Kongo - Joseph Conrads Reise ins Herz der Finsternis

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Kazimierowka (Ukraine) 14. April 1890 Meine liebe Tante, ich habe Ihren schönen und charmanten Brief bekommen und der Beweis Ihrer Freundschaft, den Sie mir erbringen, indem Sie sich um meine afrikanischen Projekte kümmern, berührt mich mehr, als ich zu sagen vermag. Ich bleibe noch vier Tage bei meinem Onkel; dann habe ich unterwegs einige Besuche abzustatten (unter anderem 48 h in Lublin), sodass ich erst am 29. dieses Monats in Brüssel sein werde. Ihr sehr ergebener Freund und Neffe. Josef Konrad K. Brief von Konrad Korzeniowski an Marguerite Poradowska

 Die Kongokonferenz, eröffnet in Berlin am 15. November des vergangenen Jahres, schloss gestern Abend, nachdem alle Arbeiten beendet und die gesetzten Ziele erreicht werden konnten: zum einen die Handelsfreiheit im Kongobecken und dem Mündungsgebiet des Flusses, zum anderen die freie Schifffahrt auf dem großen afrikanischen Strom und seinen Nebenflüssen. L’Indépendance Belge, 27. Februar 1885

 Über die Geschicke dieses riesigen und fernen

Territoriums haben die Repräsentanten Europas nun bestimmt. In weniger als drei Monaten haben sie eine Wirtschaftsverfassung und bis zu einem gewissen Grad auch eine politische Verfassung ausgearbeitet. Sie haben für die Zukunft der Region gesorgt, sie der Zivilisation geöffnet, sie haben alles getan, was nötig ist, damit aus ihr mit der Zeit ein anderes Amerika wird – ein schwarzes Amerika. Den Eingeborenen, die bisher den Machenschaften der Sklavenhändler ausgeliefert waren, werden von nun an ihre Habeas-Corpus-Rechte zugesichert. Ihre europäischen Protektoren sind vor Ort, sie führen ihre Ämter mit Ehren aus und sind entschlossen, die menschlichen Raubtiere auf Abstand zu halten. Keine Angst vor Knechtschaft mehr. Im Gegenteil, die moralische Freiheit an sich bürgt für diese Unglückseligen. Das Recht, ihre naive Religion ganz nach ihrem Belieben auszuüben, wird diesen Menschen genauso garantiert wie das Recht bzw. die Chance, sich zu bilden, sich weiterzuentwickeln und das Niveau der aufgeklärtesten Völker der Welt zu erlangen. L’Indépendance Belge, 2. März 1885


Das ist er also ...

Der groĂ&#x;e Fluss.

Diese faszinierende lange Schlange ...

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Kapit%n Korzeniowski, der Direktor ist bereit, Sie zu empfangen.

Eine t&dliche Schlange?

Bitte, treten Sie ein.

Korzeniowski! Genau im richtigen Moment ...

Kapit%n Korzeniowski, Herr Direktor.

Und, noch immer entschlossen, zu unserem groĂ&#x;en zivilisatorischen Werk beizutragen? Ich denke, meine Anwesenheit hier beweist dies, Herr Thys.

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Bereit zum sofortigen Aufbruch?

Ein Mann, wie man ihm selten begegnet. Ihre Referenzen ...

... best%tigen das. Vorbildlicher Offizier, gute Beurteilung, der richtige Mann f/r den Posten.

Der Witwe Poradowska, nehme ich an. Sie ist voll des Lobes f/r Sie. Sie sind auĂ&#x;ergew&hnlich und begabt, so scheint es.

Mein Gep%ck ist schon auf dem Weg nach Br/ssel. Ich will nur noch einer Verwandten Lebewohl sagen, dann verlasse ich den Kontinent. Ich glaube, ich bin ohne weiteres imstande, einen Dampfer ihrer Flottille zu steuern.

Sie sprechen gut Franz&sisch, das ist dort unten wichtig ...

... aber eine Sache macht mich neugierig, Kapit%n. Warum haben Sie die britische Marine verlassen?

Der Fluss mag zwar nicht die offene See sein, ...

... doch hat er seine T/cken.

Ich habe die Marine nicht verlassen, noch nicht.

Aber wegen der Frachtkrise gibt es immer weniger Hochseekommandos. Nehmen Sie sich vor den Sandb%nken in Acht, Kapit%n.

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Ein wenig Papierkram.

Ich ben&tige einige Unterschriften von Ihnen.

Danach werde ich Sie zum Arzt fahren.

Zum Arzt? Aber ich erfreue mich bester Gesundheit.

Unterschreiben Sie hier.

Ich soll versprechen, keine Gesch%ftsgeheimnisse preiszugeben. Was f/r Geheimnisse ?

Ein Arztbesuch ist vor jeder Abreise obligatorisch. Reine Formsache. Seien Sie unbesorgt, alles was im Kongo geschieht, dient in erster Perfekt! Linie der Entwicklung des Territoriums und der Befreiung der V&lker.

Ich nehme an, sie sind bis heute streng geheim, denn sie sind mir nie zu Ohren gekommen. 6


Eine Berufung, also ...

Gute Reise, Kapit%n Korzeniowski.

Tja, hm ...

Entschuldigen Sie ...

Haben Sie nie daran gedacht, selbst teilzunehmen?

Wie sagte Platon zu seinen Sch/lern ...

... ich bin nicht so dumm, wie ich aussehe.

Und wann reist du ab?

Ich muss am 10. Mai in Bordeaux sein. Die Handelskompanie hat mir eine Kabine auf einem Steamer reserviert, der die ganze afrikanische K/ste entlang f%hrt.

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Wie gl/cklich du sein musst. Endlich ein Kommando! Nach dieser langen Wartezeit.

Das ist ganz allein Ihr Verdienst, meine liebe Tante. Wie kann ich Ihnen jemals daf/r danken?

Indem du mir schreibst, mein lieber Konrad. Lass von dir h&ren, sobald du kannst. Ich finde das alles wahnsinnig aufregend.

Beim allerersten Zwischenstopp, versprochen.

Es ist groĂ&#x;artig, an diesem Abenteuer teilzunehmen. Ich bewundere K&nig Leopolds Vorhaben.

Dann wieder, sobald ich im Kongo bin. Danach, wenn ich erst mal auf dem Fluss bin ... Gewiss, gewiss ...

Ihr, die ihr im Kongo arbeiten werdet, seid Boten des Lichts.

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Wie ich dich beneide, Konrad! Millionen Unwissende von ihren grauenhaften Sitten zu befreien.


Der Westen hat die Pflicht, mit seinem Wissen diesen Kontinent zu erhellen, aber es scheint mir, als wolle die Kompanie auch eigenen Profit daraus schlagen.

Selbstverst%ndlich! Verdient nicht jede M/he ihren Lohn?

Gut. So, meine liebe Tante ...

Der Zeitpunkt ist gekommen, wie man so sagt.

Sei vorsichtig, mein Freund.

Ich werde die ganze Reise lang in Gedanken bei dir sein. 9


Meine bezaubernde Tante ... Seltsam, wie wenig Bezug Frauen zur Wirklichkeit haben.

Wir kennen uns kaum, trotzdem ... Auf der T/rschwelle war mir, als h%tte ich eine langj%hrige Gef%hrtin verabschiedet.

Ihre Welt ist wirklich zu sch&n - wenn Frauen sie regieren m/ssten, w/rde sie einst/rzen wie ein Kartenhaus.

Merkw/rdig, eigentlich m/sste ich leichten Herzens abreisen, der Vertrag ist lukrativ ... Er d/rfte meine finanzielle Situation stabilisieren.

Warum also dieses leichte Z&gern?

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Normalerweise bin ich bereit, innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach Ank/ndigung ans andere Ende der Welt zu eilen ...

... und es st&rt mich nicht im Geringsten. Doch diesmal ...

Dieser Anflug von Beunruhigung /ber eine ganz banale Angelegenheit.

Drei Jahre in Afrika k&nnen schlieĂ&#x;lich nicht strapazi&ser werden als meine sechs Jahre im Orient.

Liegt es daran, dass ich das Kommando eines Flussdampfers /bernehme?

Ja, jetzt weiĂ&#x; ich es! Es ist meine alte Faszination f/r unerforschte L%nder.

Oder vielleicht ist es ...

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Mein Traum ist dabei, Wirklichkeit zu werden.

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Oder sollte er besser ein Traum bleiben?


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