso begrüßenswerter die Kooperation zwischen dem Stiftungsbereich Bethel vorOrt und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin zur Ausbildung von in der Behindertenarbeit Tätigen zu Community Networkern. Ihre Aufgabe besteht darin, „Kontakte zu Bürgerinnen und Bürgern, ansässigen Kirchengemeinden, Vereinen und Unternehmen des Sozialraums aufzubauen und zu pflegen, damit längerfristige und verlässliche Entwicklungspartnerschaften innerhalb des Gemeinwesens entstehen. Somit lässt sich die Funktion des Community Networkers als die eines ‚Türöffners’ oder ‚Scharniers’ zwischen dem Gemeinwesen und den Nutzenden mit der Aufgabe beschreiben, gemeinsame Räume für alle Bürgerinnen und Bürger zu erschließen, sodaß auf diese Weise eine gemeinsame Lebenswelt entsteht.“(Kurzbeschreibung Community Networking Berlin 2009) Anfang 2007 wurde vom Diakonischen Werk eine Broschüre veröffentlicht: „Die Rolle der Allgemeinen Sozialen Arbeit im Rahmen gemeinde- und gemeinwesenorientierten Handelns in der Diakonie“(das sogenannte G2-Modell).Es heißt im Vorwort: „Das vorliegende Papier will Akteure der evangelischen Kirchen und ihrer Diakonie dazu ermuntern, gemeinde- und gemeinwesenbezogenes Denken und Handeln mehr als bisher zu praktizieren .“24 Im Oktober

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B.Rose, Postgradualer Masterstudiengang Gemeinwesenökonomie: Innovation und Modell in: M.Lindenberg/ L.Peters, Hg,Die gelebte Hoffnung der Gemeinwesenökonomie, Bielefeld 2004,57f 24 Diakonisches Werk der EKD, Die Rolle der Allgemeinen Sozialen Arbeit im Rahmen gemeinde- und gemeinwesenorientierten Handelns in der Diakonie Werk, G2 Modell ,Berlin 2007


8 2007 kam es dann zu einem Kongress des Diakonischen Werks in Berlin, auf dem eine Reihe von gemeinwesenorientierten Projekten vorgestellt wurde.25 Das Diakonie-Papier führt aus, dass die Diakonie die Notwendigkeit gemeinwesenorientiertes Handelns aufgrund wachsender sozialer Verwerfungen im Gefolge der globalisierten Wirtschaft und der Deregulierung im Sozialstaat entdeckt. Das betrifft die Zukunft der Erwerbsarbeit, die Armutsentwicklung, die demographische Entwicklung, die Menschen mit Migrationshintergrund . Am Gemeinwesen orientierte Handlungsansätze bieten die Möglichkeit, im Lebensraum der Menschen miteinander Veränderungsprozesse durchzusetzen. Damit verbindet sich die Hoffnung auf eine verbesserte soziale Integration der von Armut und Ausgrenzung Betroffenen. Diakonie bekommt einen neuen Blickwinkel, sofern sie ganzheitlich auf den Stadtteil schaut und nicht nur sozialpädagogisch auf den einzelnen. Gemeinwesenarbeit wird als integrative sozialpolitische Handlungsstrategie gesehen. Sie sei Gestaltungsprinzip lokaler Sozialpolitik, sie habe eine Schlüsselfunktion für eine nachhaltige soziale Stadtentwicklung. Mit ihrer Hilfe können Schlüssel- und Zukunftsthemen im Stadtteil bearbeitet werden. Deswegen müsse Gemeinde- und Gemeinwesenorientierung als universelle Handlungsstrategie in Kirche und Diakonie betrachtet werden. Sie öffne kirchlich-diakonische Tätigkeiten ins Gemeinwesen, sie fördere zivilgesellschaftliche Aktivität, sie zeige Kirche als attraktiven Lebensort. Neben der Förderung der traditionellen Diakonie der Gemeinde müssten kirchliche Diakonieprojekte sowie diakonische Gemeindeprojekte gefördert werden. Verbessert werden soll auch das Verhältnis von Kirchengemeinden und institutionalisierter Diakonie. Ziel sei die Befähigung der Menschen zum Handeln in eigener Sache und die Mobilisierung ungenutzter Ressourcen Auch in diesem Konzept ist trotz andersartiger Beteuerungen die soziale Aktivität immer noch Handeln für andere, statt mit anderen. Wichtig aber ist, daß mit dem G 2-Papier der Austausch über vielfältige Initiativen von Kirchengemeinden und kreiskirchlich-diakonischen Einrichtungen befördert wurde. 5. Kirchengemeinde und soziale Stadt - Beteiligung an Stadtentwicklung als Diakonie von Kirchengemeinden im Nahbereich. a) Die sogenannte Individualisierungsthese stimmt nur begrenzt. Flexibilität wird zwar von allen Arbeitnehmern gefordert, sie ist aber nur von einem Teil einlösbar. Die Mieten in den besseren Stadtteilen sind für bestimmte Einkommensgruppen nicht mehr bezahlbar. Sie müssen in abgehängte Quartiere umziehen und dort bleiben. So entsteht eine innerstädtische Segregation zwischen besser gestellten und armen Stadtteilen. Darauf reagierte Stadtentwicklungspolitik (zuerst Armutsbekämpfung genannt) seit 10 -15 Jahren, an der Kirchengemeinden viel zu wenig partizipierten. In vielen benachteiligten Quartieren sind durch diese Programme hilfreiche, vor allem die Wohnsituation und Lebensqualität betreffende Verbesserungen erreicht worden. Sanierungen und Revitalisierungen haben sie freundlicher, menschlicher, kommunikativer gemacht. Pförtnerlogen in Hochhäusern wirken der Verslumung entgegen. Neue schöne Spielplätze werden gebaut. Treffpunkte, Läden, Werkstätten, Cafes sind hoffnungsvolle Ansätze für eine sich ausbreitende Gemeinwesenökonomie. Der „dritte Sektor“ belebt sich, auch wenn das Ziel der Schaffung neuer Arbeitsplätze kaum oder gar nicht erreicht wurde. Die Ressourcenaktivierung bei den Bewohnern hat begrenzte Erfolge gezeitigt. Menschen, die sonst abwarten oder resignieren, engagieren sich in Planungsprozessen und Beiräten. Eine qualitative Veränderung durch Stadtentwicklung ist aber bislang nicht erreicht worden, sie ist mehr symbolisch. Es dominiert weiter die Standort-Wirtschafts- und Kulturpolitik in der Hoffnung, für die Stadtteile fällt genug ab. Die Kirchengemeinden sind auf neue Weise durch die Armutsproblematik gefordert, wenn sie in relativer Nähe zum Zentrum oder zu Subzentren z.B. als Anlaufstellen für Obdachlose wie25

Diakonisches Werk der EK, Die allgemeine Soziale Arbeit im Wandel. Impulse für eine veränderte Praxis,Berlin 2008


9 der wichtig werden. Die Kirchenküchen nicht nur in den Großstädten zeigen das, ebenso das Winternotprogramm für Wohnungslose mit den Containern vor verschiedenen Hamburger Kirchengemeinden. Neben solcher Nothilfe ist vor allem die Beteiligung an mittelfristiger sozialer Stadtentwicklung, auch Quartiersmanagement genannt, wichtig für die neu gebildeten Großgemeinden. Dafür brauchen sie aber auch Fachleute, z.B. den gemeinwesenorientiert und gemeinwesenökonomisch ausgebildeten Diakon und Sozialarbeiter. d. Kirchengemeinden als Quartiersmanager Natürlich sollten sich Kirchengemeinden und diakonische Träger darum bewerben, das Quartiersmanagement zu übernehmen, Stadtteilbüros zu betreiben, Mittel der sozialen Stadtentwicklung für eigene Projekte zu bekommen. Sie müssten aber auch eventuell eigene Förderprogramme für sozialkulturelle bzw. sozioreligiöse Gemeinwesenentwicklung auflegen, ähnlich dem englischen Programm Faith in the City. Gerade weil Kirchengemeinden in städtischen Armutsregionen gegenwärtig um die Sicherung der Grundfunktionen kämpfen müssen (Pastorenstelle, Kirchenmusik, Jugendarbeit, Kindergarten) brauchen sie finanzielle Unterstützung für soziale und gemeinwesenorientierte Aufgaben, die eine spirituelle Basis haben und gelingendes Leben unterstützen wollen. So könnte es gelingen, dass die Glaubenspraxis in benachteiligten Stadtquartieren stärker sozial eingebunden ist und nicht über den materiellen Verhältnisse schwebt. b. Praktische Hinweise Als sinnvoll für eine erste Gemeinwesenorientierung erweist sich nach wie vor das Vorgehen nach dem Dreischritt Sehen - Urteilen - Handeln Schritte auf dem Weg zu diakonischer Gemeindeentwicklung mittels eines Diakoniereports, einer Arbeitsfeld- bzw Sozialraumanalyse.26 Sehen wie das Leben der Gemeinde in ihrem Umfeld aussieht(Not, Leiden wahrnehmen) Beurteilen, was das Sehen für die Gemeinde, ihre Tradition und ihr Umfeld bedeutet Handeln modellhaft probehandeln, kreativ gestalten, kooperieren und vernetzen gemeindlich, kommunal, regional. Beispiele: Gemeinde ohne Stufen/Barrieren - Ist eine Gemeinde behindertengerecht? Kommen Behinderte zum Gottesdienst? Sind sie willkommen? Gemeinde ohne Milieumauern – ist eine Gemeinde die Armen einladend oder abweisend? Gespräche in Wilhelmsburg mit Hartz IV-Empfängern ergaben– keiner der Armen sucht die Hilfe von Religion – ein alarmierender Befund.27 Die empirische Untersuchung von H.Grosse über Kirchengemeinden, die aktiv gegen Ausgrenzung und Armut engagiert sind, stellte fest: Selten ist eine Gemeinwesenorientierung, die die Grenzen der Kirchenmitgliedschaft überschreitet. In einzelnen Fällen gibt es eine Überwindung von Milieugrenzen. Grundsätzlich aber führen Armutsinitiativen zur Verlebendigung der Gemeindearbeit28. Gemeinde ohne Berührungsängste vor Fremden. Flüchtlingarbeit/Kirchenasyl als Gemeindeaufbau . Wie kann man die vorhandenen Potentiale nutzen und ausbauen? Zum Beispiel: Wie kann die Gemeinde ihre vertrauten Räume der Begegnung mit Menschen in Notsituationen teilen, mit Freunden, Gästen, Fremden und so ein Gemeinwesenzentrum werden? Welche Einrichtungen der Kirchengemeinde könnten zu Nachbarschaftszentren werden? Kirchencafe, Kindertagesstätte, Jugendhaus? 26

s.dazu G.Ruddat/ G.K.Schäfer, Diakonie in der Gemeinde, in: G.Ruddat/ G.K.Schäfer, Diakonisches Kompendium, Göttingen 2005,,203ff 27 C.Schulz, Ausgegrenzt und abgefunden, Hamburg 2008 28 H.Grosse, Wenn wir die Armen unser Herz finden lassen, epd-Dokumentation 34/ 2007


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Schließlich: wo geschieht aufsuchende Arbeit, wo geht die Gemeinde nach draußen , auf die Straßen, in die Unterkünfte? Wo in der Gemeinde sind Wohnungen mit Behinderten? 6. Vom personalen zum strukturellen gemeinwesenorientierten Handeln von Kirchengemeinden Zunächst eine Vorbemerkung: Steinkamps dogmatischer Ansatz - nur die strukturell diakonische Gemeinde als diakonia und koinonia realisiert die Option für und mit den Armen ist zwar theoretisch richtig, sie erfasst aber nicht die sozioreligiöse Realität der Kirchengemeinden in der BRD. Trotz zunehmender Armutsorientierung bleiben die Kirchengemeinden milieugebunden der Mittelschicht verhaftet.(s.dazu den Artikel von Grosse in diesem Band). So etwas wie Basisgemeinden wird es hierzulande nur in Ausnahmefällen geben(s.die Basisgemeinschaft Brot & Rosen in Hamburg) .29 In einer Wohlstandsgesellschaft westlichen Typs sind trotz einer sich verfestigenden Armutspopulation Kirchengemeinden eher mittelschichtorientiert, wobei sie die Folgen „prekären Wohlstands“ auch in ihrer Mitgliedschaft durchaus verspüren(Arbeitslosigkeit in Akademikerkreisen und der Mittelschicht). Komplementäre Betroffenheit, christliche Nächstenliebe und zivilgesellschaftliches Engagement führen zu einer fallweisen Armutsorientierung. a. Personale Gemeinwesenorientierung: Auch die um die Familie und die kirchlichen Kerngruppen zentrierte Kasual- und Ritualfrömmigkeit in geselligkeitsorientierten Gemeinden mit vielen Gruppen, Initiativen und Vereinen kann Ressourcen aktivieren und Widerstandskräfte stärken, die eine personale Gemeinwesenorientierung implizit befördern. Die musikalische Früherziehung und die Kindergottesdienstarbeit stärken die soziokulturelle Dimension des Gemeinwesens ebenso wie die Kindergartenarbeit und die Mutter-KindGruppen. Sie bereichern die kulturellen Ausdrucksformen gerade in den Stadtteilen, die soziokulturell benachteiligt sind. Stadtteilaktivierung zielt heute vermehrt auf Bildungs- und Kulturaneignungsprozesse. Das gilt ebenso für Konfirmandenunterricht und erlebnisorientierte Jugendarbeit in Kirchengemeinden. Junge Menschen, die da „durchgegangen“ sind, möglicherweise aktiv-gestaltend mitgemacht haben, sind die sozialen Akteure der Zukunft. Diakonie als Lernprozeß in der Gemeinde bedeutet die Stärkung der Wahrnehmungsfähigkeit für Probleme verborgener Not und für stummes Leiden, erinnert sei an die alte Funktion der Klage und der Fürbitten als Leidenswahrnehmung der Probleme vor Ort und weltweit. Sie geschieht als Annäherung an bescheidene Handlungsfähigkeiten, durch eigene Sinnsuche bewegte Christen werden sozial initiativ. Auch die von Mitgliederbeteiligung und Aktivität her ausgedünnte Kirchengemeinde ist angesiedelt am Schnittpunkt von System und Lebenswelt. Nach Jürgen Habermas gehört die „Kolonialisierung der Lebenswelt“30(Lebenswelt verstanden als selbstverständliche Regelung des Alltags) durch die Imperative von Wirtschaft und Bürokratie zu den Leidenserfahrungen der Moderne. Zunehmend mehr Menschen können ihre schwierigen Lebenssituationen nicht mehr alleine bewältigen. Die sozial aufmerksame Kirchengemeinde kann die kleinen und größeren Beschädigungen spüren, die den Menschen im Nahbereich angetan werden. Sozialräumliches Handeln entsteht auch aus Nothilfeprojekten von Kirchengemeinden wie Suppenküchen, Kleiderkammern und Obdachlosenarbeit. Entsteht durch Vernetzung mit anderen Institutionen, durch Einmischung in städtische Sozialpolitik. Der soziale Raum wird dadurch Symbolhandlungen verändert ,ich erinnere an das bischöfliche Eintreten gegen das Bettelverbot in der City ( so Bischöfin Maria Jepsen in Hamburg ), an die Obdachlosenzeitungen als Begegnungschance Unterschiedlicher, an Besetzungen leerstehender Häuser, an Gemeinderäume als gastfreundliche Symbolorte für Fremde und Ausgegrenzte.Vesperkirchen 29 30

Steinkamp, Diakonie, 83ff J.Habermas,Theorie des Kommunikativen Handelns,Bd 2,Frankfurt 1981,182ff


11 und Suppenküchen sind so Nothilfe für Bedürftige, Lern- und Übungsfeld für Aktive.31 Subjektiv ist dieses soziale Handeln eine wichtige Sinnressource für Menschen, die mit ihrem Beruf oder nach ihrer Berufszeit nicht sinnvoll genug beschäftigt, besser gesagt: tätig sind.32 Ich nenne das: jeder muss in seinem Leben einmal oder in den verschiedenen Lebensaltern wiederholt die Erfahrung des barmherzigen Samariters machen, also nicht delegieren sondern tätig helfen. Christen, Kirchendistanzierte und Nichtchristen sagen nach ihrem Motiv für die Mitarbeit befragt: Ich brauche das. Das gibt meinem Leben einen Sinn. Erlebnisorientierung und das schöne Leben33 reichen für viele nicht aus als Sinnorientierung. Es gibt eine Schönheit der Alterität, der glücklichen ethischen Verausgabung(ähnlich der ästhetischen Verausgabung in der Kunst), die ihren Sinn in sich hat. Gerade aktive Senioren nach der Pensionierung kennen das. Dass bei diesem Handeln der anonyme Christus in den Armen und Ausgegrenzten erkannt wird, ist nicht mehr in jedem Fall die motivationale Voraussetzung der sozial ehrenamtlich Handelnden. Demütiger Dienst wie bei den Diakonissen im 19.Jahrhundert oder kirchliches lebenslanges Berufsehrenamt wie bei vielen Gemeindefrauen im 20.Jahrhundert ist nicht mehr unbedingt angesagt. Eher geht es nach dem Motto: Ich brauche das, es macht mir Freude, es gibt mir das Gefühl des Gebrauchtwerdens. Die Gefahr des burn out wie in sozialen Berufen gibt es nicht, weil das Engagement zumeist begrenzt und selbstgewählt ist. Das Handeln kann aber zu einem Interesse oder zu einer Vertiefung des Glaubens führen. Zum Interesse an den alten Geschichten, die vom spontanen Helfen erzählen, zur Vergewisserung in Gebet und Fürbitten im Gottesdienst, zur Annäherung ans Abendmahl als spiritueller Handlung des Teilens, zur Darstellung von Not in einer öffentlichen Veranstaltung der Kirchengemeinde. b) strukturelle Gemeinwesendiakonie Traditionelle Gemeindediakonie ist in Zusammenarbeit mit kreiskirchlicher Diakonie und sozialen Stadtentwicklungsprogrammen zur gemeinwesenorientierten Stadtteildiakonie zu entwickeln. Diese hätte den Vorzug einer spirituellen Verankerung ihrer sozialen Aktivitäten. Unterstützende Tätigkeiten von Kirchengemeinden ( Kinder- und Krabbelgruppen, sozialdiakonische Jugendarbeit, Nachbarschaftshilfe, soziale Frauengruppen und Asylgruppen) und von Diakonischen Werken getragene Aktivitäten wie Flüchtlingsarbeit, Wohnungslosenhilfe, Betreuung von Minderjährigen Flüchtlingen, Jugendwohnungen, Schuldnerberatung, ambulante Familienhilfen, Drogenberatung, Behindertenarbeit u.a. müssen auf bewußteren Sozialraumbezug hin verändert werden - durch Vernetzung, durch Niedrigschwelligkeit, durch verstärktes Sicheinlassen auf die Quartiersebene. Kirchengemeinde und Diakonieeinrichtungen sollten sich stärker als Teil des Gemeinwesens verstehen, nicht so sehr als kirchliche Gegenwelt „lebendige Gemeinde“ oder als „kirchlicher Teil des Sozialstaats“. Als spirituell im Evangelium der gnädigen Zuwendung Gottes zu uns Menschen verankerte soziokulturelle Ausprägung Gemeinde, als von den jüdisch- christlichen Sozialprinzipien Barmherzigkeit und Gerechtigkeit bestimmte kirchliche Gemeinwesenarbeit ermöglichen sie kooperativ die bessere Verwirklichung der Rechte aller Menschen im Gemeinwesen.

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In der Stuttgarter Vesperkirche arbeiten hunderte von Ehrenamtlichen mit und versorgen pro Tag an die 1000 Bedürftige,so der Initiator Pfarre Friz auf dem Kongreß Kirchen gegen Armut und Ausgrenzung, s. F.Barth., K.Baumann,, F.Lienhard und H.Schmidt(Hg),Kirchen gegen Armut und Ausgrenzung. Dokumentation des Kongresses Heidelberg 6.-8.März 2008,Heidelberg 2009, 125.In Hamburg kommen jeden Tag 400-500 in die Katholische Essensausgabe Ali Maus. Zur Kritik dieser Armutsprojekte s. Benedict, Barmherzigkeit und Diakonie,164ff 32 S. dazu Klaus Dörner, Diakonie gehört in die Gemeinde in: Die Nordelbische Nr.32 14.8.2005,14 33 Das ist gesagt auch gegen Gerhard Schulze, Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde,2006 ,der diese Sinnorientierung nicht angemessen berücksichtigt .


12 Ein Forschungsprojekt des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD hat jüngst(2009) „Kriterien zum Aufbau von Gemeinwesendiakonie-Projekten“ aufgestellt unter dem Titel „Kirche mittendrin“. Darin wird die Verantwortung von Kirche und Diakonie für den Stadtteil ins Zentrum gestellt, also das, was bereits seit 2000 in Hamburg unter dem Begriff Stadtteildiakonie praktisch in der Zusammenarbeit von (wenigen) armuts- und gemeinwesenorientierten Kirchengemeinden und diakonischen Diensten angegangen wurde. „Der Begriff Gemeinwesendiakonie beschreibt eine Gestalt kirchlich-diakonischer Arbeit,die von Kirchengemeinden, diakonischen Diensten und Einrichtungen gemeinsam getragen wird. Gemeinwesenorientierung bezeichnet eine Öffnung zum Gemeinwesen hin. Es kommt zu Kooperationen und zur Vernetzung mit verschiedenen Akteuren im Sozialraum.Gemeinsames Handeln von verfasster Kirche und organisierter Diakonie setzt eine strategische Zusammenarbeit voraus, um so Klienten-, Mitglieder- und Gemeinwesenorientierung in Balance zu halten.“34 Insgesamt sechs Standorte von Gemeinwesendiakonie sollen mittels qualitativer Gesprächsverfahren vor Ort untersucht werden. Die Kriterien zum Aufbau von Gemeinwesendiakonieprojekten nehmen die GWA-Diskussion der letzten 15 Jahre (verspätet) auf, ohne kritische Rückfragen zu stellen. So heißt es: „Das Quartier hält ungeahnte Ressourcen bereit.“ Das stimmt so nicht, wenn weder die materiellen Ressourcen der sozialen Stadtentwicklung noch die der Hartz IV-Empfänger verbessert werden. Auch scheinen die Formulierungen über die neue Rolle von Kirche und Diakonie bei der Gemeinwesenorientierung gelegentlich etwas zu vollmundig zu sein(die es in meinen vorherigen Ausführungen allerdings auch immer wieder gibt); sie antizipieren einen Zustand, den es so gelungen und schön noch nicht gibt. Auf der anderen Seite machen sie auf diese Weise Kirchengemeinden und Diakonie Mut, sich verstärkt im Gemeinwesen zu engagieren: „Gemeinwesendiakonisches Engagement stärkt die Identifikation der Menschen mit Kirche und Diakonie und mit ihrem Quartier(…) Menschen erleben das kirchlich-diakonische Engagement beruflich und ehrenamtlich Mitarbeitender, sie machen neue Erfahrungen von Nachbarschaft, Gemeinschaft und Verlässlichkeit, sie entdecken dabei die Kraft des Evangeliums, die Menschen zur Mitte führt, trägt und bewegt.“ Im neu gebildeten Kirchenkreis Hamburg-Ost sind bereits 2008 die „Aufgaben und Ziele der Gemeinwesendiakonie Hamburg-Ost“ beschrieben worden. Deutlich wird gesagt, dass neben der Unterstützung von Menschen in Notlagen die Identifizierung von Bedarfen als Aufgabe an politisch Verantwortlichen zu artikulieren sei und dabei der Kirchenkreis Profil in der Option für die Armen gewinnen wolle. Das Arbeitsprinzip Gemeinwesendiakonie sei dabei zu stärken. 7) Gabenökonomie und Gemeinwesenorientierung Ein gabenökonomischer Ansatz, der von Gott als Geber des Lebens und der in Christus erneuerten Gnade des Teilens der Gaben ausgeht, ist gerade für die Gemeinwesenorientierung und Stadtteilentwicklung wichtig, sofern er die Menschen als Beziehungen lebende und sie stiftende Akteure sieht. Ihr Handeln versteht er als Vertrauen in das im Weltprozeß anwesende Prinzip der kooperativen Gerechtigkeit Gottes. Gemeinwesenorientierung sollte auch die Existenz einer spirituellen Ökonomie einbeziehen, das heißt die Überzeugung, dass die Menschheit nicht allein durch Geld- und Warenkreisläufe existiert sondern auch durch spirituelle Lebensmittel wie das heilende Wort, Vertrauen, Nächstenliebe, Engagement35. Das Rechnen mit solchen Ökonomien nichtverrechenbarer Kraft der Solidarität und der Beziehungen in Familie, Freundschaft und Nachbarschaft ist die Basis aller Aktivierung und Partizipationsprozesse vor Ort. Ohne irgendjemanden vereinnahmen zu wollen, möchte ich vorschlagen, von einem wirksamen und kooperativen Prinzip der Gerechtigkeit und Güte auszugehen, das in den monotheistischen Religionen mit Gott dem 34

http://www.ekd.de/swi/59100.html S. dazu ausführlich das Kapitel „Die Kreise ziehende Gnade- eine Erinnerung an ein kulturelles Kapital des Christentums“ in: Benedict, Barmherzigkeit und Diakonie; Stuttgart 2008,219ff 35


13 Barmherzigen und Gerechten identifiziert wird. In säkularen sozialen Bewegungen erscheint es unter den Prinzipien Solidarität und Zivilcourage. In der sozialen Arbeit wird es als Unterstützung und Verstehen praktiziert, gemeinwesenökonomisch nennt es sich Mobilisierung, Aktivierung und Projektentwicklung . Insofern wäre die Diakonie durchaus ganz bei ihrem Eigenen, wenn sie als Institution solche gemeinwesenorientierten Studiengänge unterstützen würde, sei es durch die Entsendung von Mitabeitern in solchen Studiengänge, sei es durch Beteiligung an der Entwicklung entsprechende Studiengänge Gemeinwesenökonomie/Stadtteilentwicklung oder durch entsprechende Fortbildungen. 8. Die anwaltliche Rolle von Diakonie im Zusammenhang der Gemeinwesenarbeit und Stadtentwicklung Diakonie auf Landes- und Bundesebene, muß fragen, wieso gerade der neue aktivierende Sozialstaat seine schwächsten Glieder, die dafür von Herkunft, Bildung und materieller Ausstattung am wenigsten geeignet sind, zur Aktivierung auffordert, w ieso er nicht stärker die neue Mitte dafür in Anspruch nimmt. Auf der Landes- und Bundesebene sollte Diakonie auf einen Mechanismus in den Stadtentwicklungsprogrammen aufmerksam machen, der zwar bekannt ist, jedoch in der Regel wenig beachtet wird(weil er gegenwärtig nicht überwindbar scheint). Im Programm Soziale Stadt geht es vor allem die Aktivierung der nichtorganisierten benachteiligten Bevölkerung. Das soziale und kulturelle Kapital der Bürgerinnen wird wieder entdeckt und für die Entwicklung des Quartiers eingesetzt (Aktivieren statt Alimentieren). Die Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingungen im Quartier mit den Betroffenen, vermittelt über das Quartiersmanagement, erhöht den Sinn alltäglichen Handelns, macht die Menschen zu Subjekten. Diese Aktivierung führt verbunden mit den investiven Maßnahmen der Verbesserung des Wohnumfelds(Sanierungen) zu einer Stabilisierung von Problemgebieten. Wo es gelingt Lokale Ökonomie bzw Wirtschaftsförderung und Arbeitsplatzbeschaffung in nennenswertem Umfang mit der Quartiersentwicklung zu kombinieren(so in Duisburg-Marxloh) ergeben sich sogar nachhaltige Wirkungen hinsichtlich des ökonomischen Kapitals der betroffenen Bevölkerung. Dies ist dennoch die Ausnahme und in der Regel wird die durch Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse hervorgerufene Armut durch die soziale Stadtentwicklung nicht entscheidend beeinflußt. Die materielle Unterversorgung bleibt in der Regel bestehen. Das erinnert an die oft vergessene Aufgabe der Sozialpolitik, bestehende soziale Sicherungssysteme armutsfest zu machen.(zu erinnern ist an das BVG-Urteil aus den 60er Jahren: der Staat hat für sozialen Ausgleich zu sorgen und nicht die Scherenentwicklung zu begünstigen) Diakonie auf Landes- und Bundesebene muß daran erinnern, muß fragen, wieso gerade der neue aktivierende Sozialstaat seine schwächsten Glieder, die dafür von Herkunft, Bildung und materieller Ausstattung am wenigsten geeignet sind, zu dieser Aktivierung anhält, wieso er nicht stärker die neue Mitte dafür in Anspruch nimmt. So richtig es ist an die Ressourcen auch benachteiligter Menschen zu erinnern(von ihren Defiziten wegzukommen), so wichtig es ist die Stärkung der Lebensführungskräfte(als Ziel sozial-diakonischer Arbeit) auch im Bereich der politischen Partizipation zu befördern, es bleibt ein mühseliges Geschäft, wenn nicht mehr Gerechtigkeit im Ökonomischen erreicht wird. Mit der Bonhoefferschen Unterscheidung von Vorletztem und Letztem wäre zu fordern, daß die Verbesserung im Vorletzem, dem Ökonomisch-Sozialen, das Kulturell-Partizipatorische, auch das Religiöse befördern würde. Diakonie muß den aktivierenden Sozialstaat daran erinnern, daß Aktivierung Regelaufgaben nicht ersetzen darf, Bürgerbeteiligung kein Ersatz für gute Sozialpolitik sein kann, Nachbarschaftsförderung nicht die „Hausfrau der neoliberalen Umstrukturierung“(M.Alisch) sein darf.


14 Das heißt auch, daß die Ausstattung der Stadtentwicklungsprogramme ganz andere finanzielle Dimensionen erreichen müßte, daß die Laufzeiten verlängert werden, sodass selbst tragende Strukturen entstehen können(drei Jahre sind zu kurz, fünf ist Minimum, sieben das Ziel) daß die verschiedenen Stadtbehörden an einem Strang ziehen(und nicht gegeneinander arbeiten). Ein erstes Fazit: Soziale Stadtentwicklung kann sich theoretisch auch ohne die Beteiligung von Kirchengemeinde und Diakonie vollziehen und wartet nicht auf sie. Kirche und Diakonie sind nicht die Avantgarde der Humanisierung, aber mit ihnen (und der multireligiösen Kultur) kann Stadtentwicklung lebendiger, ganzheitlicher, spiritueller werden. Denn das SpirituellReligiös-Kulturelle gehört zum Menschsein. Das babylonische multiethnische Sprachengewirr wird durch pfingstliche Ereignisse wie ein Stadtteilfest, so könnte man sagen, zur „Heimat Babylon“, auch für die Kirche, die mehr vom „himmlischen Jerusalem“ her denkt. Zu sehen, wie Menschen ihre technischen und spirituellen Kräfte für ein gewaltfreies lebendiges und kreatives Zusammenleben vor Ort bündeln, ist eine Erfahrung, die unter ganz anderen Bedingungen jenen heilenden Tätigkeiten der messianischen Jesus-Bewegung damals in Palästina entspricht. Die heutigen sozialen Aktivitäten von Gruppen und einzelnen, die sich ihr Quartier gemeinsam neu aneignen, sind in diese Traditionslinie zu stellen. Mit einem Wort Walter Benjamins ist das Profane „zwar keine Kategorie des Reichs, aber eine seines leisesten Nahens.“36 Quartiersentwicklung und Gemeinwesenorientierung sind solch ein leises Nahen, das guter Qualifizierung und Ausbildung bedarf; in dieser Hinsicht sind die Evangelischen Fachhochschulen für Sozialpädagogik wichtig.

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W.Benjamin, Illuminationen,Frankfurt 1961,280


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